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Allwissenheit
(lat. omniscientia)
Siehe auch bei Eisler
und Kirchner
Inhaltsverzeichnis
Versuch
einer logisch in sich stimmigen Umschreibung des Begriffes »Allwissenheit«
Unter Allwissenheit wird
im Allgemeinen das »Wissen von allem«
verstanden, was im Einzelnen eigentlich nur bedeuten kann, dass ein hypothetisch
angenommenes »allwissendes Wesen«
alles wissen können muss,
was in der Vergangenheit geschehen
ist, was augenblicklich geschieht
und was zukünftig geschehen wird, sofern es das will. Dazu
gehört natürlich auch, dass ein allwissendes
Wesen jeden Gedanken in
jedem einzelnen (menschlichen) Wesen erkennen können muss, den es jemals einmal (früher, in der Vergangenheit) gedacht hat,
den es eben gerade jetzt (in der Gegenwart, in diesem Augenblick) denkt und eventuell künftig (in der Zukunft) einmal denken wird.
Es ist einleuchtend, dass in dem allwissenden
Wesen ein Können (Vermögen,
Fähigkeit) vorhanden sein muss, in welchem dieses Erkennen
verwirklicht werden kann, sofern dies
gewollt wird .
Die Betonung liegt auf Können und Wollen: Das allwissende
Wesen muss zwar
alles erkennen können, aber
es muss dieses Können
keinesfalls in
jedem einzelnen Fall anwenden,
weil sonst sein Freiheitsspielraum in einem unzumutbaren, auf Dauer kaum erträglichem Maße eingeschränkt
würde.
Auch können nur so unauflösbare Konflikte (Widersprüche) mit Allmacht, Vollkommenheit, Vorsehung und menschlicher Willens-Freiheit etc. vermieden werden.
Eine wesentliche Voraussetzung für die Allwissenheit ist die Möglichkeit, allgegenwärtig sein zu können.
Boethius
(480 – 524)
Das göttliche Wissen
hat nur eine einzige einfache Gegenwart
Da nun aber jedes Urteil die Dinge, auf die es sich richtet,
nur nach der eigenen Natur des Urteilenden erkennt, und da Gott seiner Natur
nach ewig und allgegenwärtig ist, so geht auch das göttliche Wissen
über alle zeitliche Bewegung hinaus und hat nur eine einzige, einfache
Gegenwart. Es umfasst also auch die unendlichen
Räume der Vergangenheit und der Zukunft und schaut in seiner
einfachen Erkenntnis alles, als ob es gerade jetzt
gegenwärtig geschehe. Willst du diese Gegenwärtigkeit,
in der Gott alles zugleich erkennt, richtig, begreifen, so darfst du sie nicht
als ein Vorherwissen künftiger Dinge, sondern nur als ein Wissen des allzeit
Gegenwärtigen auffassen. Ebenso sollte man demgemäß auch
nicht von einem Vorausschauen,
sondern nur von einem »Schauen«
schlechthin reden, das machtvoll erhaben über alle niederen Dinge wie von
einer hohen Warte herab das All überblickt!
Kannst du nun etwa noch behaupten, dass dasjenige, was vom Auge der Gottheit
geschaut werde, darum auch notwendig geschehen müsse, da doch auch die
Menschen das, was sie sehen, dadurch nicht notwendig machen? Oder glaubst du
etwa, dass dem Dinge, das du als gegenwärtig erkennst, eben dein Blick
irgend welche Notwendigkeit beilegen könne?« -
»Gewiss nicht!« - »Wenn wir also demnach die göttliche
und die menschliche Gegenwart einmal miteinander vergleichen, soweit eine solche
Vergleichung überhaupt zulässig ist, so ist zu sagen, dass, wie ihr
Menschen gewisse bestimmte Dinge in eurer zeitlichen Gegenwart wahrnehmt, dass
so Gott die Gesamtheit aller Dinge in seiner ewigen Allgegenwart schaut. Daher
ändert das göttliche Vorherschauen oder vielmehr Schauen das Wesen
und die Eigenheit der Dinge nicht, sieht sie vielmehr nur einfach so als gegenwärtige
vor sich, wie sie in der Zeit als künftige geschehen werden. Unfehlbar
und ohne jeden Irrtum in der Beurteilung erkennt er in einem einzigen geistigen
Erfassen sowohl, was notwendig, als auch, was frei und willkürlich eintreffen
wird. Es ist ebenso wie wenn ihr gleichzeitig einen Menschen auf der Erde lustwandeln
und die Sonne am Himmel aufgehen seht: obgleich ihr beides zugleich erblickt,
so macht ihr doch einen Unterschied und erkennt das eine als eine freiwillige
Bewegung, das andere als einen notwendigen Vorgang.
