Franz Brentano (1838 – 1917)

  Deutscher Philosoph mit einem Faible für Aristoteles, der in Münster Philosophie studierte und 1864 zum katholischen Priester geweiht wurde. Brentano erstellte im Vorfeld des 1. Vatikanischen Konzils ein Gutachten, in dem er sich gegen die Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas aussprach. Nachdem sich das Konzil jedoch für die Verkündung entschieden hatte, legte Brentano sein Priesteramt nieder. Nach seinem Kirchenaustritt übernahm er 1874 eine Philosophie-Professur in Wien. Zu seinen Wiener Studenten gehörten u. a. Edmund Husserl, Sigmund Freud und Rudolf Steiner. Grundgedanke seiner beschreibenden »deskriptiven« Psychologie ist, dass das Wesen psychischer Phänomene in ihrer Bezogenheit auf Objekte (Intensionalität) liege. Er übte einen bedeutenden Einfluss, insbesondere auf die Phänomenologie, aus. Bis zu seinem Tode setzte er sich in seinem überaus produktiven Werk immer wieder mit Aristoteles auseinander. Die nachfolgenden Textsequenzen wurden ausgewählt , weil Brentano in ihnen gelassen zu Papier bringt, was in einer lebendigen Gottheit unbedingt kontinuierlich stattfinden muss, damit überhaupt irgend etwas Vernünftiges zustande kommen kann.

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Inhaltsverzeichnis
Vom kontinuierlichen Wechsel (Nacheinander) im göttlichen Wesen
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Vom kontinuierlichen Wechsel (Nacheinander) im göttlichen Wesen
Von uns selbst haben wir sogar niemals eine Kenntnis in bezug auf das, was unsere Individualität von jeder andern unterscheidet. Alle unsere Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen, wie wir sie in uns wahrnehmen, könnte ein anderer genau so haben und in sich wahrnehmen. Ein substantieller Unterschied zwischen ihm [der anderen Person] und mir muss bestehen [vorhanden sein] , aber keinem von uns ist auch nur die ihn selbst individualisierende [persönlichkeitsbildende] substantielle Differenz offenbar [bewusst]. So könnte denn, um auf unsere Frage zurückzublicken, es recht wohl sein, dass allen in einem Zeitmoment [Gegenwart] bestehenden Dingen gegenüber allen, die in irgendwelchen früheren bestanden haben oder in irgendwelchen späteren bestehen werden, eine gewisse reale spezifische Bestimmung zukäme, die uns gänzlich transzendent bliebe. Ja, wir können zuversichtlich behaupten, dass solches nicht nur möglich, sondern wirklich und notwendig ist.

Vor allem will ich dies für jenes Wesen nachweisen, bei dem man es gemeiniglich am meisten für ausgeschlossen hält, nämlich für das erste, unmittelbar notwendige Prinzip aller Dinge, als welches man schon im Altertum ein göttliches Wesen erkannt hat, allwissend und allbestimmend. Als allwissend muss es alle Wahrheit, kann aber doch natürlich nicht mehr als alle Wahrheit erkennen, und wenn darum in bezug auf die Wahrheit ein Wechsel eintritt, so muss auch in dem göttlichen Verstande eine Änderung vor sich gehen. So aber ist es, wenn überhaupt etwas sich ändert. Es ist dann, was früher nicht war, und wer alles weiß, muss jetzt wissen, dass es ist, während er früher nicht dies, sondern, dass es sein werde, vermöge seiner Allwissenheit erkannt haben muss. Man achte genau auf das, was ich sage: es genügt zu Gottes Allwissenheit nicht, dass er die ganze Aufeinanderfolge der Weltereignisse kenne, ohne zu wissen, bis zu welchem Moment der Entwicklung die Dinge gelangt sind und welche Ereignisse schon der Vergangenheit angehören, während andere noch als zukünftige der Verwirklichung harren. So müssen wir denn von dem göttlichen Verstande annehmen, dass er alles, was geschieht, von Ewigkeit vorstellt und anerkennt, aber mit einem stetig gleichmäßig infinitesimal [»unendlich, unbegrenzt«] wechselnden Modus der Vorstellung und Anerkennung. Und dasselbe müssen wir von ihm als wollendem Wesen sagen. Von Ewigkeit zu Ewigkeit ist seine Bevorzugung durchaus entschieden, aber was er einst als zukünftig gewollt hat, will er später als gegenwärtig und wird es später als vergangen bevorzugen, und auch bei diesem Wandel handelt es sich um etwas, was von Ewigkeit zu Ewigkeit in kontinuierlich gleichmäßigem Verlaufe sich vollzieht. Nun gibt es bei Gott keine Zusammensetzung von Substanz und Akzidenzien und somit ist jeder kontinuierliche Wechsel in Denken und Wollen als ein kontinuierlicher substantieller Wechsel zu fassen. So findet sich denn zunächst hinsichtlich der Gottheit meine Behauptung, daß die Dinge, wenn auch noch so sehr sich gleichbleibend, einem steten zeitlichen realen Wechsel unterliegen, vermöge dessen sie nie in einem späteren Augenblick ganz so bestehen, wie sie in einem früheren gewesen, vollkommen bewährt.

Hiermit ist aber dasselbe zugleich für alle anderen Dinge dargetan, so wahr sie nur bestehen können, indem sie von dem göttlichen Prinzip erhalten werden. Denn offenbar werden sie in jedem anderen Augenblick ihres Bestandes von der Gottheit dem ihnen gleichzeitigen Momente des göttlichen Lebens nach erhalten, und das muss ihnen einen eigentümlichen Charakterzug aufprägen, der allen gleichzeitigen Geschöpfen gemeinsam sein muss. So kommt es denn zu einem realen temporalen Wechsel auch bei allen kreatürlichen Dingen, der ganz entsprechend dem Verlaufe des Nacheinander in Gott verläuft. In bezug auf ihn wechseln alle Dinge ebenso infinitesimal und völlig gleichmäßig wie die Gottheit selbst, wenn sie auch in anderer Beziehung sehr ungleichmäßige Variationen zeigen oder auch zeitweilig allen Wechsel vermissen lassen mögen, wie wenn ein Stillstand eine örtliche Bewegung unterbricht. Auch dieses Kontinuierliche oder vielmehr auch diese Kontinuierlichen gehören zu der Klasse der chronisch Kontinuierlichen und sind als die zeitliche Eigentümlichkeit eines jeden Dinges oder auch als die eigentümliche Dauer eines jeden zu bezeichnen. [...]

Wenn man mich fragt, was denn an der herkömmlichen Lehre von Gott ich beanstände, weil es den Satz, dass auch Gott Geschehenes nicht ungeschehen machen könne, aufhebe, so antworte ich: ich leugne nicht wie sie, dass auch das göttliche Leben einen Verlauf habe und ein Vor und Nach und einen Wechsel zeige. Wäre dem so, so könnte Gott auch keinen Wechsel bewirkt haben. Schon Aristoteles, der in dem Irrtum befangen war, dass bei Gott als unmittelbar notwendigem Wesen keinerlei Wechsel denkbar sei, war sich der großen Schwierigkeit bewusst, aus dem völlig Unveränderlichen die Veränderung begreiflich zu machen. Er nahm als nächste Wirkung eine völlig gleichmäßige Veränderung und zwar eine Kreisbewegung an. Diese, als Kreisbewegung einer in besonderer Ordnung mit Sternen besetzten Sphäre, sollte dann in ihrer Einwirkung auf andere Sphären und auf die niederen Elemente eine größere Mannigfaltigkeit des Wechselt erzeugen. Aber es genügt eine mäßig scharfe Kritik, um zu erkennen, dass alle die vermittelnden Glieder nicht ausreichen würden, den Zufall auszuschließen, was doch die Absicht des Aristoteles war. Die oberste Himmelssphäre soll mit Sternen besetzt sein — schon das nimmt der Bewegung dieser Sphäre die angestrebte volle Gleichmäßigkeit. Wenn man fragt, warum dieser einzelne Stern in seiner steten Bewegung jetzt gerade hier und nicht dort sei, so gibt es keine andere Antwort als: »Weil er zuvor, z.B. vor einer Stunde, an einem gewissen andern Punkt sich befunden hat.« Aber die Frage wiederholt sich dann für jeden Punkt und führt so zu einem regressus in infinitum, dem jede aufklärende Kraft fehlt.

Man sagt vom Standpunkt derer, die im göttlichen Leben keinen Verlauf annehmen, für Gott sei alles gegenwärtig. Man sieht aber nicht, dass, wenn hier aus der Unzeitlichkeit Gottes gefolgert wird, dass für ihn nichts vergangen und nichts zukünftig sei, ebenso gefolgert werden müsste, dass für ihn nichts gegenwärtig sei.

Aus: Franz Brentano: Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum, (Meiner PhB 293, S.25-27, 115-116)