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Allwissenheit (lat. omniscientia)
Siehe auch bei
Eisler
und Kirchner

Inhaltsverzeichnis

Definition des Begriffes »Allwissenheit«
Boethius: Das göttliche Wissen hat nur eine einzige einfache Gegenwart
Leibniz: Allwissenheit umfasst alles, was Wissensgegenstand sein kann
Swedenborg: Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart

Versuch einer logisch in sich stimmigen Umschreibung des Begriffes »Allwissenheit«
Unter Allwissenheit wird im Allgemeinen das »Wissen von allem« verstanden, was im Einzelnen eigentlich nur bedeuten kann, dass ein hypothetisch angenommenes »allwissendes Wesen« alles wissen können muss, was in der Vergangenheit geschehen ist, was augenblicklich geschieht und was zukünftig geschehen wird, sofern es das will. Dazu gehört natürlich auch, dass ein allwissendes Wesen jeden Gedanken in jedem einzelnen (menschlichen) Wesen erkennen können muss, den es jemals einmal (früher, in der Vergangenheit) gedacht hat, den es eben gerade jetzt (in der Gegenwart, in diesem Augenblick) denkt und eventuell künftig (in der Zukunft) einmal denken wird.

Es ist einleuchtend, dass in dem allwissenden Wesen ein Können (Vermögen, Fähigkeit) vorhanden sein muss, in welchem dieses Erkennen verwirklicht werden kann, sofern dies gewollt wird .

Die Betonung liegt auf Können und Wollen: Das allwissende Wesen muss zwar alles erkennen können, aber es muss dieses Können keinesfalls in jedem einzelnen Fall anwenden, weil sonst sein Freiheitsspielraum in einem unzumutbaren, auf Dauer kaum erträglichem Maße eingeschränkt würde.

Auch können nur so unauflösbare Konflikte (Widersprüche) mit Allmacht, Vollkommenheit, Vorsehung und menschlicher Willens-Freiheit etc. vermieden werden.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Allwissenheit ist die Möglichkeit, allgegenwärtig sein zu können.

Boethius (480 – 524)
Das göttliche Wissen hat nur eine einzige einfache Gegenwart
Da nun aber jedes Urteil die Dinge, auf die es sich richtet, nur nach der eigenen Natur des Urteilenden erkennt, und da Gott seiner Natur nach ewig und allgegenwärtig ist, so geht auch das göttliche Wissen über alle zeitliche Bewegung hinaus und hat nur eine einzige, einfache Gegenwart. Es umfasst also auch die unendlichen Räume der Vergangenheit und der Zukunft und schaut in seiner einfachen Erkenntnis alles, als ob es gerade jetzt gegenwärtig geschehe. Willst du diese Gegenwärtigkeit, in der Gott alles zugleich erkennt, richtig, begreifen, so darfst du sie nicht als ein Vorherwissen künftiger Dinge, sondern nur als ein Wissen des allzeit Gegenwärtigen auffassen. Ebenso sollte man demgemäß auch nicht von einem Vorausschauen, sondern nur von einem »Schauen« schlechthin reden, das machtvoll erhaben über alle niederen Dinge wie von einer hohen Warte herab das All überblickt!

Kannst du nun etwa noch behaupten, dass dasjenige, was vom Auge der Gottheit geschaut werde, darum auch notwendig geschehen müsse, da doch auch die Menschen das, was sie sehen, dadurch nicht notwendig machen? Oder glaubst du etwa, dass dem Dinge, das du als gegenwärtig erkennst, eben dein Blick irgend welche Notwendigkeit beilegen könne?« -