Ebenso hält auch Gott, der alles zugleich schaut, die verschiedenen Dinge
sehr wohl auseinander, die ihm selber als gegenwärtig erscheinen, vom Standpunkte
des Zeitablaufs aber erst in der Zukunft geschehen werden. Deshalb hat Gott
aber auch keine bloße Meinung oder Ahnung, sondern ein auf vollkommenster
Wahrheit beruhendes Erkennen, da er bei den Dingen, deren Dasein er wahrnimmt,
auch sehr wohl weiß, wann seine Notwendigkeit für ihr eintreten vorgelegen
hat.
Wenn du darauf nun doch noch sagst, es sei unmöglich, dass dasjenige, dessen
künftiges Erscheinen Gott sieht, nicht geschehe, dass aber dasjenige, dessen
Nicht- Eintreffen unmöglich ist, eben notwendig geschehen müsse, und
wenn du mir dabei gerade das Wort Notwendigkeit durchaus aufzwingen willst,
so werde ich darauf etwas erwidern, das zwar unbestreitbar wahr ist, das aber
wohl nur ein treuer Erforscher des göttlichen Wesens verstehen wird. Ich
antworte dir nämlich, dass dasselbe künftige Ereignis, mit Rücksicht
auf die Kenntnis, die Gott von ihm hat, notwendig ist, seiner eigenen Natur
nach aber vollkommen frei und ungezwungen geschieht.
Es gibt nämlich zwei Arten von Notwendigkeit, die einfache, wie z.B. in
dem Satz: »Alle Menschen müssen notwendigerweise
sterben«, und eine bedingte, wonach es z.B. notwendig ist, dass
ein Mensch, von dem du gewiss weißt, dass er spazieren geht, auch wirklich
spazieren geht. Denn was jemand wirklich weiß, das kann natürlich
nicht anders sein, als er es weiß, aber diese Bedingung bewirkt doch immer
noch nicht jene andere einfache Notwendigkeit.
Die zweite Art der Notwendigkeit liegt eben nicht in der eigenen Natur des betreffenden
Vorgangs, sondern sie wird nur durch den Hinzutritt einer Bedingung bewirkt.
Den freiwilligen Spaziergänger treibt doch keine zwingende Notwendigkeit
zum Gehen, obgleich er natürlich dann, wenn er umherspaziert, notwendigerweise
gehen muss. Ebenso muss auch das, was die Vorsehung als gegenwärtig schaut,
notwendigerweise geschehen, wenn auch in seiner eigenen Natur keine Notwendigkeit
dafür begründet ist. Nun sind aber dem göttlichen Geiste auch
diejenigen zukünftigen Dinge gegenwärtig, die aus voller Freiheit
des Willens hervorgehen. Diese sind also mit Rücksicht auf das göttliche
Schauen notwendig, weil eben das Bedingtsein durch die Kenntnis, die Gott von
ihnen hat, hinzukommt; an sich betrachtet behalten sie aber durchaus die volle
Freiheit ihrer Natur. Es ist also zweifellos, daß alle Dinge, die Gott
als künftige erkennt, auch wirklich geschehen, aber einige von ihnen treten
eben auf Grund freier Willensentschließung ein und verlieren mit ihrer
Verwirklichung noch nicht ihren eigenartigen Charakter, kraft dessen sie vor
ihrem Eintreffen auch ebenso gut hätten ungeschehen bleiben können.
