Alpais von Cudot (1150 – 1211)

  Französische Mystikerin, die aus einer armen Bauernfamilie stammte und an Lepra litt. Ihre Visionen, die sie als einen Zustand empfand, in dem ihre »Seele das Gewand des Fleisches abstreifte«, befassten sich insbesondere mit dem Wesen der Seele und ihrem Verhältnis zu Gott.

Siehe auch Wikipedia
 

Meine Seele streifte das Gewand des Fleisches ab . . .
Von einem frommen Manne befragt, ob sie ihre Visionen in dem Leibe oder außer dem Leibe schaute, und ob sie je im Geiste verzückt würde oder nicht, antwortete sie:

»Ob ich verzückt bin oder war, wage ich nicht zu sagen, noch meine ich es, sowie ich nicht wage, von diesen Visionen, die ich auf euer Drängen berichte, zu behaupten, in der Wirklichkeit der Dinge sei es so geschehen oder geschehe es so, wie es mir in meiner Ruhe als geschehend gezeigt wird, sondern sicherer überlasse ich dies dem göttlichen Urteil, dem nichts verborgen ist. Die Gesichte aber, die ich euch berichte, die sehe ich in meiner Ruhe so geschehen, wie ich sie berichte. Aber worauf sie zielen oder was sie meinen oder was die meisten von ihnen wollen und ob sie in dieser Weise und Ordnung geschehen und eingerichtet werden, in welcher Weise und Ordnung sie mir zu geschehen und eingerichtet zu sein erscheinen, das erkenne ich nicht gut. Wie immer sich aber auch die Wahrheit dieses Dinges verhalten mag, dieses eine weiß ich, dass ich nicht getäuscht werde noch täusche, denn was ich euch sage, sehe ich, wie ich es sage, und ich sage es, wie ich es sehe. Ob ich aber, was der Herr mir in seinem Wohlgefallen zeigt, wenn er in mir oder mein Geist in ihm ruht, im Leibe oder außer dem Leibe sehe, weiß ich nicht. Er allein weiß es, der alles weiß und der auch mich bald im Wachen bald im Schlafen oder vielmehr im Ruhen schauen macht. Einmal jedoch ist es mir erschienen — wenn ich es sagen darf, obgleich ich es für gewiss nicht zu behaupten wage — ich sei außer meinem Leibe gewesen.
Aber wie und wann meine Seele aus ihrem Leibe ging und wie sie ihn abstreifte, das weiß ich durchaus nicht. Denn so leicht und so plötzlich, in einem Augenblick, wie es mir schien, streifte meine Seele das Gewand des Fleisches ab, wie wenn ein mit einem oben offenen Gewande Bekleideter eilend auf dem Wege läuft und dem Laufenden das Gewand jählings von den Schultern gleitet, da er allein dem Eifer des Weges und Laufes ergeben ist, und ganz ohne sein Wissen zur Erde fällt; er aber merkt erst dann, dass es gesunken ist, da er sich nackt und sein Gewand unter sich am Boden liegend erblickt. So ist, wie mir scheint, ganz ohne mein Wissen meine Seele jählings aus meinem Leibe gegangen. Ich aber erfand es erst, als die Seele des Fleisches entblößt ihren Leib zu betrachten begann, der unbewegt auf dem Bette lag. Sie sah den Leib an und freute sich am Schauen und ergötzte sich daran, denn sehr schön war er ihr von Ansehen, köstlich ihrem Blicke, und sie betastete ihn und hob ihn empor. Und sehr schwer und lastend war meiner Seele sein Gewicht, dennoch aber liebte sie ihn und umarmte ihn mit wunderbarer Leidenschaft. Während meine Seele so außer dem Leibe war und ihn betrachtete, sah sie um sich schauend ringsum eine unendliche Menge von Menschen hin und her rennen nach der Art der wilden Tiere, wie rasend und von Sinnen, als begehrten sie zu fliehen und fänden den Pfad der Flucht nicht. Bei ihrem Getöse erzitterte und erschrak meine Seele, und schneller als ein Wort trat sie wieder in ihren Leib, ich aber wusste ganz und gar nicht, wie und wann sie darein zurückkehrte. Denn wie ich nicht wusste, noch fühlte, in welcher Weise sie aus dem Leibe ging und ihn abstreifte, so fühlte und fand ich nicht, in welcher Weise sie in ihn heimkehrte. Wie einer in einem. Schiffe schlief, das sanft über das Wasser des Flusses hinfliegend schon den Hafen erreicht hat, er aber weiß und versteht nicht, in welcher Weise er zum Ufer gekommen ist«.

Die Seele ist einfach, unsichtbar und unkörperhaft . . .
Befragt, was für ein Ding die Seele sei und ob die Seele sich selbst ebenso wie ihren Leib sehe, den sie verlassen hat, und was für Augen sie habe, sich oder den Leib zu schauen, antwortete sie, sie könne dies nicht deutlich erklären, denn es lasse sich in der ganzen Welt kein Gegenstand finden, nach dessen Bilde die Gestalt oder die Natur der Seele darzulegen wäre.

»Denn die Seele«, sprach sie, »ist einfach, unsichtbar und unkörperhaft, ist nicht in Teile geschieden wie der Körper noch in Glieder, denn sie hat keine Hände oder Füße, mit denen sie gehen oder tasten, keine Augen und Ohren, mit denen sie sehen oder hören könnte. Denn in allen ihren Handlungen und Bewegungen ist sie ganz gegenwärtig. Was immer sie daher berührt, sie berührt es ganz zugleich, und ganz zugleich erfährt und erprobt sie Weiches oder Hartes; Warmes und Kaltes unterscheidet mit der Fingerspitze sie ganz; was sie riecht, riecht sie ganz und nimmt ganz die Düfte auf; was sie schmeckt, schmeckt sie ganz und unterscheidet ganz jeden Geschmack; was sie hört, hört sie ganz und entsinnt sich ganz der Töne; was sie sieht, sieht sie ganz und gedenkt ganz der Bilder. Kurz: ganz tastet, ganz riecht, ganz schmeckt, ganz hört, ganz sieht, ganz gedenkt die Seele. Und so sieht sie sich auch, wenn sie vom Fleische gelöst ist. Denn solange sie im Fleische ist, kann sie sich nicht ganz sehen, weil sie sich nicht ganz in sich einsammeln kann, daß sie sich allein erblicke: Vorstellungen und Bilder körperhafter Dinge laufen ihr unter, die sie durch die Außensinne des Körpers empfängt und durch die sie gehindert wird, ganz sich selber zu schauen. An keinem Orte ist die Seele gefasst, denn sie ist nicht örtlich, von keinem Raume wird sie begrenzt, denn sie entbehrt der Ausdehnung, von keinen Gliedern wird sie eingeschränkt, denn sie ist unkörperhaft. Sie wird nicht durch des Ortes Größe aufgehalten, daß sie mit einem größeren Teile einen größeren Raum einnähme, mit einem kleineren einen kleinen, oder daß in einem Teile ihrer weniger wäre als im ganzen. Denn in allen Teilchen des Körpers zugleich ist sie ganz gegenwärtig. An welchem Orte immer daher ein noch so geringer Teil des Körpers geschlagen oder gestochen wird, fühlt sie ganz den Schmerz. Und nicht geringer ist sie in den kleineren Gliedern des Körpers, nicht größer in den größeren, sondern in den einen blüht sie stärker, in den andern schwächer, aber in dem kleinsten ganz, in den größten ganz, in allen ganz und in den einzelnen ganz. Denn wie Gott überall ist, Gott ganz in seiner ganzen Welt und in jeder seiner Kreatur ganz, alles belebend, bewegend und regierend, wie der Apostel sagt, daß wir in ihm leben, uns regen und sind, so ist die Seele in dem Leibe überall stark, gleichsam in ihrer Welt, so belebt, bewegt und regiert sie ihn, kräftiger wohl im Herzen und im Gehirne, so wie man sagt, Gott sei in besonderer Weise im Himmel. Und wie er in seiner Welt innen und außen, oben und unten ist, so ist die Seele in ihrem Leibe, ihn regierend oben, ihn tragend unten, ihn erfüllend innen, ihn umgebend außen. So ist sie innen, wie sie außen ist, so umgibt sie, wie sie durchdringt, sie leitet, wie sie trägt, sie trägt, wie sie leitet, und wie Gott weder im Wachsen der Kreaturen wächst, noch in ihrem Schwinden schwindet, so wird die Seele bei Minderung der Glieder nicht gemindert, bei ihrer Mehrung nicht gemehrt«.
S.118ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt von Martin Buber, Diederichs DG 100