»Gewiss nicht!« - »Wenn wir also demnach die göttliche und die menschliche Gegenwart einmal miteinander vergleichen, soweit eine solche Vergleichung überhaupt zulässig ist, so ist zu sagen, dass, wie ihr Menschen gewisse bestimmte Dinge in eurer zeitlichen Gegenwart wahrnehmt, dass so Gott die Gesamtheit aller Dinge in seiner ewigen Allgegenwart schaut. Daher ändert das göttliche Vorherschauen oder vielmehr Schauen das Wesen und die Eigenheit der Dinge nicht, sieht sie vielmehr nur einfach so als gegenwärtige vor sich, wie sie in der Zeit als künftige geschehen werden. Unfehlbar und ohne jeden Irrtum in der Beurteilung erkennt er in einem einzigen geistigen Erfassen sowohl, was notwendig, als auch, was frei und willkürlich eintreffen wird. Es ist ebenso wie wenn ihr gleichzeitig einen Menschen auf der Erde lustwandeln und die Sonne am Himmel aufgehen seht: obgleich ihr beides zugleich erblickt, so macht ihr doch einen Unterschied und erkennt das eine als eine freiwillige Bewegung, das andere als einen notwendigen Vorgang.

Ebenso hält auch Gott, der alles zugleich schaut, die verschiedenen Dinge sehr wohl auseinander, die ihm selber als gegenwärtig erscheinen, vom Standpunkte des Zeitablaufs aber erst in der Zukunft geschehen werden. Deshalb hat Gott aber auch keine bloße Meinung oder Ahnung, sondern ein auf vollkommenster Wahrheit beruhendes Erkennen, da er bei den Dingen, deren Dasein er wahrnimmt, auch sehr wohl weiß, wann seine Notwendigkeit für ihr eintreten vorgelegen hat.

Wenn du darauf nun doch noch sagst, es sei unmöglich, dass dasjenige, dessen künftiges Erscheinen Gott sieht, nicht geschehe, dass aber dasjenige, dessen Nicht- Eintreffen unmöglich ist, eben notwendig geschehen müsse, und wenn du mir dabei gerade das Wort Notwendigkeit durchaus aufzwingen willst, so werde ich darauf etwas erwidern, das zwar unbestreitbar wahr ist, das aber wohl nur ein treuer Erforscher des göttlichen Wesens verstehen wird. Ich antworte dir nämlich, dass dasselbe künftige Ereignis, mit Rücksicht auf die Kenntnis, die Gott von ihm hat, notwendig ist, seiner eigenen Natur nach aber vollkommen frei und ungezwungen geschieht.

Es gibt nämlich zwei Arten von Notwendigkeit, die einfache, wie z.B. in dem Satz: »Alle Menschen müssen notwendigerweise sterben«, und eine bedingte, wonach es z.B. notwendig ist, dass ein Mensch, von dem du gewiss weißt, dass er spazieren geht, auch wirklich spazieren geht. Denn was jemand wirklich weiß, das kann natürlich nicht anders sein, als er es weiß, aber diese Bedingung bewirkt doch immer noch nicht jene andere einfache Notwendigkeit.

Die zweite Art der Notwendigkeit liegt eben nicht in der eigenen Natur des betreffenden Vorgangs, sondern sie wird nur durch den Hinzutritt einer Bedingung bewirkt. Den freiwilligen Spaziergänger treibt doch keine zwingende Notwendigkeit zum Gehen, obgleich er natürlich dann, wenn er umherspaziert, notwendigerweise gehen muss. Ebenso muss auch das, was die Vorsehung als gegenwärtig schaut, notwendigerweise geschehen, wenn auch in seiner eigenen Natur keine Notwendigkeit dafür begründet ist. Nun sind aber dem göttlichen Geiste auch diejenigen zukünftigen Dinge gegenwärtig, die aus voller Freiheit des Willens hervorgehen. Diese sind also mit Rücksicht auf das göttliche Schauen notwendig, weil eben das Bedingtsein durch die Kenntnis, die Gott von ihnen hat, hinzukommt; an sich betrachtet behalten sie aber durchaus die volle Freiheit ihrer Natur. Es ist also zweifellos, daß alle Dinge, die Gott als künftige erkennt, auch wirklich geschehen, aber einige von ihnen treten eben auf Grund freier Willensentschließung ein und verlieren mit ihrer Verwirklichung noch nicht ihren eigenartigen Charakter, kraft dessen sie vor ihrem Eintreffen auch ebenso gut hätten ungeschehen bleiben können.

