Aurelius Augustinus (354 – 430)

 

In Numidien (Nordafrika) geborener Philosoph und Theologe, der sich nach bewegten Jugendjahren zu einem tiefgläubigen systematischen Denker und zum größten lateinischen Kirchenlehrer des christlichen Altertums entwickelte. Als Lehrer der Rhetorik in Tagaste, Karthago, Rom und Mailand tätig, wandte sich Augustinus zunächst dem Manichäismus (spätantike gnostisch-synkretische Religion) und später dann dem Neuplatonismus zu. Nach seiner Bekehrung wurde er im Jahre 387 von Ambrosius getauft und war seit 395 Bischof von Hippo Regius.. Seine Philosophie ist ein christlicher Platonismus (Neuplatonismus). Im Kampf gegen die akademische Skepsis betont Augustinus als erster die entscheidende Bedeutung des Bewusstseins als unmittelbaren Ausgangspunkt aller Wahrheitserkenntnis. Die apriorische Einsicht, etwa die der mathematischen Wahrheiten, erklärt er durch göttliche Erleuchtung. In ihr habe der menschliche Geist teil an den göttlichen Ideen und schaue in diesen die unveränderlichen Wahrheiten. Gott habe Welt und Zeit erschaffen und von Anfang an in die Materie sich später entfaltende Keimkräfte gelegt. Im Gegensatz zur antiken Auffassung war für ihn die Menschheitsgeschichte nicht ein in sich zurückkehrender und sich wiederholender Kreislauf, sondern ein einmaliger - mit der Weltschöpfung beginnender und dem Weltgericht endender – Prozess. In den letzten Jahren seines Lebens kämpfte er besonders gegen die Pelagianer. Seine Polemik gegen diese betont die Wirkung von Gnade und Erbsünde so stark, dass sie als Neigung zur Prädestinationslehre verstanden werden kann.
Heiliger (Tag: 28. 8.)


Die »Confessiones« (Bekenntnisse) und »De Civitate Dei« (Vom Gottestaat) von Augustinus sind im
Volltext in älterer deutscher Übersetzung online in der »Bibliothek der Kirchenväter« von Gregor Emmenegger, Departement für Patristik und Kirchengeschichte an der Universität Fribourg, eingestellt.

Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon , Heiligenlexikon und Projekt Gutenberg

Inhaltsverzeichnis
Ekstatische Gotteserkenntnis im unveränderlichen Licht der Ewigkeit (Bekenntnisse: 7. Buch)
Die sinnlichen Hemmungen der Gotteserfahrung (Bekenntnisse:10. Buch)
Der Augustinische Gottesbeweis (Über wahre Religion)
Der gereinigte Gottesbegriff (Bekenntnisse: 7. Buch)
Schöpfung und Zeitlichkeit (
Vom Gottesstaat: 11. Buch, 4-8)
Die schöpferische Dreifaltigkeit (Vom Gottesstaat)

Die Schöpfung als Abbild der dreifaltigen Gottheit (Vom Gottesstaat)
Über die Engel: Morgen- und Abenderkenntnis, Die Staaten des Lichtes und der Finsternis (Vom Gottesstaat)
Gegen die Ewigkeit der Schöpfung und ewige Wiederkehr (Vom Gottesstaat)
Scheidung von Licht und Finsternis (Vom Gottesstaat)
Der Ursprung des Bösen (Bekenntnisse: 7. Buch)
Der Neid macht den Teufel zum Teufel (Über wahre Religion)
Die Ursünde des Abfalls (Vom Gottesstaat)
Der ewige Sabbat (Vom Gottesstaat)

Vom Tode (Vom Gottesstaat, 13. Buch)
Ausgewählte Briefe - Drittes Buch
Brief an Proba

>>>Christus

Christus der fleischgewordene Logos (Bekenntnisse: 7. Buch)
Christus – Gottmensch und Mittler (Vom Gottesstaat)
Der wahre Mittler (Bekenntnisse: 10. Buch)


Ekstatische Gotteserkenntnis im unveränderlichen Licht der Ewigkeit
(Bekenntnisse: 7. Buch)

A
ufgefordert, zu mir selbst zurückzukehren trat ich, von dir geführt, in mein Inneres ein; dies gelang mir, weil du dich zu meinem Helfer gemacht hast. Ich trat also in mich ein, und mit dem Auge meiner Seele, so schwach es auch war, sah ich oberhalb dieses Seelenauges, oberhalb meines Geistes, das unveränderliche Licht. Nicht dieses irdisch-gewöhnliche, das allem Fleisch sichtbar ist, auch nicht eines, das von derselben Art, nur größer war, so als strahle irdisches Licht viel heller und erfülle alles mit seinem Schein. Nein, so war jenes Licht nicht, sondern anders war es, ganz anders als irdisches Licht. Und es war nicht in der Weise oberhalb meines Geistes, wie Öl über Wasser schwimmt oder der Himmel über der Erde steht. Es war höher, weil es mich gemacht hat, und ich war tiefer, weil von ihm gemacht.

Wer die Wahrheit kennt, kennt es, und wer es kennt, kennt die Ewigkeit.
Die Liebe kennt es. Ewige Wahrheit und wahre Liebe und geliebte Ewigkeit! Du bist mein Gott; ich seufze zu dir Tag und Nacht. Kaum lernte ich dich kennen, da hobst du mich auf, so daß ich sehen konnte, daß wirklich ist, was da zu sehen war, daß ich aber noch kein Sehender war. Du strahltest gewaltig über mir und schlugst meinen schwachen Blick zurück; ich erbebte vor Liebe und Erschrecken. Ich fand, daß ich weit weg von dir war, in der Region des Andersseins. Es war, als hörte ich deine Stimme aus der Höhe: »Ich bin die Speise der Starken. Wachse und iß dann von mir! Aber du wirst mich nicht wie eine leibliche Speise in dich verwandeln, sondern du wirst in mich verwandelt werden.« Ich erkannte, daß du den Menschen gezüchtigt hast wegen der Sünde und daß du meine Seele zerfetzt hast wie ein Spinnengewebe, und ich sagte: »Gibt es denn überhaupt keine Wahrheit, da sie sich weder in endlichen noch in unendlichen Räumen findet?« Da riefst du von weitem: Doch! Ich bin, der ich bin. Das hörte ich, wie man im Herzen hört. Ich konnte überhaupt nicht daran zweifeln. Eher hätte ich gezweifelt, ob ich lebte, als daran, daß die Wahrheit existiert, die wir geistig erfassen auf dem Weg über das, was gemacht worden ist.

Dann blickte ich mit meinem geistigen Auge auf all die Dinge unter dir und sah, daß sie weder im vollen Wortsinn sind, noch daß sie im vollen Wortsinn nicht sind, sondern daß sie sind, weil sie von dir stammen, daß sie aber nicht sind, weil sie nicht sind, was du bist. Denn nur das ist, im wahren Sinne dieses Wortes, was unveränderlich beharrt. Für mich aber ist es gut, mich an Gott zu halten, denn wenn ich keinen Halt finde in ihm, finde ich ihn schon gar nicht in mir. Er, der in sich verharrt, er erneuert alles. Und du bist der Herr, mein Gott, weil du meiner Güter nicht bedarfst. S.184f. [...]

Für mich blieb erstaunlich, daß ich jetzt dich liebte, nicht ein Phantasiebild statt deiner. Aber noch hatte ich keinen festen Stand gewonnen im Genuß [frui] meines Gottes: Bald riß deine Schönheit mich zu dir hoch, bald riß mich mein Gewicht von dir weg, und stöhnend stürzte ich herab zu diesen irdischen Dingen, und dieses Gewicht war die fleischliche Gewohnheit. Was aber bei mir blieb, war die Erinnerung [memoria] an dich, und ich zweifelte überhaupt nicht mehr, daß das Wesen existiere, dem ich anhängen sollte, und daß nur ich noch nicht als der existierte, der ihm anhängen könnte, denn unser Körper, der Zerstörung unterworfen, beschwert die Seele, und unsere irdische Behausung drückt den Geist nieder, der vieles bedenkt. Dennoch war ich dessen ganz gewiß, daß dein Unsichtbares von der Grundlegung der Welt her geistig erfaßt wird auf dem Weg über das, was gemacht worden ist, ebenso deine ewige Macht und Gottheit. Denn wenn ich mich fragte, nach welchem Maßstab ich die Schönheit der Körper am Himmel oder auf der Erde beurteilte und was es in mir sei, wenn ich ungebrochen Dinge beurteilte, die sich verändern, und wenn ich sagte: »Dies ist, wie es sein soll, jenes nicht« — wenn ich mich also fragte, nach welchem Maßstab ich solche Urteile aussprach, dann fand ich über meinem veränderlichen Geist die unveränderliche und wahre Ewigkeit der Wahrheit. Und so stieg ich stufenweise auf, von den Körperdingen beginnend: zunächst zu der Seele, die wahrnimmt mit Hilfe eines Körpers; von da zu deren innerer Kraft, der die Sinne die äußeren Eindrücke vermitteln und die auch die Tiere besitzen; und von da weiter zur Denkkraft, der zur Beurteilung vorgelegt wird, was die äußeren Sinne aufnehmen; und indem diese sich in mir als veränderlich erfaßte, reckte sie sich auf zur Einsicht ihrer selbst, sie befreite das Denken aus der Gewohnheit, indem sie sich den widersprüchlichen Massen von Phantasiebildern entzog, um das Licht zu entdecken, das sie überkam, als sie völlig frei von Zweifeln ausrief, das Unveränderliche sei dem Veränderlichen vorzuziehen. In diesem Licht kannte sie das Unveränderliche denn wenn sie es nicht irgendwie kennte, könnte sie es nicht mit aller Gewißheit dem Veränderlichen vorziehen —, und so erreichte sie im Blitz eines erzitternden Blicks das Wesen, das wahrhaft ist. Damals erfaßte ich wirklich geistig dein Unsichtbares auf dem Weg über das, was du gemacht hast, aber ich konnte den Blick darauf nicht festhalten. Zurückgeworfen durch meine Schwäche, kehrte ich zum Gewöhnlichen zurück. In mir blieb nichts zurück als ein liebevolles Erinnern, wie das Verlangen nach einer Speise, deren Duft ich gerochen hatte, die ich aber noch nicht essen konnte. S.189f.
Aus: Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch
Reclams Universalbibliothek Nr. 2792 © 1989 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Die sinnlichen Hemmungen der Gotteserfahrung
Und meine ganze Hoffnung ist nur in deinem großen Erbarmen. Gib was du verlangst, dann verlange, was du willst Enthaltsamkeit befiehlst du. »Und da ich wusste«, sagt uns einer, »daß niemand könne enthaltsam sein, wenn nicht Gott es ihm gibt, so war es Weisheit schon, daß ich wusste, wer der Geber sei.« Durch Enthaltsamkeit wird der Mensch gesammelt und zurückgeführt in die Einheit, von der entfernt er ins Vielerlei zerflossen war. Denn es liebt dich zu wenig, wer neben dir ein anderes liebt, das er nicht deinetwegen liebt. O Liebe, die du immer brennst und nie erlischest, o Liebe, mein Gott, entzünde mich! Enthaltsamkeit verlangst du: gib, was du verlangst, dann verlange, was du willst.

Gewiß verlangst du, daß ich mich enthalte »von Fleischeslust, Augenlust und Hoffart dieser Welt«. Du hast den Beischlaf, der nicht Ehe ist, verboten und hast zu Besserem noch als diesem Erlaubten der Ehe gemahnt. Und weil du mir‘s gegeben hast, so vollbrachte ich‘s, noch eh ich Verwalter deines Sakramentes wurde. Aber in meinem Gedächtnis, von dem ich jetzt so viel gesprochen, da sind lebendig noch die Bilder von solchen Dingen, die meine Gewohnheit dort befestigt hat. Sie drängen sich im Wachen, freilich ohne Kraft, heran, im Schlafe aber wird daraus ein Wohlgefallen, mehr noch, schon ein Ja und Tun so ganz nach ihres-gleichen. Und soviel vermag der Trug solchen Bildes in meiner Seele, meinem Fleische, daß mich im Schlafe unwirkliche Gesichte überreden, wozu den Wachen auch die gesehene Wirklichkeit nicht vermag. Bin ich dann nicht ich, Herr, mein Gott? Wahrhaftig, solch ein Unterschied ist zwischen mir und mir, schon innerhalb des Augenblicks, wo ich von hinnen in den Schlaf hinübergehe oder vom Schlafe zurück herüberkomme. Wo bleibt alsdann die Vernunft, kraft welcher sich der Wache solcher Traumbetörung widersetzt und selbst von der Wirklichkeit, wenn etwa diese Dinge vor ihm geschehen, sich nicht erschüttern läßt? Schließt sie sich zugleich mit den Augen? Schläft sie mit den Sinnen des Leibes ein? Und wie kommt es, daß wir oft auch im Schlafe widerstehen und eingedenk unseres Vorsat-zes, keusch in ihm verharrend, solchen Lockreizen jegliche Zustimmung versagen? Und doch ist jener Unterschied (zwischen mir und mir) so groß, daß, wenn es eben anders kam, wir beim Erwachen zurückfinden zur Ruhe des Gewissens und dank gerade jener Ungleichheit erkennen, daß nicht wir es getan, was da immerhin als irgendwie an uns Geschehenes uns traurig macht.

Ist denn, allmächtiger Gott, deine Hand nicht mächtig, alle die Unkraft meiner Seele zu heilen und mit reicherer Gnade die lüsternen Regungen auch meines Schlafes zu ersticken? Ja, Herr, du lässest reich und reicher deine Gnaden in mir wachsen, daß meine Seele, ledig von diesem Vogelleim des Gelüstes, mir zu dir hin folge, daß sie nicht mehr rebelliere gegen sich selbst, daß sie auch im Schlafe nicht unter Bildern von tierischer Geile jene Schändlichkeiten der Unzucht bis zum Fluß des Fleisches treibe, nein, daß sie nicht einmal den Willen dazu habe. Denn zu verhüten, daß nichts dergleichen, einem bloßen der als schon Wille verscheuchen des könnte, uns noch gelüste, in diesem Leben überhaupt, nicht nur in diesem Mannesalter, ist doch ein Kleines für dich, den Allmächtigen, der du »mehr zu tun vermagst, als wir bitten und verstehen«.

Nun hab ich es meinem Herrn gesagt, wie es in diesem Stücke meines Sündenwesens um mich steht, »frohlockend mit Zittern« ob dessen, was du mir schon gegeben, trauernd ob dessen, was an mir noch unvollendet, und hoffend, daß du dein Erbarmen in mir vollenden wer-dest bis zu jenem vollen Frieden, den mein Innen und mein Außen haben wird bei dir, wenn »der Tod verschlungen ist im Sieg«.

Noch eine andre »Plage« hat der »Tag«. O daß »er sich an ihr genüge«! Dem täglichen Verfall des Leibs begegnen wir mit Essen und mit Trinken, bis du uns »Leib zerstörst und Speise«, was wir bedürftig sind, uns reichst mit wundersamer Sättigung, »was wir verweslich sind, mit ewger Unverweslichkeit umkleiden«. Jetzt aber ist der Zwang des Essens mir nur lieb. Und gegen diese Lust nun kämpf ich an, daß sie mich nicht gefesselt halte, und täglich führ ich fastend wider sie den Krieg und oftmals »bring ich meinen Leib in Dienstbarkeit«. Doch immer noch ist es mir Lust, die Schmerzen zu vertreiben. Denn Schmerzen sind Hunger und Durst; sie brennen und würden töten wie das Fieber, käme nicht die Arzenei von Speis und Trank zu Hilfe. Und da die immer vor uns liegt als eine reiche Gabe deines tröstenden Erbar-mens, der du zum Dienste unsrer Schwachheit mit Nahrung die Erde füllest, den Himmel und das Meer, so wird uns nun die Mühsal Lust.

Das hast du mich gelehrt, daß ich nun Speis und Trank wie eine Arzenei nur zu mir nehme. Aber da ich von der Unruhe des Hungers zur Ruhe der Sättigung übergehe, lauern mir in diesem Übergang schon Schlingen der Begierde. Schon dieser Übergang ist Lust, und keinen andern gibt‘s als ihn, zu dem die blinde Not uns treibt. Der Zweck von Speis und Trank ist die Gesundheit, doch zu ihr tritt als tückisch böse Weggenossin das Vergnügen, und oft versucht es, ihr voranzugehen, daß um seinetwillen nun geschehe, was ich nach meinem Wort und Willen nur der Gesundheit wegen tue. Und beide haben nicht das gleiche Maß: was der Gesundheit schon genug, ist dem Vergnügen noch zu wenig. Und oft ist‘s ungewiß, ob die notwendige Sorge für den Leib um Hilfe bittet oder ob schon lügnerisch Lust und Begierde nur den Dienst verlangen. Und froh um dieser Ungewißheit willen ist die arme Seele und heuchelt sich mit Freuden die Entschuldigung, es sei nicht klar, wieviel die gute Sorge um den Leib verlange, und deckt so mit dem Schilde der Gesundheit nur den Dienst der Lust. Doch täglich such ich wider die Versuchung anzukämpfen und rufe deine Rechte an zu meiner Hilfe und trage alle meine bange Not zu dir, weil ich den rechten Weg in diesen Dingen noch nicht kenne.

Die Stimme meines Gottes höre ich, der mir befiehlt »Seht zu, daß euer Herz ist nicht beschwert mit Völlerei und Trunksucht«. Die Trunksucht zwar ist weit von mir, und du erbarmst dich meiner, daß sie mir nicht nahe! Doch Völlerei beschleicht noch manchmal deinen Knecht; erbarm dich meiner, daß sie fern mir sei! Denn »keiner kann enthaltsam sein, wenn du es ihm nicht gibst«. Vieles reichst du uns, wenn wir dich darum bitten, und was wir, eh wir darum baten, Gutes schon empfingen, das haben wir von dir empfangen. Und dies auch haben wir von dir empfangen, daß wir es danach erkannten. Ein Trinker war ich nie, doch kannt ich Trinker, die du zu Nüchternen gemacht hast. So ist durch dich geschehen, daß es die nicht sind, die nie es waren; durch dich auch ist‘s geschehen, daß die es nimmer sind, die einst es waren; durch dich auch ist‘s geschehen, daß es beide wissen, durch wen‘s geschehen ist.

Und noch ein andres Wort von dir hab ich gehört: »Lauf du nicht hinter der Begierlichkeit des Fleisches und wende dich von dem, was dir zur Lust ist«. Auch jenes andre, das ich so viel liebe, hörte ich durch deine Gnade: »Wenn wir essen, gewinnen wir nicht und verlieren nicht, wenn wir nicht essen«. Und das will sagen, daß das eine mich nicht reich, das andere nicht arm und elend macht. Und noch ein andres habe ich gehört: »Ich habe gelernt, genug an dem zu haben, was ich habe; Überfluß kann ich haben und Not leiden. Alles kann ich in dem, der mich stärkt«. Sieh, so spricht ein Krieger vom Himmelsheer und nicht ein Häuflein Staub wie wir; du aber, Herr, gedenke, »daß wir Staub sind«, daß du aus Staub den Menschen schufest, daß »er verloren ward und wiedergefunden«. Denn er auch konnt es nicht aus sich; denn er auch war nur Staub. Und dein Geist war‘s, der ihm die Worte einblies, die ich so sehr liebe: »Alles kann ich in dem, der mich stärkt«. So stärke du mich, daß ich es kann! Gib, was du forderst, dann fordre, was du willst! Auch er bekennt, daß er von dir empfangen, und »rühmt er sich, so rühmt er sich im Herrn«. Und einen andern hört ich bitten, daß er empfange: »Nimm von mir«, sagte der, »die Lust des Bauches«! Und so ist klar, du heilger Gott, daß du es bist, der gibt, wenn das geschieht, was du befohlen hast, daß es geschehe.

Du hast mich gelehrt, du gütger Vater, daß »dem Reinen alles rein, doch daß es dem nicht gut ist, der da ißt mit Anstoß des Gewissens«. Und daß »alle deine Kreatur gut ist und nichts verwerflich, was genossen wird mit Dank«. Und daß »Speise uns vor Gott nicht Wert gibt«. Und daß niemand »uns richten soll um der Speise willen und des Tranks«. Und »daß, wer da ißt, nicht den verachte, der da nicht ißt, und der da nicht ißt, den verdamme, der da ißt«. Dies habe ich gelernt, und dafür sei dir Dank und Lob, mein Gott, mein Lehrer, der du mein Ohr trafst und mein Herz erleuchtetest! So nimm du von mir alle die Versuchung! Ich fürchte nicht die Unreinheit der Speisen, doch fürcht ich die Unreinheit der Begierde. Ich weiß, dem Noe war erlaubt, was ihm zur Nahrung dienen konnte, jede Art von Fleisch, zu essen, Elias nährte sich mit Fleisch, und den Johannes, diesen Mann der wunderbarsten Enthaltsamkeit, verunreinigten die Tiere nicht, die Heuschrecken, die ihm Nahrung waren. Ich weiß auch, daß Esau durch die Gier nach jenem Linsenmus sich hat betören lassen, daß David selbst sich tadelte, des Dursts nach Wasser wegen, und daß unser König einst versucht wurde mit Brot und nicht mit Fleisch. Und in der Wüste ward das Volk gestraft, nicht weil‘s nach Fleisch verlangte, sondern weil es um des Verlangens willen wider seinen Herrn gemurrt.

Und so inmitten der Versuchungen gestellt, streit ich so täglich wider meine Gier nach Speis und Trank. Hier ist‘s ja nicht wie bei der Unzucht: Hier kann ich nicht mit einer einigen Tat des Willens das Böse von mir legen und es ferner nicht berühren. So muß ich denn die Zügel meines Gaumens weislich führen, bald lockern und bald straffer halten. Und wer ist‘s, Herr, der ein Kleines nicht sich über die erlaubte Grenze reißen ließe? Und der es ist, der ist gar groß und hoch, und hoch erhebe er drum deinen Namen! Ich aber bin es nicht, ich bin ein sündger Mensch. Doch ich auch will dir deinen Namen hoch erheben! Und »für mich bitte und um meiner Sünden willen« der, »der die Welt besiegt« und der mich zu »den schwachen Gliedern seines Leibes« zählt, denn »da ich unvollkommen war‘ da haben deine Augen mich gesehen und eingetragen sind wir alle in dein Buch«.

Um den Reiz der Wohlgerüche kümmre ich mich wenig. Sind sie nicht da, such ich sie nicht; und sind sie da, ver¬schmäh ich sie auch nicht, bereit, sie immer zu entbehren. So scheint es mir, vielleicht auch täusch ich mich. Denn wohl gibt‘s Dunkelheit in mir, die ich beklagen muß und die mir ein Vermögen oft verbirgt, das in mir ist. Und wenn die Seele dann sich selbst nach ihren eignen Kräften fragt, so glaubt sie sich nicht gern und leicht, weil das auch, was da in ihr ist, gar oft im Dunkel bleibt, bis die Erfahrung erst ans Licht es bringt. Und niemand soll sich sicher wähnen in diesem Leben, das »eine einige Versuchung« heißt, ob, wer aus einem Schlechteren ein Besserer werden konnte, nicht auch aus einem Besseren ein Schlechtrer werde. Nur eine einige Hoffnung gibt es, ein Vertrauen, eine einige sichere Verheißung, dein Erbarmen!

Hartnäckiger und zäher hielten mich die Freuden des Gehörs in Fesseln und im Joch. Doch du hast mich gelöst und frei gemacht. Auch heut noch, ich gesteh es, ruh ich gern im Wohlgefallen an den Tönen der Musik, wenn sie in kunstvoll lieblichem Gesange vorgetragen und be-seelt ist durch dein heilges Wort. Doch häng ich nicht mehr so daran wie früher und vermag mich wohl davon zu lösen, wenn ich will. Doch da sie nun mitsamt den Worten, die sie erst beleben, bei mir um Einlaß bitten, fordern sie auch einen Platz in meinem Herzen, würdig ihres Wertes; und wohl ist‘s möglich, daß ich ihnen nicht den rechten gebe. Aber manchmal glaub ich, geb ich ihnen doch mehr Ehre als sich ziemt. Ich fühle wohl, daß diese heilgen Worte, wenn sie gesungen werden, meine Seele in frömmere und heißre Andachtsgluten tauchen, als wenn sie nicht gesungen würden, weil jede Regung unsrer Seele nach ihrer Art auch in Gesang und Stimme ihre Weise hat, etwas wie tief verborgene Verwandtschaft, die sie reizt und anregt. Oft aber täuschen mich auch nur die Freuden meiner Sinne, und sie betäuben und betören meine Seele, die drum sich hüten soll, sich ihnen hinzugeben. Denn statt geduldig dem Verstand zu folgen, um dessentwillen sie nur Zutritt in die Seele haben, eilen oft die Sin-ne ihm voraus und suchen ihn zu lenken. Und darin sündige ich oft und weiß es nicht; erst später merk ich es.

Dann aber wieder, da ich allzu unbedacht mich nur vor jener Täuschung hüten will, fehl ich durch allzu große Strenge, und so sehr bisweilen, daß ich all jene süßen Melodien, in denen Davids Psalmen meist gesungen werden, von meinem Ohr und von der ganzen Kirche ferngehalten wissen möchte. Dann scheint mir viel besser, was einst, wie ich schon oft erzählen hörte, Athanasius, der Bischof Alexandriens, angeordnet, daß man die Psalmen mit so leisen Schwebungen der Stimme singe, daß es mehr ein getragenes Lesen als Gesang war. Dann aber wieder, wenn ich meiner Tränen mich erinnere, die ich in deiner Kirche beim Gesang vergossen habe damals in jenen Erstlingstagen meines neu gewonnenen Glaubens, und wenn ich dann sehe, wie ich heute noch mich rühren lasse nicht durch den Gesang bloß, durch die Worte vielmehr, die mit heller Stimme und mit so angemessen süßem Wohllaut ihrer Melodien gesungen werden, dann wieder seh ich ein, wie großen Nutzens diese Bräuche sind. So schwank ich hin und her, jetzt die Gefahr der Sinneslust bedenkend, jetzt die erprobte Heilsamkeit. Doch mehr und mehr bin ich der Meinung, wenn ich schon damit kein unwiderruflich festes Urteil geben will, daß in der Kirche das gewohnte Singen wohl zu billigen sei, daß durch die Lust der Ohren sich die schwächre Seele zu innigerer Frömmigkeit erhebe. Wenn aber, wie es manchmal mir geschieht, mich der Gesang mehr rührt als die gesungnen Worte, dann gesteh ich offen, daß ich sträflich sündige. Und dann auch wollt ich lieber den Gesang nicht hören. Sieh, so bin ich. Ihr aber weint mit mir und weint für mich, die ihr im Innern solches sinnt, woraus die guten Taten kommen. Denn sinnt ihr solches nicht, so kann euch dies nicht rühren. Du aber, »Herr, mein Gott, schau auf mich und erhör mich«! Sieh mich, »erbarme dich meiner, heile mich«! In deinen Augen bin ich selbst zum Rätsel mir geworden. Und dies ist meine Krankheit.

Nun bleibt mir noch die Lust der Augen meines Fleisches. Und was ich hier bekenne, das sollen auch die Ohren deines Tempels hören, die brüderlichen, liebevollen Ohren. Dann aber rede ich nicht weiter von den Versuchungen der fleischlichen Begierde, die noch heut mich peinigen, daß ich »aufseufze und mich sehne, eingehüllt zu werden mit jener Hülle, die vom Himmel kommt«.

Meine Augen lieben schöne Form und wechselnde Gestalt und leuchtend angenehme Farben. Meine Seele hänge nicht daran, die hänge nur an Gott, der dies geschaffen, der es gar gut geschaffen hat. Denn er ist ja mein Gut, nicht diese Dinge sinds. Die treffen nun mein Aug‘ den lieben langen Tag, solang ich wach bin, und keine Ruh ist mir vor ihnen, wie ich doch vor den Klängen manchmal Ruhe linde, wenn alles ringsum schweigt und stille ist. Die Königin aller Farben aber, das Licht, das frei auf alles fällt, was wir nur sehen, das kommt zu mir den ganzen Tag, wo ich auch sei, auf mannigfache Weise und schmeichelt mir so süß, wenn ich auch andres treibe und es nicht beachten will. Und so mit mächtiger Gewalt weiß es zu fesseln, daß man, wenn es mit einemmal uns weggenommen wird, mit Sehnsucht danach ruft, und daß, ist‘s lange weg, die Seele traurig wird.

O Licht du, das Tobias sah mit blinden Augen, da er seinem Sohn den Weg des Lebens wies und ihm voranging mit dem Fuß der Liebe, ohne irr zu gehen! Das Isaak sah, als ihm das Alter schon das Aug des Leibs umdunkelt, da er die Söhne nicht erkannte, um zu segnen, sondern segnen durfte, um sie zu erkennen! Das Jakob sah, da er im höchsten Alter blinden Auges aus lichtvoll hellem Herzen sehende Strahlen warf auf all die künftgen Stämme seines Volkes, jetzt vorbezeichnet schon in seinen Söhnen; da er auf Josefs Söhne, seine Enkel, die mystisch wundersam gekreuzten Hände legte, so wie er‘s tief im Innern sah, nicht wie der Vater, der nur draußen stand, es anders wollte. Dies ist das Licht. Ein einzges ist‘s, ein anderes ist nicht, und eins und einzig werden alle, die es sehn und lieben. Doch jenes körperliche Licht, von dem ich sprach, das würzt den andern, die da blind ihr Leben lieben, mit lüstern und gefährlich süßer Wonne Welt und Leben. Die aber wissen, seinetwegen dich zu preisen, Gott, du Schöpfer alles Seins, die tauchen dieses Licht ein in den ewgen Lobgesang des Herrn, auf daß es sie nicht tauche in den Schlaf des Todes. So will auch ich es tun. Ich widerstehe den Versuchungen der Augen, daß meine Füße, die auf deinem Wege wandeln, sich nicht hemmen lassen. Und meine unsichtbaren Augen heb ich auf zu dir, »daß du mir meine Füße aus den Schlingen ziehest«. Denn sie verstricken sich, du aber lösest sie daraus. Du lässest nicht nach, mich draus zu lösen, da ich immer wieder mich verstricke in den weit und überall verstreuten Schlingen, du, »der du nicht schläfst noch schlummerst, du Hirte Israels«!

Was haben nicht in zahllos mannigfachen Künsten sich die Menschen neuen Augenreiz geschaffen, mit Kleidern und mit Schuhen, mir Gefäßen und Hausrat aller Art, auch mit Gemälden und mit Bildwerk wechselnd reicher Form, mit Gegenständen, die weit über den Bedarf des Tages gehen und über jeden maßvoll ruhigen Gebrauch und Sinn: draußen laufen sie den Dingen nach, die sie geschaffen, und drin verlassen den sie, der sie selbst geschaffen hat, und so zerstören sie das Werk, zu dem der Schöpfer sie geschaffen! Ich aber, du mein Gott und meine Zierde, ich singe auch um dieser Dinge willen dir dein Lob und bringe dir ein Opfer reinen Lobes, der du mich geheiligt hast. Denn was an Schönem aus der Seele in die Hand des Künstlers fließt, das kommt von jener Schönheit, die da über unsern Seelen ist, nach der sich meine Seele seufzend sehnt so Tag wie Nacht. Die aber diese äußre Schönheit schaffen und die nach ihr streben, die nehmen wohl aus jener ewgen Schönheit Maßstab und Urteil, aber nicht die Regel des Gebrauchs. Sie ist in ihnen, doch sie sehn sie nicht, sonst liefen sie nicht weiter, sondern »gäben ihre Kraft in deine Hut« und gössen sie nicht aus an schwächend trügerische Süßigkeiten. Auch ich, da ich dies sage, da ich es wohl unterscheiden kann, ich auch auf meinem Wege stoße auf die schönen Dinge und verstricke mich in ihnen. Du aber machst mich los, Herr, machst mich los, denn »dein Erbarmen steht vor meinen Augen«. Gar jämmerlich umschlingen mich die Fesseln, du aber machst mich los in deinem gnädigen Erbarmen, und oft geschieht es, ohne daß ich‘s merke, denn unbedacht fiel ich hinein, oft auch ge-schieht‘s mit Schmerzen, weil ich schon angefangen‘ dran zu hangen.

Dann gibt‘s noch eine andre Weise der Versuchung, die gar viel gefährlicher noch ist. Denn außer dieser bösen Lust des Fleisches, die in aller Sinnenlust und aller Gier nach Freude wohnt und die zugrunde richtet, wer ihr fern von deinem Angesichte dient, lebt in der Seele eine andere Begierde, die durch die gleichen Sinne ihres Leibes zwar nicht im Fleische sich ergötzen, wohl aber durch das Fleisch in eitlem Vorwitz Nichtiges erfahren will, was dann geschminkt wird mit dem Namen der Erkenntnis und der Wissenschaft. Da sie nun im Erkenntnistrieb beschlossen liegt und da in der Erkenntnis unter allen Sinnen die Augen Fürsten sind, nennt sie ein Wort des heiligen Geistes die »Begierlichkeit der Augen«. Nur dem Auge ist das Sehen eigentümlich. Wir aber gebrauchen das Wort auch bei den andern Sinnen, wenn wir ihrer uns bedienen, irgend etwas zu erkennen. Wir sagen nie: horch, wie das schimmert, rieche, wie das glänzt, schmecke, wie das leuchtet, oder fühle, wie das strahlt. Denn von all dem sagen wir: man sieht es. Wohl aber sagen wir nicht nur: sieh, wie dies leuchtet, was ja allein das Auge sehen kann; wir sagen auch: sieh, was da klingt, sieh, was da duftet, sieh, was da schmeckt, und sieh, wie hart das ist. Deshalb wird jede Erfahrung durch die Sinne, wie ich schon gesagt, »Begierlichkeit der Augen« genannt, weil auch die andern Sinne, wenn sie etwas erforschend zu erkennen suchen, das Amt des Sehens, das doch an erster Stelle nur dem Auge zukommt, sich gleichermaßen anzueignen scheinen.

Daraus wird nun der Unterschied genügend deutlich zwischen dem, was an der Tätigkeit der Sinne dem Vorwitz dient, und was der Lust. Die Lust sucht das, was schön und klangvoll, wohlriechend, wohlschmeckend und zart anzufühlen ist; der Vorwitz aber sucht das Gegenteil auch, nicht um Unlust daran zu empfinden, sondern in der Gier, ein Neues zu erfahren und sich erkennend anzueignen. Was wäre es denn für ein Vergnügen, einen Leichnam anzusehen, wund und zerfetzt, wovor ein jeder schaudert? Und doch, sobald da einer liegt, da strömen sie zusammen, um ihn mit Schrecken und mit bleicher Angst zu sehen. Im Traum dergleichen nur zu sehen, fürchteten sie sich; und zwingt sie denn im Wachen einer, es zu sehen, oder lockt und überredet sie erhoffte Schönheit? Und so ist‘s auch bei allen andern Sinnen, was viel zu lang ist, einzeln auszuführen. Und um dieser krankhaften Neugier willen zeigt man im Theater Wunderdinge aller Art. Um ihretwillen geht man dran, all das Geheimnisvolle der Natur, das doch für unsre Sinne nicht geschaffen, auszuforschen, und sucht nach Dingen, die zu wissen uns nichts nützt, und doch ist‘s nur der eine Wunsch bei allen Menschen: zu erkennen. Und daher kommt‘s auch, daß man in verkehrter Wissenschaft mit zauberischen Künsten nach Erkenntnis sucht; und daher auch, daß man die Religion mißbraucht und Gott versucht und Wunder und Zeichen sich von ihm erbittet, nicht um irgendeines Heiles willen, sondern aus dem Wunsch nur, Neues zu erfahren.

In diesem ungeheuerlichen Wald, so voll von Tücken und Gefahren, sieh, wie hab ich vieles schon von mir geworfen und aus meinem Herzen mir vertrieben, wie du es mir verliehen hast zu tun, »Gott meines Heils!« Und dennoch, wann darf ich es zu sagen wagen, da mich doch Tag für Tag so vieles dieser Art umlärmt, wann darf ich es zu sagen wagen, daß nun nichts dergleichen mehr mich lockt zu schauen und nichts, in nichtger Sorge es zu greifen? Wohl zieht‘s mich nicht mehr zum Theater, wohl kümmre ich mich nicht mehr um den Lauf der Sterne, und nie hat meine Seele Antwort gefordert von den Schatten; all dieses lästerliche Zauberwerk verdamme ich. Doch daß ich, Herr, mein Gott, von dir ein Zeichen fordre, dem ich doch treu und einfach dienen soll, wie hat mich nicht dazu der Feind verführen wollen mit tausendfachen Listen! Ich aber fleh dich an um unsres Königs willen und bei dem ewigen Jerusalem, bei unsrer heiligen und reinen Heimat: wie heute schon mir‘s fern ist, darein einzuwilligen, so rücke du mir‘s ferner noch und ferner! Ein andres aber, weil das Ziel ein andres, ist es, wenn ich die Heilung eines Bruders von dir erflehe; doch daß ich hier auch gern dir folge, was du tuest, das gabst du mir und wirst mir‘s ferner geben.

Und was sind‘s nicht winzig kleine und verachtenswerte Dinge, die täglich unsre Neugier in Versuchung bringen! Und wie oft fallen wir, wer zählt‘s? Wie oft geschieht es, daß wir eine nichtige Erzählung, nur um den schwachen Bruder nicht zu kränken, mit Geduld anhören, und mählich läßt sich unsre Seele fangen, nun gespannt zu lauschen! Ich gehe nicht mehr in den Zirkus, um dort zuzusehen, wie der Hund dem Hasen nachläuft; doch seh ich im Vorübergehen sie auf freiem Feld, so mich doch vielleicht von ernstem Denken dieses Jagen ab, und vom Wege komm ich, mit den Füßen nicht, doch mit dem Herzen. Und blöde starr ich auf das Bild, wenn du mir nicht die Schwachheit meiner Seele zeigst und einen Wink mir gibst, verachtend dieses Bild zu lassen oder in Betrachtung von ihm aus zu dir mich zu erheben. Und dann, geschieht‘s nicht oft, daß ich zu Hause sitzend aufmerksam nach einer Eidechse sehe, die da Mücken fängt, nach einer Spinne, die sie sich im Netz verstricken läßt? Oder wär das nicht mehr Neugier deshalb, weil es kleine Tiere sind? Wohl geh ich davon über, dich zu preisen, du wunderbarer Schöpfer und Erhalter aller Dinge; doch deshalb war‘s nicht, daß ich sie zuerst so aufmerksam betrachtet. Und ein andres ist es, schnell sich wieder zu erheben, ein andres, nicht zu fallen. Und solcher Dinge ist mein Leben übervoll, und all mein Hoffen ruht allein auf deinem ewigen Erbarmen. Denn wenn wir unser Herz so zum Gefäß für solche Dinge machen und wenn sich‘s füllt mit wirren Haufen solcher Nichtigkeiten, so stören und verwirren sie ja immer wieder unsere Gebete, und indes wir unsre Stimme zu deinen Ohren richten, dringen in deinem Angesicht von allen Seiten diese nichtigen Gedanken auf uns ein, und nichtig wird das heilige Geschäft des Betens.
S.182ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Der Augustinische Gottesbeweis
Die geistlichen Volkserzieher im Alten und Neuen Bunde
Über die Vernunft und ihre der Wahrnehmung überlegene Urteilskraft
Über der vernünftigen aber irrenden Seele steht das unwandelbare Gesetz der Gleichheit, Einheit u. Wahrheit
Diese Wahrheit, nach welcher, nicht über welche, der Mensch urteilt, ist göttlich, Gott selbst, Gott-Sohn
Alle Körper weisen Spuren der Einheit auf, erreichen sie aber nicht
Sinnliche Wahrnehmung und geistiges Schauen
Die wahre Einheit und die Einbildungen
Der Ruf zur Stille
Wesen und Ursprung der Falschheit


Die geistlichen Volkserzieher im Alten und Neuen Bunde [XXVIII.51]
140. Einige gab es zu Zeiten des irdischen Volkes, die zur Erleuchtung des inneren Menschen gelangten. Sie waren der Zeitlage entsprechend eine Hilfe für das Menschengeschlecht; denn sie reichten ihm, was damals erforderlich war, und kündigten weissagend an, was einstweilen noch nicht dargereicht werden durfte. Als solche stehen die Patriarchen und Propheten denen vor Augen, die das köstliche und große Geheimnis göttlichen und menschlichen Geschehens nicht kindisch angreifen, sondern fromm und andächtig betrachten.

141. Und wie ich sehe, hüten sich auch im Zeitalter des neuen Volkes die großen, geistlichen Männer der katholischen Kirche sehr vorsichtig davor, ihren Zöglingen öffentlich vorzutragen, was einstweilen nicht vor die Öffentlichkeit gehört. Milchspeisen flößen sie reichlich und immerfort der Mehrheit ein, die aus Lernwilligen, aber noch Schwachen besteht; die kräftigere Kost aber teilen sie mit denjenigen, die schon weise sind; denn Weisheit reden sie unter den Vollkommenen; den fleischlichen und sinnlichen, wennschon erneuerten, aber noch kindlichen Menschen verhüllen sie dagegen manches, ohne jemals zu lügen. Es ist ihnen ja nicht um eigene eitle Ehre und nichtige Lobeserhebungen zu tun, sondern um das Wohl derer, mit denen sie derzeitig in Gemeinschaft zu leben berufen sind.

142. Denn so hat es die göttliche Vorsehung angeordnet, daß niemandem durch Höherstehende zum Verständnis und zur Erlangung der Gnade Gottes verholfen werden soll, der nicht lauteren Gemütes und willig ist, Niedrigerstehenden zu ebenderselben zu verhelfen. Ebenso ist infolge der Sünde, die unsere Natur im sündigen Menschen begangen hat, das Menschengeschlecht zur großen Zier und zum Schmucke des Erdreichs geworden, und so geschickt wird es durch das Walten der göttlichen Vorsehung geleitet, daß die unbegreifliche göttliche Heilkunst selbst scheußliche Laster in eine Art Schönheit umwandelt.

Über die Vernunft und ihre der Wahrnehmung überlegene Urteilskraft [XXIX.52]
143. Nunmehr haben wir über die Wohltätigkeit der Autorität so viel, wie es einstweilen genügen dürfte, vorgebracht und wollen jetzt sehen, wieweit die Vernunft beim Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren und vom Zeitlichen zum Ewigen vordringen kann. Denn nicht umsonst und fruchtlos soll es sein, wenn wir die Schönheit des Himmels anschauen sowie den geordneten Gang der Gestirne, den Glanz des Lichtes, den Wechsel von Tag und Nacht, den monatlichen Lauf des Mondes, die Vierteilung des Jahres, die den vierfachen Elementen entspricht, die große Macht des Samens, der Gestalten und Zahlen hervortreibt, und überhaupt alles, das auf seine Art eigenes Maß und Wesen bewahrt.

144. Bei der Betrachtung dieser Dinge darf aber nicht eitle oder flüchtige Neugierde vorherrschen, sondern sie muß stufenweise zum Unsterblichen und immer Gleichbleibenden hinaufführen. Denn als erstes gilt es, darauf achtzugeben, was es für eine lebendige Kraft ist, die all das wahrnimmt. Da sie es ist, die dem Leibe das Leben gibt, muß sie unweigerlich vornehmer sein als er. Denn körperliche Massen, sie mögen beschaffen sein, wie sie wollen, sie mögen noch so sehr in sichtbarem Lichte vorleuchten, sind doch, wenn ihnen das Leben fehlt, nicht viel wert. Vielmehr ist jedes lebende Wesen jedem beliebigen Leblosen der Naturordnung gemäß vorzuziehen.

145. Doch da unzweifelhaft auch unvernünftige Geschöpfe leben und empfinden, ist beim beseelten Menschen am vorzüglichsten nicht das sinnliche Wahrnehmungsvermögen, sondern sein Vermögen, über das Sinnenfällige zu urteilen. Denn sehr viele Tiere sehen besser und nehmen auch mit den übrigen leiblichen Sinnen die Gegenstände schärfer wahr als die Menschen. Aber über Gegenstände zu urteilen, ist nicht Sache eines nur empfindenden, sondern eines auch vernünftigen Lebewesens. Diese uns auszeichnende Vernunft fehlt den Tieren. Nun ist es ganz leicht, einzusehen, daß ein Urteilender höher steht als der Gegenstand, über welchen geurteilt wird.

146. Aber man muß sich klarmachen, daß die Vernunft nicht nur über sinnenfällige Objekte, sondern auch über die Sinne selber urteilt. Denn sie begreift, wie es zugeht, daß das Ruder im Wasser gebrochen. zu sein scheint, obwohl es gerade ist, und warum es die Augen so wahrnehmen müssen. Der Blick der Augen kann ja nur wiedergeben, was er sieht, aber keineswegs urteilen. So ist es offenkundig, daß das empfindende Leben dem bloßen Körper, das vernünftige Leben aber beiden überlegen ist.

Über der vernünftigen aber irrenden Seele steht das unwandelbare Gesetz der Gleichheit, Einheit und Wahrheit [XXX. 54]
147. Wenn das vernünftige Leben seinem vernünftigen Wesen gemäß urteilt, gibt es nichts, was vorzüglicher wäre als es. Doch liegt es zutage, daß es wandelbar ist, denn es erweist sich bald als einsichtig, bald als uneinsichtig. Es urteilt aber um so besser, je einsichtiger es ist, und es ist um so einsichtiger, je mehr es an irgendeiner Kunst, Wissenschaft oder Weisheit Anteil hat. So muß denn nach dem Wesen der Kunst geforscht werden. Ich will jetzt aber nicht die Kunst ins Auge fassen, die man sich durch Erfahrung erwirbt, sondern um die man sich durch vernünftiges Denken bemüht.

148. Denn was weiß schon Bemerkenswertes, wer in Erfahrung gebracht hat, daß die Masse, die aus einer Mischung aus Kalk und Sand besteht, die Steine fester zusammenhält als bloßer Lehm? Oder wer so geschmackvoll baut, daß, wenn es sich um mehrere Bauteile handelt, sie einander gleichen und gegenüberliegen müssen, während ein einzelner die Mitte einzunehmen hat? Immerhin kommt dies Stilgefühl der Vernunft und Wahrheit schon näher.

149. Aber nun muß man fragen, warum es uns beleidigt, wenn von zwei Fenstern, die nicht über-, sondern nebeneinander angebracht sind, das eine größer oder kleiner als das andere ist, obwohl sie gleich sein könnten, während uns die Ungleichheit nicht ebenso beleidigt, wenn sie übereinander liegen und das eine etwa nur halb so groß ist wie das andere. Warum kümmern wir uns nicht viel darum, um wieviel in diesem Falle das eine größer oder kleiner ist, wenn es zwei sind? Bei dreien aber fordert, wie es scheint, der Geschmack, daß sie entweder nicht ungleich sein dürfen, oder daß das mittlere um soviel kleiner als das größte sein muß, wie es selbst größer als das kleinste ist. Also wird zunächst gewissermaßen die Natur befragt, was sie dazu sagt,

150. und es ergibt sich vor allem, daß, was nicht eben mißfällt, wenn man es allein betrachtet, abgelehnt wird, wenn man es mit Besserem vergleicht. So erweist es sich, daß die gewöhnliche Kunst nichts anderes ist als die Erinnerung an gesehene Gegenstände, die einem gefallen haben, verbunden mit einer gewissen körperlichen Übung und Handfertigkeit. Wenn dir die aber fehlt und du dennoch über die Werke urteilen kannst, so ist das bei weitem vortrefflicher, auch wenn du selbst keine Kunstwerke hervorbringen kannst.

151. Nun ist es in allen Künsten die Symmetrie, die gefällt, und nur durch sie ist alles wohlbefindlich und schön. Die Symmetrie ihrerseits aber strebt nach Gleichheit und Einheit, sei es durch Ähnlichkeit gleicher Teile, sei es durch Abstufung der ungleichen. Aber wen gibt es, der die höchste Gleichheit und Ähnlichkeit in der Körperwelt zu finden dächte und bei sorgfältiger Betrachtung zu sagen wagte, daß irgendein Körper wahrhaft und einfach eins sei? Denn alles wandelt sich und geht bald von einer Gestalt zur anderen, bald von einem Ort zum anderen über und besteht aus Teilen, die ihren Platz einnehmen, wodurch sie sich räumlich voneinander sondern.

152. Folglich kann die wahre Gleichheit und Ähnlichkeit, vollends die wahre und ursprüngliche Einheit, nicht mit fleischlichen Augen noch mit irgendeinem anderen Sinne, sondern allein mit dem Geist erkannt und geschaut werden. Denn wie könnte man irgendwelche Gleichheit bei Körpern anstreben oder wie davon überzeugt sein, daß sie weit hinter der vollendeten Gleichheit zurückbleibt, wenn nicht diese im Geiste erblickt würde — falls man das Ungeschaffene überhaupt vollendet nennen darf?

153. Während nun alles sinnlich Schöne im Bereich der Natur und Kunst, seien es Körper, sei es körperliche Bewegung, räumlich und zeitlich schön ist, gilt von jener Gleichheit und Einheit, die nur geistig erkannt und nach welcher unter Vermittlung der Sinne über die körperliche Schönheit geurteilt wird, daß sie weder räumlich aufgebläht noch zeitlich unbeständig ist. Denn man kann doch nicht sagen, daß man nach ihr wohl die Rundung eines Rades, aber nicht die eines Gefäßes, oder zwar nach ihr die Rundung eines Gefäßes, aber nicht die einer Münze beurteilen könne.

154. Ebenso müßte es lächerlich heißen, wollte man, wenn es sich um Zeiten und körperliche Bewegungen handelt, nach ihr zwar gleiche Jahre, aber nicht auch gleiche Monate, oder wohl gleiche Monate, aber nicht auch gleiche Tage beurteilen. Vielmehr, mag sich etwas in diesen Zeiträumen oder auch in Stunden oder noch kürzeren Fristen bewegen, es wird doch von einer und derselben unwandelbaren Gleichheit beurteilt.

155. Wenn man also kleinere oder größere Abmessungen von Figuren und Bewegungen nach demselben Gesetz der Gleichheit oder Ähnlichkeit oder Übereinstimmung beurteilt, so ist das Gesetz selber größer als all das, nämlich größer an Macht. Denn was räumliche oder zeitliche Größe anlangt, ist es weder größer noch kleiner. Denn wäre es größer, könnte man es nicht als Maßstab zur Beurteilung des Kleineren gebrauchen, wäre es aber kleiner, könnte man nach ihm Größeres nicht beurteilen.

156. Da nun aber nach demselben und ganzen Gesetz der Quadratur das quadratische Forum so gut wie der quadratische Stein oder die quadratische Tafel oder Gemme beurteilt wird, da ferner nach dem ganzen Gesetz der Gleichheit die Fußbewegungen der laufenden Ameise und des schreitenden Elefanten als gleichmäßig beurteilt werden, wer kann dann daran zweifeln, daß es an räumlicher und zeitlicher Abmessung weder größer noch kleiner ist und doch alles an Macht übertrifft?

157. Weil nun dies Gesetz aller Künste ganz und gar unwandelbar ist, während der menschliche Geist, dem es vergönnt ist, solches Gesetz zu schauen, die Wandelbarkeit des Irrens erleiden kann, erhellt klar genug, daß das Gesetz, das die Wahrheit heißt, über unsern Geist erhaben ist.

Diese Wahrheit, nach welcher, nicht über welche, der Mensch urteilt, ist göttlich, Gott selbst, Gott-Sohn [XXXI.57]
158. Nun besteht kein Zweifel daran, daß das unwandelbare, die vernünftige Seele überragende Wesen Gott ist, und daß ebenda höchstes Leben und höchstes Sein zu finden sein muß, wo die höchste Weisheit ist. Denn das ist jene unwandelbare Wahrheit, die mit Recht das Gesetz aller Künste und Kunst des allmächtigen Künstlers genannt wird. Wenn also die Seele fühlt, daß sie Gestalt und Bewegung der Körper wohl beurteilen kann, aber nicht nach sich selber, muß sie zugleich zugeben, daß zwar ihr Wesen dem Wesen, das sie beurteilt, überlegen ist, daß jedoch jenes Wesen, nach welchem sie urteilt und über welches sie schlechterdings nicht urteilen kann, ihr selber überlegen ist.

159. Denn ich kann wohl sagen, warum die einander ähnlichen Gliedmaßen jedes Körpers sich beiderseits entsprechen müssen, weil mir die höchste Gleichheit gefällt, die ich nicht mit leiblichen, sondern geistigen Augen schaue, und daß ich deswegen alles mit leiblichen Augen Erblickte für um so edler halte, je mehr es sich seiner Natur nach dem nähert, was ich geistig erkenne. Aber warum auch dieses so ist, wie es ist, kann niemand sagen, und niemand sollte so unklug sein, zu behaupten, es müsse so sein, als wenn es auch anders sein könnte.

160. Weshalb es uns aber gefällt und warum wir es, je verständiger wir sind, um so inbrünstiger lieben, nicht einmal das wird einer zu sagen wagen, wenn er es recht erkennt. Denn wie wir und alle vernünftigen Seelen nach Maßgabe der Wahrheit über die niederen Dinge richtig urteilen, so urteilt über uns, wenn wir ihr anhangen, allein die Wahrheit selbst. Über sie aber urteilt nicht einmal der Vater, denn sie ist nicht geringer als er selbst, vielmehr, was der Vater beurteilt, beurteilt er durch sie.

161. Denn alles, was nach Einheit strebt, hat die Wahrheit zur Regel oder zur Form oder zum Vorbild, oder wie man es sonst wahrheitsgemäß ausdrücken mag. Denn sie allein besitzt die vollkommene Gleichheit mit dem, von dem sie ihr Sein empfing — falls man >empfing< sagen darf, um zum Ausdruck zu bringen, was das Wort >Sohn< besagt, der ja nicht von sich selber ist, sondern von dem ersten und höchsten Ursprung, welcher der >Vater< heißt. Denn »alles was väterlich ist im Himmel und auf Erden, wird nach ihm benannt« [Epheser 3,17]. »Der Vater aber richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben« [Joh. 5,22]. Auch »der geistliche Mensch richtet alles, er selbst aber wird von niemand gerichtet« [1. Kor. 2,15], das ist, von keinem Menschen, sondern allein von dem Gesetze, nach welchem er alles richtet.

162. Denn mit vollster Wahrheit ist auch das gesagt: »Wir müssen alle erscheinen vor dem Richterstuhl Christi« [2. Kor. 5,10]. Der geistliche Mensch richtet demnach alles, weil er über allem ist, wenn er mit Gott ist. Mit ihm aber ist er, wenn er ganz rein erkennt und von ganzem Herzen das Erkannte liebt. Denn dann wird er, soweit das möglich ist, selbst zum Gesetz, nach welchem er über alles urteilt und über welches niemand urteilen kann. So ist es ja auch mit den zeitlichen Gesetzen, Denn obwohl die Menschen, wenn sie sie aufstellen, über sie urteilen, darf der Richter doch, wenn sie einmal aufgestellt und gültig geworden sind, nicht mehr über sie, sondern nur nach ihnen urteilen.

163. Jedoch befragt der Verfasser zeitlicher Gesetze, wenn er ein guter und weiser Mann ist, jenes ewige Gesetz, über welches keine Menschenseele urteilen darf, um sodann nach dessen unwandelbaren Regeln zu bestimmen, was für die zeitlichen Verhältnisse zu gebieten und zu verbieten ist. Das ewige Gesetz zu erkennen, steht demnach den reinen Gemütern zu, nicht, es zu beurteilen.

164. Der Unterschied aber ist der: Wollen wir etwas erkennen, genügt es, daß wir sehen, es sei so oder nicht so; wollen wir es aber auch beurteilen, geben wir außerdem zu verstehen, es könne auch anders sein, wie wenn wir sagen
: >Es muß so sein<, oder >mußte so sein<, oder >wird so sein müssen<. So machen es die Künstler bei ihren Werken.

Alle Körper weisen Spuren der Einheit auf, erreichen sie aber nicht [XXXII.59]
165. Aber viele Menschen kennen als Ziel nur das Vergnügen und wollen nicht nach Höherem trachten, um ein Urteil darüber zu gewinnen, warum das Sichtbare uns gefällt. Wenn ich also einen Baumeister, der einen Rundbogen errichtet hat, frage, warum er auf der gegenüberliegenden Seite einen ebensolchen erstellen will, wird er vermutlich antworten: Damit sich gleiche Glieder des Gebäudes entsprechen. Wenn ich aber weiter in ihn dringe, warum er gerade das beabsichtige, sagt er, so sei es schicklich, so sei es schön und erfreue die Beschauer. Aber mehr zu sagen, kommt ihm nicht in den Sinn. Denn er ist lediglich Augenmensch und begreift nicht, wovon das Schönheitsurteil abhängig ist.

166. Ich aber werde nicht ablassen, einen Mann, der auch inwendige Augen hat und Unsichtbares sehen kann, mit der Frage zu bedrängen, warum das gefällt, bis er es wagt, ein Urteil über den Grund des ästhetischen Wohlgefallens abzugeben. So erhebt er sich darüber und wird nicht von ihm festgehalten. Denn nun urteilt er nicht nach seinem Geschmack, sondern beurteilt ihn selbst. Zuerst werde ich ihn also fragen, ob Gegenstände darum schön sind, weil sie uns erfreuen, oder ob sie uns erfreuen, weil sie schön sind.

167. Darauf wird er mir ohne Zweifel antworten: Sie erfreuen, weil sie schön sind. So fahre ich fort und frage, warum sie schön sind. Wenn er dann mit der Antwort zögert, werde ich ihn darauf aufmerksam machen, ob nicht dies der Grund ist, daß die Teile einander ähneln und durch eine Art Einheitsband zur Symmetrie gebracht werden.

168. Hat er dies eingesehen, werde ich ihn weiter fragen, ob Gegenstände die Einheit, die sie zugestandenermaßen anstreben, auch ganz erreichen, oder ob sie nicht weit dahinter zurückbleiben und sie gewissermaßen nur vorlügen. In der Tat, so ist es. Denn wer sieht nicht, wenn man ihn aufmerksam macht, daß es zwar keine Gestalt, überhaupt keinen Körper gibt, der nicht irgendeine Spur der Einheit an sich trägt, daß aber nicht einmal der denkbar schönste Körper die erstrebte Einheit wirklich erreicht, schon darum nicht, weil er mit seinen Teilen unweigerlich räumlich ausgedehnt ist? Gibt er das zu, werde ich ihn ferner nötigen, die Frage zu beantworten, wo er denn diese Einheit sieht und wie das zugeht.

169. Denn sähe er sie nicht, wie könnte er dann erkennen, was die Gestalt der Körper nachzubilden sucht und doch nie erreicht? Aber nun sagt er zu den Körpern: >Wenn euch nicht eine Einheit zusammenhielte, wäret ihr nichts, und wiederum: Wäret ihr selbst diese Einheit, so wäret ihr keine Körper mehr.< Nun, so sagt man zu ihm mit Recht: >Woher kennst du jene Einheit, nach welcher du die Körper beurteilst? Wenn du sie nicht sähest, könntest du nicht urteilen, daß die Körper sie nicht erreichen. Sähest du sie aber mit leiblichen Augen, so hättest du kein Recht, zu behaupten, daß die Körper zwar Spuren von ihr aufweisen, aber gleichwohl ihr weit nachstehen. Mit körperlichen Augen siehst du ja nur Körper. Also erblicken wir sie mit dem Geiste.<

170. Aber nun sag mir: Wo? Wenn sie an demselben Orte wäre, wo unser Leib sich befindet, würde einer sie nicht sehen, wenn er etwa im Orient über Körper urteilte. Also kann kein Raum sie einschließen, und wenn sie dem Urteilenden, wo er auch sein mag, gegenwärtig ist, so ist sie nirgendwo räumlich ausgedehnt, aber machtvoll überall.

Sinnliche Wahrnehmung und geistiges Schauen [XXXIII.61]
171. Wenn Körper sie vorlügen, darf man den Lügnern nicht glauben, um nicht der Eitelkeit der Eitlen zu verfallen. Da sie uns nun dadurch belügen, daß sie die Einheit anscheinend dem fleischlichen Auge zeigen, obwohl sie doch nur mit reinem Geiste geschaut werden kann, muß man fragen, ob die Körper insofern lügen, als sie ihr ähnlich sind, oder insofern, als sie sie nicht erreichen.

172. Denn wenn sie sie erreichten, käme die Nachahmung ja zur Erfüllung. Wenn aber zur Erfüllung, wären sie ihr vollkommen ähnlich, und wenn vollkommen ähnlich, wäre zwischen der körperlichen Natur und jener geistigen Einheit kein Unterschied mehr. Wäre das der Fall, würden sie die Einheit nicht vorlügen, wären sie doch dasselbe wie diese. Doch dem aufmerksamen Betrachter lügen sie überhaupt nichts vor. Denn wer lügt, will anders scheinen, als er ist. Wer aber gegen seinen Willen für etwas anderes gehalten wird, als er ist, lügt nicht, sondern täuscht nur.

173. Denn der Unterschied zwischen lügen und täuschen ist der: Jeder Lügner will täuschen, auch wenn man ihm nicht glaubt, ein Täuscher aber kann keiner sein, der nicht wirklich täuscht. Also lügt eine körperliche Erscheinung nicht, weil ihr der Wille dazu fehlt, und wenn man nicht glaubt, sie sei etwas, was sie nicht ist, täuscht sie auch nicht.

174. Aber nicht einmal die Augen selber täuschen, denn sie können der Seele nichts anderes als nur ihren Eindruck übermitteln. Und wenn nicht nur sie, sondern auch alle anderen leiblichen Sinne nur ihre Eindrücke übermitteln, wüßte ich nicht, was man mehr von ihnen verlangen darf. So nimm die Eitlen weg, und es wird keine Eitelkeit mehr geben. Wenn jemand meint, das Ruder werde im Wasser gebrochen und wieder heil, wenn man es herausnimmt, hat er keinen schlechten Berichterstatter, sondern ist ein schlechter Beurteiler.

175. Denn das Auge konnte seiner Natur nach nichts anderes im Wasser wahrnehmen, durfte es auch nicht. Da nämlich die Luft anders ist als das Wasser, gehört es sich auch, daß man in Luft und Wasser verschieden wahrnimmt. Demnach ist das Auge in Ordnung, denn es ist nur zum Sehen geschaffen, die Seele dagegen verkehrt, denn die höchste Schönheit zu betrachten, dazu ist ihr nicht das Auge, sondern der Geist verliehen. Sie aber richtet ihren Geist auf die Körper, ihre Augen auf Gott. Denn sie möchte verstehen, was fleischlich, und sehen, was geistig ist. Das aber ist nicht möglich.

Die wahre Einheit und die Einbildungen [XXXIV.63]
176. Diese Verkehrtheit muß beseitigt werden, was oben ist, muß nach unten, und was unten, nach oben kommen. Nur dann ist man zum Himmelreich geschickt. So laßt uns nicht das Höchste im Niedersten suchen und nicht am Niedersten hängen! Nein, wir wollen es richten, um nicht mit ihm gerichtet zu werden, das heißt, ihm nur soviel einräumen, wie seiner äußerlichen Gestalt zukommt, und nicht beim Letzten das Erste suchen. Sonst möchten wir vom Ersten dem Letzten zugewiesen werden, was dem Letzten nichts, aber uns sehr viel schaden würde.

177. Das Walten der göttlichen Vorsehung wird ja nicht dadurch entstellt, daß die Ungerechten gerecht, die Häßlichen schön eingeordnet werden. Und wenn uns die Schönheit der sichtbaren Dinge dadurch täuscht, daß sie wohl durch Einheit begründet wird, aber nicht zur vollen Einheit gelangt, so wollen wir uns bemühen, zu begreifen, daß der Irrtum nicht aus dem stammt, was ist, sondern aus dem, was nicht ist.

178. Denn jeder Körper ist wohl ein wahrer Körper, aber eine falsche Einheit. Denn er ist nicht zuhöchst eins, bildet die Einheit auch nicht in dem Maße ab, daß er sie erreicht. Dennoch wäre auch der Körper nicht er selbst, wäre er nicht irgendwie eins. Irgendwie eins aber könnte er nicht sein, hätte er es nicht von dem, das zuhöchst Eins ist.

179. O ihr halsstarrigen Seelen, zeigt mir doch jemanden, der ohne Vorstellung fleischlicher Gesichte sieht. Zeigt mir jemanden, der sieht, daß der Ursprung alles dessen, was eins ist, einzig und allein jenes Eine ist, von dem alles Eine stammt, mag es jenes Eine erfüllen oder nicht. Zeigt mir jemanden, der wirklich sieht, nicht bloß zankt und so tut, als sähe er, was er doch nicht sieht. Jemanden, der den Sinnen des Fleisches widersteht und den Nöten, die sie der Seele bereiten, der der menschlichen Gewohnheit widersteht und den menschlichen Lobsprüchen, der auf seinem Lager sich kasteit und seinen Geist umbildet, nicht die Eitelkeit draußen liebt und Lügen nachgeht. Der müßte sich doch sagen:

180. >Wenn es nur ein Rom gibt, das ein gewisser Romulus am Tiber erbaut haben soll, so ist dasjenige ein falsches, das ich mir in Gedanken vorstelle. Denn es ist nicht dasselbe, und ich bin jetzt nicht da, sonst müßte ich ja wissen, was jetzt da vorgeht. Wenn es nur eine Sonne gibt, dann ist die, welche ich mir in Gedanken vorstelle, falsch. Denn jene vollendet ihre Umläufe in gewissen Räumen und Zeiten, während ich diese hinstelle, wo und wann ich will. Wenn ich einen bestimmten Freund habe, dann ist der, welchen ich mir in Gedanken vorstelle, falsch. Denn wo jener sich aufhält, weiß ich nicht, diesen stelle ich mir vor, wo ich will. Ich selbst bin sicherlich der eine und fühle, daß mein Leib hier an dieser Stelle steht, dennoch begebe ich mich in meiner gedanklichen Vorstellung, wohin es mir beliebt, und unterhalte mich, mit wem es mir beliebt.

181. Aber das ist eben falsch, und niemand erkennt Falsches. Wenn ich dies also betrachte und ihm Glauben schenke, erkenne ich nicht wirklich, denn was ich erkennend betrachte, muß wahr sein. Sind das nicht vielmehr Phantasiebilder, wie man es nennt? Wie kommt es denn, daß meine Seele von solchen Einbildungen erfüllt ist? Wo ist das Wahre, welches der Geist erblickt?< Dem, der hierüber nachdenkt, kann man antworten: >Wodurch du erkennst, daß das vorhin Erwähnte nicht wahr ist, das ist das wahre Licht. In diesem Lichte siehst du das Eine, das dich zum Urteil befähigt, das andere, das du siehst, sei zwar auch eines, aber nicht jenes Eine, weil es wandelbar ist.<

Der Ruf zur Stille [XXXV. 65]
182. Wenn aber das Auge des Geistes vor diesem Anblick zurückschrickt, dann beruhigt euch und streitet nicht, es sei denn wider eure Befangenheit im Körperlichen. Besieget sie, und alles wird besiegt sein. Suchen wir doch das Eine und Einfachste, was es gibt. So laßt es uns in Einfalt des Herzens suchen! »Seid stille«, sagt die Schrift, »und erkennt, daß ich Gott bin.«[Ps. 46,1] Nicht die Stille der Trägheit ist gemeint, sondern die Stille des Nachdenkens, die der Räume und Zeiten ledig ist. Denn die sich aufblähenden und vorüberhuschenden Phantasiegebilde lassen es nicht zum Schauen der standhaften Einheit kommen.

183. Die Räume reichen uns dar, was wir lieben sollen, die Zeiten reißen uns weg, was wir liebgewonnen haben, lassen in der Seele Haufen von Phantasiebildern zurück und jagen damit unsere Begierde von einem zum anderen. So wird unser Herz ruhelos und sorgenvoll und trachtet vergeblich danach, das zu besitzen, von dem es besessen ist. Darum wird es zur Stille gerufen, das heißt nicht länger zu lieben, was man ohne Mühsal lieben kann. Denn dann wird es darüber herrschen und nicht von ihm besessen werden, sondern es besitzen.

184.
»Mein Joch ist sanft« [Matth. 11,30], spricht der Herr. Wer dies Joch auf sich nimmt, hat alles übrige unter sich. Es kann ihm keine Mühe mehr machen, denn was unterworfen ist, leistet keinen Widerstand. Aber die armseligen Freunde dieser Welt, deren Herren sie sein könnten, wenn sie Söhne Gottes sein wollten — denn »er hat ihnen Macht gegeben, Gottes Söhne zu sein« [Joh. 1, 12] —, die Freunde dieser Welt, sage ich, fürchten so sehr, aus ihren Armen gerissen zu werden, daß ihnen nichts mühseliger erscheint, als ohne Mühsal zu leben.

Wesen und Ursprung von Wahrheit und Falschheit [XXXVI.66]
185. Wer jedoch klar begriffen hat, daß es Falschheit ist, wenn man das, was nicht ist, für seiend hält, der erkennt auch, daß es die Wahrheit ist, die uns zeigt, was ist. Die Körper täuschen insoweit, als sie jenes Eine nicht erreichen, das sie doch, wie feststeht, nachahmen, das Eine, das der Ursprung jeglicher anderen Einheit ist, nach dessen Ähnlichkeit zu streben unsere natürliche Billigung findet, während, was von der Einheit abweicht und zur Unähnlichkeit mit ihr hinführt, auf unsere natürliche Mißbilligung stößt. Wenn man das begreift, kann man auch einsehen, daß es etwas geben muß, das jenem einzig Einen, dem Ursprung alles dessen, was sonst noch irgendwie eins ist, so ähnlich ist, daß es dasselbe gänzlich erfüllt, ja es selber ist.

186. Das aber ist die Wahrheit, das Wort, das im Uranfang war, das Wort, das Gott war bei Gott. [Joh. 1,1] Denn wenn Falschheit da zu finden ist, wo man das Eine nachahmt, und zwar nicht, insofern man es nachahmt, sondern insofern man es nicht erfüllen kann, so ist das die Wahrheit, die es erfüllen und eben dasselbe sein konnte. Sie ist es, die uns das Eine zeigt, wie es ist, weshalb sie auch mit höchstem Recht sein Wort heißt und sein Licht.

187. Die übrigen Dinge kann man jenem Einen ähnlich nennen, insofern sie sind, denn insofern sind sie auch wahr. Sie aber ist die Ähnlichkeit selber und darum auch die Wahrheit. Denn wie alles Wahre wahr ist durch die Wahrheit, so alles Ähnliche durch die Ähnlichkeit. Und wie die Wahrheit die Form des Wahren ist, so auch die Ähnlichkeit die Form alles Ähnlichen. Da also das Wahre insoweit wahr ist, als es ist, und insoweit ist, als es jenem ursprünglichen Einen ähnlich ist, so ist das die Form aller Dinge, die mit dem Ursprung die höchste Ähnlichkeit besitzt. Das aber ist die Wahrheit, in der es keinerlei Unähnlichkeit gibt.

188. Falschheit entsteht also nicht auf die Weise, daß die Dinge selbst trügen, da sie ja dem Wahrnehmenden nichts anderes zeigen als ihre Gestalt, die sie nach dem Range ihrer Schönheit empfangen haben. Sie entsteht auch nicht durch Trug der Sinne, da diese je nach der Beschaffenheit ihres Leibes nichts anderes als die Eindrücke, die sie empfangen, ihrem Vorgesetzten, dem Geiste, übermitteln. Sondern die Sünden sind es, die die Seelen täuschen, wenn diese das Wahre suchen und dabei die Wahrheit verlassen und vernachlässigen.

189. Denn da sie die Werke mehr liebten als den Künstler und die Kunst selbst, werden sie durch den Irrtum gestraft, daß sie den Künstler und die Kunst in den Werken wohl suchen, aber nicht finden können — denn Gott unterliegt nicht den leiblichen Sinnen, sondern überragt sogar den Geist — und darum die Werke selber für den Künstler und die Kunst halten.

Aus: Aurelius Augustinus, De vera religione/ Über die wahre Religion, Lateinisch/Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Wilhelm Thimme
Reclams Universalbibliothek Nr. 7971 (S. 85f.) © 1983 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Der gereinigte Gottesbegriff (Bekenntnisse: Siebtes Buch)
Wem ein Teil deiner Schöpfung mißfällt, ist geistig nicht gesund, so wie auch ich es nicht war, als mir viele Dinge mißfielen, die du gemacht hast. Da meine Seele es jedoch nicht wagte, meinen Gott zu kritisieren, weigerte sie sich zu glauben, das, was ihr mißfiel, sei dein Werk. Deswegen war sie zu der Ansicht gekommen, es gebe zwei Urwesen, aber sie fand dabei keine Ruhe und redete fremdes Zeug. Als sie davon wieder abkam, schuf sie sich einen Gott, der verteilt war über den gesamten unendlichen Raum. Sie glaubte, dieses Wesen seist du, und gab ihm Raum in ihrem Herzen. Wiederum war sie zum Tempel eines Götzenbildes geworden, für dich ein Greuel. Aber dann streichelte deine Hand, ohne daß ich dich erkannte, errettend mein Haupt. Du hast mir die Augen geschlossen, damit sie nicht das eitle Zeug sähen. Ich ruhte ein wenig, und eingeschläfert war mein Wahn. Aber ich erwachte in dir und sah dich, den Unendlichen, mit anderen Augen. Und dieses Anschauen stammte nicht vom Fleisch.

Und von dir blickte ich zurück auf die anderen Dinge, und ich sah, daß sie es dir verdanken, daß sie sind, und daß sie in dir ihre Grenzen finden, aber anders, nicht wie in einem Ort, son-dern weil du mit der Wahrheit die Grenzen aller wie mit deiner Hand zusammenhältst. Und alle Dinge sind wahr, soweit sie sind, und es gibt keine Falschheit, außer man hält etwas, das nicht ist, für wirklich. Und ich sah, daß alle Dinge nicht nur jeweils zu ihrem Ort passen, sondern auch zu ihrer Zeit, und daß du, der du allein ewig bist, nicht erst nach unzähligen Zeiträumen zu handeln begonnen hast, weil alle Zeiträume, vergangene wie zukünftige, nicht vergehen und nicht kommen könnten, ohne daß du handelst und daß du bleibst.

Die Erfahrung zeigt, daß man sich nicht zu verwundern braucht, wenn Brot, das einem gesunden Gaumen angenehm schmeckt, dem kranken Gaumen unangenehm wird und daß Licht kranken Augen verhaßt ist, während gesunde Augen es lieben. So mißfällt auch deine Gerechtigkeit den Bösen, ganz zu schweigen von den Nattern und Würmern, die du gut erschaffen hast, so, daß sie zum niederen Teil deiner Schöpfung passen. Zu ihnen passen auch die Bösen, und zwar um so mehr, je unähnlicher sie dir sind, während sie zu den oberen Teilen um so besser passen, je ähnlicher sie dir werden. Ich suchte, was die Sünde sei. Was ich fand, war — nicht ein Wesen [substantia], sondern die Abkehr eines Willens von dir, Gott, dem höchsten Wesen, eines Willens, der sich zum Niederen herabkrümmt, der sein Innerstes nach außen wirft und dort sich aufbläht.
S.187ff. Fortsetzung
Aus: Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch
Reclams Universalbibliothek Nr. 2792 © 1989 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Schöpfung und Zeitlichkeit (Vom Gottesstaat: 11. Buch, 4-8)
Von allem Sichtbaren nun ist die Welt das größte; von allem Unsichtbaren aber ist Gott das größte. Daß die Welt sei, sehen wir; daß Gott sei, glauben wir. Daß aber Gott die Welt er-schaffen habe, glauben wir keinem so sicher als Gott selbst. Wo aber hören wir ihn? — Nirgend hören wir einstweilen ihn deutlicher als in den heiligen Schriften, wo sein Seher spricht: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde!« War aber jener Seher etwa zugegen, als Gott Himmel und Erde schuf? Nein! Doch »war die Weisheit Gottes zugegen«, durch die alle Dinge erschaffen wurden, und die »auch in heilige Seelen einkehrt, Freunde Gottes und Propheten bildet« und ihnen ihre Werke ohne Wortgeräusch im Innern offenbart. Auch sprechen zu ihnen die Engel Gottes, die »das Angesicht des Vaters immerdar anschauen« und seinen Willen allen denen verkündigen, die ihn wissen sollen. Zu diesen aber gehörte auch der Prophet, der da sprach und schrieb: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde!« Und umso würdiger ist dieser Zeuge, daß wir durch ihn an Gott glauben, durch dessen Geist er diese Offenbarung erkannte, als er sogar lange Zeit vorhersagte, daß wir ihm glauben würden.

Warum aber gefiel es dem ewigen Gott, den Himmel und die Erde dazumal zu erschaffen, die er vorher nicht erschaffen hatte? — Wenn es denen, die also sprechen, bedünken will, die Welt sei ewig ohne allen Anfang, und deshalb auch nicht von Gott erschaffen worden, so sind sie der Wahrheit überaus feind und sprechen in der tödlichsten Krankheit gottlosen Wahnsinnes. Denn abgesehen von diesen prophetischen Zeugnissen ruft, ob auch stumm, dennoch durch ihre höchst geordnete Wandelbarkeit und Bewegung und durch die höchst schöne Gestaltung aller sichtbaren Dinge die Welt selbst laut aus, sie sei erschaffen worden; und zwar habe sie nur von dem einzigen, unaussprechlich und unermeßlich großen, unaussprechlich und unermeßlich schönen Gott erschaffen werden können.

Jene dagegen, die zwar bekennen, sie sei von Gott erschaffen worden, aber dennoch nicht wollen, daß sie der Zeit nach, sondern bloß ihrer Schöpfung nach einen Anfang habe, so daß sie auf eine Weise, die sich kaum begreifen läßt, immer erschaffen gewesen sei: diese scheinen Gott freilich gegen die Vorstellung einer zufälligen Planlosigkeit verteidigen zu wollen, so, als wäre ihm plötzlich in den Sinn gekommen, woran er früher niemals gedacht hätte, nämlich eine Welt zu erschaffen, und daß mithin ein neu zufälliger Wille in ihm entstanden wäre, in ihm, der doch so ganz unwandelbar ist. Allein ich sehe dabei nicht ab, wie dieser Grund auch bei den übrigen erschaffenen Wesen Bestand haben kann, zumal bei der Seele. Denn behaupten sie, die Seele sei gleich ewig mit Gott, so können sie nimmermehr erklären, wie ihr ein neues Elend zukam, das sie in der ganzen Ewigkeit nicht gehabt hatte. Sagen sie nämlich, die Seele sei in beständigem Wechsel von Elend und Glückseligkeit gewesen, so müssen wir notwendig auch sagen, sie werde in Zukunft diesem nämlichen Wechsel beständig unterliegen; woraus die Ungereimtheit folgen würde, daß sie selbst dann, wenn sie selig genannt wird, nicht selig wäre, falls sie ihr künftiges Elend und ihre abermal folgende Erniedrigung voraussieht. Sieht sie aber diese nicht voraus, noch auch, daß sie neuerdings erniedrigt und elend werden soll, sondern hält sie sich immerdar für glückselig, so wäre sie nur durch falschen Wahn glückselig; eine Albernheit, die nicht größer sein kann.

Sagen sie dagegen, das Elend der Seele habe zwar durch unendliche verflossene Zeiträume ohne Unterlaß mit Glückseligkeit abgewechselt, doch werde sie, einmal befreit, in Zukunft nie wieder in Elend zurückkehren: so gestehen sie dadurch selbst offenbar ein, sie sei eigentlich nie selig gewesen, sondern sie beginne es hernach durch eine gewisse neue Seligkeit zu werden, die keine Täuschung sei. Dadurch aber bekennen sie, es widerfahre ihr Neues, und zwar Großes und Herrliches, was ihr durch die ganze zurückgelegte Ewigkeit nicht widerfahren war. Leugnen sie nun, der Grund dieser Neuheit habe ewig in Gottes Ratschlusse bestanden, so leugnen sie dadurch zugleich, daß er der Urheber ihrer Glückseligkeit sei, was höchst gottlos ist; — sagen sie hingegen, Gott habe durch einen neuen Ratschluß beschlossen, daß forthin die Seele ewiglich selig sei: wie werden sie dann zeigen, daß alle Wandelbarkeit fern von Gott sei, wovon er doch, selbst nach ihrem Ausspruche, frei ist? Bekennen sie aber, sie sei zwar in der Zeit erschaffen, doch werde sie durch alle künftigen Zeiten fortdauern — so wie eine Zahl einen Anfang, aber kein Ende hat — und werde, wenn sie einmal vom Elend befreit ist, künftighin nie mehr elend werden: dann werden sie allerdings auch bekennen, daß dies ohne die geringste Veränderung in Gottes Ratschlusse geschehe. So sollen sie denn glauben, auch die Welt habe in der Zeit erschaffen werden können, ohne daß Gott, der sie schuf, den Ratschluß seines ewigen Willens gewandelt habe.


Dann mögen auch jene, die zwar zugeben, daß Gott der Schöpfer der Welt sei, uns aber um die Zeit diese
r Schöpfung befragen, selbst zusehen, was sie uns antworten, wenn wir sie um den Raum befragen, worin sie erschaffen ward. So fragen wir, warum sie gerade da erschaffen ward, wo sie jetzt ist, und nicht an einem andern Orte. Denn erdenken sie sich vor der Schöpfung der Welt unendliche Zeiträume, worin, ihres Erachtens, Gott nimmermehr aufhören konnte zu wirken: so mögen sie sich auch außerhalb der Welt unendliche örtliche Räume ersinnen, wo, wer da sagt, der Allmächtige habe in denselben des Wirkens sich nicht enthalten können, auch wohl ganz folgerecht unzählige Welten mit Epikur erträumen müßte, mit dem einzigen Unterschiede, daß Epikur sie durch die zufälligen Bewegungen der Atome entstehen und vergehen läßt, jene aber (die da behaupteten, Gott habe in der unbegrenzten Unermeßlichkeit des überall außer der Schöpfung freien Raumes nicht aufgehört zu wirken) sagen werden, diese Welten seien Werke Gottes und könnten so wenig als diese Welt aufgelöst werden.

Denn mit solchen sprechen wir, die mit uns einen unkörperlichen Gott und Schöpfer aller Naturen annehmen, die nimmermehr sind was er; denn die anderen, die dafür halten, daß man vielen Göttern Opfer darbringen soll, sind es nicht wert, daß man sie zu diesem Streite zulasse; aber auch jene übertreffen die übrigen Philosophen nur darum an Adel und Ansehen, weil sie, ob auch noch sehr weit von der Wahrheit entfernt, ihr dennoch bedeutend näher denn die übrigen stehen. Werden sie also sagen, Gottes Substanz
(die sie weder in den Raum einschließen, noch umgrenzen und bestimmen, sondern, wie es würdig ist, von Gott zu denken, durch ihre unkörperliche Gegenwart überall ganz gegenwärtig bekennen) sei aus den ungeheuren Räumen, die außerhalb der Welt sind, entfernt und erfülle bloß den einen, im Vergleich mit seiner Unendlichkeit so unbedeutenden Raum, worin die Welt ist? Es bedünkt mich nicht, daß sie bis zu solchen Eitelreden sich verirren.

Da sie also sagen, diese eine, ob auch aus ungeheuren Körpermassen bestehende, aber dennoch endliche und in ihrem Raume abgeschlossene Welt sei von Gott erschaffen: so mögen sie jenes, was sie hinsichtlich der endlosen Räume außerhalb des Weltalls andern antworten — warum Gott in denselben nicht wirke —, sich selbst hinsichtlich der unendlichen Zeiten, die der Welt vorangingen, antworten: aus welchem Grunde Gott in ihnen des Wirkens sich enthielt. Und gleichwie Falsches redete, wer da sagte, Gott habe die Welt mehr aus Zufall als aus einem göttlichen Grunde in keinen andern als gerade in diesen Raum gestellt, worin sie steht da bei gleich unendlichen und überall freien Räumen gewiß kein trefflicherer Raum als dieser erwählt werden konnte, wiewohl keine menschliche Vernunft diesen göttlichen Grund erfassen kann —: also ist es auch unrichtig zu denken, es sei zufällig geschehen, daß Gott die Welt vielmehr in dieser als in irgendeiner andern, auf gleiche Weise vorhergegangenen und von Ewigkeit verflossenen Zeit erschaffen habe; und es sei kein Grund, warum eine Zeit den Vorzug vor der andern verdient habe. Sagen sie aber, die Gedanken des Menschen wären eitel, wenn sie sich unendliche Räume dächten, da es außerhalb der Welt keinen Raum gebe, so antworten wir ihnen, die Menschen dächten auf gleiche Weise eitel, wenn sie verflossene Zeiten dächten, worin nichts gewirkt habe, da vor der Welt keine Zeit war.

Mit gutem Recht unterscheidet man Zeit von Ewigkeit; denn Zeit besteht nicht ohne Wechsel und Wandel, in der Ewigkeit aber gibt es keine Veränderung. Also ist es klar, daß es Zeiten überhaupt nicht gegeben hätte ohne das Werden der Kreatur, die als Bewegungsvorgang irgendwelcher Art auch Zustandsänderung in sich begreift. Erst aus diesem bewegten Gestaltenwandel, aus dem Nacheinander von Dem und Jenem, was nicht zugleich bestehen kann, erst aus den kürzern oder längern Zwischenstrecken, die durch das Weichen des Einen und das Nachrücken des Andern sich ergeben, kommt die Zeit zustande. Weil nun Gott, dessen Ewigkeit allen Wandel und Wechsel ausschließt, auch der Zeiten Schöpfer ist und Ordner, so läßt sich, wie mich dünkt, nicht sagen, er habe nach gewissen Zeiträumen erst die Welt erschaffen; sonst bliebe nur die Rückfolgerung, es habe vor der Welt schon Kreatur gegeben, mit deren Bewegtheit zugleich auch die Zeit in Fluß gekommen. Nun sagt doch die heilige Schrift, und sie spricht die reine volle Wahrheit: im Anfang habe Gott Himmel und Erde erschaffen. Das ist nur so zu verstehen, daß er vorher nicht schon etwas andres erschaffen; denn wenn er vor der Gesamtheit seiner Schöpfung etwas erschaffen hätte, so gälte eben hievon, daß er’s »im Anfang« erschaffen. Ohne Zweifel also ist die Welt nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit erschaffen. Denn was in der Zeit geschieht, das geschieht vor und nach einer Zeit — nach einer, die vergangen ist, vor einer, die erst kommen wird. Vor der Welt aber konnte Zeit nicht sein, weil ja keine Kreatur war, mit deren bewegtem Zustandwandel sie hätte werden können. Vielmehr ist in Einem mit der Zeit auch die Welt erschaffen, wofern mit ihr zugleich die Bewegung, nämlich Zustandwandel begann. Und hierauf deutet auch jene Folge der sechs oder sieben Tage, jenes »Morgen« und »Abend« im göttlichen Schöpfungswerk, dem am sechsten die Vollendung ward und am siebenten, wie das große Geheimnis sagt, Gottes Ruhe folgte.

Was dies übrigens für Tage sind, dies ist sehr schwer, wo nicht ganz unmöglich zu denken, geschweige denn zu erklären.


Denn wir sehen, daß diese unsere Tage ihren Abend nur von Sonnenuntergang und ihren Morgen nur von Sonnenaufgang an zählen; jene Tage aber verflossen ohne die Sonne, die, wie die Schrift erzählt, erst am vierten Tage erschaffen ward. Zwar erzählt sie, daß vor allem durch Gottes Wort das Licht erschaffen wurde, und daß Gott das Licht von den Finsternissen sonderte und es Tag, die Finsternisse aber Nacht nannte. Doch was dies für ein Licht war, und durch welche wechselnde Bewegung es einen Abend und Morgen, und welchen Abend und Morgen es bewirkte, dies ist fernab von unserer Kenntnis, und wir vermögen es auch nicht in seinem Wesen zu ergründen, wir haben es einfach zu glauben. Denn entweder ist es irgendein körperhaftes Licht in den höhern Schichten des Weltalls weit vom Reichkreis unseres Blickes, und es ward vielleicht die Sonne davon angeflammt; — oder es wird unter dem Namen Licht die heilige Stadt der Engel und seligen Geister bedeutet, von welcher der Apostel spricht: »Jerusalem, das in den ewigen Höhen ist, ist unsere Mutter!« Denn er spricht auch an einer andern Stelle: »Ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht Kinder der Nacht noch der Finsternisse«, wenn anders wir es vermögen, den Abend und den Morgen jenes »Tages« irgend auf fügliche Weise zu verstehen. Denn das Wissen um die Kreatur dunkelt gleichsam abendlich, wenn es dem Wissen um den Schöpfer verglichen wird; hinwieder leuchtet es und wird zu einem Morgen, wenn es zu Lob und Liebe des Schöpfers sich wendet; auch neigt es sich nimmer zur Nacht, wo der Schöpfer nicht aus Liebe zum Geschöpf verlassen wird.

Endlich setzt auch die Schrift, wo sie diese Tage der Ordnung nach erzählt, nie den Ausdruck »Nacht« zwischen dieselben. Denn nirgend spricht sie: und es ward Nacht, sondern: »Es ward Abend und Morgen, ein Tag!« So auch vom zweiten und den übrigen. Die Erkenntnis des Geschöpfes in sich selbst ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, glanz¬loser als wenn es erkannt wird in der Weisheit Gottes als der Gestaltungskraft, durch die es erschaffen ward. Füglicher kann daher diese Erkenntnis Abend genannt werden denn Nacht; doch wird sie, wie gesagt, gleichsam zu einem Morgen, wenn sie zum Lobe und zur Liebe des Schöpfers sich wendet. Und wenn es dies tut in der Erkenntnis seiner selbst, so ist es ein Tag; — wenn in der Erkenntnis des Firmamentes das, zwischen den niedrigern und höhern Gewässern, Himmel genannt wird, so ist es der zweite Tag; — wenn in der Erkenntnis der Erde und des Meeres und aller Pflanzen, die in der Erde wurzeln, so ist es der dritte Tag; — wenn in der Erkenntnis der großen und kleinem Himmelsleuchten und aller Gestirne, so ist es der vierte Tag; — wenn in der Erkenntnis aller schwimmenden sowohl als fliegenden Tiere, die aus dem Wasser erzeugt wurden, so ist es der fünfte Tag; — wenn endlich in der Erkenntnis alter Landtiere und des Menschen selbst, so ist es der sechste Tag.