Was hat das Nicht-notwendig-sein nun aber für einen Sinn, wenn auch nicht
notwendige Dinge kraft der Bedingtheit durch das göttliche Wissen genau
so, als ob sie notwendig wären, geschehen müssen? Es ist hierbei ebenso,
wie mit den kurz vorher erwähnten Dingen, dem Wandeln des Menschen und
dem Aufgehen der Sonne. In dem Moment, wo diese Dinge geschehen, ist es unmöglich,
dass sie nicht geschehen, und dabei war das eintreten des einen auch schon vor
seiner Verwirklichung notwendig, während dies bei dem anderen durchaus
nicht der Fall war. Ebenso ist nun auch die Verwirklichung der von Gott als
gegenwärtig geschauten Dinge über jeden Zweifel erhaben und doch sind
die einen von ihnen sachlich notwendig, die anderen dagegen von der Willkür
handelnder Menschen abhängig. Von diesen letzteren können wir also
mit Recht sagen, sie seien mit Rücksicht auf die göttliche Allwissenheit
notwendig, für sich betrachtet aber frei von allem Zwang der Notwendigkeit,
ähnlich wie die durch die Sinne erkennbaren Gegenstände, vom Standpunkt
des Verstandes aus aufgefasst, gewisse allgemeine Begriffe verkörpern,
an sich betrachtet aber nur Einzeldinge sind.
Nun wirst du vielleicht noch sagen: wenn es wirklich in meiner Macht steht,
meine Vorsätze beliebig zu ändern, so kann ich ja die Vorsehung zu
schanden machen, indem ich das, was sie vorauszusehen glaubt, einfach willkürlich
andere. Darauf erwidere ich dir: Es ist zwar richtig, daß du deine Vorsätze
ändern kannst, aber da der allgegenwärtige, untrügliche Blick
der Vorsehung eben auch erkennt, dass du dies kannst und auch ob du es wirklich
tust und nach welcher Richtung hin deine Willensänderung sich wendet, so
kannst du trotz alledem dem göttlichen Vorherwissen nicht entgehen, wie
du ja auch dem Blick eines gegenwärtigen Auges nicht entgehen kannst, so
mannigfache Handlungen, du auch aus freiem Willen vornehmen magst.
Was wirst du auf dies alles nun sagen? Glaubst du immer noch, dass das göttliche
Wissen durch deine Willensbestimmungen verändert wird, in der Weise, dass
sich mit den Änderungen deines Willens auch das göttliche Wissen jedes
Mal ändern muss? –
Nein, ich sehe es, du glaubst es nicht mehr! Es eilt vielmehr das Schauen, der
Gottheit allem künftigen Geschehen voraus: und versetzt es in die eine
Gegenwart, die seine Erkenntnis völlig umfasst. Es ändert sich: nicht,
wie du meinst weil es bald dies, bald jenes vorher wissen müsse, sondern
selber immer unverändert kommt es mit einem einzigen Blicke allen Veränderungen
zuvor und umfasst sie alle zugleich und miteinander!
Diese Gegenwärtigkeit des Erfassens und Schauens aller Dinge besitzt Gott
nicht wegen der dereinstigen Verwirklichung des Zukünftigen, sondern lediglich
kraft seines eigenen, einfachen Wesens. Damit lösen sich nun auch die Zweifel,
die du vorhin äußertest, als du es für unwürdig erklärtest,
unsere, zukünftigen Schicksale als Ursache der göttlichen Allwissenheit
zu bezeichnen. Hat doch diese Kraft der Allwissenheit, die alles als gegenwärtig
erkennt und umfasst, selbst die Art der Erscheinung aller Dinge bestimmt,
ist aber in keiner Weise ihrerseits von künftigen Ereignissen abhängig.
Somit bleibt also dem Sterblichen die ungehemmte Freiheit seiner Entschließungen
gewahrt und es sind keine unbilligen Gesetze, die dem von jedem Zwang befreiten
Willen Belohnungen und Strafen in Aussicht stellen. Bestehen bleibt auch die
Gottheit in voller Kraft und Bedeutung, die aus der Höhe herab alles überschaut
und alles vorausweiß, es bleibt auch die ewige Allgegenwart des göttlichen
Schauens, dem auch unser künftiges Tun und Treiben immer gegenwärtig
sein wird und kraft deren allzeit, gerecht den Guten Belohnungen, den Bösen
aber Strafen zu teil werden. Nicht vergeblich sind die auf Gott gerichteten
Hoffnungen und die zu ihm emporsteigenden Gebete, die nicht unerfüllt bleiben
können, wenn sie Gerechtes erflehen und aufrichtig gemeint sind! Widersteht
also dem Laster, übt immer die Tugend, erhebt die Seele in gerechter Hoffnung
und richtet demütige Gebete zum Himmel empor!