Was hat das Nicht-notwendig-sein nun aber für einen Sinn, wenn auch nicht notwendige Dinge kraft der Bedingtheit durch das göttliche Wissen genau so, als ob sie notwendig wären, geschehen müssen? Es ist hierbei ebenso, wie mit den kurz vorher erwähnten Dingen, dem Wandeln des Menschen und dem Aufgehen der Sonne. In dem Moment, wo diese Dinge geschehen, ist es unmöglich, dass sie nicht geschehen, und dabei war das eintreten des einen auch schon vor seiner Verwirklichung notwendig, während dies bei dem anderen durchaus nicht der Fall war. Ebenso ist nun auch die Verwirklichung der von Gott als gegenwärtig geschauten Dinge über jeden Zweifel erhaben und doch sind die einen von ihnen sachlich notwendig, die anderen dagegen von der Willkür handelnder Menschen abhängig. Von diesen letzteren können wir also mit Recht sagen, sie seien mit Rücksicht auf die göttliche Allwissenheit notwendig, für sich betrachtet aber frei von allem Zwang der Notwendigkeit, ähnlich wie die durch die Sinne erkennbaren Gegenstände, vom Standpunkt des Verstandes aus aufgefasst, gewisse allgemeine Begriffe verkörpern, an sich betrachtet aber nur Einzeldinge sind.

Nun wirst du vielleicht noch sagen: wenn es wirklich in meiner Macht steht, meine Vorsätze beliebig zu ändern, so kann ich ja die Vorsehung zu schanden machen, indem ich das, was sie vorauszusehen glaubt, einfach willkürlich andere. Darauf erwidere ich dir: Es ist zwar richtig, daß du deine Vorsätze ändern kannst, aber da der allgegenwärtige, untrügliche Blick der Vorsehung eben auch erkennt, dass du dies kannst und auch ob du es wirklich tust und nach welcher Richtung hin deine Willensänderung sich wendet, so kannst du trotz alledem dem göttlichen Vorherwissen nicht entgehen, wie du ja auch dem Blick eines gegenwärtigen Auges nicht entgehen kannst, so mannigfache Handlungen, du auch aus freiem Willen vornehmen magst.

Was wirst du auf dies alles nun sagen? Glaubst du immer noch, dass das göttliche Wissen durch deine Willensbestimmungen verändert wird, in der Weise, dass sich mit den Änderungen deines Willens auch das göttliche Wissen jedes Mal ändern muss? –
Nein, ich sehe es, du glaubst es nicht mehr! Es eilt vielmehr das Schauen, der Gottheit allem künftigen Geschehen voraus: und versetzt es in die eine Gegenwart, die seine Erkenntnis völlig umfasst. Es ändert sich: nicht, wie du meinst weil es bald dies, bald jenes vorher wissen müsse, sondern selber immer unverändert kommt es mit einem einzigen Blicke allen Veränderungen zuvor und umfasst sie alle zugleich und miteinander!

Diese Gegenwärtigkeit des Erfassens und Schauens aller Dinge besitzt Gott nicht wegen der dereinstigen Verwirklichung des Zukünftigen, sondern lediglich kraft seines eigenen, einfachen Wesens. Damit lösen sich nun auch die Zweifel, die du vorhin äußertest, als du es für unwürdig erklärtest, unsere, zukünftigen Schicksale als Ursache der göttlichen Allwissenheit zu bezeichnen. Hat doch diese Kraft der Allwissenheit, die alles als gegenwärtig erkennt und umfasst, selbst die Art der Erscheinung aller Dinge bestimmt,
ist aber in keiner Weise ihrerseits von künftigen Ereignissen abhängig.

Somit bleibt also dem Sterblichen die ungehemmte Freiheit seiner Entschließungen gewahrt und es sind keine unbilligen Gesetze, die dem von jedem Zwang befreiten Willen Belohnungen und Strafen in Aussicht stellen. Bestehen bleibt auch die Gottheit in voller Kraft und Bedeutung, die aus der Höhe herab alles überschaut und alles vorausweiß, es bleibt auch die ewige Allgegenwart des göttlichen Schauens, dem auch unser künftiges Tun und Treiben immer gegenwärtig sein wird und kraft deren allzeit, gerecht den Guten Belohnungen, den Bösen aber Strafen zu teil werden. Nicht vergeblich sind die auf Gott gerichteten Hoffnungen und die zu ihm emporsteigenden Gebete, die nicht unerfüllt bleiben können, wenn sie Gerechtes erflehen und aufrichtig gemeint sind! Widersteht also dem Laster, übt immer die Tugend, erhebt die Seele in gerechter Hoffnung und richtet demütige Gebete zum Himmel empor!

Wollt ihr euch nicht absichtlich dagegen verschließen, so müsst ihr erkennen, dass in der Tat eine zwingende Notwendigkeit für euch besteht, euch dem Guten zuzuwenden, denn ihr lebt und ihr handelt vor den Augen eines allsehenden Richters!«

[Boethius: Die Tröstungen der Philosophie, S. 206 ff. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 8499 (vgl. Boethius-Trost, S. 152 ff.)]

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716)
Allwissenheit umfasst alles, was Wissensgegenstand sein kann
13. So viel von der Macht Gottes; jetzt ist von seiner Weisheit zu sprechen, welche von ihrer Unermesslichkeit die Allwissenheit genannt wird. Da diese selbst die vollkommenste ist (ebenso wie die Allmacht) so umfasst sie alles Vorstellen und alle Wahrheit, d.h. alles Einfache und Verbundene, was ein Gegenstand des Wissens sein kann und sie befasst sowohl das Mögliche, wie das Wirkliche.

14. Sie betrifft das Mögliche, wo sie das Wissen der einfachen Einsicht heißt und sie umfasst sowohl die Dinge, wie deren Verbindungen; beide sind entweder notwendige oder zufällige.

15. Das zufällige Mögliche kann gewusst werden, teils als getrenntes, teils geordnet zu ganzen möglichen unzähligen Welten, deren jede Gott vollkommen bekannt ist, wenn auch von ihnen nur eine in das Sein übergeführt wird. Denn mehrere wirkliche Welten anzunehmen, hat keine Bedeutung, da die eine die ganze Gemeinschaft der Geschöpfe in allen Zeiten und Orten umfasst und in diesem Sinne das Wort Welt hier genommen wird.

16. Das Wissen des Wirklichen, oder der zum Dasein übergeführten Welt, und alles Vergangenen, Gegenwärtigen und Kommenden in ihr heißt das schauende Wissen und ist von dem Wissen der einfachen Einsicht dieser Welt, als einer möglichen aufgefasst, nicht weiter verschieden, als dass die rückbezügliche Kenntnis hinzukommt, wodurch Gott seinen Beschluss, die Welt zum Dasein überzuführen, kennt. Auch bedarf es keiner andern Grundlage für das göttliche Vorauswissen.

17. Das Wissen, welches gewöhnlich das mittlere genannt wird, ist unter dem Wissen der einfachen Einsicht in dessen, hier angegebenem Sinne enthalten. Will indes jemand ein mittleres Wissen zwischen dem Wissen der einfachen Einsicht und dem schauenden Wissen festhalten, so kann er das schauende und das mittlere Wissen anders fassen, als gewöhnlich geschieht, nämlich dass das mittlere nicht bloß von den künftigen bedingten Dingen, sondern auch allgemein von dem möglichen Zufälligen verstanden wird. Dann wird das Wissen der einfachen Einsicht enger gefasst, nämlich dass es nur von den möglichen und dabei notwendigen Wahrheiten handelt, und das mittlere Wissen von den möglichen und dabei zufälligen Wahrheiten und das schauende Wissen von den zufälligen und dabei wirklichen Wahrheiten. Das mittlere Wissen wird dann mit dem erstem das gemeinsam haben, dass es von den möglichen Wahrheiten handelt und mit dem letztem, dass es von den zufälligen Wahrheiten handelt.

[Leibniz: Die Theodicee, S. 795. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 18112 (vgl. Leibniz-Theod., S. 505)]

Emanuel von Swedenborg (1688 – 1772)
Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart