Angela von Foligno (um 1249 – 1309)

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Inhaltsverzeichnis
Am Herzen des Erlösers
Die letzte Gewissheit


Am Herzen des Erlösers
In dem Augenblick, da ich in die Anschauung dieses Guts versunken bin, habe ich keine Erinnerung mehr an die Menschheit Christi oder an den Gottmenschen oder sonst eine Gestalt. Und dennoch schaue ich alles, während ich nichts schaue. Bin ich aber nicht in diesem Gut, dann sehe ich den Gottmenschen. Und er zieht die Seele an sich mit einer Milde, als wollte er sagen: »Du bist ich, und ich bin du«!

Ich schaue jene Augen, jenes ruhige Antlitz, das die Seele durchdringt und unwiderstehlich anzieht mit seiner Kraft. Und was aus diesen Augen, was aus diesem Antlitz leuchtet – ist jenes Gut, das ich in der Finsternis schaue, das aus dem Innern strömt, das mich dermaßen entzückt, daß ich es nicht zu sagen vermag.

Meine Seele ist Leben, wenn sie in diesem Gottmenschen weilt – und dies geschieht öfter als jenes Wohnen im finsteren Gut, wofür dieses unvergleichlich stärkere Macht der Anziehung hat als jenes. Im Gottmenschen weile ich beinahe unaufhörlich, so ununterbrochen, daß Gott mir einmal sagte, es bestehe nichts mehr zwischen Ihm und mir, was uns scheide. Seither ist kein Tag und keine Nacht, wo ich nicht fortwährend die Freude an seiner Menschheit gehabt hätte . . .

Geliebter Gott, in Deinem Kreuze hab’ ich meine Lagerstätte . . . auf diesem Bette ruhe ich, und darauf hoffe ich zu sterben und glaube erlöst zu werden.

Einmal ward mir im Träume das Herz Christi gezeigt, und ich hörte die Worte: »In diesem Herz ist kein Trug, sondern lautere Wahrheit«. . . .

Ein anderes Mal, da ich wachend im Gebete weilte, erschien mir Christus in größerer Klarheit und gewährte mir eine tiefere Erkenntnis Seiner. Er redete mich an und sprach: »Lege deinen Mund an die Wunde meiner Seite«! Und es kam mir vor, ich tue es und trinke das frischquellende Blut aus seiner Seite und ward inne, daß es mich reinigte. Das erfüllte mich mit innigem Trost, so traurig ich war über das Leiden des Herrn, und da bat ich Ihn, Er möge mich mein Blut vergießen lassen für Ihn aus Liebe, wie er für mich getan.

Ein andermal, da ich darum gebeten hatte vor der Kommunion, Ihn so zu sehen, wie der Vater der Barmherzigkeit Ihn für uns dahingegeben, . . . als elenden, verachteten, verwundeten, blutenden Schmerzensmann am Kreuze, . . . da sah ich Ihn in der Tat so in dem Sakrament mit den Augen des Geistes: schmerzhaft, blutüberströmt, gekreuzigt und am Kreuze gestorben. Und ich empfand ein dermaßen zehrendes Weh, daß ich meinte, das Herz wolle mir springen vor diesem Antlitz der Schmerzen.

Ein anderes Mal dachte ich wieder nach über die großen Schmerzen, die Christus am Kreuze erlitten. Ich erinnerte mich, daß ich hatte sagen hören, die Nägel hätten das Fleisch seiner Hände und Füße in das Holz hineingetrieben, und ich hatte den Wunsch, wenigstens etwas von diesem Fleische zu sehen, das mit den Nägeln in das Holz gedrungen war. Da überkam mich angesichts dieser Folterung Christi ein so heftiger Schmerz, daß ich nicht mehr stehen konnte. Ich ließ das Haupt sinken und setzte mich. Da erblickte ich Christus mit gesenktem Haupt über meinen Armen, die auf dem Boden lagen. Er zeigte mir seinen Hals und seine Arme. Und sein Hals war so schön, daß es nicht zu beschreiben war, und ich begriff, daß dies von seiner Gottheit kommen müsse. Sonst sah ich nichts als diesen wundersamen minniglichen Hals. Aber meine vorige Traurigkeit war in eine solche Freude verwandelt, daß ich nichts mehr schauen und spüren konnte als sie.

Und wiederum, es war am Mittwoch in der Karwoche, war ich in schmerzvolles Nachsinnen über den Tod des Gottessohnes vertieft. Da ward in meiner Seele das Wort vernehmlich: »Ich habe dich nicht zum Schein geliebt«! Das versetzt mir einen tödlichen Schlag . . . Gleich darauf hieß es – und das Folgende steigerte noch meinen Schmerz - : »Ich habe dich nicht zum Schein geliebt, ich habe in meinem Eifer kein Spiel getrieben mit dir und dir keine Gefühle sozusagen von weitem angetragen«. Das trieb meine Pein aufs Äußerste. »O Meister«, schrie meine Seele auf, »Du hast recht, von Dir gilt das, und meine Liebe war nur Trug und Schein. Niemals wollte ich Dir wahrhaft nahe kommen und die Mühen teilen, die Du um meinetwegen getragen und empfunden hast. Niemals habe ich Dich wahrhaft geliebt, in selbstloser Liebe, sondern nur in unehrlichem, lässigem Sinn«! … Der Schmerz, den ich fühlte, war so heftig, daß ich beinahe daran starb. Ich fühlte, wie seine Gewalt mir die Brust zersprengen und das Herz brechen wollte.

Einmal schaute ich das Kreuz mit dem Heiland, und wie ich Ihn so mit leiblichen Augen sah, ward meine Seele plötzlich von so glühender Liebe entzündet, daß auch die Glieder meines Leibes mit heftiger Lust diese Liebe empfanden. Schaute ich doch und spürte, wie Christus meine Seele mit seinen gekreuzigten Armen umschlang, und es durchzuckte mich eine größere Wonne, als ich jemals verkostet.

Und immer wieder empfindet meine Seele, wenn ich in dieser Vision bin und diese Umarmung genieße, eine so große Wonne, daß ich gar nicht mehr trauern kann über das Leiden, wenn ich auch sehe, daß die Hand, die mich umschlingt, die Hand des Gekreuzigten ist . . . Und bisweilen kommt es der Seele bei dieser innigen Umarmung vor, als dringe sie in die Seite Christi. Die Seligkeit und das Licht, die sich da meiner bemächtigen, sind unmöglich zu schildern. So überwältigend ist es , daß ich mitunter nicht mehr auf den Füßen stehen kann, sondern zusammen sinke und die Sprache verliere.

Die letzte Gewißheit
Einige Zeit nach meiner Bekehrung bat ich an einem Marienfest die selige Jungfrau, sie wolle mir von ihrem Sohne die Gnade der Einsicht erlangen, daß ich mich in den himmlischen Ansprachen nicht täusche. Da vernahm ich ein göttliches Wort, das mir verhieß, ich werde diese Gewißheit erhalten. »Gott ist es«, so hieß es, »der sich dir offenbarte, der mit dir redete und dir die innere Erfahrung gab seines Wesens«!

Ich bat Ihn, Er möge mir durch Wort oder Bild irgendein Zeichen geben sichtbarer Art, z. B. eine Kerze in die Hand, einen kostbaren Stein oder sonst ein beliebiges Zeichen, wie es ihm gefalle: ich wollte es niemand gegen seinen Willen zeigen. Da erwiderte Er: »Das Zeichen, das du erbittest, machte dir nur Freude, wenn du es anschauest und berührtest, und es könnt dich nicht einmal aus dem Zweifel befreien – du könntest auch darin getäuscht werden! Ich gebe dir aber ein besseres Zeichen: du wirst immer von Liebe erglühen, und die Erkenntnis Gottes wird immer dir leuchten. Dies ist ein Zeichen, das du allzeit in deiner Seele empfinden wirst. Es gibt dir mir aller Gewißheit kund, daß ich es bin. Denn nur ich und sonst niemand kann solches wirken«. . . .

Und er legte jenes Zeichen so fest und strahlend in meine Seele, daß ich wohl eher das Martertum leiden würde als davon ablassen. Und anhaltend fühle ich das Zeichen, das den geraden Weg des Heils weist:

Gott lieb haben und aus Liebe zu Ihm nach Leiden verlangen.


Dann befahl mir Gott: »Laß ans Ende dieser Blätter schreiben: Gott sei Dank! Wer die Gnade behalten will, wende die Augen nicht ab vom Kreuze, ob ich Freude gewähre oder der Trauer anheimgebe«!

Und er sprach: »Alles, was in diesem Büchlein geschrieben ist, ist von mir ausgegangen und ist geschrieben nach meinem Willen. Und ich werde mein Siegel darauf setzen«! S.60ff.
Aus: Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter. Von Otto Karrer, Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München