Heinrich Albertz (1915 – 1993)

Deutscher evangelischer Pfarrer und Politiker (SPD), der Mitglied der bekennenden Kirche war und von den Nationalsozialisten mehrmals verhaftet wurde. Albertz war von 1966 bis 1967 Regierender Bürgermeister von West-Berlin.

Siehe auch Wikipedia


Inhaltsverzeichnis

Hier stirbt nämlich Gott . . .
»Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.«

Christus
Nur ein Hahn kräht noch über der Wüste seiner Einsamkeit


Hier stirbt nämlich Gott . . .

Der Mensch Jesus von Nazareth, Sohn des Josef und der Maria, der Bruder Mensch ist, uns vielleicht vertraut und nah geworden, wie er lebte und starb, wie er den Leidenden und Unterdrückten, den Schuldiggewordenen und Ratlosen zugewandt war - er half und heilte, wo immer es nötig war. Auch was er sagte in der Predigt vom Berge etwa, wie er uns beten lehrte — dies alles mag zu einer eigenen, wichtigen Erfahrung geworden sein. Aber »die Gottheit Christi aufs allerklarste gegründet«! — die Gottheit Christi, die ist nicht den Schlechtesten unter uns ein unvollziehbarer Gedanke, Zutat der Theologen zum einfachen Leben Jesu, ein frommer Widersinn aus der Zeit vergangener Mythen und Träume. Darf ich sagen, dass ich Verständnis habe für solche innere Abwehr und die Redlichkeit der Aussage, »dieses kann ich nicht glauben«? Darf ich sagen, dass ich es selber nicht glauben könnte, wenn es mich nicht immer wieder überfiele: »Ja, dieser doch, dieser einzige doch, dieser Jesus, Gottes Sohn, das Kind, mir geboren als mein Herr und Gott.«

Genau das geht unser gewaltiger Text an, versucht das Unsagbare zu sagen, und ich möchte Euch ausdrücklich bitten, nun eben nicht wegzuhören, sondern zu hören, was hier Unerhörtes steht: »Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Oder im Text von Walter Jens: »ER aber, das Wort, ER wurde Fleisch: Mensch unter Menschen war ER bei uns.« Was kann das heißen? Zuerst etwas ganz Wichtiges und wohl auch Ärgerliches: Hier stirbt nämlich Gott. Der Gott, den wir uns gemacht haben, mit unserer Philosophie und Religion, der Unsichtbare, der Gott »an sich«, der hinter unseren Grenzen wohnende, Ewig-Seiende, Unbewegliche, der Gott all unserer Weltanschauungen. Dieser Gott ist wahrhaft tot. Eine Chiffre geworden. Ein Glasperlenspiel. Denn dieser Gott bekommt nun plötzlich ein Gesicht, das Gesicht Jesu, er bekommt Hände und Füße, die Hände und Füße Jesu, er bekommt einen Mund und Augen, den Mund und die Augen Jesu. »Fleisch« steht hier, sarx. Dieses griechische Wort bedeutet dieses alles, unzweideutig und massiv, und noch mehr dazu: Das Wort sarx umschließt unsere ganze menschliche Existenz, unsere Hoffnungen und Ängste, unser Leiden und unsere Lust. Es bedeutet unsere Geschichte, unsere ganze Welt, diese dem Tod und der Vergänglichkeit verfallene Welt. In sie tritt Gott ein. Der Namenlose hat plötzlich einen Namen, der Stumme eine Stimme, er wird geboren und stirbt, wie wir, er hat einen Geburtstag, Weihnachten, und einen Todestag, Karfreitag, wie wir. Er hat in unserer Geschichte seine eigene Geschichte, er macht unsere Geschichte zu der seinen. Jesus, das Kind der Maria. — Das alles ist eine unglaubliche Behauptung. Das ist ein unauflösbarer Widerspruch. Das ist das eigentliche Paradox der Geschichte Gottes mit den Menschen und der Menschen mit ihrem Gott. Der Schöpfer ist ein Geschöpf, einer, dieses eine Geschöpf Jesus ist eins mit dem Schöpfer. Ja, das ist unglaublich. Dagegen wehrt sich alles in uns. Gott soll schön im Himmel bleiben und uns in Ruhe lassen. Er, wer immer er sei, lebt dort, und wir leben hier. Er soll sich nicht einmischen. Er soll uns gefälligst in Ruhe lassen. Das ist der eigentliche Skandal, das unaussprechliche Ärgernis, das seine, Jesu Zeitgenossen so erregte, daß sie ihn umbringen mußten nach ihren Gesetzen und Gottesvorstellungen. »Er hat gesagt, er sei Gottes Sohn.«
Heinrich Albertz: Diesseits von Eden (S.19-21), Radius-Verlag, Stuttgart

»Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.«
Der Mensch zwischen gestern und morgen, homo sapiens, ein besonders kompliziertes, intelligentes, gefährdetes rätselhaftes Wesen im Zoologischen Garten? Jeder von uns hat schon vor den Gittern gestanden, in denen wir die anderen Geschöpfe Gottes einsperren. Wer sieht im Zoo eigentlich wen an? Was mag in den Tieren vorgehen, wenn sie uns betrachten? Was unterscheidet uns von ihnen? Essen, Trinken, Schlafen, Zeugen und Gebären, Kämpfen und Unterliegen, Sterben? Unterscheidet uns nicht vor allem von ihnen, daß nur wir unsere eigene Art umbringen, daß wir uns am meisten vor uns selbst zu fürchten haben, ja, daß wir als einzige Lebewesen uns mit eigener Hand töten können? Unpassende Fragen am Altjahrsabend? Wo alles Allotria treibt, säuft und knallt, oder entsetzlich einsam in seiner Stube sitzt — wieder ein Jahr, ein Neues Jahr? Wovon wollen wir, dürfen wir heute reden?

Ich habe meinen neuen Kalender in diesen Tagen in Gebrauch genommen, den Pfarrkalender 79, wie es sich gehört für mich, auch wenn ich nur noch drei Monate Euer Gemeindepfarrer sein werde. Gleich nach dem Titelblatt ist dort über die ganze Seite die Jahreslosung für das heute nacht beginnende Jahr abgedruckt. Es ist ein einziger, unglaublich anspruchsvoller Satz aus der Schöpfungsgeschichte, 1. Mose 1,27: »Gott schuf den Menschen nach seinem Bild.« Wollen wir, dürfen wir davon reden? Ich denke, schon. Ich meine, es kann uns helfen, uns selbst zu erkennen, als die wir sind. Die wir sein sollten. Die wir sein können und dürfen. Also zuerst: Geschöpfe, Geschöpfe Gottes. Wir haben uns nicht selbst gemacht, auch wenn wir inzwischen bis in die letzte Einzelheit wissen, wie ein Mensch entsteht — das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis menschlichen Lebens wird verborgen bleiben bis an das Ende der Tage. Dieses unverwechselbare Leben: denken und reden und verstehen zu können, das haben wir nicht selber gemacht, und das wird auch kein Macher machen können, selbst wenn die Wissenschaft mit all ihren Künsten und Künstlichkeiten den Menschen auch außerhalb des Mutterleibes entstehen lassen kann. Freude und Schmerz, Liebe und Haß zu empfinden und ihn aussprechen können, Gut und Böse unterscheiden können, Mensch sein zu können im Unterschied von allen — noch so sehr geliebten — Tieren, ist Schöpfung dessen, der das Leben selber ist, den wir Gott nennen, ohne seinen Namen zu kennen, der Schöpfer Himmels und der Erde — wie wir in dem alten Glaubensbekenntnis sagen —, der Menschen wollte zwischen den Tieren, eine menschliche Welt, eine Welt der Menschen. Spüren wir den ungeheuren Anspruch? Spüren wir, was es bedeutet, wenn wir zu einem Kinde, wenn der Mann zu seiner Frau, die Frau zu ihrem Mann sagen kann, »du Geschöpf Gottes«, »du herrliches, einmaliges, unverwechselbares Geschöpf Gottes«?

Aber der kleine Satz geht ja noch einen unerhörten Schritt weiter:
»Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde In jedem Geschöpf kannst du also das Antlitz des Schöpfers sehen. Unerhört, fürwahr. Im Gesicht eines lachenden Kindes — vielleicht. Im Antlitz eines geliebten Menschen — vielleicht. In den Augen von Chagall, in den Händen von Rubinstein, in den Gesichtern von Franz von Assisi, von Martin Luther King — vielleicht. Aber auch in den halbverhungerten, verdreckten Gesichtern der kleinen Indios in Bolivien, in den gemarterten Zügen der Gefangenen quer über die Welt, im stumpf gewordenen Gesicht eines türkischen Straßenkehrers, in den entstellten Zügen von Ermordeten oder ihrer Mörder? Das Bild Gottes? Ja, das Bild Gottes.

Ich hoffe, wir merken, was dieses Ja bedeutet. Es bedeutet zuerst, dass wir um Gottes willen keines seiner Geschöpfe loslassen, aufgeben, wegwerfen dürfen. Es bedeutet zum Zweiten, dass wir alles tun müssen, dass Menschen als Geschöpfe Gottes leben können. Es bedeutet, den innersten Kern unseres Auftrags zu leben, hier auf dieser Erde, vor dem Tode als Menschen zu leben. Jeder, der einen Menschen daran hindert, bekommt es mit dessen Schöpfer zu tun. Jeder, der Armut, Hoffnungslosigkeit, Unterdrückung unwidersprochen hinnimmt, zerstört den Sinn des Lebens, dass wir Gottes Geschöpfe sein sollen, sein dürfen. Hier ist die Wurzel alles Glaubens und Liebens und Hoffens.

Wie finden wir zu ihr zurück? Jenseits von Eden, in dieser Todesschattenwelt? Ich habe, Ihr wisst es, nur eine Antwort, deren ich ganz sicher bin. Eine Antwort, hinter der — endlich — kein Fragezeichen mehr steht: Es gibt einen Menschen, der als einziger seit Adam und Eva ein unversehrtes Geschöpf Gottes war. Wir haben seine Geburt in diesen Tagen wieder gefeiert. Wir haben am zweiten Christtag unmissverständlich gehört, wie Gott in diesem Einen zu den Menschen kam, Mensch wurde, einer von uns, Schöpfer und Geschöpf in einem. Wenn wir ihm begegnen, sehen wir in den unfertigen Zügen des Kindes der Maria, in dem Mann auf den Straßen seines Landes, in den gequälten Zügen des sterbenden Jesus am Kreuz ihn, den Unsichtbaren, das Bild Gottes, nach dem wir geschaffen sind. Wir werden ihm wieder begegnen unter Brot und Wein. Wir können ihm jeden Tag und jede Nacht begegnen — wir verfremdeten, fast ganz zerstörten Geschöpfe Gottes, jenseits von Eden, dem Einen unzerstörten Geschöpf.

Gott sei Dank, dass wir von ihm reden dürfen heute abend, »zwischen den Jahren«, zwischen allen unseren Ängsten und Hoffnungen. Gott sei Dank, dass wir ihm begegnen können. Gott sei Dank. Amen.

Aus: Heinrich Albertz: Diesseits von Eden (S.24-27), Radius-Verlag, Stuttgart