Carl Amery, eigentlich Christian Mayer (1922 – 2005)
In München geborener Schriftsteller, der als engagierter Linkskatholik zeitkritische Romane schrieb und in zahlreichen Essays zur geistigen und politischen Situation in der Bundesrepublik Stellung nahm. Carl Amery war 1976-77 Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller und 1989-91 Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Wort des Abwesenden Gottes
Folgen des Christentums
Er kam nicht wieder
Wort
des Abwesenden Gottes
was rufst du um hilfe, törichter? Ich helfe dir nicht. du hast dir selbst
geholfen.
erwählt, geprüft, verbündet mit der allmacht, wie du sie verstehst,
hast du aus deiner winzigen weltecke die erde erobert. du hast die zeichen deines
sieges und die zeichen der vernichtung in die flanken der berge, in den schoß
der erde, auf die linien des wassers geschrieben, und nun, da du mit deiner
siegerfahne auf den leichen stehst, da du dich einsam fühlst und von der
zukunft verlassen, willst du von Mir die alten verheißungen einfordern.
warum forderst du? Ich fordere nichts von dir.
Ich fordere Meine blauwale, Meine laufvögel, Meine schmetterlinge und zedern
nicht zurück, Meine flüsse und Meine kohle. Ich fordere nicht einmal
Meine huronen, tasmanier, pruzzen und australier; ja, nicht einmal Meine geliebten
und frommen diener, die du auf scheiterhaufen verbranntest in Meinem namen.
sie gehören alle dir. du stehst auf ihnen, du hast ihre kadaver in die
brunnen deiner welt geworfen und klagst nun, dass das wasser faul ist.
was habe Ich dir versprochen, was du dir nicht selbst holen wolltest?
du hast geschrien: geh fort, solange Du da bist, bin ich ein untertan, Du kannst
nicht wollen, dass ich untertan bin.
Ich ging also fort, Ich gab dich frei. Ich bin, abwesend, weil du es so willst,
was schreist du also, dass du in Meinem auftrag gehandelt, dass du
Mir vertraut hast? Ich habe dir alles überlassen - auch die vorsorge für
dich selbst.
aber was hast du mit meiner Abwesenheit gemacht?
du hast Mich einen finster-weisen natur-baal genannt; und du selbst warst den
deinen ein finster-dummer Moloch.
du bist kein untertan mehr, aber den deinen bist du ein pfähler und röster, brauchst ihre qualen, um dich deiner herrschaft zu freuen.
solange du gefressen wurdest, hast du die welt des fressens und gefressenwerdens unerträglich gefunden. nun frisst du selbst, frisst und frisst,
und schreist darüber, dass du nun vielleicht doch gefressen wirst.
du schreist; ich allein bin nach Deinem bild und gleichnis gemacht! Ich aber
sage dir: an dir allein ist es, bild und gleichnis zu werden.
du schreist: der himmel ist nicht für die vögel da, die weltgeschichte
nicht für die abkömmlinge von schimpansen. Ich aber sage dir: kein
Himmel, der nicht für die vögel da ist, war und ist je für dich
da; und ferner: was du dem geringsten Meiner schimpansen, deiner brüder,
antust, das hast du dir selbst getan; und abermals: wenn du nicht wirst wie
der geringste dieser schimpansen, wirst du nicht in das Reich eingehen.
du fragst: wo ist dieses Reich, das Du mir versprochen hast? Ich aber sage dir:
das Reich, das paradies, ist in dir und um dich, und du hältst deine augen,
dass du es nicht sehen musst.
du fragst: ist nicht alles auf meine freiheit, mein glück, meine befriedigung
allein angelegt? und Ich sage dir: glück für einen allein gibt es
nicht.
du fragst; wo das Neue Jerusalem, wo sind die zedertore, wo die edelsteinernen
türme? Ich aber sage dir: zweimal zwei ist vier, du hast Meine zedern für
deine hurenhäuer gebraucht und Meine edelsteine deinen huren umgehängt,
Ich fordere sie nicht zurück, aber zweimal zwei ist vier, soll Ich, der
Abwesende, wunder wirken, die du dem Anwesenden nicht glaubtest?
du fragst: hast Du mir nicht den Sohn geschickt mit der Verheißung einer
Zukunft, die alle meine zurüstungen übersteigt? Ich aber sage dir:
Er hat dir ein beispiel gegeben, dass du tust, wie Er getan hat, geh hin,
gib deine untertanen frei und diene, wie Er gedient hat: diene deinen brüdern
und schwestern sonne, mond, ochs, esel, schimpansen, ameisen, bäumen, regen
und tau.
wen habe Ich je erwählt, den anderes erwartet hat als dienen?
gedenk, dass du staub bist und zum staub zurückkehrst. dann —
kannst du Mein Sohn sein. (S.252-254)
Aus: Carl Amery, Das Ende der Vorsehung, Die gnadenlosen
Folgen des Christentums . Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag
GmbH, Reinbek als rororo Sachbuch 6874
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Autors:
Herrn Carl Amery