Wollt ihr euch nicht absichtlich dagegen verschließen, so müsst ihr
erkennen, dass in der Tat eine zwingende Notwendigkeit für euch besteht,
euch dem Guten zuzuwenden, denn ihr lebt und ihr handelt vor den Augen eines
allsehenden Richters!«
[Boethius: Die Tröstungen der Philosophie, S.
206 ff. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 8499 (vgl. Boethius-Trost,
S. 152 ff.)]
Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646 - 1716)
Allwissenheit umfasst alles,
was Wissensgegenstand sein kann
13. So viel von der Macht Gottes; jetzt ist von seiner
Weisheit zu sprechen, welche von ihrer Unermesslichkeit die Allwissenheit
genannt wird. Da diese selbst die vollkommenste ist
(ebenso wie die Allmacht) so umfasst
sie alles Vorstellen und alle Wahrheit, d.h. alles Einfache und Verbundene,
was ein Gegenstand des Wissens sein kann und sie befasst sowohl das Mögliche,
wie das Wirkliche.
14. Sie betrifft das Mögliche, wo sie das Wissen der einfachen Einsicht
heißt und sie umfasst sowohl die Dinge, wie deren Verbindungen; beide
sind entweder notwendige oder zufällige.
15. Das zufällige Mögliche kann gewusst werden, teils als getrenntes,
teils geordnet zu ganzen möglichen unzähligen Welten, deren jede Gott
vollkommen bekannt ist, wenn auch von ihnen nur eine in das Sein übergeführt
wird. Denn mehrere wirkliche Welten anzunehmen, hat keine Bedeutung, da die
eine die ganze Gemeinschaft der Geschöpfe in allen Zeiten und Orten umfasst
und in diesem Sinne das Wort Welt hier genommen wird.
16. Das Wissen des Wirklichen, oder der zum Dasein übergeführten Welt,
und alles Vergangenen, Gegenwärtigen und Kommenden in ihr heißt das
schauende Wissen und ist von dem Wissen der einfachen Einsicht dieser Welt,
als einer möglichen aufgefasst, nicht weiter verschieden, als dass die
rückbezügliche Kenntnis hinzukommt, wodurch Gott seinen Beschluss,
die Welt zum Dasein überzuführen, kennt. Auch bedarf es keiner andern
Grundlage für das göttliche Vorauswissen.
17. Das Wissen, welches gewöhnlich das mittlere genannt wird, ist unter
dem Wissen der einfachen Einsicht in dessen, hier angegebenem Sinne enthalten.
Will indes jemand ein mittleres Wissen zwischen dem Wissen der einfachen Einsicht
und dem schauenden Wissen festhalten, so kann er das schauende und das mittlere
Wissen anders fassen, als gewöhnlich geschieht, nämlich dass das mittlere
nicht bloß von den künftigen bedingten Dingen, sondern auch allgemein
von dem möglichen Zufälligen verstanden wird. Dann wird das Wissen
der einfachen Einsicht enger gefasst, nämlich dass es nur von den möglichen
und dabei notwendigen Wahrheiten handelt, und das mittlere Wissen von den möglichen
und dabei zufälligen Wahrheiten und das schauende Wissen von den zufälligen
und dabei wirklichen Wahrheiten. Das mittlere Wissen wird dann mit dem erstem
das gemeinsam haben, dass es von den möglichen Wahrheiten handelt und mit
dem letztem, dass es von den zufälligen Wahrheiten handelt.
[Leibniz: Die Theodicee, S. 795. Digitale Bibliothek
Band 2: Philosophie, S. 18112 (vgl. Leibniz-Theod., S. 505)]
Emanuel von Swedenborg
(1688
– 1772)
Gottes
Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart