Franz Alt (1938 - )

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Jesus: Der emanzipierte Mann

Der gefühlsimpulsive Jesus handelt, wie er fühlt, und fühlt, wie er handelt Er empfiehlt weibliches Zutrauen und beharrliches Bitten statt männlichen Verurteilens und strengen Richtens. Hinter diesen Weisungen steht die Autorität des ersten integrierten Mannes. Ein Mann mit einer tiefen Gotteserfahrung und einem sicheren Wertgefühl: gespeist aus der Dynamik und der Energie einer großen Seele — nüchtern, kritisch, unnachgiebig gegenüber faulen Kompromissen.

Dieser neue Mann musste am eigenen Leib unvorstellbar schmerzhaft erfahren, wohin es führt, wenn die »alten« Männer das Wort Gottes im Munde führen, aber in ihrem Herzen versteinert bleiben, von »Gottes Wort« reden, in Wahrheit aber ihre eigenen Gesetze meinen. »Ihr habt aus Gott einen Gott der Toten gemacht« (Mk 12,27), sagt Jesus diesen Vertretern des alten Bewußtseins. Gott aber lebt und will, daß seine Freunde das Schwache stärken, das Kranke heilen, das Verirrte suchen. »Neue Männer braucht das Land« stand an vielen Häuserwänden — gemeint sind Männer, die sich nicht schwach, sondern stark fühlen, wenn sie ihre weiblichen Fähigkeiten leben. Das ist unsere Berufung. In Jesus lebte der Traum dieser Berufung.

Die Zukunft gehört neuen Männern und neuen Frauen die in Jesu Schule gehen und nicht mehr in die des Patriarchats. Männlichkeit, wie sie das alte Männer-Stereotyp forderte, war sehr anstrengend, es forderte ein Verhalten der Stärke, der Rivalität und des Kampfes: Und Stärke wird dabei mit der Summe der Atombomben verwechselt oder mit der Summe auf dem Bankkonto. Auch der »alte« Mann wünschte schon immer heimlich, gefühlvoller leben zu können; der »neue« Mann übt dies und fängt an, Konsequenzen zu ziehen: Männer-Emanzipation ist das große Thema der Zukunft. Feministinnen haben recht, wenn sie uns sagen:
Ihr müsst euch selbst befreien. Männerbefreiung heißt in erster Linie: die Seele entdecken und pflegen. Wenn Männer bleiben, was sie heute sind, dann ist das Ende der Menschheit nicht mehr weit. Wenn aber emanzipierte Männer, inspiriert von emanzipierten Frauen, sich auf den Weg der Partnerschaft machen, bauen wir zusammen das auf, wovon Jesus vor 2000 Jahren träumte: die »neue Welt«. In den Weisungen der Bergpredigt finden wir die Grundregeln einer menschlichen Zukunft. Der Soziologe
Walter Hollstein fasst das Selbstverständnis des neuen Mannes so zusammen: »Nicht Herrscher, aber kräftig.«

Wie kräftig der neue Mann Jesus hinlangen konnte, zeigt seine Abrechnung mit den Pharisäern und Theologen:


Sie selber tun gar nicht, was sie lehren.
Sie schnüren schwere Lasten zusammen und laden sie den Menschen auf die Schultern, aber sie selbst machen keinen Finger krumm, um sie zu tragen... Alles, was sie tun, tun sie, um von den Leuten gesehen zu werden... Sie haben es gern, wenn man sie... als »hochwürdige Lehrer« anredet... Wehe euch Gesetzeslehrern und Pharisäern! Ihr Scheinheiligen! Ihr versperrt den Zugang zur neuen Welt Gottes vor den Menschen. Ihr selbst kommt nicht hinein, und ihr hindert alle, die hineinwollen.
(Mt, aus Kapitel 2.3)

Der Meister aus Nazaret wird noch deutlicher, damit die Angst, mit der bloße Buchstaben-Religion die Seele fesselt, sichtbar wird:

Weh‘ euch! Ihr wollt andere führen und seid selbst blind... Ihr Scheinheiligen! Ihr gebt Gott den Zehnten..., aber um die entscheidenden Forderungen seines Gesetzes — Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue — kümmert ihr euch nicht... Kümmert euch zuerst um die innere Reinheit, dann ist alles äußere rein. Wehe euch Gesetzeslehrern und Pharisäern! Ihr seid wie weiß gestrichene Gräber, die äußerlich zwar schön aussehen, aber drinnen ist nichts als Würmer und Knochen. So seid ihr: Von außen hält man euch für fromm, innerlich aber steckt ihr voller Heuchelei und Schlechtigkeit. (Mt, aus Kapitel 23)

Zahllose Menschen, Enttäuschte und Gedemütigte, Ausgegrenzte und Hinausgeworfene, vor allem aber Frauen empfinden gegenüber der heutigen Männerkirche genau das, was Jesus vor 2000 Jahren an der Männerkirche kritisiert hat. Welch harmloses und unverbindliches Gesäusel ist die heutige Kritik an der Kirche gegenüber der Abrechnung Jesu!

»Ihr habt aus Gott einen Gott der Toten gemacht«
(Mk 12,27), schleudert Jesus den Theologen entgegen. Wie aktuell, wenn wir an viele Gottesdienste denken, in denen »Mumienverehrung« (Bischof Franz Kamphaus) stattfindet, aber kein neues Leben wächst. Gott aber will leben, und er will keine Hirten, die nicht die Kranken heilen, nicht die Traurigen trösten und nicht die Schwachen stärken, sondern nur die Starken in der bürgerlichen Wohlanständigkeit bestätigen. Die Kirche beruhigt, wo sie im Namen Jesu beunruhigen müßte, sie steht fast immer auf seiten der Mehrheit statt wie Jesus auf seiten der Minderheiten, sie sucht ewig faule Kompromisse, wo sie eindeutig Ja oder Nein sagen müsste.
Eugen Drewermann über die saft- und kraftlosen Anpassungs- und Service-Kirchen von heute: »Es gibt nicht gleichzeitig die Rückgratverkrümmung und die Geradheit des Herzens. Es gibt nicht gleichzeitig die allseitige Wendigkeit des Herzens und Windigkeit des Denkens und Verhaltens und das Geradeaus einer festen Haltung und Entscheidung. Sie aber will Jesus.«

Jesus vereinte weibliche und männliche Seinsweisen. Nur-weiblich wäre weibisch. Nur-männlich wäre herrisch. Jesus ist weder das eine noch das andere. Das aufregend Neue an ihm ist die Integration von weiblich und männlich. Das macht den »wahren Menschen« aus. Wer sich als Mann seiner Weiblichkeit — seiner verdrängten Seelenanteile — bewußt wird, vollzieht in seinem Leben eine Wandlung. Kennzeichen einer typisch weiblichen Lebensweise: gewaltlos, sanft, pflegend, haushaltend, organisch, ehrfürchtig, qualitätsorientiert. Alle treffen auf Jesus zu. Jesus war männlich genug, dieses Weibliche in sich zu entwickeln.

Kennzeichen einer typisch männlichen Lebensweise: gewalttätig, brutal, ausbeutend, verschwenderisch, mechanisch, ehrgeizig, auf Quantität aus. Diese Kennzeichen treffen alle nicht auf Jesus zu.

Um Missverständnissen vorzubeugen:
Diese Typisierung ist natürlich keine soziologische Einteilung in die Männer und die Frauen, sondern eine psychologische Typisierung für das Männliche und das Weibliche in Männern und Frauen. Nur deshalb können die weiblichen Kriterien auf den Mann Jesus übertragen werden.

Dieser Jesus ist den meisten Menschen unbekannt. Bei einer Neuentdeckung fragen Männer oft und zu Recht: Was bringt mir das? Lohnt es, sich von Jesus zu einer eigenen neuen Lebensweise inspirieren zu lassen?

Männer meinen, sie seien frei und bräuchten gar keine Inspiration zur Befreiung. Frauenbefreiung? Wenn es unbedingt sein muß! Männerbefreiung? Nicht nötig!

Eine geschwisterliche Kirche wird es aber ohne Männerbefreiung nicht geben können — so wenig wie es eine partnerschaftliche Ehe ohne Emanzipation des Mannes geben kann. Wenn es Gottes Geist ist, der das Weibliche in Gott repräsentiert, dann ist die Männerkirche so verknöchert, institutionalisiert und leblos, weil ihr das Weibliche, der Geist, fehlt. Wie in vielen Männern in der Kirche, so sieht es auch oft in Männern außerhalb der Kirchen aus. Sie werden für emanzipierte Frauen langweilig, weil sie in Gefahr sind, geist- und leblos zu werden.

Wie geist- und leblos Männer sein können, haben sie mehrere Jahrtausende dadurch bewiesen, daß sie ihre Vaterrolle kaum annahmen. Vater- und Muttersein ist eine der größten Aufgaben, die ein Mensch auf diesem Planeten übernehmen kann. Auch heute verstehen die meisten Männer ihr Vaterwerden und ihr Vatersein nicht als wichtigen Beruf. Hände, welche die Wiegen bewegen, bewegen die Welt, wird gesagt. Dies ist richtig. Aber es ist einfach albern zu meinen, Vaterhände könnten keine Wiege bewegen.

Die alten Väter sterben aus. Einige junge Väter sind schon neue Väter, und viele neue Söhne orientieren sich an weiblichen Werten, sind interessiert an ihrer Anima-Entwicklung.

Neue Väter fühlen zusammen mit der Partnerin und sagen es auch: »Wir sind schwanger. Unser Kind erwarten wir zu zweit!« Immer mehr Kinder gebären neue Väter.

Auch die neue Eva ist im Werden. Klug der Adam, der es zeitig fühlt. Nur ein gewandelter Adam wird einer gewandelten Eva gerecht. Adam, sei offen! Sei achtsam und sensitiv! Eine Frau sagte es einmal so: »Ich wünsche mir einen Begleiter, einen Inspirator, einen Mann, der in sich unabhängig, sich wesenstreu ist, damit eine fruchtbare Spannung entstehen kann.«

Die Orientierung des Mannes an Jesus, dem neuen Mann, wäre die entscheidende Revolution der Weltgeschichte. Nichts ist so gesellschaftsverändernd wie ein sich veränderndes Bewusstsein. Es wirkt nicht von heute auf morgen. Aber es wirkt langfristig und subversiv.

Aus: Franz Alt, Jesus – der erste neue Mann (S.93-97)
© 1989 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 1356)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper Verlages Gmbh, München und
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