Jean-Baptiste le Rond D’Alembert (1717 -1783)

Französischer Philosoph, Mathematiker und Literat, der zusammen mit Diderot die ersten sieben Bände der französischen »Encyclopédie« (Enzyklopädie) herausgab, deren Einleitung »Discours préliminaire de l’encyclopédie« (Einleitung in die französische Enzyklopädie) von ihm selbst verfasst wurde. In Bezug auf den englischen Empirismus (Locke) stellte er seine rationalistische und sensualistische Erkenntnistheorie auf, in der er die Erfahrungswissenschaften begründen wollte und die grundlegend für den Positivismus wurde. D’Alembert verfasste eine Fülle von philosophischen, naturwissenschaftlichen, literarischen, historischen und musikalischen Abhandlungen, die ihn dazu prädestinierten, universalwissenschaftliches Ideal der Aufklärung werden. Nach ihm ist das von ihm aufgestellte »Alembertsche Prinzip der Mechanik« genannt, in dem dynamische Probleme auf leichter zu lösende statische zurückgeführt werden. 1746 versuchte er den Fundamentalsatz der Algebra zu beweisen und 1747 gelang es ihm die partielle Differentialgleichung der schwingenden Saite zu lösen.  

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Aus der »Einleitung in die Enzyklopädie«

Grenzen der Erkenntnis
Wert und Umfang der mathematischen Wissenschaften
  Gott  

Aus der »Einleitung in die Enzyklopädie«
Grenzen der Erkenntnis
Bleiben wir hier einen Augenblick stehen und werfen wir einen Blick auf den bis jetzt durchlaufenen Weg. Wir bemerken da zwei Grenzen, innerhalb deren sich fast alles sichere Wissen, das unserer natürlichen Einsicht vergönnt ist, gleichsam zusammengedrängt finden. Die eine dieser Grenzen, und zwar die, von der wir ausgegangen sind, ist die Vorstellung von uns selbst, die zu der Vorstellung von dem Allmächtigen Wesen und unserer hauptsächlichen Pflichten hinführt. Die andere ist jener Teil der Mathematik, der die allgemeinen Eigenschaften der Körper, des Raumes und der Größe zum Gegenstande hat. Zwischen diesen beiden Endpunkten liegt ein unermesslicher Zwischenraum, wo es der Höchsten Intelligenz beliebt zu haben scheint, mit der menschlichen Neugier ihr Spiel zu treiben, nicht nur durch die zahllosen Wolken, die sie darüber ausgebreitet hat, sondern auch durch die vereinzelten Lichtstrahlen, die aus ihnen von Zeit zu Zeit aufleuchten, um uns anzulocken. Man könnte das Weltall mit gewissen Schriftwerken von erhabener Dunkelheit vergleichen, deren Verfasser sich bisweilen zu der Geistessphäre des Lesers herablassen, um ihm einzureden, dass er ja alles nahezu verstände. Heil uns, wenn wir uns geloben, in diesem Labyrinthe den wahren Weg nie zu verlassen! Sonst würden die Lichtblicke, die uns zu ihm hinzuführen bestimmt sind, häufig nur dazu dienen, uns von ihm immer mehr zu entfernen.

Die geringe Zahl von Kenntnissen, auf die wir uns mit Gewissheit verlassen können, und die, wenn man sich so ausdrücken darf, an die beiden äußersten Grenzen des von uns besprochenen Gebietes verwiesen sind, vermag übrigens durchaus nicht, in ausreichendem Maße allen unseren Bedürfnissen zu genügen. Schon allein das Wesen des Menschen, dessen Erforschung doch so unentbehrlich ist, ist für ihn ein undurchdringliches Geheimnis, wenn er es lediglich mit dem Verstand zu ergründen sucht. Und die größten Genies gelangen mit dem angestrengtesten Nachdenken über diese so wichtige Materie nur zu oft dahin, dass sie schließlich noch etwas weniger davon wissen, als die übrigen Sterblichen. Genau dasselbe kann man bezüglich der Fragen über unsere gegenwärtige und zukünftige Existenz behaupten, über die Beschaffenheit des Höchsten Wesens, dem wir jene verdanken, und über die Art der Verehrung, die es von uns fordert.
Darum ist uns nichts unentbehrlicher als eine geoffenbarte Religion, um uns über so vielerlei verschiedenartige Dinge zu belehren. Zur Ergänzung unseres natürlichen Erkenntnisvermögens bestimmt, zeigt sie uns einen Teil dessen, was uns bisher verborgen blieb. Aber sie beschränkt sich auf das Minimum dessen, was uns zu wissen unumgänglich ist. Das übrige ist für uns verschlossen und wird es anscheinend immer bleiben. Einige Wahrheiten, die man glauben, und eine kleine Anzahl Vorschriften, nach denen man handeln soll, das ist das ganze, worauf sich die
geoffenbarte Religion beschränkt. Nichtsdestoweniger ist dank der Erleuchtung, die sie über die Welt verbreitet hat, das Volk sogar in einer großen Zahl wichtiger Fragen fester und schlüssiger, als es alle philosophischen Sekten gewesen sind.

Wert und Umfang der mathematischen Wissenschaften
Was die mathematischen Wissenschaften betrifft, welche die andere der von uns erwähnten Grenzen bilden, so dürfen wir uns über ihren Wert und ihren Umfang keiner Täuschung hingeben. Denn ihre Gewissheit verdanken sie hauptsächlich der Einfachheit ihres Gegenstandes. Ja, man muss sogar eingestehen, dass, wie nicht alle Teile der Mathematik einen gleich einfachen Gegenstand behandeln, so auch nicht allen diesen Abteilungen in gleichem Maße und gleicher Weise Gewissheit im eigentlichen Sinne zukommt, jene Gewissheit, die auf notwendig wahren und in sich selbst klaren Grundsätzen beruht. Mehrere derselben, die sich auf physikalische Grundsätze stützen, also auf Erfahrungswahrheiten oder auf bloße Hypothesen, haben, wie man sagen kann, auch nur die Gewissheit einer Erfahrung oder gar nur der bloßen Vermutung. Streng genommen, kann man nur diejenigen Abteilungen, die von der Berechnung der Größen und von den allgemeinen Eigenschaften des Raumes handeln, also die Algebra, die Geometrie und die Mechanik als mit dem Stempel der Evidenz beglaubigt ansehen. Selbst bei diesen Wissenschaften kann man bezüglich der Aufklärung, die sie unserem Geiste gewähren, eine Art Abstufung und, man möchte sagen, Abtönung beobachten. Je umfangreicher der Gegenstand ist, den sie umspannen, und je allgemeiner und abstrakter die Art der Betrachtung ist, desto weniger sind ihre Grundlehren von Dunkelheiten umfangen. Aus diesem Grunde ist die Geometrie einfacher als die Mechanik und sind beide weniger einfach als die Algebra. Es ist dies kein Widersinn für diejenigen, die diese Wissenschaften als Philosophen betreiben.

Die abstraktesten Begriffe, also diejenigen, die der Durchschnitt der Menschen für die unzugänglichsten ansieht, zeichnen sich häufig gerade durch ihre größere Klarheit aus; die Dunkelheit bemächtigt sich unserer Vorstellungen in dem Maße, je mehr von sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften an einem Gegenstand untersucht wird. Die Undurchdringlichkeit, die wir mit der Vorstellung des ausgedehnten Raumes verbinden, scheint uns nur ein Geheimnis mehr zu bieten; das Wesen der Bewegung ist ein Rätsel für die Philosophen; das metaphysische Prinzip der Stoßgesetze ist ihnen nicht weniger verborgen; mit einem Worte, je mehr sie sich in ihre Vorstellung von der Materie und den sie darstellenden Eigenschaften vertiefen, desto mehr verdunkelt sich diese Vorstellung und droht ihnen zu entschlüpfen. —

Demnach kann man sich nicht verhehlen, dass nicht alle mathematischen Kenntnisse den Geist in gleichem Maße befriedigen. Gehen wir weiter und prüfen wir ohne Voreingenommenheit die Grundlage dieser Kenntnisse. Beim ersten Anblick erscheinen sie uns zweifellos sehr zahlreich und in gewissem Sinne sogar unerschöpflich. Nimmt man aber ihre Sammlung und Zählung nach philosophischen Gesichtspunkten vor, so bemerkt man, dass wir tatsächlich viel weniger reich sind, als wir glaubten. Ich spreche hier gar nicht von der Beschränkung, die wir uns in der Anwendung und Benutzung mehrerer dieser Wahrheiten auferlegen müssen; das würde wohl als ziemlich schwaches Beweismittel gegen sie zu verwenden sein; ich rede von diesen Wahrheiten als solchen. Was ist die Mehrzahl jener Axiome, auf die die Mathematik so stolz ist, denn anders als der Ausdruck einer und derselben einfachen Vorstellung durch zwei verschiedene Zeichen oder Worte? Hat derjenige, welcher sagt: 2 und 2 sind 4, eine Erkenntnis mehr, als der, welcher sich begnügt zu sagen: 2 und 2 machen 2 und 2? Die Vorstellungen vom Ganzen, vom Teil, vom Größeren und Kleineren, — sind sie nicht, genau genommen, dieselbe einfache und untrennbare Vorstellung, da man die eine nicht haben kann, ohne dass alle anderen sich zu gleicher Zeit einstellen? S. 21-25 […]

Gott
An der Spitze der geistigen Wesen steht Gott, der nach seiner Natur und nach unserem Drange, ihn zu erkennen, die erste Stelle einnehmen muss. Unter diesem Höchsten Wesen stehen die erschaffenen Geister, deren Existenz uns von der Offenbarung gelehrt wird. Dann kommt der Mensch; gemäß seiner Zusammensetzung aus zwei Prinzipien gehört er mit seiner Seele zu den Geistern und mit seinem Körper zur materiellen Welt; und endlich jenes unermessliche Universum, welches wir Körperwelt oder Natur nennen. Wir wissen nicht, aus welchem Grunde der berühmte Autor, dessen Führung wir bei dieser Einteilung gefolgt sind, in seinem System die Natur vor den Menschen gestellt hat; es scheint doch im Gegenteil alles dazu zu zwingen, den Menschen an den Übergangspunkt zu stellen, welcher Gott und die Geister von den Körpern scheidet.

Soweit sich die Geschichte mit Gott beschäftigt, umfasst sie die Offenbarung oder die Überlieferung und wird unter diesen zwei Gesichtspunkten in biblische und in Kirchengeschichte eingeteilt. […]

Die Wissenschaft von Gott, Theologie geheißen, hat zwei Abteilungen: die natürliche Theologie hat von Gott keine andere Kenntnis, als die uns die Vernunft allein erschließt und ist daher nicht sehr ergiebig; die geoffenbarte Theologie schöpft aus der biblischen Geschichte eine viel vollkommenere Kenntnis dieses Wesens. Aus derselben Offenbarungstheologie entspringt die Wissenschaft von den erschaffenen Geistern. Doch glaubten wir, auch hier von unserem Autor abweichen zu müssen. Es bedünkt uns, dass diese Wissenschaft, wenn man sie als zur Vernunft gehörig ansieht, durchaus nicht, wie er es getan hat, in Theologie und Philosophie geteilt werden sollte. Denn die Offenbarungstheologie ist ja nichts anderes als die auf die geoffenbarten Tatsachen angewandte Vernunft. Man kann sagen, dass sie durch die von ihr gelehrten Dogmen zur Geschichte gehört und durch die Folgerungen, welche sie aus diesen Dogmen zieht, zur Philosophie. Die Theologie von der Philosophie trennen, hieße, vom Stamm einen Schößling reißen, welcher von Natur mit ihm verwachsen ist. Ebenso dünkt uns, dass die Wissenschaft von den Geistern viel enger zur Offenbarungstheologie als zur natürlichen Theologie gehört. S. 51-53
Aus: D’Alembert, Einleitung in die französische Enzyklopädie von 1775, Leipzig . Verlag von Felix Meiner 1912, Philosophische Bibliothek Band 140a