Lou Andreas-Salomé (1861 – 1937)

Emanzipierte, attraktive, charmante, äußerst intelligente und geistreiche Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, die aus der russisch-deutschen Familie Salomé stammt und seit 1887 mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas verheiratet war. Sie war bis 1882 mit Friedrich Nietzsche befreundet, der ihr entgegen seiner Grundüberzeugung (»Welcher große Philosoph war bisher verheiratet? Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer - sie waren es nicht; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal denken als verheiratet. Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie , das ist mein Satz . . .«) zwei Heiratsanträge machte, die sie aber beide zu seinem Leidwesen ablehnte. Von 1897 bis 1901 war sie »mütterliche« Geliebte und Muse von Rainer Maria Rilke, den sie vor allem in seinem »Stundenbuch« zu dichterischen Höchstleistungen inspirierte. 1911 nahm sie Beziehungen zum Wiener Kreis der Psychoanalytiker auf, wo sie u. a. auch Alfred Adler , Carl Gustav Jung, Marie Ebner-Eschenbach, Max Scheler und Georg Simmel kennen lernte. Sie wurde rein platonische Schülerin von Sigmund Freud, der sie als »Dichterin der Psychoanalyse« bezeichnete und ihre Leistungen 1937 in seinem Nachruf würdigte. Die folgenden Texte sind ihrem postum veröffentlichten Tagebuch der Jahre 1911/1912 »In der Schule bei Freud« entnommen.

Siehe auch Wikipedia

Aus der Schule bei Freud
Urkraft
Dass an diesen Menschen auch das Brutale und Grausame — als passend zu ihren Dimensionen — hinreißt, das liegt nicht an Nietzscheschem Entzücken an der »blonden Bestie«, an der primitiven Urkraft, vielmehr daran, dass diese Urkraft bereits ihrer sehr wohl bewusst ist, von Rangordnungen, Hemmungen, »Sünden« weiß — aber dass sie prometheisch »südigt«. (Fischer 2014, In der Schule bei Freud, S.35)

Vaterkonflikt
- Aber das Allerwesentlichste ist, dass (ganz abseits von jeder genetischen oder historischen Erläuterung) der Vater konflikt wie der Vater aufblick urewig und urmenschlich gegeben ist durch den Umstand, dass wir selbst es sind, und doch das Außerhalb­unser. Dies trieb im Vater den Gott hervor; oder umgekehrt ausgedrückt: ließ das Gottbedürfen im Vaterbesitz sich realisiert sehn. Im wirklichen Erleben unter Menschen musste grade dies Allumfassende, worin Selbst und Außenwelt in­einander rannen (Geborgenheit und Emanzipation — Abhängigkeit und Souveränität) natürlich in ambivalente Einstellungen auseinander fallen; es musste der Ausgangspunkt aller menschlichen Kämpfe werden.

Ja, vielleicht ist für alle Menschlichkeit hier das Tiefstgelegene berührt: der Mensch will sich bewusst vereinzeln, gegenüberstellen: der Punkt dieses Abrisses wie auch der ewigbindenden Nabelschnur liegt eben hier. Im Tier kommt es weder zu diesem Grade der Unabhängigkeit noch zu diesem unerhörten Sichwiedervereinenmüssen. (Fischer 2014, In der Schule bei Freud, S.81-82)

»GOTT«
Im »Gott-Vater«-begriff eint sich dem Frommen das Selbst und das Gegenüber zu jener ungebrochenen Ganzheit zurück, aus der wir gleichsam mit unserm Geborenwerden doch erst kommen, denn wir kommen ja nicht aus der Zweiheit, sondern gehen mit dem bewussten Dasein in sie erst ein. Vielleicht wurde daher nicht aus dem Vater allmählich der Gott: sondern die gotthafte Ganzheit umglänzte noch den Vater, der sie als unsere unmittelbare Umwelt noch stellvertrat. Man könnte sich wenigstens denken, dass aus der bloßen Gewalt des Bewusstsein-Erlebens, des dualistischen Auseinanderbruchs zum Menschlichen, also zu Ich und Welt, der »Gott« dem primitiven Menschen in irgendeinem Ausdruck das erste und einzig-Gewisse war: sozusagen seine Erinnerung war.

In jenem Grundzustand, der uns lebenslang begleitet (und besonders in allem schöpferisch Erlebten durchschlägt), wo wir doppelt stark uns selber fühlen und uns doch gleichsam mit allem identisch, ist es immer, als ob Größenwahn und absolute Abhängigkeit in eins zusammengingen und dies hat die Frommheit aller Zeiten und Menschen gekennzeichnet.

Einst, als Wörter sich erst bildeten und ehe sie sich praktisch festlegten, konnte ein jedes leicht das Gotthafte ausdrücken (und manch eines, das uns jetzt fetischistisch-grobreligiös vorkommt, tat nur dies), aber als alle Wörter fest besetzt waren, da drängten sie das Gotthafte beinahe von selber ins Abergläubische wie in einen Nebenbereich hinaus.

Ich glaube nicht, wie manche, dass dem primitiven Menschen Kausalitätssinn fehlte oder Realitätstendenz; ich glaube eher, damit grade begann der Mensch. Aber sie wurde überwogen von der [Tendenz] jenes Phantasieaktes, der die verlorene Einheit festhielt im Gott.
(Fischer 2014, Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud, S.153)

Freud und die Philosophie
Sonntag, 23. Februar 1913
Sonntag bei Freud. Er erzählte mir eine »Phantasie«, die noch nicht niedergeschrieben ist und die ich drum auch nicht niederschreiben will, von der Bedeutung des Vatermords* für die gesamte Kulturentwicklung bis heute. Er hat noch nie etwas so Geistreiches zu einem Ganzen geformt - geistreicher fast, als er es sich sonst gestattet.
* Freud ... Bedeutung des Vatermords für die gesamte Kulturentwicklung: Vermutlich war diese »Phantasie« ein Nebenprodukt der Arbeit am vierten der Aufsätze über die Primitiven (»Totem und Tabu«): »Die infantile Wiederkehr des Totemismus.« (»Ein Vorgang wie die Beseitigung des Urvaters durch die Brüderschar musste unvertilgbare Spuren in der Geschichte der Menschheit hinterlassen.«) S.183

Hinterher sprachen wir über seine Abwehr gegen reine Philosophie. über seine Vorstellung, dass man im Grunde doch das denkerische Bedürfnis nach endgültiger Einheit der Dinge bekämpfen müsse, als hervorgegangen aus einer höchst anthropomorphischen Wurzel und Gewöhnung, und als zweitens vielleicht hinderlich oder beirrend bei der positiven wissenschaftlichen Einzelforschung. Er sagte von sich, er habe jenes Verlangen auch kaum je nennenswert besessen. In der Folge sprachen wir von der Schwermut, die das Leben mit seinen Erfahrungen auch bei günstigem Geschick allmählich mit sich bringe, von dem steigenden Mangel an Euphorie und von seinem Entsetzen über das »Lebensgedicht *«, das er in Nietzsches Komposition grade gelesen haben muss. Sollte nun nicht zwischen diesen beiden Dingen, dem mangelnden Einheitsverlangen und der mangelnden Euphorie, ein Zusammenhang bestehen?
* das »Lebensgedicht« ... in Nietzsches Komposition: Friedrich Nietzsche hatte das Gedicht »Lebensgebet« von Lou von Salome (»Gewiss, so liebt ein Freund den Freund / Wie ich Dich liebe, Rätselleben«) in der Zeit der persönlichen Beziehung zu ihr (1882) in Musik gesetzt (es lief nun »feierlicher auf etwas verlängerten Versfüßen«) und später die Komposition drucken lassen. Der vollständige Text Lautet:
Lebensgebet
von Friedrich Nietzsche vertont als »Hymnus an das Leben«
»für gemischten Chor und Orchester«
Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich dich liebe, Rätselleben -
Ob ich in dir gejauchzt, geweint,
Ob du mir Glück, ob Schmerz gegeben.

Ich liebe dich samt deinem Harme;
Und wenn du mich vernichten mußt,
Entreiße ich mich deinem Arme
Wie Freund sich reißt von Freundesbrust

Mit ganzer Kraft umfaß ich dich!
Laß deine Flammen mich entzünden,
Laß noch in Glut des Kampfes mich
Dein Rätsel tiefer nur ergründen.

Jahrtausende zu sein! zu denken!
Schließ mich in beide Arme ein:
Hast du kein Glück mehr mir zu schenken
Wohlan - noch hast du deine Pein.
Diese letzte Strophe wurde von Friedrich Nietzsche für seine muskalische Version wie folgt abgeändert::

Jahrtausende zu denken und zu leben,
Wirf deinen Inhalt voll hinein!
Hast du kein Glück mehr übrig mir zu geben
Wohlan - noch hast du deine Pein.

Lou A.-S. berichtet im »Lebensrückblick« aus der Erinnerung von diesem Gespräch mit Freud: »In aufgeräumter Stimmung, heiter und freundlich, las er laut den letzten der Verse vor: >Jahrtausende zu denken und zu leben / Wirf deinen Inhalt voll hinein! / Hast du kein Glück mehr übrig, mir zu geben, / Wohlan, noch hast du deine Pein ... < Er schloß das Blatt, schlug damit auf seine Sessellehne: >Nein! wissen Sie, da täte ich nicht mit! Mir würde geradezu schon ein gehöriger irreparabler Stockschnupfen vollauf genügen, mich von solchen Wünschen zu kurieren!<« S.183

Freud gab zu, dass dies Einheitsstreben schließlich aus dem Narzißtischen stamme - von dorther aber kommt uns nach seiner eignen Vermutung ja auch unser Lebensmut. Ist der stark in seiner Freudigkeit, so ist es auch das Einheitsverlangen, und vice versa. Ist es aber so, so wäre damit gesagt, dass unser tiefstes Leben selber damit eins ist und wir es nicht bekämpfen dürften, ohne die Quelle auch aller unserer Einzelbetätigungen trübe zu verschütten. Unsern Lebensdurst und Denkerdurst stillt im tiefsten dasselbe Wasser; und ist darum unantastbar, heiliggesprochen. Gewiss ist es keck vom denkenden Menschen, die Einheit aller Dinge mit ihm selbst vorauszusetzen, nein, einfach zu »setzen«. Aber ist es nicht noch viel kecker von ihm, als Mensch zu leben?

Um der menschlichen Euphorie willen arbeitet nämlich ja auch der gesamte wissenschaftliche Betrieb, der orientierende, praktisch-sachliche - nur auf einem Umweg vom »Lustprinzip« über das »Realitätsprinzip * « zur Lust zurück (Freudisch gesprochen).
* Freuds ... Arbeit »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«: »Mit der Einsetzung des Realitätsprinzips wurde eine Art Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung freigehalten und allein dem Lustprinzip unterworfen blieb. Es ist dies das Phantasieren, welches bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt die Anlehnung an reale Objekte aufgibt.« S.192

Also handelt es sich bei ihm höchstens um eine Verschiebung, und Mangel an Euphorie wäre mithin der einzige Grund, aus dem man nicht genug aufbringt für Philosophie (oder Kunst). Wenn man einwendet (wie Freud tat), dass es sich dabei eigentlich um Regressionen zu den infantilen Fragestellungen handelt, so ist dies doch vielleicht schon wieder ein Fall, bei dem »primitiv« und »primär« verwechselt wird. Dass uns etwas aus frühester Kindheit, in irgendeiner Form, nachgeht, dürfte vielleicht zunächst doch nur auf dessen bleibende und ungeheure Berechtigung schließen lassen und der Verzicht darauf auf eine abnehmende Lebensfülle. Ja, mehr noch: ich habe nicht selten gefunden, dass ein solcher Verzicht, nach den philosophisch oder künstlerisch begeisterten Tagen der Jugend, manchmal nicht bloß Müdigkeit bedeutete, sondern geradezu eine Art der Betäubung durch die Hingabe an wissenschaftlich oder praktisch absorbierende Betätigung. Eine Art Verdrängung von sich selber mit Hilfe einer Resignation.

Dass alles, was wir philosophisch oder künstlerisch oder in religiösen Symbolen vom Dasein aussagen, notwendig schief, entstellt (im wissenschaftlichen und praktischen Sinn) herauskommen muss,darf uns heute so wenig beirren, wie die Traumentstellung in bezug auf ihre Spiegelung sonst nicht erfassbarer Seinszusammenhänge. Mit dem Wort »Symbol« hierbei wirtschaftet man ebenfalls nicht ganz klar, wenn man es als nur das Primitivere, als nur Vorstufe nimmt. Es ist die logisch unbrauchbare Art zu denken, aber sie ist nicht bloß ein Noch­nicht-denken, sondern auch ein selbstberechtigtes Andersdenken.Die Denkelemente erscheinen nur anders gemischt: wo die Logik abstrakt vorgeht, da erlaubt das Symboldenken sich die farbigste Plastik; aber da, wo die Logik streng sondern muss, einzelnes auffassend, da erschaut es, unbekümmert um dies vorsichtige Konkretisierenmüssen, dafür mehr Ganzheit. (Und so wird es im engern, rein psychoanalytisch-terminologischen Sinn Symbol, nämlich das, was Unsprechbares anklingen lässt - aus dem Unbewussten heraus »symbolisiert«.) -
(Fischer 2014, Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud, S.70-72)

Über das Lustprinzip unter der Berücksichtigung von Mann und Frau
12.-14. März 1913
Abends, bei Gelegenheit eines Gesprächs über »Entdeckerköpfe« bemerkte Tausk einiges, was mir sehr einleuchtete. Unter anderem war es dies, dass die Erkenntnis am Physischen, im Gegensatz zu der am Psychischen, gewissermaßen gleich ein Ende in sich selber habe - d. h., dass man von ihr aus nicht weiterdenken könne, sondern nur neuerdings neue Tatsachen finden, also den Aufwand vielfacher Entdeckungen machen. Im Psychischen dagegen knüpfen sich von einem Punkte aus immer neue Zusammenhänge: auch das einzelne Gefundene steht schon im Mittelpunkt des Ganzen.

Von ganz wo anders her ergab sich eine ähnliche Anschauungsweise aus unserm Zwiegespräch am Abend darauf. Es war schön, was Tausk sagte: Gemeinplatz ist etwas nicht nur wegen Mangel an Geist, sondern weit mehr wegen Mangel an Leben - es ist einfach das, was nicht an sich selber weitersprosst, sondern, wie klug es auch sei, allmählich abgegriffen und damit banal wird. Weshalb alle negative Lebensanschauung, wie begründet auch immer und wie geistvoll zugerichtet, zu einer Plattitüde (Plattheit, abdedroschene Phrase) führe. Umgekehrt eigne aller Lebensbejahung eine Tiefe für unser Gefühl, die Tiefe des Unkontrollierbaren, aus unermesslichen Zusammenhängen Verlautbarten (so wenn Nietzsche sagt: »denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit« - einerlei wie unsere sachlich­psychologische Betrachtungsweise den Lustbegriff zergliedern mag).

Friedrich Nietzsche:

Das Nachtwandler-Lied
. . . Lust ist tiefer noch als Herzeleid . . .
Sagtet ihr jemals ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, -
- wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals »du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!« so wolltet ihr Alles zurück!

- Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so liebtet ihr die Welt, -
- ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück!
Denn alle Lust will - Ewigkeit!
Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trunkene Mitternacht, will Gräber,
will Gräber-­Tränen-Trost, will vergüldetes Abendrot -
- was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beisst in sich, des Ringes Wille ringt in ihr, -
- sie will Liebe, sie will Hass, sie ist überreich, schenkt, wirft weg, bettelt, dass Einer sie nimmt, dankt dem Nehmenden, sie möchte gern gehasst sein, -
- so reich ist Lust, dass sie nach Wehe durstet, nach Hölle, nach Hass, nach Schmach, nach dem Krüppel, nach Welt, - denn diese Welt, oh ihr kennt sie ja!
Ihr höheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die unbändige, selige, - nach eurem Weh, ihr Missratenen!
Nach Missratenem sehnt sich alle ewige Lust.

Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! Oh Glück, oh Schmerz! Oh brich, Herz!
Ihr höheren Menschen, lernt es doch, Lust will Ewigkeit,
- Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!

Lerntet ihr nun mein Lied? Errietet ihr, was es will? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen,
so singt mir nun meinen Rundgesang!
Singt mir nun selber das Lied, des Name ist »Noch ein Mal«,
des Sinn ist »in alle Ewigkeit!«, singt, ihr höheren Menschen, Zarathustra's Rundgesang!

Oh Mensch! Gib Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Ich schlief, ich schlief -,
»Aus tiefem Traum bin ich erwacht:
»Die Welt ist tief,
»Und tiefer als der Tag gedacht.
»Tief ist ihr Weh -,
»Lust - tiefer noch als Herzeleid:
»Weh spricht: Vergeh!
»Doch alle Lust will Ewigkeit -,
»- Will tiefe, tiefe Ewigkeit!«

Reclam 7111, Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Vierter Teil, Das Nachtwandler-Lied

Das Wesentliche dabei bleibt (darüber einigten wir uns nach kurzer Debatte), dass hier aus der Ganzheit des Lebens gedacht werde, wie wir sie ohne weiteres als Lebendige in uns selbst ebenfalls repräsentieren, während die Lebensnegation mit einem Mangel an empfundener Lebendigkeit zusammenhänge, der Weltschmerz ein Symptom darstelle. Das Beispiel von Tausk selbst, als Gymnasiast: wie er zur Gotteskritik kommt, berechtigt scheinbar und sachlich, doch heimlich motiviert durch Verschiebung vom Vater her, der unantastbar bleibt wie das Leben. So ist unsere Lebenskritik, wie vollendeten Wissenschaftscharakter sie auch trage, gewonnen aus einem Kranken an dem, worin wir unausweichlich leben und weben und sind, womit wir identisch sind und dem wir auf denkerisch-praktischem Wege deshalb zwar gegenübertreten können mit prüfend abschätzendem Blick, das wir aber in jedem Moment voller Intuition - erkennend, lebend, gestaltend - nur immer wieder bejahen können, grade wenn wir unvoreingenommen sind, d. h. nicht düpiert von unsern eignen Momentmängeln.

Auf dem Wege der nicht-intuitiven Lebenserfassung, dem für unsern Verstand gangbarern, kann man aber so auch zur begründeten Vorstellung kommen eines Lebensverfalls durch Kultur; Kultur durch Lebensmangel, Kultur durch die Schwachen.

Das wären in diesem Fall die Männer. Sie wären das schwache Geschlecht, betrachtet vom kulturlos narzißtischen Stand­punkt des Weibes das die letzten Intuitionen des Geistes vielleicht nicht erreicht, jedoch dafür als solches aus Lebens- und Geistesintuition heraus sein Wesen hat.

Die Frau als das Glückstier. Eigentlich ähnlich rückläufig zum Narzißtischen hin* wie der Neurotiker, nicht wie das Tier undifferenziert geblieben, aber ein Regredienter ohne Neurose.
* die Frau ... rückläufig zum Narzißtischen bin: Nach Einsicht Freuds vollzieht sich in der Pubertät, »welche dem Knaben jenen großen Vorstoß der Libido bringt« (die Sexualität des Mannes sei »die konsequentere, auch unserm Verständnis leichter zugängliche«), »eine Art von Rückbildung ... durch eine neuerliche Verdrängungs­welle, von der gerade die [bis dahin bestimmende] Klitorissexualität betroffen wird. Es ist ein Stück männlichen Sexuallebens, was dabei der Verdrängung verfällt«. Drei Abhandlungen. - Lou A.-S. schließt hieran in ihrem Aufsatz »Zum Typus Weib« (Imago, Februar 1914) die Bemerkung:
»Das Weibliche ist so das durch den Prozess seiner eigenen Reife auf sich selbst Zurückgeworfene, Aufgehaltene, von der Endentwicklung Ausgeschaltete. In der Tat beziehen sich die spezifisch weiblichen Tugenden sämtlich hierauf, sind dem Geschlecht nach solche der Abnegation: wo weibliches Selbstbewusstsein in rein menschlichen Leistungen mit den männlichen rivalisiert, sind es eben jene Tugenden, von denen es sich emanzipatorisch erholen will. Nun liegt es mir eigentlich ferner, von Tugenden und von Leistun­gen zu reden, als von dem, worin ich mich kompetenter fühle: vom Glück. Bezüglich des Glücks nämlich läßt sich der obenerwähnte Sachverhalt auch noch anders herum betrachten. Die geringere Dif­ferenziertheit, die sich in jener Rückbildung ausdrückt, zieht um das mehr und mehr auseinanderstrebende Triebleben eine Art von einschränkendem Kreis, der es in gleichförmigerem Zusammenhang mit dem gemeinsamen Ausgangspunkt erhält: aber dieser Umstand stellt ja nicht ein einfaches Zurück dar, sondern eine Wiederher­stellung von Ehemaligem auf erhöhtem Niveau - als eine Wesens­art weiterzukommen in sich, als eine Art des Wachsens am Leben. Denn gerade innerhalb des Sexualtriebes ... differenziert er sich auch wieder auf eine neue Weise von der Aggressivität des Ichtrie­bes und erschließt sich damit eine Besonderheit der Entwicklung. Das >Weibliche< (immer prinzipiell gemeint und abseits von allern Graden und Nuancen der Personalunion zwischen >männlich< und >weiblich<), eben durch seine Umkehrung des Sexualen auf sich, ver­mag sich das Paradoxon zu leisten, Sexualität und Ichtrieb dadurch zu trennen, daß es sie vereinigt. Es ist mithin zwiespältig da, wo das Männliche eindeutig aggressiv verbleibt, einheitlich aber dafür, wo diesem seine ungehemmte Aggressivität als mehr sexual oder mehr ichhaft nach entgegengesetzten Richtungen sich spaltet.« S.186f


Im Grunde wäre das Weibwerdenwollen des Neurotikers ein Gesundwerdenwollen. Und immer ist es ein Glücklichseinwallen. Denn nur dort ist die Sexualität kein Aufgeben der Ichgrenze, kein Zwiespalt; sondern sie bleibt Heimat der Persönlichkeit, in die sie jedoch alle Sublimationen des Geistes einbeziehen kann, ohne sich selbst zu verlassen.

»Gib wie ein Weib gibt, welches liebt. Die Frucht des Gebens bleibt in ihrem Schoß.«

VORLUST UND ENDLUST
Gestern mit Tausk noch darüber gesprochen, warum es mir als eine Unsauberkeit der Methoden erschien, dass die Vorlust in die psychologische Schilderung fällt, die Endlust* aber in eine rein physiologische, die den Kulminationspunkt des psychischen Geschehens also gar nicht auf dessen eigenem Gebiete berührt.
* Vorlust ... Endlust: Termini Freuds, zuerst in den Drei Ab­handlungen gebraucht: »Die Vorlust ist dann [als Lust durch Erregung erogener Zonen] dasselbe, was bereits der infantile Sexualtrieb, wenngleich in verjüngtem Maße, ergeben könnte, die Endlust [oder »Befriedigungslust«] ist neu, also wahrscheinlich an Bedingungen geknüpft, die erst mit der Pubertät eingetreten sind.« S.187

Der Endakt löscht, grade bei starker Gefühlsentbindung, das Seelische ins fast Bewusstlose, oder aber er übergeht es fast als nebensächlich; umgekehrt bedarf die seelische Zärtlichkeit, je größer sie ist, desto geringerer leiblicher Nachhilfe, und die größte wäre insofern die anspruchsloseste, als sie noch den geringsten körperlichen Ausdruck für die ganze Fülle ihrer Beseeltheit beredt zu machen vermöchte. Zärtlichkeit ist eben, wie Tausk richtig sagte, ein Grenzbegriff und -bezirk zum Bewusstsein - und deshalb nur noch grade auf diesem einen Strich bewusst zu schildern und zu fassen. Im Akt selber entwischt er uns entweder ins Organische »hinab« oder über uns selbst hinaus, d. h., er erreicht noch nicht oder löscht das Bewusstsein. So unterbleibt die Schilderung der untern und der obern Stadien, d. h.; sie wäre überhaupt nicht mehr als Zärtlichkeit zu fassen, sondern nur entweder organisch repräsentiert oder aber metaphysisch.

Hier stößt man wieder darauf, wie für uns die physische Repräsentanz da eintritt, wo wir nicht mehr von uns aus, von unserer begrenzt-bewussten Beseelung aus, weiterbegleiten können; wie sie mithin, als gleichsam höheres Symbolum, mehr enthält, als uns im Umkreis unserer selbst zugänglich ist, und so auch alle letzten, noch »überseelischen« Geheimnisse unserer Liebe. Aber einmal gegeben als physische Darstellung davon, wird sie auch wiederum vorstellbar als die Basis, der gröbere Untergrund für alles Noch-nichtseelische: aus gleichen Ursachen unseres Nichtwissens.

Ebenso wird mir wieder mal klar: wofür die metaphysischen Ausdrücke stehn und dass wir sie deshalb schildernd weitergebrauchen sollen, unbehindert von ihrer einstigen Bedeutung; sonst fehlt uns im geistigen Alphabet von irgendwo (ein) ander(er) Buchstabe. (Mehr als ein solcher, und wäre er ein X, wür­den sie nicht zu sein haben.)

(Fischer 2014, Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud, S.82-85)