Wenn aber am siebenten Tage
»Gott von allen seinen Werken ruht« und diesen Tag heiligt, so ist dies keineswegs auf kindische Weise zu nehmen, als ob Gott mühsam gearbeitet härte, der »da sprach: Es werde! und es ward!« durch sein geistig-innerliches, nicht durch irgendein schallendes zeitliches Wort. Die Ruhe Gottes also bedeutet die Ruhe derer, die in Gott ruhen; gleichwie die Freude eines Hauses die Freude derer bedeutet, die im Hause sich erfreuen, ob auch nicht das Haus selbst, sondern etwas anderes ihnen Freude gewähre. Wie weit richtiger also wird das Haus freudig genannt, wenn es selbst durch seine Schöne seine Inwohner erfreut, so daß es nicht bloß mit einer Redefigur ein freudiges Haus genannt wird (wie wir durch etwas, das einen Gegenstand enthält, oft den Gegenstand selbst auszudrücken pflegen, der darin enthalten ist, z. B. das Theater klatscht Beifall, die Fluren brüllen, wenn im Theater die Menschen Beifall klatschen, auf den Fluren die Rinder brüllen), sondern auch in jener Bedeutung genommen werden kann, die die Ursache statt der Wirkung setzt, wie man von einer freudigen Nachricht spricht und damit die Freude derer bezeichnet, die sie froh macht. Höchst füglich wird demnach, wenn des Sehers Zeugnis erzählt, Gott habe geruht, die Ruhe derjenigen bedeutet, die in ihm ruhen und deren Ruhe er selbst ist. Dies gilt auf gleiche Weise auch den Menschen, zu welchen dies Zeugnis spricht und um derentwillen es überhaupt aufgezeichnet ist; denn ihnen wird verheißen, daß auch sie nach den guten Werken, die Gott in ihnen und durch sie wirkt, — wofern anders sie sich ihm hienieden durch den Glauben gleichsam genähert haben, — ewiglich in ihm ruhen werden. Denn dies ward durch die Ruhe des Sabbats im Gesetze jenes Gottesvolks im Alten Bunde vorgebildet.
S.212ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Die schöpferische Dreifaltigkeit
Es gibt Ein Gut, das allein einfach und darum allein unwandelbar ist, und das ist Gott. Was von diesem Gut geschaffen ist, ist alles gut, doch nicht einfach und eben darum wandelbar. Erschaffen ist es, das heißt gemacht, nicht erzeugt. Denn was von dem einfachen Gute erzeugt ist, ist gleichfalls einfach, und ist dasselbe, was der Erzeugende ist.

Diese beiden nennen wir den Vater und den Sohn, die beide mit dem heiligen Geiste Ein Gott sind; dieser Geist des Vaters und des Sohnes aber wird durch diesen ganz eigenen Namen in der heiligen Schrift also genannt. Er ist ein anderer als der Vater und der Sohn, weil er weder der Vater noch der Sohn ist. Ein anderer, sage ich, nicht etwas anderes, weil auch er selbst jenes gleicherweise einfache, gleicherweise unwandelbare und mitewige Gut ist. Und diese Dreieinigkeit ist Ein Gott. Auch ist er darum nicht minder einfach, weil er ein dreieiniger Gott ist. Denn nicht darum nennen wir diese Natur des [höchsten] Gutes einfach, weil darin der Vater allein, oder der Sohn allein, oder der heilige Geist allein wäre; auch sagen wir nicht, es sei dies eine bloße Dreieinigkeit dem Namen nach, ohne Wesensgrundlage in den Personen, wie die Sabellianischen Häretiker wähnten; sondern einfach wird sie genannt, weil sie selbst das ist, was sie hat, ausgenommen jenes, was jede Person hinsichtlich der andern ist. Denn der Vater hat allerdings einen Sohn; dennoch ist er selbst nicht der Sohn; und der Sohn hat einen Vater, und dennoch ist er selbst nicht der Vater. Jenes also, worin er in Beziehung auf sich selbst und nicht auf einen andern genannt wird, ist das, was er hat. Wie er also lebendig genannt wird, da er allerdings Leben hat, so ist er auch selbst das Leben, das er hat.

Deshalb also bezeichnet man als einfach die Natur, die nicht von dem verschieden ist, was sie hat; oder die nichts von sich verlieren kann, da das, was sie hat, nichts anderes ist, als was sie ist. Ein Gefäß kann irgendeine Flüssigkeit, ein Körper irgendeine Farbe, die Luft kann die Wärme oder das Licht und die Seele die Weisheit verlieren; denn keines dieser Dinge ist was es hat; denn das Gefäß ist nicht die Flüssigkeit, der Körper nicht die Farbe, noch die Luft das Licht oder die Wärme, noch auch die Seele die Weisheit. Daher können sie auch der Dinge beraubt werden, die sie haben, und andere Eigenschaften erhalten oder verändert und verkehrt werden; denn das Gefäß kann ausgeleert, der Körper der Farbe beraubt, die Luft verfinstert und kalt und die Seele unweise werden. Und hat auch ein unverweslicher Körper, wie er den Heiligen bei der Auferstehung verheißen wird, die unverlierbare Eigenschaft der Unverweslichkeit, so ist dennoch der Leib, ob er auch unverweslich bleibt, nicht die Unverweslichkeit selbst. Denn diese Unverweslichkeit ist ganz in jedem einzelnen Teile des Leibes, da kein Teil unverweslicher als der andere ist; der Leib selbst aber ist in seinem Ganzen größer als in seinen Teilen; und ob auch einer seiner Teile größer, der andere geringer ist doch der größere nicht unverweslicher als der geringere. Ein anderes also ist der Leib selbst, der nicht überall sein eigenes Ganzes ist, ein anderes die Unverweslichkeit, die überall ganz ist, da jeder Teil eines unverweslichen Körpers, ob er auch gegen die übrigen ungleich ist, dennoch gleich unverweslich ist. So ist, ob auch z. B. der Finger kleiner denn die ganze Hand ist, die Hand darum nicht unverweslicher als der Finger. Sind also auch die Hand und der Finger ungleich, so ist die Unverweslichkeit der Hand und des Fingers dennoch gleich; folglich ist, ob auch die Unverweslichkeit von einem unverweslichen Leibe unzertrennlich ist, dennoch die Substanz, welche Leib ge¬nannt wird, etwas anderes als die Eigenschaft, wegen welcher er unverweslich genannt wird; und so ist er also nicht das was er hat.

Ja, es wird selbst die Seele, ob sie auch immerdar weise wäre (wie sie es auch wirklich sein wird, wenn sie einmal auf ewig befreit ist), dennoch nur durch die Teilnahme an jener unwandelbaren Weisheit weise, die nicht das ist was sie. Denn wenn auch das Licht, das die Luft durchflutet, sie niemals verließe: so wäre darum dennoch die Luft nicht minder etwas anderes als das Licht, wodurch sie erleuchtet würde. Doch will ich dies nicht also gesagt haben, als ob die Seele eine feine Luft wäre, wie einige wähnten, die sich keine unkörperliche Natur denken konnten. Indessen haben diese Naturen, trotz ihrer so großen Verschiedenheit, dennoch eine gewisse Ähnlichkeit miteinander, so daß man recht wohl sagen kann, die unkörperliche Seele werde von dem unkörperlichen Lichte der einfachen Weisheit Gottes erleuchtet, wie der Luftkörper von dem körperlichen Lichte; und gleich wie die Luft, von diesem körperlichen Lichte verlassen, alsbald verfinstert werde (denn die Finsternisse körperlicher Räume sind nichts anderes als die Luft, der es an Licht gebricht), also verfinstern sich auch die Seelen, wenn sie des Lichtes der Weisheit beraubt werden. Deshalb also werden jene ursprünglichen und wahrhaft göttlichen Personen einfach genannt, weil in ihnen nicht ein andere Eigenschaft, ein andere Substanz ist, und weil sie selbst ihre Gottheit, ihre Weisheit und ihre Seligkeit sind. Übrigens wird zwar in den heiligen Schriften der Geist der Weisheit vielfältig genannt, weil er vieles in sich hat; doch was er hat, das ist er selbst; und dies alles ist Einer. Denn es sind nicht viele Weisheiten, sondern Eine Weisheit, darin unermeßliche und unendliche Schätze geistiger Dinge sind, die alle unsichtbaren und unwandelbaren Urgründe selbst der sichtbaren und wandelbaren Dinge in sich fassen, die durch sie erschaffen sind. Denn Gott hat nichts gemacht, das er nicht wußte; was man nicht einmal füglich von irgendeinem Handwerker sagen kann. Hat er also alle Dinge mit Erkenntnis gemacht, so hat er allerdings gemacht, was er erkannte. Woraus dem Gemüte eine wunderbare aber sichere Wahrheit entgegen kommt, nämlich, daß diese Welt uns nicht bewußt sein könnte, wenn sie nicht wäre; daß sie aber nicht sein könnte, wenn Gott sie nicht wüßte.
S.219ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart


Die Schöpfung als Abbild der dreifaltigen Gottheit (Vom Gottesstaat)
Da man nun also bei aller Kreatur stets nach den drei Dingen fragt, von wem, wodurch und aus welchem Grunde sie erschaffen, worauf die Antwort lauten muß: »Gott, durch das Wort, weil sie gut ist«, so steht weiterhin die Frage auf, ob uns dadurch in mystischem Tiefsinn die Dreifaltigkeit selbst, das ist der Vater, der Sohn und der heilige Geist, angekündigt werde, oder ob etwas dieser Auffassung der bezüglichen Schriftstellen widerspreche — eine Frage, über die sich in kurzem nicht handeln läßt.

Wir glauben fest und bekennen getreu, daß
der Vater das Wort erzeugte, nämlich die Weisheit, durch die alle Dinge erschaffen wurden: seinen eingeborenen Sohn, der Eine den Einen, der Ewige den Mit-Ewigen, der höchst Gute den gleich Guten; und daß der heilige Geist zugleich der Geist des Vaters und des Sohnes und selbst beiden gleich wesentlich und gleich ewig ist; und daß dies Ganze eine Dreieinigkeit ist wegen des Selbstands der Personen, Ein Gott aber wegen der unzertrennlichen Gottheit und Ein Allmächtiger wegen der unzertrennlichen Allmacht, so jedoch, daß, wenn die Frage von jedem insbesondere ist, geantwortet werde: jeder Einzelne aus ihnen ist Gott und allmächtig; wenn aber von allen zugleich: es sind nicht drei Götter oder drei Allmächtige, sondern Ein allmächtiger Gott. So groß ist in diesen drei Personen die unzertrennliche Einheit, die also sich wollte zu erkennen geben.

Ob aber der heilige Geist des guten Vaters und des guten Sohnes, weil er beiden gemein ist, mit Recht die Güte beider genannt werden könne, darüber will ich nicht wagen ein vermessenes Urteil auszusprechen. Leichter würde ich’s wagen, ihn die Heiligkeit beider zu nennen; nicht als ob ich diese Heiligkeit gleichsam als eine Eigenschaft beider, sondern vielmehr als selbst auch Wesenheit und als eine dritte Person in der Dreieinigkeit betrachtete. Dahin führt mich nämlich dies, daß, ob auch der Vater ein Geist und heilig ist, dennoch der heilige Geist, als die wesentliche und mitwesentliche Heiligkeit beider ganz eigentlich mit diesem Namen benannt wird. Ist aber die göttliche Güte nichts anderes als die
göttliche Heiligkeit: so führt uns fürwahr aufmerksame Forschung der Vernunft, nicht aber kecke Vermessenheit dahin, daß wir in den Werken Gottes unter geheimnisvoller Ausdrucksweise, durch die unsere Aufmerksamkeit erregt werden soll, das Geheimnis der Dreieinigkeit angedeutet finden: wo wir erkennen, wer jegliches Geschöpf erschuf, wodurch er es schuf, und weshalb er es schuf. Denn es wird der Vater des Wortes erkannt, der da sprach: »Es werde«! Was aber erschaffen ward, als er sprach, ward sonder Zweifel durch das Wort erschaffen. In dem Ausspruch endlich: »Gott sah, daß es gut ist«, wird zur Genüge erkannt, daß Gott nicht aus Notwendigkeit, noch irgend seines Nutzens wegen, sondern wegen seiner alleinigen Güte schuf was erschaffen ward, das heißt: »weil es gut war«. Dies aber ward hernach gesprochen, damit dadurch angezeigt würde, daß die Sache, die erschaffen war, mit der Güte übereinstimme, wegen welcher sie war erschaffen worden. Und wird unter dieser Güte der heilige Geist auf richtige Weise verstanden, so wird in ihren Werken uns die ganze Dreieinigkeit angedeutet.

Daher der Ursprung, die Weisheit und die Glückseligkeit der heiligen Stadt, die da droben in den heiligen Engeln ist. Denn fragt man, woher sie weise sei: sie wird von Gott erleuchtet; und fragt man, woher sie glückselig sei: durch den Genuß Gottes. Durch ihn wird sie in ihrem Sein geordnet; in seiner Anschauung wird sie von ewigem Lichte bestrahlt; und durch die Vereinigung mit ihm ist sie glückselig: sie ist, sie schaut, sie liebt; sie blüht in der Ewigkeit Gottes, sie leuchtet in der Wahrheit Gottes und erfreut sich in der Güte Gottes.

Soviel uns zu erkennen gegeben wird, teilten aus diesem Grunde die Philosophen das Studium der Weisheit in drei Teile ein; oder vielmehr sie erkannten, es müsse also eingeteilt werden (denn nicht sie ordneten es so, sondern sie fanden es vielmehr also angeordnet): nämlich in die Physik, in die Logik und die Ethik. Diese Namen finden sich lateinisch auch bereits in den Schriften vieler, die sie Naturlehre, Vernunftlehre und Sittenlehre nennen [Philosophia naturalis, rationalis, moralis]. Doch folgt hieraus nicht, daß bei dieser dreifachen Einteilung irgendein Gedanke an Gottes Dreieinigkeit gewirkt hätte, wiewohl Plato, von dem gesagt wird, er sei der erste gewesen, der diese Einteilung erfunden und empfohlen habe, Gott allein als den Urheber aller Naturen, als den Spender aller Erkenntnis und als den Einflößer aller Liebe erkannte, durch die das Leben gut und glücklich wird. Und ob auch manche über die Natur der Dinge, über die Weise der Wahrheitforschung und das Ziel des Guten, auf das wir all unser Handeln hinführen sollen, verschieden denken, so ist doch ihre ganze Aufmerksamkeit auf diese drei großen und allgemeinen Fragen gerichtet. Ist also auch ein großer Unterschied und mancherlei Widerspruch unter ihnen, und nimmt der eine dies, der andere jenes an, so zweifelt doch keiner daran, daß es einen Grund der Natur, eine Methode in den Wissenschaften und ein Gesetz des Lebens gebe.

Ebenso gibt es auch drei Dinge, die bei jedem Künstler zusammentreffen müssen, damit er etwas schaffe: Naturanlage, Theorie und praktische Übung. Die Naturanlage ist an der geistigen Schaffenskraft, die Theorie am Wissen um die Kunst, die Fertigkeit an der Frucht zu er-messen. Nur weiß ich freilich wohl, daß, im eigentlichen Sinne gesprochen, die Frucht Gegenstand des Genusses, die Übung Sache des Gebrauches ist; doch scheint hierbei der Unterschied zu walten, daß wir eine Sache genießen, wenn sie uns nicht wegen anderer Bezüge, sondern durch sich selbst erfreut, während wir den Nutzbrauch eines Dinges wegen anderer Zwecke suchen. Deshalb sollen wir die zeitlichen Dinge mehr benützen als genießen, auf daß wir die ewigen zu genießen verdienen; und nimmer sollen wir es den verkehrten Menschen nachtun, die das Geld genießen, Gott aber benützen wollen, denn nicht Gottes wegen geben sie Geld aus, sondern des Geldes wegen verehren sie Gott. Doch in jenem Sinne zu sprechen, der durch die Gewohnheit allgemein ward, gebrauchen wir die Früchte und genießen den Nutzen; denn Früchte werden eigentlich die Erträgnisse der Äcker genannt, die wir doch nur in der Zeitlichkeit gebrauchen.

In diesem Sinne also wende ich dies Wort bei jenen drei Dingen an, die, wie erwähnt, beim Menschen zu betrachten sind: Naturanlage, Theorie und Übung. Und dieserwegen ward, das ewige Leben zu erlangen, von den Philosophen das Studium in drei Teile geteilt: in die Physik, wegen der Natur; in die Logik, wegen der Lehre; und in die Ethik, wegen der Ausübung. Denn hätten wir unsere Natur von uns selbst empfangen, so hätten wir fürwahr auch unsere Wissenschaft selbst erzeugt und müßten dann nicht dafür sorgen, die Lehre anderswoher durch Lernen zu empfangen; so wie auch unsere Liebe, wenn sie von uns ausginge und zu uns zurückkehrte, uns genügen würde, selig zu leben. So aber, da unsere Natur Gott zum Urheber ihres Daseins hat, müssen wir ohne allen Zweifel auch ihn zum Lehrer haben, wenn wir wahrhaft weise sein wollen; und damit wir wahrhaft selig werden, muß er uns Spender innerster Süße sein.

Wir selbst finden sogar in unserm Innern ein Abbild Gottes, das heißt jener höchsten Dreifaltigkeit, freilich nicht ein ebenbürtiges, ja nur ein von der wirklichen Ähnlichkeit weit entferntes, auch nicht ein gleich-ewiges und, um alles kurz zu sagen, nicht ein Abbild, das von gleicher Wesenheit wäre wie Gott, dennoch eines, das wie in keinem andern gotterschaffenen Wesen der Natur ihm ähnlich ist, das indessen noch durch Erneuerung muß vervollkommnet werden, um zur möglichsten Ähnlichkeit zu gelangen. Denn: wir sind; und wir erkennen, daß wir sind; und wir lieben dies Sein und dies Erkennen. In diesen drei Dingen aber macht uns keine Täuschung irre, die dem Wahren ähnlich wäre. Denn wir erfassen sie nicht wie die Dinge außer uns mit irgendeinem körperlichen Sinne (wie z. B. die Farben durch das Gesicht, die Töne durch das Gehör, die Düfte durch den Geruch, den Geschmack durch den Gaumen, Hartes und Weiches durch die Befühlung, von welchen sinnlichen Dingen wir auch höchst ähnliche, wiewohl nicht mehr körperliche, Bilder in den Gedanken schauen und im Gedächtnisse bewahren, durch die wir auch angeregt werden, nach ihnen zu verlangen); sondern ohne alles Spiel und Blendwerk der Einbildung weiß ich höchst gewiß, daß ich bin und daß ich mein Dasein erkenne und liebe. Und ich fürchte in diesen wahren Dingen keineswegs die Spitzfindigkeiten der Akademiker, die mir etwa sagen: du könntest doch irren? Denn kann ich irren, so bin ich; da, wer nicht ist, auch nicht irren kann. Dadurch selbst also bin ich, wenn ich irre. Da ich also immer Ich wäre, auch wenn ich irrte: so ist es außer allem Zweifel, daß ich nicht darin irre, daß ich mich erkenne. Daraus erfolgt aber, daß ich auch darin nicht irre, wenn ich erkenne, daß ich mich erkenne; denn gleichwie ich erkenne, daß ich bin, also erkenne ich auch dies, daß ich mich erkenne. Und wenn ich diese beiden Dinge liebe, so füge ich ihnen, die ich erkenne, ein Drittes, und zwar nichts Geringeres bei, nämlich meine Liebe, die ich nicht minder erkenne. Denn auch darin irre ich nicht, daß ich mich liebe; da ich in jenen Dingen, die ich liebe, nicht irre, wiewohl selbst wenn, was ich liebe, falsch wäre, es dennoch wahr wäre, daß ich Falsches liebe. Denn aus welchem Grunde könnte ich wohl zu Recht getadelt und von der Liebe falscher Dinge zurückgehalten werden, wenn es ein Trug wäre, daß ich sie liebte? Da aber jene Dinge wahr und gewiß sind: wer könnte da zweifeln, daß die Liebe zu ihnen eine wahre und gewisse Liebe ist? Übrigens gibt es so wenig einen Menschen, der nicht sein wollte, als es einen gibt, der nicht selig sein wollte. Denn wie könnte selig sein wollen, wer nicht ist?

Schon das bloße Dasein ist mit einer Art natürlicher Wucht so sehr ein Gut, daß aus keinem andern Grunde sogar jene, die elend sind, nicht umkommen mögen, und wenn sie fühlen, daß sie elend sind, nicht sich von dem Elende, sondern das Elend von sich entfernen wollen. Ja, selbst solche, die sich im höchsten Grade elend bedünken und es auch wirklich sind und nicht bloß von Toren, die sich weise nennen, sondern auch von Menschen, die sich für selig halten, als Elende beurteilt werden, weil sie in äußerster Dürftigkeit schmachten, selbst sie würden, wofern jemand ihnen die Unsterblichkeit dergestalt antrüge, daß entweder auch ihr Elend dabei fortbestünde, oder daß sie, falls sie nicht immer in dem nämlichen Elend verbleiben wollten, nie und nimmer leben, sondern gänzlich vernichtet werden sollten: — fürwahr, sie würden vor Freude aufjauchzen und lieber erwählen, immerdar elend als gar nicht zu sein. Hierfür rufe ich ihr eigenes Bewußtsein zum Zeugen auf. Warum aber fürchten sie wohl zu sterben und wollen lieber im Elend leben denn ihr Übel mit dem Tode endigen, warum anders, als weil — was hieraus zur Genüge hervorgeht — die Natur so sehr vor dem Nichtsein zurückschreckt? Wenn sie daher erkennen, daß sie sterben sollen, verlangen sie als eine große Wohltat die Barmherzigkeit, noch einige Zeit länger im gleichen Elend fortzuleben und später erst zu sterben. Dadurch zeigen sie also offenbar, mir welcher Freude sie sogar eine Unsterblichkeit annehmen würden, die nichts weiter als die Fortdauer ihrer Armseligkeit wäre.

Und zeigen nicht sogar alle vernunftlosen Lebewesen, die solcherart Gedanken nicht hegen können, von dem ungeheuersten Drachen an bis auf den geringsten Wurm, durch alle Bewegungen, deren sie fähig sind, wie gern sie leben und wie sehr sie ihren Untergang fliehen? Ja, fassen nicht sogar die Bäume und alle Sträucher, denen kein Sinn innewohnt, um ihrem Untergang durch offenbare Bewegung auszuweichen, in der Erde, woher sie ihre Nahrung ziehen, um so tiefere Wurzeln, je höher sie ihre Wipfel in die Lüfte erheben: damit sie auf solche Weise das Dasein erhalten, das sie auf ihre Weise haben? Selbst jene Körper endlich, denen nicht nur kein Sinn, sondern auch nicht einmal ein organisches Leben innewohnt, wodurch sie ihre Art fortpflanzen, streben dennoch, je nach ihrem Gewichte, entweder in die Höhe oder in die Tiefe; oder sie schweben in der Mitte, um sich nicht von der Stelle zu entfernen, die die Natur ihnen angewiesen hat, ihre Wesenheit zu erhalten.

Wie sehr man nun erst das Wissen liebt und wie ungern die menschliche Natur sich betrügen läßt, wird schon daraus kund, daß jeder Mensch lieber bei gesundem Verstande trauern als im Wahnsinn sich freuen möchte. Diese große und wunderbare Kraft hat aber außer dem Menschen kein anderes sterbliches Lebewesen; denn haben auch einige weit stärkere Sehkraft als wir, das körperliche Licht zu schauen, so vermögen sie es doch nimmermehr,
jenes unsterbliche Licht zu erreichen, von welchem unsere Seele gleichsam bestrahlt wird, so daß wir über all das richtig urteilen können. Denn das vermögen wir, insofern wir von diesem Lichte erleuchtet werden. Wohnt aber auch den Sinnen der vernunftlosen Tiere auf keine Weise Wissen inne, so haben sie gleichwohl etwas dem Wissen Ähnliches. Die übrigen körperhaften Wesen aber werden Sinneswesen genannt, nicht weil ihnen Sinn innewohnt, sondern weil wir sie durch die Sinne wahrnehmen; wiewohl wir selbst auch in den Pflanzen eine Art Ähnlichkeit mit den Sinnen insofern wahrnehmen, als sie sich nähren und fortpflanzen. Übrigens ha-ben sie wie alle körperlichen Dinge ihre in der Natur verborgenen Ursachen; ihre Gestalten jedoch, wodurch die Zierde dieser sichtbaren Welt erhöht wird, entfalten sie unseren Sinnen, gleich als ob sie, die selbst unvermögend sind zu erkennen, dadurch gleichsam anzeigten, daß sie erkannt werden wollen. Wir aber fassen sie wohl mit unsern Sinnen auf, doch beurteilen wir sie nicht mit dem Sinn des Körpers; denn wir haben einen andern Sinn des innerlichen Menschen, der weit erhabener ist und kraft dessen wir wahrnehmen, was recht und unrecht ist: das eine durch seine innerliche Schönheit, das andere durch den Mangel daran. Dieser Sinn aber braucht weder die Schärfe der Sehkraft noch die Öffnung der Ohren, nicht Geruch und Geschmack noch auch das körperliche Tastgefühl. In ihm bin ich gewiß, daß ich bin und daß ich dies erkenne und daß ich mein Dasein liebe; und ebenso gewiß weiß ich auch dort, daß ich mich liebe.

Doch von diesen beiden Gegenständen haben wir, sofern der Plan unseres Werkes es erforderte, bereits hinreichend gesprochen, nämlich vom Sein und vom Bewußtsein, und wie sehr wir beide in uns lieben, sowie davon, daß auch in andern, tiefer stehenden Wesen etwas bei aller Verschiedenheit doch Ähnliches lebt. Dagegen sprachen wir nichts darüber, ob wir auch die Liebe selbst lieben, kraft welcher beide geliebt werden. Allerdings aber lieben wir sie, und ein Beweis dessen ist, daß wir sie in Menschen, die wir auf die rechte Weise lieben, mehr denn diese Menschen selbst lieben. Denn nicht füglich wird ein Mann gut genannt, der das Gute kennt, wohl aber, der dasselbe liebt. Warum also sollten wir nicht in uns selbst die Liebe lieben, wodurch wir alles Gute lieben, das wir lieben? Denn es gibt auch eine Liebe, kraft welcher wir lieben, was nicht zu lieben ist; und diese Liebe haßt derjenige in sich, der jene Liebe liebt, kraft welcher er liebt, was zu lieben ist. Denn beide können in einem Menschen sein; und gut ist es dem Menschen, daß, indes jene zunimmt, wodurch wir gut leben, die andere abnehme, wodurch wir böse leben, bis unser ganzes Leben vollkommen geheilt und in ein gutes Leben verwandelt wird. Denn wären wir Tiere, so würden wir das fleischliche Leben und was nach den Sinnen des Fleisches ist lieben, und dies Gut wäre dann für uns hinreichend; und weil wir uns wohl dabei befänden, würden wir auch kein anderes suchen. Desgleichen könnten wir, wofern wir Bäume wären, zwar nichts durch eine fühlbare Regung lieben; doch hätte es dann den Anschein, als hegten wir Verlangen, üppigere und reichlichere Frucht zu tragen. Wären wir Steine oder Fluten oder Wind oder Feuer oder anderes dieser Art, so wären wir zwar ohne alle Empfindung und ohne alles Leben: dennoch würde es uns nicht an einem gewissen Begehrungstriebe nach unserer natürlichen Stätte und Ordnung fehlen. Denn das Gewicht der Körper ist gleichsam ihre Liebe, kraft welcher die schweren hinab, die leichten empor streben. Denn wie die Seele durch die Liebe, also wird der Körper durch sein Gewicht überall hingezogen, wo immer er hingezogen wird. Da wir also Menschen sind, die nach dem Bilde unseres Schöpfers erschaffen wurden, dessen
Ewigkeit wahrhaft, dessen Wahrheit ewig und dessen Liebe wahrhaft und ewig ist, und der selbst die ewige und wahrhafte geliebte Dreieinigkeit ohne Verwirrung und Trennung ist; und weil jene Dinge, die unter uns sind, selbst auf keine Weise Dasein noch irgend Schöne hätten, noch auch nach irgendei-ner Ordnung verlangten, wenn sie nicht von ihm wären, der das vollkommenste Dasein und allerhöchst weise und allerhöchst gut ist: so sollen wir durch alle seine Werke, die er in wunderbarer Ständigkeit schuf, hindurchgehen und die Spuren, die er ihnen einprägte, hier mehr, dort minder aufsammeln, in uns selbst aber sein Bild schauen und gleich jenem verlorenen Sohne im Evangelium aufstehen und zu uns selbst kommen, damit wir dann zu ihm zurückkehren, von dem wir durch die Sünde uns entfernt hatten. Dort wird unser Dasein keinen Tod haben; dort wird unsere Erkenntnis ohne Irrtum sein und unsere Liebe nicht sündigen.

Gegenwärtig aber, wo wir — ob uns auch jene drei Dinge in uns unfehlbar bewußt sind und wir darüber keinem andern Zeugen glauben, sondern sie selbst durch unser Bewußtsein empfinden und mit höchst wahrhaftigem innerlichen Blicke schauen — dennoch durch uns selbst nicht wissen können, wie lange sie dauern und ob sie niemals aufhören werden, wohin sie kommen, wenn wir gut, und wohin, wenn wir böse damit wirken: gegenwärtig suchen wir oder haben wir vielmehr darüber andere Zeugen. Warum wir aber an der Wahrheit dieser Zeugnisse nicht zweifeln dürfen, das werden wir späterhin mit aller Sorgfalt erörtern. In diesem Buche aber müssen wir mit Gottes Hilfe zu Ende führen, was wir begonnen hatten: von jenem Teil des Gottesstaats sprechen, der nicht in der Sterblichkeit dieses Lebens pilgert, sondern immerdar unsterblich im Himmel ist, nämlich von den heiligen, mit Gott vereinigten Engeln, die nimmermehr von ihm abfielen noch auch je von ihm abfallen werden, und die er, wie wir im Anbeginn sagten, von jenen sonderte, die, das ewige Licht verlassend, Finsternisse wurden.
S.231ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Von den Engeln
Morgen- und Abenderkenntnis
Denn diese heiligen Engel lernen Gott nicht durch vernehmbare Worte, sondern durch die Gegenwart der unwandelbaren Wahrheit selbst, nämlich durch sein eingeborenes Wort erkennen; und zwar erkennen sie das Wort und den Vater und den heiligen Geist beider und sehen so klar, wie diese göttlichen Personen die unteilbare Dreieinigkeit sind, und wie jede einzelne Person dieser Dreieinigkeit eine und dieselbe Wesenheit ist, und wie dennoch nicht drei Götter, sondern nur ein Gott ist: daß ihnen dies deutlicher als wir selbst uns kund sind. Ja, sogar die Kreatur erkennen sie dort, das heißt in der Weisheit Gottes als der Gestaltungskraft, durch die sie erschaffen ward, vollkommener als in ihr selbst; und eben darum erkennen sie auch sich selbst dort besser als in sich selbst, wiewohl sie auch in sich selbst sich erkennen. Denn sie sind erschaffen und sind etwas anderes als er, der sie schuf. Dort also erkennen sie sich wie in dem Lichte des Tages, in sich selbst aber wie im abendlichen Lichte, wie wir anfangs erinnert haben.

Denn etwas ganz anderes ist es, eine Sache in dem Urgrunde selbst, wonach sie gemacht ward, als sie in ihr selbst zu kennen; so wie wir die Linien und mathematischen Figuren weit anders sehen, wenn wir sie im Geiste, als wenn wir sie im Sande geschrieben sehen. Und anders ist auch die Gerechtigkeit in der unwandelbaren Wahrheit, und anders in der Seele des Gerechten. Ebenso verhält es sich mit den übrigen Dingen: mit dem Firmamente zwischen den höhern und niedrigem Gewässern, das Himmel genannt wird; mit den gesammelten Gewässern in der Tiefe und der Nacktheit der Erde, der Hervorbringung des Grases und der Bäume; mit der Schöpfung der Sonne, des Mondes und der Sterne; mit den aus dem Wasser erzeugten Tieren, der Vögel, Fische und schwimmenden Seeungeheuer; mit allen Tieren der Erde, ob sie gehen oder kriechen; und mit dem Menschen selbst, der den Vorzug über alle Dinge dieser Erde erhielt. Alle diese Dinge erkennen die Engel in dem Worte Gottes, wo die Ursachen und Ideen, aus welchen sie geschaffen wurden, unwandelbar bleiben, auf weit andere Weise als in den Dingen selbst. Denn dort erkennen sie auf die deutlichste Weise, wie in der Gestaltungskraft selbst; hier aber durch eine dunklere Erkenntnis wie in den gestalteten Werken. Indem dann diese Werke auf das Lob und die Verehrung dessen zurückgeführt werden, der sie schuf, geht gleichsam ein Morgen auf im Geiste dessen, der sie betrachtet.
S.240f.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Die Staaten des Lichtes und der Finsternis
Daß aber Engel gesündigt haben und in die untersten Teile der Welt gestürzt wurden, die bis zu ihrer letzten Verdammnis am Tage des Gerichtes gleichsam ihr Kerker sind, dies zeigt der Apostel Petrus auf die deutlichste Weise, wo er sagt, daß Gott der Engel nicht schonte, die da sündigten, sondern daß er sie in die finsteren Kerker der Hölle stürzte und sie daselbst bis zum Gerichtstage zur Strafe aufbewahre. Wer kann daher bezweifeln, daß Gott jene Engel durch seine Vorherwissenschaft oder durch die Tat selbst von den andern gesondert habe? Und wer kann widersprechen, daß diese mit vollem Rechte Licht genannt werden? Nennt doch der Apostel uns selbst, die wir noch im Glauben leben und nur die Hoffnung haben, ihnen einst gleich zu werden, was wir bis jetzt noch nicht sind, bereits ein Licht, da er sagt: »Denn ihr waret einst Finsternis, nun aber seid ihr Licht im Herrn«! Daß aber jene abtrünnigen Engel offenbar Finsternisse genannt werden, das erkennen oder glauben alle die sehr wohl, die wahrnehmen, daß jene abgefallenen Engel ärger denn ungläubige Menschen sind. — Ist demnach auch durch die Stelle: »Gott sprach: es werde Licht, und es ward Licht«, ein anderes Licht, durch jene Stelle aber: »Gott sonderte das Licht von den Finsternissen«, eine andere Finsternis zu verstehen, so trifft uns dennoch kein Tadel, daß wir diese beiden Gesellschaften der Engel also erklärten: die eine, die ihres Gottes genießt, die andere, die von Hoffart aufgedunsen ist; die eine, zu welcher gesprochen wird: »Betet Ihn an, alle seine Engel«, die andere, deren Fürst sprach: »Dies alles will ich dir geben, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest«; die eine, die von Gottes heiliger Liebe glüht, die andere, die von der un-reinen Liebe zu ihrer eigenen Hoheit schwillt; und weil, wie geschrieben steht, »Gott den Hoffärtigen widersteht, den Demütigen aber seine Gnade gibt«: die eine, die im Himmel der Himmel wohnt, die andere, die von dort herabgestürzt in diesem niedrigen Lufthimmel sich umhertreibt; die eine, die, durch glückselige Frömmigkeit erleuchtet, der höchsten Ruhe genießt, die andere, die durch finstere Begierlichkeiten in beständiger Unruhe ist; die eine, die auf Gottes Wink huldreich zu Hilfe kommt oder auch auf gerechte Weise Rache übt, die andere, die beständig in Hoffart und wütiger Bosheit giert, die Gemüter zu unterjochen und ihnen zu schaden; die eine, die als Dienerin Gottes so viel Gutes tut als er will; die andere, die durch Gottes Macht gebändigt nicht soviel Böses tun darf als sie will; die eine, die dieser ruchlosen Geister spottet, daß sie auch gegen ihren Willen durch ihre Verfolgungen nützen; die andere, welche die guten Engel beneidet, wenn sie ihre Erdenpilger aufsammeln.

Wir glauben also, daß wir durch die Erklärung dieser dunkeln Schriftstellen nicht fruchtlos gearbeitet haben, wenn wir darunter jene beiden so ungleichen und einander entgegengesetzten Gesellschaften der Engel verstehen, von welchen die eine ihrer Natur nach gut und ihrem Willen nach recht, die andere hingegen ihrer Natur nach gut, ihrem Willen nach aber verkehrt ist; zumal da die heilige Schrift auch durch andere Stellen deutlich erklärt, was wir im Buche der Schöpfung unter den Ausdrücken Licht und Finsternis angedeutet glaubten. Nicht vergeb-lich wäre daher unsere Arbeit, selbst wenn dies vielleicht nicht der Sinn des heiligen Verfassers sein sollte. So
llten wir auch seinen Willen nicht zu finden vermocht haben, so irrten wir dennoch nicht von der Richtschnur des Glaubens ab, die durch andere Stellen der göttlichen Bücher den Gläubigen kund ist. Denn wurde hier auch nur der körperhaften Werke Gottes gedacht, so haben doch diese selbst eine Ähnlichkeit mit den geistigen Werken; wie denn der Apostel sagt: »ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht Kinder der Nacht noch der Finsternisse.« Ist dies aber der Sinn, den der heilige Verfasser des Buches der Schöpfung beabsichtigte, so gelangte unsere Erörterung zu einem um so vollkommeneren Ergebnis, da uns nicht zu glauben erlaubt ist, der Mann Gottes, dem so erhabene und göttliche Weisheit innewohnte, oder vielmehr der heilige Geist habe in der Aufzählung der Werke Gottes, die nach seinem Ausspruche alle am sechsten Tage vollendet waren, der Engel irgend vergessen, — sei es nun, daß Gott sie im Anbeginn, das ist: zuerst, schuf, oder sei es, wie füglicher verstanden wird, daß er sie im Anbeginn, nämlich durch sein eingebornes Wort schuf. Die Schrift also spricht: »Im Anbeginn schuf Gott Himmel und Erde«, unter welchen Namen die ganze Schöpfung verstanden wird, und zwar, was das Glaublichere ist, sowohl die geistige als die körperhafte, die beiden Teile des Weltalls, worin alles Erschaffene enthalten ist, und die Moses zuerst überhaupt nennt, um sie dann nach der geheimnisvollen Tageszahl einzeln zu beschreiben.
S.241ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Gegen die Ewigkeit der Schöpfung und die ewige Wiederkehr
Wie von der Welt, glauben einige auch von den Menschen, sie wären immer gewesen. So sagt denn auch Apulejus, wo er über diese Gattung des Lebendigen schreibt: »Einzeln wohl sind sie sterblich, zusammen aber und als gesamtes Geschlecht ewig«. Und sagt man diesen Leuten: wenn es immer Menschen gegeben hat, wie stimmt dann damit die Geschichte, die davon erzählt, was und welcher Dinge Erfinder es gegeben, wer zuerst die freien Wissenschaften und die anderen Künste eingeführt oder von wem der oder jener Erdteil, die oder jene Insel besiedelt worden? so kommen sie mit Überschwemmungen und mit Bränden, die von Zeit zu Zeiten immer wieder zwar nicht die ganze Erde, wohl aber deren meiste Länder so verwüsteten, daß die Menschheit zusammenschmölze zu einem kleinen armen Häuflein, aus dem dann erst die alte Menge wieder wachse; so werde dann, was in diesen Verwüstungen abgerissen und zugrunde gegangen, wiederhergestellt, als werde es neu erfunden und zum ersten Male eingeführt. Und es könne ja doch auch kein Mensch entstehen, es sei denn aus dem Men-schen. Da aber reden sie, was sie meinen, nicht was sie wissen. —

Und andere gibt es, die nicht an die ewige Dauer dieser Welt glauben. Die aber, ob sie nun an unzählige Welten glauben oder an eine einzige, die im Wechsel der Ewigkeiten unzähligemale erstehe und zugrunde gehe, müssen doch zugestehen, daß das Menschengeschlecht geworden sei ohne Menschen, die es gezeugt. Jene anderen, die von Überschwemmungen und Bränden reden, die nicht den ganzen Erdkreis betroffen, die können wohl behaupten, es seien einige wenige Menschen übrig geblieben, aus denen dann erst die alte Menge wieder erwachsen sei. Die aber glauben, daß die ganze Welt zugrunde gehe, die können nicht an¬nehmen, daß auf der Welt etwas von den Menschen übrig bleibe. Die nun sind der Meinung, wie die Welt aus ihrem Urstoff wieder erstehe, so auch in ihr die Menschen aus ihren Elementen, und daß dann erst wie bei allem anderen Lebendigen aus Zeugenden und Gebärenden das Geschlecht der Sterblichen weiter wachse. — So also rechnen diese Philosophen [Heraklit, Pythagoreer, Stoiker] mit Zeitumläufen, in denen sich in der Natur der Dinge das Gleiche immer wieder erneuert und wiederholt habe, und so auch fürderhin und ohne Unterlaß der Ring der Welten, wie sie kommen und vergehen, sich schließen müssen; sei es daß an der bleibenden Welt sich der Wechsel vollziehe; sei es daß von Zeit zu Zeiten entstehend und vergehend die Welt selber das Gleiche immer wieder, was vergangen ist und wieder werden soll, als wäre es neu, zu Tage bringe. Und von diesem Spiel vermögen sie nicht einmal die unsterbliche Seele auszunehmen, selbst wenn sie schon die Weisheit gekostet: als laufe sie ohn Unterlaß zur falschen Seligkeit und laufe von ihr wieder ohn Unterlaß zurück ins echte Elend. Denn wäre es eine wahre Seligkeit, auf deren ewige Dauer nicht zu bauen ist und worin die Seele entweder ahnungslos und unerfahren mit der Wirklichkeit dem Elend, das ihr droht, entgegenreifen oder, wenn sie es kennt, unselig in der Seligkeit in Ängsten seiner warten muß? Wenn aber doch einmal die Seele ohne neue Rückkehr ins Elend zur dauernden Seligkeit gelangt, so tritt doch einmal etwas Neues in die Zeit, was in der Zeit kein Ende nehmen wird. Warum mehr also auch die Welt? warum nicht auch der Mensch, geschaffen in der Welt? So ließen sich dann doch die Zeitumläufe, so seltsam falsch, von falschen, trügerischen Weisen ausgedacht, vermeiden, auf gradem Weg und in gesunder Lehre.

Nun heißt es freilich in Salomons Ecclesiastes: »Was ist das, was gewesen ist? Das Gleiche, was wieder sein wird. Und was ist das, was geschehen ist? Das Gleiche, was wiederum geschehen wird. Nichts Neues gibts unter der Sonne. Und wenn einer sagen wollte und spräche: Sieh, dies ist neu: es ist doch schon dagewesen zu Zeiten, die vor uns waren«. Und das soll nun von jenen Zeitumläufen verstanden werden, die zum Gleichen wiederkehren und alles auf
das Gleiche wieder bringen. Aber Salomon meint damit die von denen er zuvor geredet, die kommenden und gehenden Geschlechter, den Gang der Sonne und den Lauf der Wasser; oder er spricht doch nur von lauter solchen Dingen die entstehen und vergehen. Denn Menschen gab es vor uns, gibt es mit uns und wird es nach uns geben; und so ists auch bei Tieren und bei Pflanzen. — Andere wiederum haben die Worte des Weisen so verstanden, als habe er sagen wollen, in der Vorherbestimmung Gottes sei alles schon geschehen und also gebe es nichts Neues unter der Sonne. Fern aber sei es vom rechten Glauben, anzunehmen, daß mit diesen Worten Salomons die Zeitumläufe gemeint seien, worin nach jener Philosophen Ansicht das ewig Gleiche an Zeit und zeitlichen Dingen sich im Kreise dreht, so etwa daß, wie in jenem Jahrhundert einst Plato der Philosoph in der Stadt Athen und in der Schule, die Akademie genannt wird, seine Schüler lehrte, so nach unzähligen Jahrhunderten und in unendlichem doch wohl bestimmtem Abstand der gleiche Plato und die gleiche Stadt und auch die gleiche Schule und die gleichen Schüler sich wiederholten und wiederum nach ungezählten Jahrhunderten sich wiederholen werden. Fern sei, so sag ich, daß wir solches glauben! Denn einmal nur ist Christus gestorben um unserer Sünden willen; auferstanden aber von den Toten stirbt er nicht wieder und der Tod wird nicht mehr herrschen über ihn. Und wir nach der Auferstehung werden immer mit dem Herrn sein, dem wir jetzt sagen, wie der heilige Psalm uns lehrt: »Du Herr wirst uns bewahren und wirst uns behüten vor diesem Geschlecht in Ewigkeit«. Auf jene aber trifft gar wohl, was darnach folgt: »Im Kreis herum wandeln die Gottlosen«. Und nicht, weil wie sie glauben, in jenen Zeitumläufen sich ihr Leben wiederhole, sondern weil im Kreis ihr Weg des Irrtums führt, die falsche Lehre.

Und ist es ein Wunder, daß nicht Eingang noch Ausgang finden, die so im Kreise irren? daß sie nicht wissen, wie das menschliche Geschlecht und diese unsere Sterblichkeit begonnen, nicht wissen, was für ein Ende es nehmen wird? Denn sie vermögen nicht einzudringen in die Tiefe Gottes, der selber ewig und ohne Anfang doch mit einem Anfang die Zeiten begonnen und in der Zeit den Menschen geschaffen hat, den er zuvor doch nicht geschaffen hatte, und das in seinem Ratschluß, der nicht neu und unverhofft, der wandellos und ewig war. Wer auch vermöchte zu ergründen die unergründliche Tiefe, zu erforschen die unerforschliche, nach der Gott den zeitgebundenen Menschen, vor dem kein anderer der Menschen war, in wandellosem Willen in der Zeit geschaffen und aus dem einen alle Menschheit sich hat vermehren lassen? An jener Stelle sagt der Psalmist: »Du Herr wirst uns bewahren und wirst uns behüten vor diesem Geschlecht in Ewigkeit«, weist darnach die zurück, nach deren törichter und böser Lehre es für die Seele keine ewige Freiheit und keine ewige Seligkeit soll geben, und sagt zu ihnen also: »Im Kreise herum wandeln die Gottlosen«; dann aber, gleichsam als frage man ihn: »Was also glaubst du, weißt du, denkst du? Ist doch nicht anzunehmen, daß es Gott mit einemmal gefallen habe den Menschen zu schaffen, den er doch zuvor in aller unbegrenzten Ewigkeit nicht schuf, Gott, dem nichts Neues irgendwie begegnen und in dem nichts sein kann, was ein Wandel ist«? gibt er nun unvermittelt die Antwort, da er zu Gott selber spricht: »Nach deiner Tiefe hast du der Menschen Kinder vermehrt«. Es mögen, sagt er, die Menschen für wahr halten, was sie meinen, und mögen glauben und vertreten, was ihnen gefällt: »Nach deiner Tiefe«, die kein Mensch ergründen kann, »hast du der Menschen Kinder vermehrt«. Und wahrhaftig, eine Tiefe ist es, immer gewesen zu sein und doch den Menschen, den er nie zuvor geschaffen, zu irgendeiner Zeit erstmals zu schaffen und doch im Willen und im Plan sich nicht zu ändern! — Welche Ewigkeiten vergangen sind, ehe das Menschengeschlecht erschaffen worden, ich bekenne, ich weiß es nicht. Doch das weiß ich, daß nichts Geschaffenes gleich ewig sein kann dem Schöpfer. Auch der Apostel spricht von ewigen Zeiten, nicht von den künftigen freilich, sondern, was seltsam genug ist, von den vergangenen. So nämlich sagt er: »Zur Hoffnung des ewigen Lebens, das vor ewigen Zeiten verheißen hat Gott, der nicht lügt; geoffenbart aber hat er es zu seiner Zeit, sein Wort«. Siehe, da spricht er davon, daß es nach rückwärts ewige Zeiten gegeben habe, die doch Gott gleich ewig nicht waren, da ja vor ewigen Zeiten Gott nicht nur war, sondern auch das ewige Leben verheißen hat, das er zu seiner Zeit, heißt das zur rechten Zeit, geoffenbart. Und was wäre das, wenn nicht sein Wort? Denn dies ist das ewige Leben. Wie aber konnte er vor ewigen Zeiten verheißen, da er doch nur den Menschen verheißen hat, die vor ewigen Zeiten noch nicht waren, als daß es in seiner Ewigkeit und in seinem ihm gleichewigen Wort in ewiger Bestimmung feststand, was zu seiner Zeit geschehen sollte?

Auch das weiß ich gewiß, daß es nie einen Menschen gegeben, ehe der erste Mensch geschaffen worden, weder einen, der im Kreislauf der Zeiten immer wiederkehrte, noch einen anderen im Grund dem ähnlichen. Und von diesem Glauben bringen mich auch nicht der Philosophen Argumente ab, als deren scharfsinnigstes gilt, kein Unbegrenztes vermöge im Wissen aufgefaßt zu werden. Und darum habe Gott, so sagen sie, von den Dingen, die er geschaffen und die alle begrenzter Art gewesen, auch nur begrenzte Gedankenbilder in sich tragen können. Nun könne aber sein gütig wirkendes Wesen nie müßig gewesen sein, denn sonst erscheine doch sein Wirken als einmal in der Zeit begrenzt und vor ihm läge ein ewiges Feiern; so gleichsam, als habe Gott die anfangslose ewige Ruhe gereut und also sei er zum Anfang des Wirkens geschritten. Und darum, sagen sie, sei es notwendig, daß das Gleiche im ewigen Ablauf sich immer wiederhole. — Denn wenn wir uns Gott vorstellen wollten, wie er zwar immer Zeitliches gewirkt, aber immer nur jedesmal ein Neues, und so auf einmal dazu ge-kommen sei, den Menschen zu schaffen, den er zuvor nie geschaffen hatte, so würde er ja, was er geschaffen, nicht aus seinem ewigen Wissen geschaffen haben, das ja, wie sie glauben, Unbegrenztes nicht zu fassen vermag, sondern nur so aus dem Augenblick und wie es ihm in den Sinn kam, unbeständig und dem Zufall sich überlassend. Ganz anders sei es, sagen sie, wenn man jenen ewigen Kreislauf der Dinge annehme, worin alles Zeitliche sich immer wiederhole, indes die Welt bestehen bleibe oder selbst in ewiger Wiederkehr von Untergang und neuem Werden den Kreislauf teile: so halte man von Gott die Annahme sowohl der trägen Ruhe, zumal einer so langen, anfangslosen, als eines blinden Wechsels seiner Werke fern. — Solcher Beweise, womit Gottlose unsere fromme Einfalt vom rechten Wege abzubringen und in den Kreislauf ihres Wahns zu ziehen suchen, müßte der Glaube spotten, auch wenn Vernunft sie nicht zuschanden machen könnte. Doch helle Vernunftgründe auch zerbrechen mit des Herrn unseres Gottes Hilfe diese wirbelnden Kreise, die ein Wahn sich erdichtet. Darin am meisten irren diese Leute, die lieber im falschen Kreis statt auf dem wahren und geraden Wege wandeln wollen, daß sie den göttlichen Geist, den wandellosen, der alle Unendlichkeit zu fassen und ohne den Gedanken auch nur zu rücken alles Zahllose zu umspannen fähig ist, daß sie den messen am engen, wandelbaren Menschengeist. Und so gehts ihnen, wie der Apostel sagt: »Da sie mit sich selbst sich vergleichen, begreifen sie nicht«. Denn sie, die wandelbaren Geistes sind, sie fassen neue Entschlüsse, sooft ihnen Neues zu tun in den Sinn kommt. Und so denken sie nicht Gott, den sie nicht denken können, sondern sich selbst an seiner Statt, und nicht ihn, sondern sich selbst vergleichen sie, mit ihm nicht, sondern mit sich selbst.

Wir tun aber nicht recht daran, zu glauben, daß Gott sich anders verhalte in der Ruhe als im Wirken. Ja, in ihm ist ein Wechsel des Verhaltens, als ginge in seinem Wesen jemals etwas vor, was vordem nicht in ihm gewesen, überhaupt nicht anzunehmen. Denn wer einen Wechsel seines inneren Zustands erfahren kann, befindet sich im Zustand des Erleidens, und alles, was erleiden kann, ist auch veränderlich. So ist denn seine Ruhe unvereinbar mit jeglicher Vorstellung von Laßheit, Trägheit, Müßigsein, wie auch bei seinem Wirken der Gedanke an Arbeit, Mühsal und Betriebsamkeit ausgeschlossen ist. Er weiß im Ruhen zu schaffen und im Schaffen zu ruhen. Er vermag ein neues Werk ohne neuen Entschluß, denn alles vollbringt er aus dem einen ewigen; und nicht aus Reue etwa, daß er zuvor gefeiert, begann er zu wirken, was er noch nicht gewirkt hatte. Doch angenommen auch, er habe zuvor gefeiert und danach gewirkt und ich wüßte nicht, wie ein Mensch das fassen sollte — so war dies »vorher« und »nachher« zweifelsohne in den Dingen, die freilich zuerst nicht waren, dann aber waren. In ihm aber ist nicht ein vorausgegangener Wille von einem anderen, späteren abgeändert oder verdrängt worden, sondern mit einem und demselben ewigen und unwandelbaren Willen hat er bewirkt, daß alles von ihm Geschaffene nicht sein Dasein hatte, solange es nicht ins Dasein getreten war, und daß es alsdann sein Dasein hatte, sobald es da zu sein begann. Vielleicht wollte er hiemit denen, die das Auge dafür haben, auf geheimnisvolle Weise zu verstehen geben, wie ganz und gar nicht er der Dinge bedarf, und daß er vielmehr sie aus freier Güte schuf, da er doch auch ohne sie von anfangloser Ewigkeit in gleicher, ungeschwächter Seligkeit beharrte.

Wir können nicht ausmachen, ob Gottes Ratschluß wirklich die »Weltzeiten der Weltzeiten«, wie wir es nennen, eben als Weltzeiten sich aneinanderreihen läßt in ununterbrochener Verbindung, jedoch sich abspielend immer wieder in verschieden geordnetem Verlauf wobei nur die aus der Unseligkeit Erlösten in ihrer seligen Unsterblichkeit Bestand haben ohne Ende, oder ob mir diesem Ausdruck die in Gottes Weisheit in unerschütterlicher Beständigkeit ruhenden Weltzeiten als Wirkursache der in der Zeit dahinfließenden bezeichnet werden sollen. Vielleicht ist nämlich mit Weltzeiten nichts anderes gemeint, als was die Einzahl: Weltzeit besagt, wie auch der Ausdruck: Die Himmel der Himmel nichts anderes besagt als: Der Himmel des Himmels. Denn als den einzigen Himmel hat Gott die Feste bezeichnet, über der die Wasser sind, und doch heißt es im Psalm: »Und die Gewässer, die über den Himmeln sind, sollen rühmen den Namen des Herrn«. Welche der beiden Deutungen zutrifft, oh man außerdem noch etwas anderes unter den Weltzeiten der Weltzeiten verstehen kann, das ist eine abgründige Frage . . . Jetzt aber reden wir gegen die Meinung, als gäbe es Kreisläufe, in denen sich immerfort notwendig dasselbe von Zeit zu Zeit wiederholen soll; und mit diesen hat es nichts zu schaffen, welche von den Ansichten über die Weltzeiten der Weltzeiten die richtige ist. Mögen die Weltzeiten der Weltzeiten nicht immer sich wiederholende, sondern eines nach dem andern in streng geregeltem Zusammenhang verlaufende Zeitalter sein, wobei die Seligkeit der Erlösten ohne irgendwelche Wiederkehr von Leiden in ganz sicherer Dauer bestehen bleibt, oder mögen die Weltzeiten etwas Ewiges sein, die davon abhängigen vorübergehenden Zeiten gleichsam beherrschend, in keinem Fall haben die immer dasselbe wiederbringenden Kreisläufe Platz, die vor allem unvereinbar sind mit dem ewigen Leben der Heiligen.

Vermag es eines Frommen Ohr auch nur zu hören? Nach einem langen Leben voll der schwersten Mühsal — wenn man es Leben nennen kann, was mehr ein Tod ist, so schwer, daß wir uns vor dem anderen Tod, der uns von dem befreit, aus Liebe zum lebendigen Tode fürchten — nach so vielem und großem und schrecklichem Elend befreit endlich durch die wahre Religion und Weisheit wird die Seele fähig, zum Antlitz Gottes zu gelangen und so selig zu werden in der Schau des körperlosen Lichts und teilnehmend an seiner wandellosen Unsterblichkeit, die zu erreichen wir in Liebessehnsucht brennen; aber so nur selig zu werden, daß sie die Seligkeit einmal wieder lassen muß, und daß die, die sie lassen müssen, herabgeworfen werden aus jener Ewigkeit, Wahrheit, Glückseligkeit zu neuem höllischern Tod, zu schmachvoller Torheit, zu fluchwürdigem Elend, wo Gott verloren und die Wahrheit gehaßt und wo das Glück in Schmutz und Nichtigkeit gesucht wird! Und dies alles immer und immer wieder, ohne Ende das eine und das andere, geschehen und wiedergeschehend im sicheren Zeitmaß einer ewigen Wiederkehr! Und dies alles darum nur, weil Gott vom Werk nicht ruhen noch auch das Unbegrenzte wissend fassen kann, und also seine Werke ihm nur dann bekannt sein können, wenn in wohlbestimmten Zeitumläufen kommend und gehend alles wiederkehrt, wechselweis hindurch durch unsere falsche Seligkeit und unser echtes Elend und doch ewig im unablässigen Umschwung der Dinge! Wer kann das hören? wer das glauben? wer das tragen? Und wenn das alles wirklich so wäre, dann wäre es doch klüger, davon zu schweigen, und man wäre — um es gerade heraus zu sagen wie ich es meine — gelehrter, wüßte man es nicht. Denn wenn wir drüben nichts davon behalten und also selig sind, warum dann wird uns Her durch solches Wissen unser Elend noch vermehrt? Wenn wir es aber drüben wissen müssen, so sollten wir es wenigstens doch Her nicht wissen, auf daß uns Her die Erwartung des höchsten Gutes glücklicher mache als drüben die Erfüllung, denn hier könnten wir doch hoffen, ewiges Leben zu erlangen, drüben aber müßten wir erkennen, daß das erlangte zwar selig, aber nicht von Dauer und einmal wieder vergänglich sei.

Wenn sie aber nun sagen, niemand könne zu dieser Seligkeit gelangen, als wer in diesem Leben durch Lehre Kenntnis von jenen Zeitumläufen gewonnen, in denen Seligkeit und Elend wechseln: wie wollen sie dann behaupten, je mehr einer Gott liebe, desto leichter gelange er zur Seligkeit, sie, die Dinge lehren, die alle Liebe töten? Denn wer wird den nicht lässiger und lauer lieben, von dem er weiß, daß er ihn bald verlassen und dann gegen seine Weisheit und gegen seine Wahrheit werde denken müssen, und das gerade dann, wenn er im vollendeten Glück zu seiner vollsten ihm möglichen Erkenntnis gedrungen ist? Kann doch kein Mensch den Freund von Herzen lieben, von dem er weiß, daß er ihm Feind wird. Aber es ist ja gar nicht wahr, was sie uns drohen, daß unser echtes Elend niemals enden und immer nur durch Zwischenzeiten falscher Seligkeit oft und ohn Ende unterbrochen werde! Denn gäb es Falscheres und Trügerischeres als eine solche Seligkeit, da wir inmitten hellsten Lichts der Wahrheit nichts von dem künftigen Elend ahnten, oder aber in der Hochburg der Glückseligkeit uns vor ihm fürchten müßten? Denn wenn wir in der Seligkeit vom kommenden Elend nichts wüßten, so wäre ja dies unser jetziges Elend wissender, da wir das kommende Glück doch kennen; wenn uns aber drüben einmal der drohende Wechsel zum Bösen nicht verborgen bleibt, so lebten wir ja jetzt im Elend glücklicher, da wir danach zur Seligkeit zu steigen hoffen dürfen, als dann im seligen Leben, da wir danach ins alte Elend fallen werden. Seligkeit aber wäre dann das Warten auf Unseligkeit, Unseligkeit die Hoffnung unserer Seligkeit! Dann aber wäre es so, daß, da wir Her das gegenwärtige Elend dulden und dort uns vor dem drohenden fürchten, wir doch in Wahrheit immer nur unselig und nie selig wären! —

Wenn wir aber diesen ewigen Kreislauf der Zeiten ablehnen, gibt es nichts mehr, das uns zwänge, einen Anfang des Menschen in der Zeit zu leugnen, weil nämlich um dieses ewigen Kreislaufs willen es nichts Neues an den Dingen gäbe, was nicht unzählige Male zuvor schon war und danach wieder sein wird.
Denn wenn einmal doch die Seele frei wird, um nimmer ins Elend heimzukehren, wie sie zuvor nie frei gewesen, so geschieht an ihr doch etwas, was früher nie geschehen war, und das ein gar gewaltig Großes, die ewige Glückseligkeit, die nie ein Ende nehmen wird. Wenn nun aber an der unsterblichen Natur etwas so völlig Neues sich ereignet, was nie sich wiederholt hat und nie sich wiederholen wird: warum dann sollte das nicht an Sterblichem geschehen können? Und wenn sie sagen, mit der Glückseligkeit geschehe der Seele nichts Neues, weil sie nur zu der zurückkehrt, in der sie immer war, so ist doch dies ein Neues, daß sie von einem Elend frei wird, worin sie niemals war, und ist dies Elend selbst, das niemals war, an ihr als Neues doch geschehen! Und kam dies Neue nicht nach der Ordnung der Dinge, die geleitet sind von der göttlichen Vorsehung, sondern kam es mehr durch Zufall, wo bleiben dann die Zeitumläufe, so klar bestimmt und abgemessen, in denen gar nichts Neues geschieht und alles nur sich wiederholt, was schon gewesen ist? Liegt aber auch dies Neue im Plan der ordnenden Vorsehung, so also kann doch Neues geschehen, was vorher nie gewesen, und doch nicht fremd der letzten Ordnung aller Dinge ist. Und wenn die Seele in ihrem Unverstand sich neues Elend schaffen konnte, das doch der göttlichen Vorsehung nicht unvorhergesehen kam, da sie auch die in ihm ewige Ordnung einschloß und davon auch nicht ohne ewige Voraussicht die Seelen wieder freigemacht wie wäre es dann so menschlich unbedacht und eitel, zu leugnen, daß die Gottheit Dinge schaffen könne, die ihr nicht, doch der Welt ein Neues sind, die sie zuvor noch nie geschaffen, und die sie dennoch stets vorausgesehen? Wenn sie nun aber sagen, daß zwar die erlösten Seelen nicht mehr ins Elend zurückkehren, daß aber eben damit nichts Neues geschehe, weil immer schon Seelen erlöst worden seien und immer wieder, jetzt und in Zukunft, erlöst würden, so müssen sie doch zugestehen, daß, wenn es so ist, eben neue Seelen selber werden müssen, für die das Elend und die Erlösung neu ist. Denn wenn sie sagen, diese Seelen seien alt und nach rückwärts ewig, und aus ihnen würden täglich neue Menschen, die dann, wenn sie weise lebten, so aus ihrem Leben erlöst würden, daß sie nimmer ins Elend wiederkehren müssen, dann müßten sie auch folgerichtig von einer unbegrenzten Zahl von Seelen sprechen. Denn so groß auch eine begrenzte Zahl von Seelen angenommen würde, sie würde nicht hinreichen, daß in den rückwärts unbegrenzten Zeiten immer wieder Menschen aus ihnen würden, deren Seelen immer wieder aus der Sterblichkeit erlöst nicht mehr zu ihr zurückzukehren brauchten. Und sie wissen es nicht zu erklären, wie eine unbegrenzte Zahl von Seelen in der Welt sein kann, die doch begrenzt sein müßte, wenn Gott sie kennen sollte.

Und da nun jener ewige Kreislauf der Dinge abgetan ist, worin die Seele immer ins gleiche Elend zurückkehren müßte: was bleibt den Frommen dann gemäßer, als zu glauben, für Gott sei es nicht unmöglich, neu zu schaffen, was er noch nie geschaffen, und doch kraft seiner unbegreiflichen Voraussicht den ewigen Willen nie zu ändern? Ob aber die Zahl der erlösten Seelen, die nicht wieder ins Elend zurückkehren, immerfort sich mehre, darum mögen die sich kümmern, die mit soviel Scharfsinn daran sind, die Unendlichkeit der Dinge einzudämmen. Wir schließen unsere Beweisführung nach jeder Seite hin. Kann die Zahl sich immerfort vermehren, warum dann sollten wir bestreiten, daß geschaffen werden könnte, was nie zuvor geschaffen war?

Denn der erlösten Seelen Zahl, die nie zuvor gewesen ist, einmal doch geschaffen und wird nie zu sein aufhören. Müssen wir an eine bestimmte Zahl erlöster Seelen denken, die nie ins alte Elend fallen, eine Zahl, die sich ferner nicht vermehren kann, so war doch auch sie, sie mag sein wie sie will, zuvor einmal nicht; denn ohne Anfang konnte sie nicht wachsen und so zu der bestimmten Grenze kommen. Was aber Anfang ist, ist vorher nicht gewesen. Damit es also sei, darum ist der erste Mensch geschaffen worden, vor dem kein anderer war.
S.248ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Scheidung von Licht und Finsternis
Unter den Wesen, die irgendwie Dasein haben und nicht das sind, was Gott ist, von dem sie erschaffen wurden, stehen die lebendigen über den leblosen; so wie hinwider jene, die mit Zeugungskraft oder auch nur mit einem Begehrungstriebe begabt sind, denjenigen vorgezogen werden, die diese Kraft nicht haben. Unter den lebendigen Geschöpfen aber sind jene, die da fühlen, besser als die fühllosen, besser zum Beispiel Tiere als Pflanzen; und unter denen, welche fühlen, sind die vernünftigen den unvernünftigen vorzuziehen, wie Menschen den Tieren; unter den vernünftigen endlich haben die unsterblichen den Vorzug über die sterblichen, wie die Engel über die Menschen; und diese Rangstufung ist auf die Ordnung der Natur gegründet.

Es gibt aber noch eine andere Weise, die Dinge zu schätzen, nämlich je nach dem Nutzen, den sie jedem Einzelnen gewähren, so daß wir manche fühllose Wesen den fühlenden vorziehen, und zwar so sehr, daß wir, wenn es von uns abhinge, diese letztem gänzlich aus der Natur vertilgen möchten, weil wir entweder nicht wissen, welchen Rang sie in derselben haben, oder aber, wenn wir dies auch wüßten, sie dennoch unserm Nutzen nachsetzen würden. Denn wer möchte in seinem Hause nicht lieber Brot als Mäuse, nicht lieber Gold als Flöhe haben? Und dies ist auch kein Wunder, da selbst nach der Meinung der Menschen, deren Würde doch in so hohem Ansehen steht, meist ein Pferd teurer als ein Sklave und ein Edelstein teurer als eine Magd bezahlt wird.

So ist also das freie Urteil der Vernunft von dem Urteil der Not oder der Lust gar sehr verschieden, da die Vernunft die Dinge nach dem Werte ihrer Natur erwägt, die Not hingegen bedenkt, was und weswegen sie‘s verlange. Die Vernunft also sucht, was dem Lichte der Natur als wahr erscheint, die Lust hingegen, was den Sinnen des Leibes auf ergötzende Weise schmeichelt. Doch so viele Gewalt hat in den vernünftigen Naturen das Gewicht ihres Willens und ihrer Liebe, daß, ob auch ihrer Natur nach die Engel den Menschen, dennoch dem Gesetze der Gerechtigkeit nach die guten Menschen den bösen Engeln vorgezogen werden.

Also von der Natur des Teufels, nicht von seiner Bosheit müssen wir das Wort verstehen: »Das ist der Anfang des Werkes Gottes«, da offenbar eine Natur nicht fehlerhaft werden kann, wenn sie nicht früher ohne Fehler war. Das Verderben aber geht so sehr wider die Natur, daß es ihr nur schaden kann.

Es käme also nicht einem Verderben gleich, sich von Gott zu trennen, wenn es nicht in der Ordnung dieser, also dem Verderben sich aussetzenden Natur läge, mit Gott verbunden zu sein. Deshalb auch ist der böse Wille ein mächtiges Zeugnis für die Güte der Natur. Wie nun Gott der in sich gute Schöpfer guter Naturen ist, so weiß er es als gerechter Ordner der schlechten Willen wohl zu fügen, daß auch die bösen Willen und ihr Mißbrauch der guten Naturen in seiner Hand dem Zweck des Guten dienen. Er macht auch, daß der Teufel, gut als Werk des Schöpfers, durch seinen eignen Willen böse, hinabversetzt in seine Unterwelt, das Gespött der Engel ist, will sagen, daß seine Angriffe zum Frommen sind der Heiligen, indes er doch so sehnlich wünscht, sie eben hiedurch zu verderben. Und weil nun Gott, da er ihn erschuf, seine künftige Bosheit wahrlich kannte und im voraus wußte, was Gutes er mit dieser Bosheit schaffen werde, darum sagt der Psalm: »Dieser Drache, den du zum Gespött gebildet hast.« Was sagen will: daß Gott als Bildner des Teufels schon, den er als Guter freilich gut gebildet, kraft seines Vorherwissens mit sich einig war, wie er ihn gebrauchen werde, wenn er zum Bösen geworden.

Denn Gott hätte wahrlich nicht nur keinen Engel, sondern auch keinen Menschen erschaffen, von dem er vorausgesehen hatte, daß er böse werden würde, wenn er nicht zugleich auch vorausgesehen hätte, wie er sie zum Nutzen der Guten verwenden und also die geordnete Reihe aller Jahrhunderte wie einen hochherrlichen Gesang gleichsam durch Antithesen schmücken würde. Denn die Sätze, welche Antithesen genannt werden, sind überaus zierlich zum Schmuck der Rede; und man könnte sie lateinisch ,,opposita“ (Gegensätze) oder besser ,,contraposita“ (Gegenüberstellungen) nennen. Doch ist dieser Ausdruck bei uns nicht gebräuchlich, wiewohl die lateinische Rede und wohl auch die Sprachen aller Völker dieses Schmuckes sich bedienen. Der Apostel Paulus selbst erklärt jene schöne Stelle in seinem zweiten Sendschreiben an die Korinther auf sehr anmutige Weise durch derlei Gegensätze, wo er spricht: »Durch Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken; durch Ehre und Unehre; durch Schmach und durch guten Ruf; als Verführer und als solche, die Wahrheit sprechen; als Unbekannte, und wir sind bekannt; als Sterbende, und sieh da, wir leben; als Gezüchtigte, und wir wurden nicht ertötet; als Traurige, die sich aber immer erfreuen; als Dürftige, die wir aber viele bereichern; als solche, die nichts haben und alles besitzen.« Wie also durch Entgegenstellung solcher Gegensätze die Schönheit einer Rede erhöht wird: also wird auf gleiche Weise, nicht durch Beredsamkeit in Worten, sondern in Werken, mittels Entgegenstellung widerstreitender Dinge die Schönheit der Welt erhöht. Ausdrücklich steht dies auch im Buche Ecclesiasticus auf folgende Weise: »Gegen das Böse steht das Gute und gegen den Tod das Leben: also gegen den Frommen der Sünder. Und so betrachte alle Werke des Allerhöchsten; und finden wirst du, daß paarweise immer eines dem andern entgegensteht.«

Wiewohl also die Dunkelheit der göttlichen Schrift auch dazu nützt, daß sie mehrere Aussprüche der Wahrheit gebiert und an das Licht der Erkenntnis fördert, da der eine sie so, der andere so versteht (also jedoch, daß was in irgendeiner dunkeln Stelle erkannt wird, durch das Zeugnis offenbarer Tatsachen oder durch andere deutlichere Stellen außer allen Zweifel gestellt wird, wenn sie entweder, vielfach abgehandelt, endlich zu dem Sinne dessen führen, der die Schrift verfaßte; oder auch wenn bei Gelegenheit solcher Abhandlungen dunkler Stellen andere Wahrheiten zum Vorschein kommen): so bedünkt es mich dennoch, es sei, wo von den Werken Gottes die Rede ist, der Ausspruch nicht von der Wahrheit entfernt, wenn wir unter jenem Lichte, das zuerst erschaffen ward, die Schöpfung der Engel verstehen und annehmen, daß die heiligen Engel von den unreinen Geistern gesondert wurden, wo gesprochen wird: »Und Gott sonderte das Licht von den Finsternissen, und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternisse nannte er Nacht!« Denn er allein vermochte es, hier zu sondern, der auch, bevor sie noch fielen, jene erkannte, die da fallen und, des Lichtes der Wahrheit beraubt, in finsterer Hoffart verbleiben würden. Denn er auch befahl, daß dieser uns sehr bekannte zeitliche Tag von der unsern Sinnen nicht minder bekannten Nacht und Finsternis durch Lichter des Himmels gesondert würde, und sprach: »Es werden Lichter am Firmamente des Himmels, daß sie leuchten auf Erden und den Tag sondern von der Nacht.« Und kurz darauf: »Und Gott schuf zwei große Leuchten; eine größere Leuchte, dem Tage vorzustehen, und eine kleinere Leuchte, der Nacht vorzustehen, und Sterne; und Gott stellte sie in das Firmament des Himmels, daß sie leuchteten auf Erden und dem Tage vorständen und der Nacht und das Licht sonderten von der Finsternis.« Jenes Licht aber, worin die heilige Gesellschaft der Engel durch die Erleuchtung der geistig-innerlichen Wahrheit strahlt, vermochte von den ihnen entgegengesetzten Finsternissen, das heißt von den höchst abscheulichen Gemütern der vom Lichte der Gerechtigkeit abgewendeten bösen Engel nur der zu sondern, der über das künftige Übel nicht der Natur, sondern des Willens nimmermehr in Unkunde sein konnte.
S.222ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat: Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Der Ursprung des Bösen
Aber auch ich, obwohl ich unseren Gott rein, unwandelbar und auf keine Weise veränderlich dachte und nannte, dich, den wahren Gott, der du nicht nur unsere Seelen, sondern auch unsere Körper gemacht hast, und nicht nur unsere Seelen und Körper, sondern alle und alles — auch ich hatte den Ursprung des Bösen noch nicht entwirrt und geklärt. Doch welcher auch immer es sein mochte, so sah ich doch, daß man ihn so suchen mußte, daß er mich nicht zwänge, den unveränderlichen Gott für veränderlich zu halten, damit ich nicht selbst würde, was ich suchte, das Böse. Deshalb suchte ich ihn mit der Sicherheit und Gewißheit, daß nicht wahr ist, was die Manichäer sagten. Mein ganzer Geist wandte sich von ihnen ab, denn ich sah, daß sie bei der Frage nach dem Ursprung des Bösen von der Bosheit erfüllt waren, lieber anzunehmen, dein Wesen erleide das Böse, als ihr eigenes Wesen bewirke es.

Ich bemühte mich, klar einzusehen, was man mir wiederholt sagte: Der freie Entscheid des Willens sei der Ursprung dessen, daß wir böse handeln, und dein rechtes Urteil sei der Ursprung dessen, daß wir leiden, aber ich war nicht imstande, diesen klaren Ursprung einzusehen. Wenn ich daher versuchte, die Spitze meines Geistes aus meiner Tiefe heraufzuheben, so tauchte ich wieder unter; oft versuchte ich es erneut, tauchte aber immer wieder unter. Was mich hinaufhob in dein Licht, war, daß ich mir so gewiß war, einen Willen zu haben, wie ich wußte, daß ich lebe. Daher war ich mir dessen ganz gewiß, wenn ich etwas wollte oder nicht wollte, daß ich es dann war, der wollte oder nicht wollte. Und immer mehr erfaßte ich, daß hier der Ursprung meiner Sünde lag. Ich sah auch, wenn ich etwas widerwillig tat, daß dies eher ein Erleiden als ein Tun ist. Ich beurteilte das dann nicht als Schuld, sondern als Strafe, von der ich bald bereitwillig eingestand, sie treffe mich nicht zu Unrecht, dachte ich dich doch als gerecht. Aber dann fragte ich mich wiederum:
»Wer hat mich gemacht? Nicht etwa mein Gott, der nicht nur gut ist, sondern das Gute selbst? Woher kommt es also, daß ich das Böse will und das Gute nicht will? Damit es etwas gebe, wofür ich gerechterweise Strafe erleiden könnte? Wer hat diesen Samen der Bitternis in mich hineingelegt und -gepflanzt, wo ich doch ganz das Werk meines gütigen Gottes bin? War der Teufel der Urheber, woher dann der Teufel? Wenn er selbst durch seinen verkehrten Willen aus einem guten Engel zum Teufel geworden ist, woher kam dann in ihn er böse Wille, durch den er der Teufel geworden ist, wenn der ganze Engel von einem sehr guten Schöpfer gemacht wurde?« Durch solche Überlegungen wurde ich dann wieder herabgedrückt und erstickt, aber sie stürzten mich nicht zurück in jenen Abgrund des Irrtums, in dem niemand dir seine Sünden bekennt, weil er eher glaubt, du erlitten das Böse, als der Mensch tue das Böse.

So bemühte ich mich denn, die übrigen Wahrheiten auf demselben Wege zu finden, auf dem ich gefunden hatte, daß das Unzerstörbare besser ist als das Zerstörbare. Daher bekannte ich dir zu deinem Lob, du seist unzerstörbar, was auch immer du sonst seist. Denn keine Seele konnte etwas denken oder wird je etwas denken können, das besser wäre als du, der du das höchste und beste Gute bist. Da wir aber mit höchstem Recht und größrer Gewißheit das Unzerstörbare über das Zerstörbare stellen, wie ich es jetzt bereits tat, so konnte ich schon — solltest du nicht unzerstörbar sein — etwas in Gedanken berühren, das besser wäre als mein Gott. Dort also, wo ich sah, das Unzerstörbare sei dem Zerstörbaren vorzuziehen, dort sollte ich dich suchen und von dort aus erforschen, wo das Böse sei, woher also die Zerstörung stamme, die dein Wesen auf gar keine Weise angreifen kann. Denn auf gar keine Weise greift Zerstörung unsern Gott an, nicht aufgrund einer Willensentscheidung, nicht aufgrund von Notwendigkeit, nicht durch blinden Zufall, denn er ist Gott, und was er für sich will, ist das Gute, und er selbst ist eben dieses Gute: Zerstörtwerden aber ist nichts Gutes. Du wirst auch nicht gegen deinen Willen in etwas gezwungen, denn dein Wille ist nicht größer als deine Macht. Er wäre aber größer als sie, wenn du größer warest als du selbst, denn Gottes Wille und Gottes Macht sind Gott selbst. Und was sollte dir Unvorhergesehenes zustoßen, der du alles kennst? Und es gibt jedes andere Wesen nur deshalb, weil du es kennst. Aber wozu bedarf es vieler Worte, um zu erklären, warum das Wesen Gottes nicht zerstörbar ist, wo er doch, wäre er zerstörbar, nicht Gott wäre?

Aus: Aurelius Augustinus, Bekenntnisse
Mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch
Reclams Universalbibliothek Nr. 2792 (S. 172-174) . © 1989 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Der Neid macht den Teufel zum Teufel
Nun kann auch der böse Engel, wegen seiner Bosheit Teufel genannt, den Geheiligten nichts schaden. Denn auch er, soweit er Engel ist, ist nicht böse, sondern nur soweit er aus eigenem Willen verkehrt worden ist. Man muß ja zugeben, daß auch die Engel von Natur wandelbar sind, weil nur Gott unwandelbar ist. Aber in Kraft des Willens, mit dem sie Gott mehr als sich selber lieben, bleiben sie in ihm fest und unerschüttert, sind einzig und allein ihm freudigst untertan und genießen seine Herrlichkeit. Jener andere Engel aber, der sich selbst mehr als Gott liebte, wollte ihm nicht untertan sein, blähte sich hochmütig auf, sagte sich vom höchsten Sein los und fiel herab. Denn obwohl auch er einst kein höchstes Sein besaß, war er doch mehr, solange er das höchste Sein genoß, da Gott allein zuhöchst ist. Was aber weniger ist als vorher, das ist nicht, sofern es ist, sondern sofern es weniger ist, böse. Denn eben dadurch, daß es weniger wird, als es war, gleitet es zum Tode ab. Kein Wunder, daß aus solchem Absinken Mangel und aus dem Mangel der Neid entsteht, der den Teufel zum Teufel macht.

Aus: Aurelius Augustinus, De vera religione/ Über die wahre Religion, Lateinisch/Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Wilhelm Thimme .
Reclams Universalbibliothek Nr. 7971 (S. 45-47) .© 1983 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Die Ursünde des Abfalls (Vom Gottesstaat)
Aber da Gott alles voraus gewußt hat und also auch wissen mußte, daß der Mensch sündigen werde, so müssen wir denn so, wie er sie voraus gewußt und voraus bestimmt hat, die heilige Stadt annehmen, nicht so, wie sie zu unsrer Erkenntnis gar nicht kommen konnte, da sie nicht in Gottes Ratschluß lag. Denn es konnte der Mensch durch seine Sünde den göttlichen Rat nicht umstoßen, so als hätte er Gott zwingen können, was er beschlossen zu ändern, weil ja Gott beides vorher gesehen und beidem vorher gesorgt, daß nämlich der Mensch, den er gut geschaffen, böse werden würde und was er selber dennoch Gutes werde mir ihm schaffen können. Denn wenn es von Gott heißt, er ändere Beschlossenes — wie man denn auch in der heiligen Schrift in übertragenem Sinn gesagt findet, es habe Gott etwas gereut — so ist das so gemeint, daß der Mensch anderes erwartet und daß der natürliche Gang der Dinge es anders mit sich gebracht hätte, nicht so, daß der Allmächtige die vorausgewußte Tat geändert. Es hat also Gott, wie geschrieben steht, den Menschen recht geschaffen und also guten Willens. Denn recht wäre er nicht, hätte er keinen guten Willen.

Der gute Wille also ist Gottes Werk; denn mit ihm ist der Mensch von Gott geschaffen. Der erste böse Wille aber, der ja allem bösen Werk im Menschen voranging, ist mehr ein Abfall vom Werk Gottes zu den eignen Werken hin als selbst ein Werk; und schlecht sind diese eignen Werke, weil sie nach dem Menschen und nicht nach Gott getan sind. So also sind gleich schlechten Früchten die Werke und gleich dem schlechten Baum der Wille selber, der sie tut, und der Mensch, sofern er schlechten Willens ist. Ferner ist dieser schlechte Wille, wenn schon er nicht nach der Natur ist, sondern wider die Natur, da er ein Fehler ist, dennoch an der Natur, deren Fehler er ist und so nicht sein könnte als an der Natur; doch an der Natur, die aus dem Nichts der Schöpfer geschaffen, nicht an der, die er aus sich selbst gezeugt, wie er das Wort gezeugt hat, durch das alles geschaffen ist. Denn wenn auch Gott den Menschen aus Erdenstaub gebildet hat, so ward doch diese Erde wie alle irdischen Dinge aus dem Nichts geschaffen, und auch die Seele, aus dem Nichts geschaffen, gab er dem Körper, da er den Menschen schuf. Aber so sehr ist das Gute stärker als das Böse, daß dies zwar zugelassen ist, damit an ihm und seinem Gebrauch zum Guten die göttliche Vorsehung in ihrer höchsten Gerechtigkeit sich zeige, daß aber, wenn auch das Gute sein kann ohne Böses, wie Gott selbst der Wahre und Höchste und alle himmlische Kreatur über diesem trüben Erdenhimmel, sichtbar und unsichtbar, doch das Böse nicht sein kann ohne das Gute, weil ja die Natur, an der das Böse ist, als Natur selber gut sein muß. Und ferner wird das Böse nicht dadurch fortgeschafft, daß eine neue Natur hinzuträte oder etwas von der Natur hinweggenommen würde, sondern dadurch, daß eine schlecht gemachte und verdorbene Natur geheilt und gebessert wird. So also ist die Wahl des Willens dann wahrhaft frei, wenn er der Sünde nicht dient und dem Bösen. Und ein solcher ist dem Menschen von Gott gegeben worden. Da er ihn aber durch eigenen Fehl verloren, kann er ihm nur von dem zurückgegeben werden, der ihn allein ihm hat geben können. So also spricht die Wahrheit: »Wenn euch der Sohn frei macht, dann werdet ihr in Wahrheit frei sein«. Das aber ist das Gleiche, wie wenn sie sagte: »Wenn euch der Sohn heil macht, dann werdet ihr in Wahrheit heil sein«. Denn wie Befreier, ist er Heiland.

Es lebte also der Mensch nach Gott, im Paradies, das leiblich war und geistig. Nachdem aber jener hoffärtige und eben darum mißgünstige Engel, der aus eben dieser Hoffart sich von Gott weg zu sich selbst gewandt und nun in einer Art Wollust des Herrschens seine Freude lieber darin suchte, Untertanen zu haben, als selber untertan zu sein, aus seinem geistigen Paradies gefallen war, da mühte er sich, verschlagen und verführerisch, in des Menschen Sinn einzuschleichen, weil er es ihm mißgönnte, daß er noch stand, da er gefallen war. Und im leiblichen Paradies, wo mit den beiden Menschen, mit Mann und Weib, auch alle andern Tiere der Erde zahm und ungefährlich weilten, wählte er sich die Schlange, das schlüpfrig schleichende Tier, geeignet zu seinem Werke, daß er aus ihr spreche. Und sie mißbrauchend redete er denn zum Weibe, den Anfang machend beim niedrigeren Teil des Menschenpaars, um von da Schritt um Schritt zum Ganzen zu gelangen und wissend, der Mann werde weniger leichtgläubig sein und sich durch Nachgiebigkeit gegen der andern Irrtum leichter betrügen lassen als durch eignen. Und so hat auch wohl der Mann dem Weibe, der Eine der Einen, der Mensch dem Menschen, der Gatte der Gattin, Gottes Gebot zu übertreten nachgegeben, nicht weil er ihr Wort für wahr gehalten und also sich hat verführen lassen, sondern einzig im Zwang geselliger Gemeinschaft. Denn nicht umsonst sagt der Apostel: »Und Adam ist nicht verführt worden, das Weib aber ist verführt worden«. — Und so also ward Adam nicht verführt, wie das Weib ist verführt worden, aber darin hat er sich getrogen, wie das Urteil lauten werde, wenn er sage: »Das Weib, das du mir gegeben, die gab mir davon, und ich aß«. Wenn auch nicht beide glaubten und so betrogen wurden, so haben doch beide gesündigt und so in des Teufels Fallstrick sich verfangen.

Wenn es nun einem seltsam erscheint, daß durch andere Sünden die menschliche Natur nicht so verändert wird, wie sie durch die Übertretung der beiden ersten Menschen ist verändert worden, zu solcher Verderbnis nämlich, wie wir sie selber sehn und fühlen, daß sie darum dem Tod ist unterworfen und so vielen und so schweren wirren und störenden Leidenschaften, wie es doch im Paradies vor der Sünde nicht gewesen, obwohl auch da der Mensch im natürlich seelischen Körper war — wenn einem das, so sagt ich, seltsam scheint, so darf er jenes Vergehen eben nicht so leicht und läßlich glauben, weil es an einer Speise nur geschehen, die doch nicht schlecht noch schädlich, nur verboten war. Aber Gottes Vorschrift verlangte Gehorsam, und diese Tugend ist in aller vernünftigen Kreatur Mutter und Hüterin aller Tugenden. Denn so ist alle Kreatur geschaffen, daß es ihr nützlich ist zu gehorchen, verderblich aber, den eigenen Willen zu tun und nicht dessen, von dem sie geschaffen ist. Dies Gebot also, von einer einzigen Art von Speise nicht zu essen, da doch der andern soviele zur Verfügung standen, dies Gebot, so leicht zu halten, so kurz zu merken, damals vor allem, da die Lust noch nicht dem Willen widerstrebte, wie es später erst geschah, der Übertretung zur Strafe, dies Gebot zu verletzen war ein um so größres Unrecht, als es leicht hätte beachtet und gehalten werden können. - Im Geheimen begann die Bosheit, um sodann in offenem Ungehorsam auszubrechen. Denn nimmermehr geschähe ein böses Werk, wenn nicht ein böser Wille voranginge. Was anders aber als Stolz kann der Anbeginn eines bösen Werkes sein? Denn »der Anbeginn aller Sünde ist die Hoffart«. Was ist aber die Hoffart, wenn nicht ein Verlangen nach falscher Erhabenheit? Falsch aber ist die Erhabenheit der Seele, wenn sie jenen Urgrund verläßt, dem sie anhangen soll, und gewisserart ihr eigener Urgrund werden und sein will. Das geschieht, wenn sie ein zu großes Wohlgefallen an sich selbst hegt, und das zu große Wohlgefallen steht in ihr auf, wenn sie von dem unwandelbaren Gute abfällt, das ihr mehr gefallen soll als sie sich selbst. Dieser Abfall aber ist freiwillig; denn wäre der Wille standhaft in der Liebe des unwandelbaren höhern Gutes, von dem er erleuchtet wurde, auf daß er sähe, und entzündet, auf daß er liebe: nimmer würde er dann sich davon abkehren, um sich selbst zu gefallen, und darob finster werden und kalt. Und nimmer hätte dann das Weib der Schlange geglaubt, noch der Mann den Willen des Weibes dem Gebot Gottes vorangestellt oder bei sich gemeint, er fehle auf verzeihliche Weise, wenn er die Gefährtin seines Lebens selbst in der Gemeinschaft der Sünde nicht verließe.

Das böse Werk also, jene Übertretung im Genuß der verbotenen Speise, wurde erst dann vollbracht, als sie bereits böse waren. Denn nur einem bösen Baume konnten böse Früchte entsprossen. Daß aber der Baum böse ward, geschah gegen die Natur, da es nur durch die Verderbnis des Willens geschehen konnte, die eben gegen die Natur ist. Wäre der Mensch aber nicht eine Natur gewesen, die aus nichts erschaffen wurde, so konnte er durch kein Übel in Verderbnis geraten. Daß die Natur ist, hat sie daher, daß sie von Gott erschaffen ist; daß sie aber absinkt von dem, was sie ist, hat sie daher, daß sie aus nichts erschaffen ist. Gleichwohl ward der Mensch dadurch, daß er von dem allerhöchsten Sein abfiel, nicht zu nichts aufgelöst, sondern zu sich selbst geneigt, wodurch sein Dasein geringer ward, als es war, da er ihm anhing, der auf allerhöchste Weise ist. Wer also Gott verläßt und in sich selbst ist, das heißt an sich selbst Gefallen hat, der ist deshalb nicht nichts, wohl aber nähert er sich dem Nichts. Deshalb auch werden in den heiligen Schriften die Hoffärtigen auch wohl die Selbstgefälligen genannt. Denn gut ist es, sein Herz zu erheben, jedoch nicht zu sich selbst, was bare Hoffart ist, sondern zum Herrn, was durch den Gehorsam geschieht, dessen nur die Demütigen fähig sind.

Es gibt also eine Verdemütigung, die das Herz auf wunderbare Weise erhebt, und eine Erhebung, die das Herz niederbeugt. Wohl scheint es, als läge darin ein Widerspruch, daß die Erhebung in die Tiefe, die Demut hingegen in die Höhe führt. Doch unterwirft sich ja die fromme Demut dem Höchsten, nichts ist höher als Gott, und darum erhebt uns die Demut, die uns Gott unterwirft. Die falsche Erhebung hingegen fällt gerade dadurch, daß sie diese Unterwürfigkeit verschmäht, von dem ab, der nichts Höheres über sich hat; und dies eben ist der Grund der tiefen Niedrigkeit, in die sie versinkt, und wobei in Erfüllung geht, was geschrieben steht: »Du hast sie niedergeworfen, als sie sich erhoben«. Denn was wohl zu bemerken ist, die Schrift sagt nicht, daß sie sich früher erhoben hätten und dann nach dieser Erhebung erst wären niedergeworfen worden, sondern daß sie niedergeworfen wurden, als sie sich erhoben; denn dies Erheben selbst ist das Niedergeworfenwerden. Deshalb auch wird im Gottesstaat, und gerade in dem noch in dieser Welt pilgernden Gottesstaat die Demut aufs höchste empfohlen und auch in Christo, ihrem König, aufs höchste gepriesen; und umgekehrt lehren die heiligen Schriften, daß das ihr entgegengesetzte Laster der Hoffart ganz vorzüglich in ihrem Widersacher, dem Teufel, herrscht. Und dies fürwahr ist der eigentliche und große Unterschied, der die beiden Staaten, welchen unsere Rede gilt, voneinander scheidet: die Gemeine frommer Menschen von der andern, der Gemeine der Gottlosen, jede mit den ihr zugehörigen Engeln, in denen dort die Liebe Gottes, hier die Eigenliebe zum erstenmal hervortrat.

Nimmer also hätte der Teufel den Menschen durch die offenbare Sünde gefangen, in der Tat wider Gottes Verbot, wenn nicht der Mensch früher angefangen hätte, sich selbst zu gefallen. Daher kam‘s denn auch, daß es ihm schmeichelte, als er hörte: »Ihr werdet sein wie die Götter«. Dies aber hätten sie weit besser sein können, wenn sie dem allerhöchsten und wahren Ursprung alles Seins anhingen und nicht durch ihre Hoffart sich selbst ein Urgrund eigenen Seins hätten werden wollen. Denn die erschaffenen Götter (das heißt die Engel) sind nicht Götter aus eigener Kraft, sondern durch ihre Vereinigung mit dem wahren Gott. Wer aber mehr verlangt als er soll, der wird weniger als er war, da, wer sich selbst zu genügen liebt, von dem sich trennt, der ihm wahrhaft genügen würde. Jenes Übel also, das den Menschen, indem er sich, als wäre er eigenes Licht, selbst gefällt, von jenem Licht abkehrt, durch das er, wenn es ihm gefiele, selbst zu Lichte würde, — hegte er zuerst im Verborgenen, ehe er zu dem Übel überging, das er durch offenbare Tat vollbrachte. Denn wahr ist jener Ausspruch der Schrift: »Vor dem Falle wird das Herz erhoben und vor der Ehre gedemütigt«. Jener Fall nämlich, der im Verborgenen des Herzens geschieht, geht dem Falle voran, der sichtbar geschieht, da man den Fall im geheimen nicht für einen Fall erachtet. Denn wer würde die Erhebung für einen Fall halten? Und doch liegt schon in der Erhebung der Abfall, durch den man vom Allerhöchsten abgelassen hat. Dagegen erscheint es auch dem blöden Auge als ein Fall, wenn das Gebot augenscheinlich und unbezweifelt übertreten wird. Deswegen verbot Gott etwas, das, wenn es begangen wurde, auch nicht durch den geringsten Anschein des Rechttuns konnte verteidigt werden. Ich wage aber zu behaupten, daß es den Hoffärtigen nützlich ist, in irgendeine augenscheinliche und offenbare Sünde zu fallen, damit sie so sich selbst mißfällig werden, die schon gefallen waren in ihrem Selbstbehagen. Denn heilsamer waren dem Petrus seine Tränen, in denen er sich selbst mißfiel, als seine Vermessenheit, worin er sich gefallen hatte. Eben dies spricht auch der heilige Psalm: »Erfülle ihr Antlitz mit Schmach, und sie werden, Herr, deinen Namen suchen«, das will sagen: damit die, die sieh selbst gefielen, ihren eigenen Namen suchend, nunmehr an dir Gefallen finden und deinen Namen suchen mögen.

Schlimmer noch und verdammlicher ist die Hoffart, womit man selbst in offenbaren Sünden den Schutzmantel der Entschuldigung sucht, wie es die ersten Menschen getan haben, von denen der eine sprach: »Die Schlange verführte mich, und ich aß«, der andere aber: »Das Weib, das du mir ge¬geben hast, gab mir die Frucht vom Baume, und ich aß«. Nirgend ertönt hier die Bitte um Verzeihung, nirgend die Anrufung der Arznei. Denn ob sie auch, was sie begangen hatten, nicht leugneten, wie Kain späterhin tat, so suchte dennoch ihre Hoffart auf einen andern zu schieben, was sie selbst verbrochen hatte. Doch vergeblich beschuldigt der Stolz des Weibes die Schlange, vergeblich der Stolz des Mannes das Weib; denn wo die Übertretung des göttlichen Gebotes offenbar ist, klagt, wer sich darüber entschuldigen will, sich vielmehr dadurch selbst an. Denn sie hatten darum nicht minder gesündigt, weil das Weib auf die Überredung der Schlange, der Mann aber auf das Dringen des Weibes die Tat beging, so als ob man irgend etwas anderem eher glauben oder folgen solle als Gott. S.270ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Der ewige Sabbat (Vom Gottesstaat)
Wie groß wird jene Seligkeit sein, da kein Übel mehr sein kann, da kein Gut verborgen bleibt, da alles aufgeht im Lob Gottes, der da allen alles sein wird! Denn was anderes dort getan werde, da man nicht feiert in Trägheit und nicht schafft aus Not, ich weiß es nicht. Ich denke nur des heiligen Liedes, wo ich gehe und höre: »Selig, die in deinem Hause wohnen! In der Ewigkeiten Ewigkeiten werden sie dich rühmen«. Alle Glieder und Eingeweide des unvergänglich gewordenen Leibes, die wir hienieden zu mannigfachem Dienst der Not gewiesen sehen, die werden dort dem Preise Gottes dienen. Denn dort wird keine Not mehr sein, nur volles, reines, sichres, ewiges Glück. Und alles Maß leiblichen Einklangs, das hienieden noch verborgen ist, wird dort nicht mehr verborgen bleiben, drinnen und draußen ganz im Leib geordnet. Und mit all dem Andern, dem Großen, Wunderbaren, das dort geschaut wird, wird der vernunftbegabte Geist entflammen zum Lobpreis eines solchen Künstlers, entzückt von einer Schönheit, aus Vernunft geboren. Wie der verklärte Leib sich dort bewegen wird, so kühn bin ich nicht, das zu sagen, was ich zu denken nicht vermag. Doch wie er sein wird, Bewegung wird er haben und Haltung und Gestalt, ihm angemessen, da nichts sein wird als nur das Angemessene. Wo der Geist will, da wird der Leib mit einem sein; aber es wird der Geist nicht wollen, was dem Geist nicht ziemt noch auch dem Leib. Und reines Lob wird dort sein, wo lobt, der nicht irren und nicht schmeicheln kann; und reine Ehre, die keinem Würdigen versagt und keinem Minderwürdigen gegeben wird; denn auch kein Minderwürdiger wird danach greifen, wo nur der Würdige ist und sein darf; und reiner Friede, wo keiner, nicht von sich und nicht von andern, Feindliches erfährt. Der Lohn der Tugend wird er selbst sein, der die Tugend gab und ihr zum Lohn sich selbst versprochen hat, den reinsten, den es geben kann, und größten Lohn. Denn da er durch den Mund des Propheten sagt: »Ich werde ihr Gott sein und sie mein Volk«, ist es nicht, als ob er sagte: Ich bin es, was sie sättigt, ich bin es, was in Ehren die Menschen sich verlangen, Leben und Wohlergehen und Nahrung und Reichtum und Ruhm und Ehre und Friede und alles Gut? Und so auch nur ist zu verstehn, was der Apostel sagt: »Auf daß Gott alles sei in allem«. Und er wird unsrer Sehnsucht Ende sein, der ohne Ende dort geschaut wird, ohne Ekel dort geliebt wird, ohne Müdigkeit gepriesen wird. Und diese Gabe, diese Glut und diese Tat, die werden wie das ewige Leben selbst gemeinsam allen sein.

Wie sich dort droben je nach Verdienst und Lohn der Seligen Ehre und Herrlichkeit abstufen wird, wer ist so stark, sich das zu denken, um wieviel mehr, zu sagen? Doch daß es also sein wird, daran ist nicht zu zweifeln. Und das auch wird die selige Stadt dort in sich selber sehen, gar groß und gut, daß kein Niedriger den Höheren beneidet, wie jetzt auch kein Engel einen Erzengel beneidet. Keiner wird sein wollen, was ihm nicht gegeben ist, und wird mit dem doch, dem‘s gegeben ist, verbunden sein in engster friedevollster Eintracht, so wie am Leib das Auge nicht sein will was der Finger, weil beide Glieder ja im Leib und seiner friedevollen Einheit leben. So also, hat er eine Gabe, kleiner als der andre, hat er die Gabe doch, nicht mehr zu wollen.

Und wenn auch die Sünde die Seligen nicht mehr ergötzen kann, so haben sie deshalb doch einen freien Willen. Um so mehr wird der Wille frei sein, da er von der Lust der Sünde befreit ist bis zur unbeirrbaren Lust, nicht zu sündigen. Der erste freie Wille, der dem Menschen gegeben ward, als er zuerst und recht geschaffen wurde, vermochte, nicht zu sündigen, doch vermochte er auch zu sündigen; dieser letzte freie Wille wird um so stärker sein, als er nicht mehr vermag zu sündigen. Das aber ist Gottes Gnadengabe und nicht die Kraft der eigenen Natur. Denn ein andres ist es, Gott zu sein, und ein andres, teilzuhaben an Gott. Gott kann von Natur nicht sündigen; der an ihm teil hat, hat‘s von ihm empfangen, daß er nicht sündigen kann. So also gab es Stufen in dieser Gnadengabe Gottes: zuerst sollte ein freier Wille verliehen werden, durch den der Mensch vermochte, nicht zu sündigen, zuletzt ein freier Wille, durch den er nicht vermochte zu sündigen; der eine zur Erwerbung des Verdienstes, der andre zum Empfang des Lohns. Aber da des Menschen Natur gesündigt hat, als sie sündigen konnte, so war die Gnade der Erlösung um so reicher, die ihn zur Freiheit führte, da er nicht mehr sündigen kann. Denn wie es die erste Unsterblichkeit, die Adam sündigend verlor, gewesen ist, daß er hätte nicht sterben können, und die letzte sein wird, daß er sterben nicht mehr kann, so war es der erste freie Wille, daß er nicht sündigen konnte, der letzte, daß er sündigen nicht kann. Denn so wird der Wille zur Gottesfurcht und zur Gerechtigkeit unverlierbar sein, wie der Wille zum Glück es ist. Denn da wir sündigten, konnten wir die Gottseligkeit nicht bewahren noch das Glück; den Willen zum Glück aber haben wir nicht verloren, da wir das Glück verloren. Gott vermag nicht zu sündigen; ist aber deshalb sein freier Wille zu leugnen?

Es wird also in jenem Staat der freie Wille allen gemeinsam und dem einzelnen unzertrennlich verbunden sein, von allem Bösen frei und alles Guten voll, ohn Unterlaß die Labsal der Freuden genießend, aller Schuld vergessend und aller Strafe vergessend und doch nicht vergessend seiner Erlösung, auf daß er dem Erlöser nicht undankbar sei; soweit es die vernunftgemäße Erkenntnis berührt, auch eingedenk seiner vergangenen Übel, soweit es aber die Erfahrung der Sinne berührt, auch deren völlig vergessend. Ihm wird es sein wie dem erfahrenen Arzt, der alle Krankheiten des Leibes kennt, wie der Beruf sie kennen kann, die meisten aber, wie der Leib sie fühlt, nicht kennt, da er an ihnen nicht gelitten hat. Wie es also zweierlei Kenntnis des Übels gibt, eine, die der reinen Kraft des Geistes gegeben ist, die andre, die in der Erfahrung der Sinne ruht — anders ist ja die Kenntnis des Lasters in der Wissenschaft des Weisen, anders im eignen schlechten Leben des Unweisen —, so gibt es auch zweierlei Vergessen des Übels. Anders vergißt es, der es wissenschaftlich und verstandesmäßig kennengelernt, anders, der es selbst erfahren und erlitten hat; jener, wenn er sein Wissen vergißt, dieser, wenn er am eignen Leib das Elend nicht mehr fühlt. Nach diesem letzteren Vergessen werden auch die Heiligen das Elend vergessen haben; sie fühlen es nicht mehr, und es wird ganz aus ihren Sinnen getilgt sein. In der Kraft des Wissens aber, die groß in ihnen sein wird, werden sie nicht nur das eigene vergangene, sondern auch das ewige Elend der Verdammten kennen. Denn wüßten sie nicht mehr, wie sie elend gewesen, wie sollten sie dann, wie der Psalm sagt, »die Erbarmungen des Herrn in Ewigkeit besingen«? Ja es wird dieser Lobpreis der Gnade Christi, in dessen Blut sie erlöst sind, die größte Wonne jenes Staates sein. Und so erfüllt sich, was geschrieben steht: »Feiert und sehet, daß ich Gott bin «!

Und das wird dann in Wahrheit der große Sabbat sein, der keinen Abend hat, den Gott verheißen, da er an der Welt die ersten Werke tat, da geschrieben ist: »Und es ruhete Gott am siebenten Tag von allen seinen Werken, die er tat, und es segnete Gott den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm geruht hat von allen seinen Werken, die Gott getan«. Denn der siebente Tag, der werden auch wir sein, wenn wir voll sein werden und heil von seinem Segen und von seiner Heiligung. Dort werden wir feiern und sehen, daß er der Gott ist, der wir uns selbst sein wollten, da wir von ihm fielen und auf die Worte des Verführers hörten:
»Ihr werdet sein wie Götter«, und vom wahren Gott weggingen, durch dessen Werk wir Götter sein sollten, teilnehmend an ihm, nicht ihn verlassend. Denn was haben wir ohne ihn getan, als daß wir zugrunde gingen in seinem Zorn? Aber aufgerichtet von ihm und in größerer Gnade vollendet werden wir nun feiern in Ewigkeit und sehen, daß er selber Gott ist, dessen voll wir sein werden, da er selber alles sein wird in allem. Und wir werden begreifen, daß auch unsre guten Werke mehr seine Werke sind als unsre, die uns nun angerechnet werden, den ewigen Sabbat zu gewinnen. Knechtisch wären diese Werke, würden wir sie uns selber zurechnen, und heißt es doch von diesem Sabbat: »Kein knechtisches Werk sollt ihr verrichten«. Und so auch spricht der Herr durch seinen Propheten Ezechiel: »Und meinen Sabbat hab ich ihnen gegeben zu einem Zeichen zwischen mir und ihnen, damit sie wissen, daß ich der Herr bin, der ich sie heilige«. Das werden wir dann in Vollkommenheit erkennen, wenn wir in Vollkommenheit feiern werden und in Vollkommenheit sehen werden, daß er Gott ist.

Auch die Zahl der Weltalter, gleichsam der Welttage, wenn man nämlich nach jenen Zeitabschnitten rechnet, die in der heiligen Schrift gegeben sind, verkündet deutlich jene Sabbatruhe. Denn der siebente Tag wird jene Zeit sein. Das erste Weltalter, der erste Welttag gleichsam, reicht von Adam bis zur Sintflut, der zweite bis Abraham, beide ungleich an Dauer, doch gleich nach der Zahl der Geschlechter, deren zehn in jedem gezählt werden. Darauf nun bis zu Christi Ankunft folgen die von Matthäus dem Evangelisten gezählten drei Weltalter, jedes vierzehn Geschlechter fassend: eins von Abraham bis David, das andre bis zur babylonischen Gefangenschaft, das dritte bis zu Christi Geburt im Fleische. Dies sind zusammen fünf Weltalter. Im sechsten nun leben wir jetzt, das durch eine Geschlechterzahl nicht zu messen ist, wie denn geschrieben steht: »Es ist nicht eure Sache, die Zeit zu wissen, die der Vater gesetzt hat in seiner Macht«. Danach aber wird Gott gleichsam als am siebenten Tage ruhen, da er eben diesen siebenten Tag, worin wir sein werden, in sich selbst wird ruhen lassen. Von diesen einzelnen Weltaltern jetzt genau zu handeln führte uns zu weit. Dieser siebente Tag aber wird unser Sabbat sein, und sein Ende wird kein Abend sein, sondern der Tag des Herrn, der ewige achte Tag gleichsam, der durch Christi Auferstehung geheiligt ist und der die ewige Ruhe vorbildet nicht nur des Geistes, sondern auch des Leibes. Dort werden wir feiern und werden sehen, werden sehen und werden lieben, werden lieben und werden preisen. Siehe und das wird sein am Ende ohne Ende. Denn was wird unser Ende sein als zum Reich zu kommen, das kein Ende nimmt?

Ich glaube, ich habe mit dem Beistand des Herrn der Aufgabe, die dieses ungeheure Werk mir gestellt hat, genug getan. Wem zu wenig oder wem zu viel gesagt ist: sie mögen Nachsicht mit mir haben. Wem aber genug damit geschehen ist, der freue sich mit mir und danke, nicht mir, sondern Gott mit mir. Amen. Amen S.145ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 80, Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Vom Tode
Vom Gottesstaat: Dreizehntes Buch
Der Sündenfall des ersten Menschen zog als Strafe für ihn und das aus ihm hervorgehende Menschengeschlecht den Tod des Leibes, der Seele und den sogenannten zweiten Tod nach sich. Man kann den leiblichen Tod nicht mit den Platonikern als Befreier der Seele feiern und ihm die Bedeutung eines Übels absprechen. Die Verbindung von Leib und Seele ist vielmehr naturgemäß und nur infolge der über den Leib verhängten Sündenstrafen ein Hindernis der Glückseligkeit der Seele. Der Leib der Stammeltern war ein seelischer, der Nahrung bedürftig, durch den Lebensbaum vor dem Verfall geschützt; er war nicht ein geistiger Leib, wie der der Heiligen nach der Auferstehung sein wird.

1. Von dem Fall der ersten Menschen und dessen Folge, dem Tod.

Nachdem nun die äußerst verwickelten Fragen über die Entstehung unserer Welt und den Anfang des Menschengeschlechtes erledigt sind, verlangt es die natürliche Reihenfolge, dass wir die Erörterung über den Fall des ersten Menschen oder richtiger der ersten Menschen und über den Ursprung und die Fortpflanzung des Todes unter den Menschen wieder aufnehmen, Nicht wie die Engel ja, unsterblich auch für den Fall des Sündigens, hatte Gott die Menschen erschaffen; vielmehr sollte ihnen, wenn sie der Pflicht des Gehorsams nachkämen, ohne Dazwischentreten des Todes die Unsterblichkeit und glückselige Ewigkeit der Engel zuteil werden, bei Ungehorsam dagegen der Tod sie treffen durch gerechte Verurteilung, wie schon im vorigen Buche erwähnt worden ist.

2. Von dem Tod, der die Seele trotz ihrem ewigen Leben treffen kann, und dem Tode, dem der Leib verfallen ist.

Jedoch über die Arten des Todes muss ich etwas eingehender handeln. Es gibt nämlich auch einen Seelentod, obwohl man die menschliche Seele mit Recht als unsterblich bezeichnet. Denn unsterblich heißt sie deshalb, weil sie nicht aufhört zu leben und zu empfinden, wenn auch in noch so geringem Grade; der Leib dagegen heißt sterblich deshalb, weil er alles Lebens verlustig gehen kann und durch sich selbst überhaupt nicht lebt. Der Tod der Seele nun also tritt ein, wenn Gott sie verlässt, wie der des Leibes, wenn ihn die Seele verlässt. Also tritt der Tod beider und somit des ganzen Menschen ein, wenn eine von Gott verlassene Seele den Leib verlässt. In diesem Falle hat weder die Seele ihr Leben aus Gott noch der Leib das seine aus der Seele. Diesem Tod des ganzen Menschen folgt alsdann der, den göttliche Aussprüche als den zweiten Tod bekräftigen (Off. 2 11; 21, 8 ). Ihn hat der Erlöser gemeint bei dem Worte (Matth. 10, 28): »Fürchtet den, der Macht hat, Leib und Seele ins Verderben der Hölle zu stürzen«. Da dies erst nach der unzertrennlichen Vereinigung des Leibes mit der Seele geschehen kann, so mag es sonderbar erscheinen, dass man von einem Tode des Leibes spricht, wo doch der Leib nicht von der Seele verlassen, sondern als beseelt und mit Empfindung begabt gepeinigt wird. Denn bei jener letzten und ewigen Strafe, von welcher in anderem Zusammenhang eingehender zu handeln ist, kann man wohl von einem Tod der Seele sprechen, weil sie nicht aus Gott lebt, aber von einem Tod des Leibes, das ist merkwürdig, da der Leib doch durch die Seele belebt wird. Sonst könnte er ja die leiblichen Peinen nicht fühlen, die nach der Auferstehung eintreten werden. Vielleicht darf man dem Leibe, wenn sich in ihm die Seele nicht des Lebens halber, sondern der Pein halber befindet, das Leben deshalb absprechen, weil das Leben immerhin noch ein Gut, die Pein ein Übel ist.

Die Seele lebt also aus Gott, wenn sie gut lebt; sie vermag ja nur gut zu leben, wenn Gott in ihr das Gute wirkt; der Leib dagegen lebt durch die Kraft der Seele, wenn die Seele im Leibe lebt, gleichviel ob sie selbst aus Gott lebt oder nicht. Das Leben der Gottlosen in ihren Leibern ist eben nicht ein Leben ihrer Seelen, sondern ihrer Leiber; und ein solches können auch die toten, d. i. gottverlassenen Seelen mitteilen, da deren Eigenleben, auf dem auch ihre Unsterblichkeit beruht, nicht aufhört, mag es auch noch so schwach sein. Jedoch im Zustand der schließlichen Verdammnis wird dieses Leben nicht mit Unrecht als Tod und nicht mehr als Leben bezeichnet, obwohl der Mensch da immer noch Empfindung hat; denn diese Empfindung ist nicht durch Lustgefühl angenehm noch durch Ruhe heilwirksam, sondern durch Schmerz peinvoll. Und als zweiter Tod wird dieses Leben bezeichnet, weil es eintritt nach dem ersten Tod, durch den die Trennung der zusammenhängenden Naturen, sei es Gottes und der Seele oder der Seele und des Leibes, herbeigeführt wird. Von dem ersten Tode des Leibes kann man daher sagen, dass er für die Guten gut sei, für die Bösen schlimm; der zweite dagegen ohne Zweifel ist für niemand gut, trifft aber auch keinen Guten.

3. Ist der durch die Sünde der ersten Menschen auf alle Menschen übergegangene Tod auch bei den Heiligen – Sündenstrafe?

Ist aber wirklich der Tod, durch den Seele und Leib sich trennen, für die Guten etwas Gutes? Die Frage heischt eine Lösung; denn wie kann bei dieser Annahme bestehen, dass auch der Guten Tod eine Sündenstrafe ist? Die ersten Menschen hätten sich ja den Tod nicht zugezogen, wenn sie nicht gesündigt hätten. Wie kann also der Tod, der nur Böse treffen konnte, für die Guten etwas Gutes sein?

Er sollte vielmehr, wenn er nur Böse treffen konnte, für die Guten nicht gut, sondern überhaupt nicht vorhanden sein. Warum eine Strafe, wo nichts Strafbares! Man muss also annehmen und zugeben, es seien zwar die ersten Menschen als solche so erschaffen worden, dass sie keine Art von Tod erfahren hätten, wenn sie nicht gesündigt hätten; als erste Sünder aber seien sie mit dem Tod in der Weise bestraft worden, dass auch all das, was aus ihrem Stamm hervorsprossen würde, derselben Strafe verfallen sein sollte. Denn nur Wesensgleiches sollte aus ihnen hervorgehen. Ihre Natur eben ward gemäß der Größe der Schuld durch das Strafurteil verschlechtert, und so sollte bei ihrer gesamten Nachkommenschaft schon von Natur aus erfolgen, was bei ihnen zuerst eingetreten war als Strafe.

Denn Mensch aus Mensch ist nicht Mensch aus Staub. Der Staub war der Stoff für den zu erschaffenden Menschen; für den zu erzeugenden ist der Mensch Erzeuger. Demnach ist der Leib etwas anderes als die Erde, obwohl er aus Erde gebildet ist; dagegen ist der menschliche Spross dasselbe wie sein menschlicher Erzeuger.

Das ganze Menschengeschlecht, das durch das Weib hervorgebracht werden sollte, war im ersten Menschen vorhanden, als jenes Ehepaar von dem Strafurteil Gottes getroffen wurde; und was der Mensch geworden ist, nicht bei der Schöpfung, sondern infolge von Sünde und Strafe, das ist auch seine Nachkommenschaft, wenigstens soweit Ursprung von Sünde und Tod in Betracht kommt. Denn in den Zustand kindlicher Unbehilflichkeit und Unentwickeltheit des Geistes und Leibes wie bei kleinen Kindern wurde er durch Sünde und Strafe nicht versetzt (so sollten sich nach Gottes Willen die Anfänge von Jungen gestalten, deren Eltern er herabgestürzt hatte zu einem tierischen Leben und Tode, wie es denn heißt (Ps. 48, 13): »Der Mensch, da er in Ehren war, erkannte es nicht; er ward gleichgestellt den unverständigen Tieren und ist ihnen ähnlich geworden«, nur dass die kleinen Kinder offensichtlich noch unbehilflicher sind in Gebrauch und Bewegung ihrer Glieder und in ihrem Strebe- und Meidevermögen als selbst die zartesten Jungen anderer Lebewesen, gleich als sollte des Menschen Kraft um so gewaltiger über die andern Lebewesen emporschnellen, je mehr sie ihre Wucht zurückhält wie ein beim Spannen des Bogens zurückgezogener Pfeil) ; - also nicht zu so kindlichen Ansätzen sank der erste Mensch oder ward er herabgestoßen durch seine unerlaubte Überhebung und das gerechte Strafurteil, sondern dahin wurde in ihm die menschliche Natur verschlechtert und verändert, dass er in seinen Gliedern einen widerspenstigen Ungehorsam des Begehrens zu erdulden hatte und dem Zwang des Todes anheim fiel; und so sollte er das auch zeugen, was er durch Fehl und Strafe geworden war, nämlich Wesen, die der Sünde und dem Tod unterworfen sind.

Werden Kinder von dieser Sündenfessel durch Christi des Mittlers Gnade befreit, so können sie nur den einen Tod erdulden, der die Seele vom Leibe trennt; in den zweiten Tod mit seiner endlosen Pein verfallen sie nicht. da sie befreit sind von der Schuld der Sünde.

4. Warum bleibt der Tod, die Strafe der Sünde, denen nicht erspart, die von der Sünde befreit worden sind durch die Gnade der Wiedergeburt?

Wenn nun der leibliche Tod ebenfalls Strafe der Sünde ist, so mag man sich wundern, warum auch nur ihn zu erdulden haben die, deren Schuld durch die Gnade getilgt ist. Ich habe die Frage behandelt und gelöst in einem andern Werk, in dem Werk über die Kindertaufe (De peccatorum meritis ac remissione et de baptismo parvulorum, L. II c. 30-34). Dort wurde ausgeführt, dass der Seele das Erleiden der Trennung vom Leibe trotz Hinwegnahme der Schuld deshalb noch vorbehalten bleibe, weil sonst, wenn die Unsterblichkeit des Leibes die unmittelbare Folge des Sakramentes der Wiedergeburt wäre, der Glaube entkräftet würde, der eben nur dann Glaube ist, wenn man in Hoffnung erwartet, was man in Wirklichkeit noch nicht schaut. Durch des Glaubens Kraft und Kampf aber sollte, wenigstens in den vorgerückteren Jahren, auch die Todesfurcht überwunden werden, was sich am glänzendsten bei den heiligen Märtyrern zeigte. Aller Sieg, aller Ruhm dieses Kampfes wäre dahin (da es ja selbst einen Kampf überhaupt nicht gäbe), wenn nach dem Bad der Wiedergeburt die nun Geheiligten dem leiblichen Tod entrückt wären.

Und gar den kleinen Täuflingen würde man in erster Linie deshalb die Gnade Christi zu sichern eilen, damit sie sich dem Leibe verbinde. Und so könnte sich der Glaube nicht an einer unsichtbaren Gabe erweisen, ja er wäre gar kein Glaube mehr, da er sofort Lohn für sein Werk suchte und hinnähme. Allein wie die Sache steht, ist die Strafe der Sünde umgekehrt in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt worden durch eine noch größere und wunderbarere Gnade des Erlösers. Damals vernahm der Mensch: »Dem Tode bist du verfallen, wenn du sündigst«; der Märtyrer vernimmt; »Geh in den Tod, damit du nicht sündigst«. Damals hieß es: »Wenn ihr das Gebot übertretet, werdet ihr des Todes sterben«; jetzt heißt es: »Wenn ihr euch dem Tod entzieht, übertretet. ihr das Gebot«. Was man damals so stark hätte fürchten sollen, dass man sich der Sünde enthielt, muss man jetzt auf sich nehmen, um der Sünde zu entgehen.

So wandelt sich durch Gottes unaussprechliches Erbarmen selbst die Strafe der Sünden in Waffen der Tugend, und Verdienst des Gerechten wird, was über den Sünder als Strafe verhängt ward. Damals zog man sich das Sterben zu durch die Sünde, jetzt erfüllt man das Maß der Gerechtigkeit durch Sterben. In der Tat trifft das zu bei den heiligen Märtyrern, denen vom Verfolger nur die Wahl gelassen wird, vom Glauben abzufallen oder den Tod zu erleiden. Und die Gerechten ziehen es vor, um des Glaubens willen das zu erdulden, was die ersten Ungerechten um ihres Unglaubens willen erduldet haben. Hätten diese nicht gesündigt, so wären sie nicht gestorben, dagegen würden jene sündigen, wenn sie nicht stürben, Die einen sind also gestorben, weil sie gesündigt haben, die andern sündigen nicht, weil sie sterben. Durch die Schuld der einen geschah es, dass es zur Pein kam, durch die Pein der andern geschieht es, dass es nicht zur Schuld kommt; nicht als wäre der Tod, vorher ein Übel, in ein Gut verwandelt worden, sondern. Gott hat dem Glauben die große Gnade verliehen, dass der Tod, der offenkundige Gegensatz des Lebens, zum Mittel wurde, ins Leben einzugehen.

5. Wie das Gesetz, obwohl es gut ist, den Ungerechten zum Übel, so gereicht der Tod, obwohl ein Übel, den, Gerechten zum Guten.

Um zu zeigen, welche Wucht zu schaden der Sünde innewohnt, wenn nicht die Gnade zu Hilfe kommt, trug der Apostel kein Bedenken, selbst das Gesetz, das doch der Sünde wehrt, als die Kraft der Sünde zu bezeichnen. »Der Stachel des Todes«, sagt er (1 Kor. 15, 56), »ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber das Gesetz«. So wahr wie nur etwas! Das Verbot steigert das Verlangen nach dem unerlaubten Werk, wofern man nicht die Gerechtigkeit so sehr liebt, dass das Wohlgefallen an ihr das sündhafte Begehren überwindet.

Aber nur mit Hilfe der göttlichen Gnade vermag man die wahre Gerechtigkeit mit Liebe und Wohlgefallen zu umfassen. Damit indes das Gesetz nicht für ein Übel gehalten werde, da es als die Kraft der Sünde bezeichnet ward, sagt der Apostel selbst an anderer Stelle (Röm. 7, 12f.), wo er über diese Frage handelt: »Daher ist das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut. Ist also das Gute mir zum Tode geworden? Gewiß nicht. Sondern die Sünde, damit sie als Sünde offenbar würde, hat durch das Gute mir den Tod bewirkt, damit ein Sünder oder eine Sünde über die Maßen erwachse durch das Gebot«. »Über die Maßen«, sagt er, weil nun auch noch die Übertretung hinzukommt, indem aus verstärktem sündhaften Begehren auch noch das Gesetz verachtet wird. Warum ich das hereinziehe? Der Vergleichung halber; denn so wenig das Gesetz ein Übel ist deshalb, weil es die Begehrlichkeit der Sünder steigert, so wenig ist der Tod deshalb ein Gut, weil er die Herrlichkeit der Dulder steigert. Jenes wird beiseite gesetzt der Ungerechtigkeit zuliebe und erzeugt so Übertreter; dieser wird übernommen der Wahrheit zuliebe und erzeugt so Märtyrer. Und demnach ist das Gesetz gut, weil es Wehr ist wider die Sünde, und der Tod schlimm, weil er Sold ist der Sünde; aber wie die Ungerechten nicht nur die Übel, sondern auch die Güter übel anwenden, so machen die Gerechten nicht bloß von den Gütern, sondern auch von den Übeln einen guten Gebrauch. Daher kommt es, dass den Bösen das Gesetz zum Bösen dient, obwohl es, ein Gut ist, und die Guten gut zu sterben wissen, obwohl der Tod ein Übel ist.

6. Von dem Übel des Todes im allgemeinen, sofern dadurch die Gemeinschaft von Seele und Leib aufgehoben wird.

Was also den leiblichen Tod betrifft, die Trennung der Seele vom Leibe, so ist er für niemand gut, weshalb man auch von den Sterbenden sagt, dass sie ihn erdulden. Er trägt Bitternis in sich, und wider die Natur geht gerade die Gewaltsamkeit, womit beides auseinandergerissen wird, was im Lebenden innig verbunden war; und das währt so lange, bis alle Empfindung dahingeschwunden ist, die vorhanden war eben infolge der Verbindung von Seele und Leib. Zuweilen überhebt ein einziger körperlicher Schlag oder plötzliches Entfliehen der Seele dieser ganzen Beschwernis und lässt sie nicht in die Empfindung treten, weil es so schnell geht. Was immer es aber sei, was bei den Sterbenden unter bitterer Empfindung die Empfindungskraft dahin nimmt, fromm und getreu ertragen, vermehrt es das Verdienst der Geduld, ohne freilich deshalb den Charakter der Strafe zu verlieren. So wird der Tod, obwohl ohne Zweifel eine Strafe für den Erdgeborenen, herrührend von der ununterbrochen sich fortpflanzenden Abstammung vom ersten Menschen, für den Wiedergeborenen ein Herrlichkeitsgrund, wenn man die Schuld bezahlt in Hingebung und um der Gerechtigkeit willen; und zuweilen bewirkt der Tod, obwohl er die Vergeltung der Sünde ist, dass die Sünde ohne Vergeltung bleibt.

7. Von dem Tode, den Ungetaufte um des Bekenntnisses Christi willen auf sich nehmen.

Denn für alle die, die selbst ohne das Bad der Wiedergeburt um des Bekenntnisses Christi willen sterben, hat der Tod eine solche Kraft der Sündenvergebung, als wenn sie im heiligen Taufbrunnen abgewaschen worden wären. Der da gesagt hat (Joh. 3, 5). »Wenn einer nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Geiste, wird er nicht eingehen ins Himmelreich«, hat mit jenen eine Ausnahme gemacht in einem andern Ausspruch. worin es ebenfalls ohne Einschränkung heißt (Matth. 10, 32): »Wer mich bekennt vor den Menschen, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater, der im Himmel ist«; und an einer andern Stelle sagt er (Matth. 16, 25): »Wer seine Seele verliert um meinetwillen, der wird sie finden«.

In diesem Sinne steht auch geschrieben (Ps. 115, 15): »Kostbar in den Augen des Herrn ist der Tod seiner Heiligen«. Was wäre auch kostbarer als ein Tod, durch den Nachlass aller Sünden und reichliche Mehrung der Verdienste bewirkt wird? Entschieden größer ja als das Verdienst derer, die im Angesicht des unvermeidlichen Todes sich taufen ließen und so nach Tilgung aller Sünden aus diesem Leben schieden, ist das Verdienst derer, die den Tod, obwohl sie es in ihrer Gewalt gehabt, nicht vermieden, weil sie lieber im Bekenntnis Christi ihr Leben beschließen, als unter Leugnung Christi zur Taufe auf ihn gelangen wollten. Hätten sie es so gemacht, so wäre ihnen natürlich auch ihre aus Todesfurcht entsprungene Leugnung Christi nachgelassen worden durch das Bad, das selbst einen so ungeheuren Frevel wie die Tötung Christi zu tilgen vermochte.

Jedoch wie hätten sie ohne überreiche Gnade jenes Geistes, der da weht, wo er will (Joh. 3, 8), Christum so sehr lieben können, dass sie es trotz unmittelbarer Lebensgefahr, trotz großer Hoffnung auf Verzeihung nicht übers Herz brachten, ihn zu verleugnen? Der kostbare Tod der Heiligen, für die der Tod Christi mit solcher Gnadenfülle vorausgeschickt und vorausgeleistet ward, dass sie unbedenklich ihren eigenen Tod daran wendeten, um Christum zu erwerben, zeigte also das, was ursprünglich zur Strafe für die Sünde bestimmt war, in einer Weise zur Verwendung gebracht, daß daraus reichlichere Frucht der Gerechtigkeit entsprang. Der Tod ist also deshalb noch nicht als ein Gut zu betrachten, weil er unter Gottes Beistand, nicht aus sich selbst, zu so gedeihlichem Nutzen gewendet ward; er, der seinerzeit als Schreckmittel vor Augen gestellt worden, damit die Sünde nicht begangen würde, steht jetzt vor Augen als etwas, was man auf sich nimmt mit dem Erfolg, dass keine Sünde begangen, begangene Sünde getilgt und herrlichem Siege die gebührende Palme der Gerechtigkeit verliehen wird.

8. Bei den Heiligen ist die Übernahme des ersten Todes für die Wahrheit die Vernichtung des zweiten Todes

Sehen wir nämlich genauer zu, so zeigt sich, dass der Tod sogar vermieden wird, wenn man für die Wahrheit treu und rühmlich stirbt. Man nimmt da etwas vom Tode auf sich, damit nicht der völlige Tod eintrete und, der zweite, der endlose, überdies hinzukomme. Man nimmt auf sich die Trennung der Seele vom Leib, damit nicht nach Trennung Gottes von der Seele doch auch noch die Seele vom Leibe getrennt werde und so der erste Tod den ganzen Menschen erfasse und nach die¬sem der zweite, ewige eintrete. Darum ist der Tod allerdings, wie gesagt, für niemand gilt in dem Augenblick. da man ihn sterbend erduldet und er in den Sterbenden das Sterben bewirkt, sondern er wird etwa rühmlich ertragen zur Festhaltung oder Erreichung eines Gutes; wohl aber bezeichnet man ihn nicht unpassend als schlecht für die Schlechten und als gut für die Guten, wenn man die bereits Verstorbenen ins Auge fasst, die im Zustand des Todes weilen. Denn die Seelen der Frommen befinden sich nach der Trennung vom Leibe in Ruhe, die der Gottlosen dagegen erleiden Strafe, bis die Leiber wieder aufleben, die der einen zum ewigen Leben, die der andern zu dem ewigen Tode, der der zweite heißt.

9. Bezieht sich der Ausdruck Todeszeit als einer Zeit, in der das Empfindungsleben dahinschwindet, auf Sterbende oder Verstorbene?
Indes, wie soll man die Zeit, da die vom Leibe getrennten Seelen sich wohl oder übel befinden, eigentlich bezeichnen? als nach dem Tode oder als im Tode? Wenn nach dem Tode, so ist nicht der Tod, der ja dann vorüber ist und der Vergangenheit angehört, sondern das nach ihm eintretende dermalige Leben für die Seele gut oder schlimm. Der Tod dagegen war für sie schlimm, als er da war, d. i. als sie ihn erduldeten, beim Sterben, weil sich da seine Bitterkeit und Beschwernis fühlbar machte; ein Übel, das die Guten zum Guten wenden. Aber der vorübergegangene Tod kann doch nicht gut oder schlimm sein; er ist ja überhaupt nicht mehr da. Ja, wenn wir noch genauer zusehen, stellt sich heraus, daß es der Tod gar nicht ist, der sich durch Bitterkeit und Beschwernis, wie gesagt, fühlbar macht in den Sterbenden.

Denn solang sie Gefühl und Empfindung haben, leben sie ja noch, und wenn sie noch leben, so wird man sagen müssen, dass sie sich nicht im Tode, sondern vor dem Tode befinden; denn wenn der Tod kommt, so hebt er jede leibliche Empfindung auf, die bei seinem Herannahen beschwerlich ist. Es ist darum schwer zu sagen, warum wir Sterbende nennen die, die noch nicht gestorben sind, sondern bei herannahendem Tode nur erst von der letzten und tödlichen Angst hin und her getrieben werden. Und doch nennt man sie mit Recht so, weil sie, wenn der schon bevorstehende Tod einmal gekommen ist, nicht Sterbende, sondern Verstorbene heißen.

Nur ein Lebender also kann ein Sterbender sein; denn wir sagen, wenn einer bereits mit dem Tode ringt, dass er im Begriffe sei, seine Seele aufzugeben, und wer noch seine Seele hat, lebt noch. Also ist ein und derselbe zugleich sterbend und lebend, jedoch dem Tode nahe, vom Leben scheidend, immerhin aber noch am Leben, weil die Seele noch im Leibe ist, noch nicht im Tode, weil sie vom Leib noch nicht geschieden ist. Wenn er sich nun nach deren Scheiden auch nicht im Tode, sondern vielmehr nach dem Tode befindet, wann kann man ihn dann im Tode befindlich nennen? Es ist ja eigentlich auch niemand ein Sterbender, wenn niemand ein Sterbender und Lebender zugleich sein kann. Solang die Seele in seinem Leibe ist, lebt er doch unleugbar, Oder wenn man einen, in dessen Leibe sich schon der Tod vorbereitet, einen Sterbenden nennen muss, und niemand zugleich ein Lebender und ein Sterbender sein kann, so weiß ich nicht, wann er ein Lebender ist.

10. Das Leben der Sterblichen ist mehr ein Sterben als ein Leben.

Vom ersten Augenblick an, da man sich im sterblichen Leibe befindet, geht nämlich im Menschen stetig etwas vor, was zum Tode führt. Die Wandelbarkeit arbeitet die ganze Zeit des irdischen Lebens daran, (wenn man denn dieses überhaupt Leben nennen soll), dass man zu Tode kommt. Ihm ist jeder nach einem Jahre näher, als er vor einem Jahre war, näher morgen als heute und heute als gestern, näher kurz nachher als jetzt und jetzt als kurz vorher. Jede Spanne Lebenszeit verkürzt die Lebensdauer, und der Rest wird kleiner und kleiner mit jedem Tag, und die ganze Lebenszeit ist so weiter nichts als ein Todeslauf, bei dem niemand auch nur ein wenig innehalten oder etwas langsamer gehen darf; vielmehr werden alle in gleichem Schritt gedrängt und alle zu gleicher Eile angetrieben. Denn der mit kürzerem Leben hat den Tag nicht rascher verlebt als der mit längerem; gleichmäßig vielmehr und gleich lang eilten beiden die Augenblicke dahin, nur dass das Ziel, dem beide mit gleicher Schnelligkeit zueilten, für den einen näher lag als für den andern. Einen längeren Marsch zurücklegen heißt aber nicht langsamer marschieren. Wer also bis zu seinem Tode einen längeren Zeitraum durchmisst, geht nicht langsamer, sondern legt nur einen weiteren Weg zurück, Wenn man nun zu sterben, d, h, im Tode befindlich zu sein beginnt von dem Augenblick an, da in einem der Tod einsetzt, d. i. die Abnahme des Lebens (denn wenn das Leben durch fortwährende Abnahme sein Ende erreicht hat, befindet man sich nicht mehr im Tode, sondern schon nach dem Tode), so befindet man sich fürwahr im Tode vom ersten Augenblick an, da man sich im Leibe befindet.

Dies und nichts anderes geht vor sich Tag für Tag, Stunde für Stunde und jeden einzelnen Augenblick, so lang, bis der Tod, der da vor sich ging, aufgezehrt ist und dadurch zum Abschluss kommt und die Zeit, die während der Lebensabnahme eine Zeit im Tode war, nunmehr in die Zeit nach dem Tode übergeht. Nie also ist der Mensch am Leben, sobald er sich in diesem mehr sterbenden als lebenden Leibe befindet, er müsste nur zugleich am Leben und im Tode sein können. Oder ist er vielmehr zugleich am Leben und im Tode? am Leben, worin er lebt, bis es gänzlich abgenommen hat, und im Tode, weil er bereits stirbt, indem das Leben abnimmt? Denn wenn er nicht am Leben ist, was ist dann das, was abnimmt bis zum völligen Verbrauch? Und wenn er nicht im Tode ist, was ist dann jene Abnahme an Leben? Man sagt doch nicht umsonst »nach dem Tode« von dem Zustand nach völligem Dahinschwinden des Lebens; also war der Zustand des Hinschwindens ein Sterben. Denn wenn sich der Mensch nach dem Hinschwinden nicht im Tode, sondern nach dem Tode befindet, so muss er sich doch wohl im Tode befinden, während das Leben dahinschwindet.

11. Kann man gleichzeitig lebendig und tot sein?

Wenn es aber ungereimt ist, vom Menschen, bevor er zum Tode gelangt, zu sagen, er sei bereits im Tode (er würde sich ja dem Tode nicht erst nähern im Verlauf seiner Lebenszeit, wenn er schon im Tode wäre), zumal es doch recht ungewöhnlich ist, ihn als gleichzeitig lebend und sterbend, zu bezeichnen, da man doch nicht gleichzeitig wachend und schlafend sein kann, so erhebt sich von selbst die Frage, wann denn eigentlich der Mensch sterbend ist. Denn bevor der Tod kommt, ist er nicht sterbend, sondern lebend; wenn aber der Tod gekommen ist, ist er tot, nicht sterbend. Das eine ist er vor dem Tode, das andere nach dem Tode. Wann ist er dann im Tode? [Das ist die Frage, um die es sich handelt.] Denn wenn er im Tode ist, ist er sterbend; es entsprechen sich die drei Begriffe: »vor dem Tode, im Tode, nach dem Tode« einerseits und »lebend, sterbend, tot« andrerseits. Es ist nun sehr schwer festzustellen, wann der Mensch sterbend, d. i. im Tode ist, wo er weder lebend ist, was er vor dem Tode ist, noch tot, was er nach dem Tode ist, sondern eben sterbend, d. i. im Tode.

Solang nämlich die Seele im Leibe ist, besonders wenn auch Empfindung vorhanden ist, lebt ohne Zweifel der aus Leib und Seele bestehende Mensch und befindet sich demnach noch vor dem Tode, nicht im Tode; ist aber die Seele abgeschieden und hat sie alle leibliche Empfindung dahingenommen, so befindet er sich offenbar schon nach dem Tode und ist tot, Das sterbend oder im Tode sein verschwindet also zwischen den beiden Zuständen [es ist dafür kein Raum]; denn wenn der Mensch noch lebt, befindet er sich vor dem Tode, und wenn er zu leben aufgehört hat, bereits nach dem Tode. Es zeigt sich also, daß er nie sterbend, d. i. im Tode ist. So sucht man ja auch im Zeitenablauf die Gegenwart vergebens, weil der Übergang vom Künftigen zum Vergangenen ohne jede Dauer stattfindet. Auf diese Weise könnte man fast dazu kommen, dem leiblichen Tod die Wirklichkeit abzusprechen. Denn gibt - es einen, wann ist er dann da, wenn er sich bei niemand findet und niemand sich in ihm befinden kann? Denn wenn man lebt, ist er noch nicht da, weil das vor dem Tode ist, nicht im Tode; wenn man aber zu leben bereits aufgehört hat, ist er nicht mehr da, weil das hinwieder nach dem Tode ist, nicht im Tode. Weiterhin aber, wenn kein Tod da ist vor oder nach einem bestimmten Zeitpunkt, wie kann man dann sprechen von vor dem Tode oder nach dem Tode?

Auch das ist eine leere Redensart, wenn kein Tod da ist. Und hätten wir es nur im Paradiese durch guten Wandel dahin gebracht, dass es in Wirklichkeit keinen Tod gäbe! So aber gibt es nicht nur einen, sondern er ist überdies so beschwerlich, daß man ihn mit aller Redegewandtheit nicht fassen und doch ihm auf keine Weise entgehen kann.

Reden wir also nach dem Sprachgebrauch (wir brauchen ja nicht anders zu reden) und bezeichnen wir als vor dem Tode die Zeit, ehe der Tod eintritt; wie es gemeint ist in dem Schriftwort (Ekkli. 11, 30): »Vor dem Tode sollst. du keinen Menschen loben«. Sagen wir, wenn er eingetreten ist: Nach dem Tode dieses oder jenes hat sich das und das zugetragen. Gebrauchen wir auch das. Präsens, so gut es geht, etwa indem wir sagen: Sterbend hat er verfügt, oder: Dem und dem hat er sterbend: das und das hinterlassen, obwohl er es gewiss nur lebend tun konnte und es nicht im Tode, sondern vor dem Tode getan hat. Drücken wir uns aus, wie auch die Heilige Schrift sich ausdrückt, die unbedenklich auch von Verstorbenen sagt, sie befänden sich im Tode, nicht nach dem Tode. So in der Stelle (Ps. 6, 6) : »Denn im Tode ist niemand, der deiner gedächte«.

Mit Recht nennt man sie im Tode befindlich, bis sie wieder aufleben, wie man von jemand sagt, er sei im Schlafe, bis er aufwacht; allerdings mit dem Unterschied, daß wir die im Schlafe Befindlichen Schlafende nennen; während wir die bereits Verstorbenen nicht ebenso Sterbende nennen können. Denn die sind nicht mehr im Sterben begriffen, die, was den leiblichen Tod betrifft, den wir hier im Auge haben, bereits von ihren Leibern getrennt sind. Aber da stoßen wir wieder auf den Punkt, dem man, wie gesagt, mit aller Redegewandtheit nicht beikommen kann, wie man nämlich von Sterbenden sagen kann, sie lebten, oder von Verstorbenen, dass sie auch nach dem Tode noch im Tode seien. Denn wie »nach dem Tode«, wenn noch »im Tode«? zumal wir sie auch nicht Sterbende nennen, wie die im Schlafe Befindlichen Schlafende und die in Siechtum Befindlichen Siechende und die in Leiden Befindlichen Leidende und die im Leben Befindlichen Lebende; die Verstorbenen vielmehr, ehe sie auferstehen, nennt man im Tode befindlich, aber sie kann man nicht als Sterbende bezeichnen.

Daher wird es sich kaum zufällig oder unfüglich treffen, wenn auch nicht menschliche Absicht im Spiele ist, aber vielleicht nach göttlicher Fügung, daß auch die Grammatiker das Wort moritur im Lateinischen nicht nach der Regel der übrigen entsprechenden Zeitwörter zu beugen vermochten. Von oritur z. B. lautet die Form der vergangenen Zeit ortus est, und ebenso werden auch die andern ähnlichen Zeitwörter gebeugt mit Hilfe des Partizips Perfekt. Von moritur dagegen lautet die vergangene Form: mortuus est, mit Doppel-u. Also eine Bildung wie fatuus, arduus, conspicuus und ähnliche Wörter, die keine Vergangenheit ausdrücken, sondern als Nomina ohne Zeitformen gebeugt werden. Dagegen das Nomen mortuus setzt man für das Partizip Perfekt, als wollte man beugen, was sich nicht beugen lässt. Es trifft sich also gut, dass man in der Sprache nicht beugen kann das Wort für eine Sache, der man im Leben durch keine Fürsorge vorbeugen kann. Dafür jedoch kann man sorgen mit der Gnadenhilfe unseres Erlösers, dass wir wenigstens dem zweiten Tode vorbeugen. Und bitterer und von allen Übeln das schlimmste ist immer noch dieser, der sich nicht durch Trennung von Seele und Leib vollzieht, sondern vielmehr durch die Verbindung beider zum Zwecke ewiger Pein. Dabei werden sich die Menschen im Gegensatz zum ersten Tode nicht vor und nach dem Tode befinden, sondern stets im Tode; und so werden sie niemals lebendig und niemals verstorben, sondern endlos sterbend sein. Niemals wird es für den Menschen so schlimm sein im Sterben als da, wo der Tod selbst nie im Sterben sein wird.

12. Welche Art von Tod hat Gott den ersten Menschen angedroht, wenn sie sein Gebot übertreten würden?

Da es also verschiedene Arten von Tod gibt, so erhebt sich die Frage, welcher Tod den ersten Menschen von Gott angedroht werden ist, wenn sie sein Gebot überträten, ob der Tod der Seele oder der des Leibes oder der des ganzen Menschen oder der, welcher der zweite Tod heißt. Und darauf ist zu antworten: Alle Arten miteinander. Der erste Tod besteht aus zweien, aus allen der ganze. Wie die gesamte Erde aus vielen Erdteilen besteht und die gesamte Kirche aus vielen Kirchen, so der gesamte Tod aus allen. Der erste Tod nämlich besteht [wie gesagt] aus zweien, aus dem Tod der Seele und dem Tod des Leibes, so dass also der erste Tod des ganzen Menschen vorhanden ist, wenn die Seele ohne Gott und ohne Leib auf eine Zeit Strafen erduldet; der zweite dagegen besteht darin, dass die Seele ohne Gott in Verbindung und Gemeinschaft mit dem Leibe ewige Strafen erduldet. Als Gott zum ersten Menschen im Paradiese von der verbotenen Frucht sagte: »An welchem Tage immer ihr davon esset, werdet ihr des Todes sterben«, da meinte er nicht nur den ersten Teil des ersten Todes, wobei die Seele der Gottheit verlustig geht, noch auch bloß des ersten Todes zweiten Teil, wobei der Leib der Seele verlustig geht, noch auch allein den ersten Tod in seiner Gesamtheit, wobei die Seele, von Gott und vom Leibe getrennt, Strafen erleidet, sondern jene Drohung schloss alles ein, was Tod heißt, bis zurück zum letzten, der der zweite heißt und auf den keiner mehr folgt.

13. Welche Strafe hat die ersten Menschen zuerst getroffen für ihre Ausschreitung?

Als die Übertretung des Gebotes geschehen war, schämten sich die ersten Menschen, von der Gnade Gottes verlassen, sofort der Nacktheit ihrer Leiber. Daher bedeckten sie mit Feigenblättern, vielleicht weil sie solche in ihrer Verwirrung zuerst wahrnahmen, ihre Schamteile; diese waren vorher die nämlichen Gliedmaßen, aber keine Schamteile. Sie fühlten also eine bisher nicht gekannte Regung ihres unbotmäßigen Fleisches, gleichsam die zurückprallende Strafe ihrer eigenen Unbotmäßigkeit. Schon entglitt nämlich der Seele, die sich an ihrer auf das Verkehrte gerichteten Sonderfreiheit ergötzte und Gott zu dienen verschmähte, der Zügel der Herrschaft über den Leib, und weil sie den Herrn über sich aus eigenem Gutdünken verlassen hatte, vermochte sie den Diener unter sich nicht mehr unter das eigene Gutdünken zu beugen und hatte das Fleisch nicht mehr in allweg zum Untertanen, wie sie es immerfort hätte haben können, wenn sie selbst Gott untertan geblieben wäre. Damals also begann das Fleisch zu begehren wider den Geist (Vgl. Gal. 5, 17), und wir werden mit diesem Widerspruch behaftet schon geboren, und von jener ersten Sünde überkommen wir den Anfang des Todes und tragen wir in unsern Gliedern und unserer verderbten Natur den Kampf mit dem Tode oder den Sieg des Todes.

14. Der Mensch, wie er aus Gottes Hand hervorgegangen, und das Schicksal, dem er durch seinen freien Willensentschluss verfallen ist.

Gott hat ja den Menschen gut erschaffen, er, der Urheber der Naturen, keineswegs der Gebrechen-, aber durch eigene Schuld verderbt und gerechter Weise verdammt, hat der Mensch Verderbte und Verdammte erzeugt. Denn wir alle haben uns in jenem einen befunden, da wir alle nur in jenem einen bestanden haben, der in die Sünde fiel durch das Weib, das aus ihm geschaffen worden ist vor der Sünde. Noch war uns im Einzelnen zwar die Form nicht erschaffen und zugeteilt, in der wir als Einzelwesen leben sollten; aber das Stammwesen war da, aus dem wir durch Fortpflanzung hervorgehen sollten. Und weil jenes wegen der Sünde dem Verderben anheim gefallen und mit Todesbanden umstrickt und gerechter Weise verdammt war, so sollte auf dem Weg der Zeugung von Mensch zu Mensch das gleiche Los den Nachkommen zuteil werden. Im Missbrauch des freien Willens hat demnach ihren Ursprung die ganze Folge des Elends, die das Menschengeschlecht in einer Kette von Unheil bis zum endgültigen Untergang im zweiten Tode geleitet, nachdem einmal sein Anfang verderbt und damit gleichsam seine Wurzel krank geworden war, und ausgenommen sind davon nur die, die durch Gottes Gnade erlöst werden.

15. Adam hat durch seine Sünde Gott verlassen, ehe Gott ihn verließ, und der erste Tod der Seele bestand in der Abkehr von Gott.

»Des Todes werdet ihr sterben«, sprach Gott; es heißt nicht: mehrerer Tode werdet ihr sterben; und so mögen wir dabei lediglich an den Tod denken, der bewirkt wird, wenn die Seele von ihrem Leben verlassen wird, das für sie Gott ist (sie ist indes nicht verlassen worden und hat nachher verlassen, sondern sie hat verlassen mit der Wirkung, dass sie verlassen worden ist; denn wo es sich um ihr Unheil handelt, ist ihr eigener Wille der vorgängige; dagegen wo es sich um ihr Wohl handelt, ist der Wille ihres Schöpfers der vorgängige, sei es um sie zu schaffen, da sie nicht vorhanden war, sei es um sie wiederherzustellen, weil sie durch ihren Fall zugrunde gegangen war).

Wir mögen also immerhin nur dieses Todes Ankündigung erblicken in der Drohung: »An welchem Tage ihr davon esset, werdet ihr des Todes sterben«, etwa als wenn es hieße: An welchem Tage ihr mich verlasset aus Unbotmäßigkeit, werde ich euch verlassen aus Gerechtigkeit. Gleichwohl sind auch die übrigen Tode, die ohne Zweifel folgen sollten, in jenem einen angekündigt. Darin nämlich, dass unbotmäßige Regung im Fleische der unbotmäßigen Seele entstand, wie sich in der Bedeckung der Schamteile äußerte, machte sich der eine Tod bemerkbar, der, bei dem Gott die Seele verlässt. Er ist angedeutet in den Worten, die Gott an den in sinnverwirrter Angst sich verbergenden Menschen richtete (Gen. 3, 9): »Adam, wo bist du?« Er fragte natürlich nicht aus Unkenntnis, sondern tadelnd und mahnend, damit sich Adam besinne, wo er wäre, da Gott nicht mehr in ihm war.

Als die Seele sodann den durch die Zeit geschwächten und vom Alter gebrochenen Leib verließ, machte der Mensch Bekanntschaft mit dem andern Tod, den Gott im Auge hatte, als er, ebenfalls zur Strafe für die Sünde, zu dem Menschen sprach (Gen.3, 19) : »Staub bist du und zu Staub sollst du werden«.

So wurde also durch diese beiden Tode der erste Tod vollständig, der den ganzen Menschen umfasst und dem dann von selbst zuletzt der zweite Tod folgt, wenn der Mensch nicht durch die Gnade erlöst wird. Denn der Leib, der von der Erde genommen ist, kann zur Erde nur zurückkehren durch seinen eigenen Tod, der bei ihm erfolgt, wenn sein Leben, d. i. die Seele von ihm scheidet. Daher gilt es bei den Christen, die den wahrhaft katholischen Glauben festhalten, für ausgemacht, dass auch der leibliche Tod aus Schuld der Sünde verhängt worden ist, nicht nach Naturgesetz, da Gott nicht durch ein solches dem Menschen den Tod bestimmt hat. Vielmehr sprach er im Zusammenhang mit der Strafe für die Sünde zu dem Menschen, in welchem wir alle uns damals befanden: »Staub bist du und zu Staub sollst du werden«.

16. Von den Philosophen, welche der Trennung der Seele vom Leib keinen Strafcharakter zuerkennen, obwohl Plato den höchsten Gott den geringeren Göttern das Versprechen geben lässt, dass sie niemals ihre Leiber ablegen müssten.
Jedoch die Philosophen, wider deren Anwürfe wir die Gottesstadt, d. i, die Kirche Gottes, in Schutz zu nehmen haben, glauben überlegen lächeln zu dürfen über unsere Behauptung, dass man die Trennung der Seele vom Leib zu den Strafen der Seele rechnen müsse. Nach ihnen gelangt ja die Seele gerade dann zu ihrer vollkommenen Seligkeit, wenn sie, des Leibes gänzlich entledigt, einfach und allein und sozusagen nackt zu Gott zurückkehrt.

Da müsste ich nun freilich, fänden sich nicht in ihrem Schrifttum selbst Anhaltspunkte zur Widerlegung dieser Ansicht, mühsame Erörterungen anstellen, um darzutun, dass nicht der Leib als solcher, sondern der vergängliche Leib eine Last sei für die Seele. In diesem Sinne sagt die im vorigen Buch an¬geführte Schriftstelle (Weish. 9, 15): »Der vergängliche Leib beschwert die Seele«. Durch Hinzufügung des Wörtchens »vergänglich« ist hier ausgesprochen, dass nicht der Leib an sich, sondern wie er geworden ist infolge der Sünde, der die Strafe folgte, die Seele beschwere. Aber auch ohne diesen Beisatz dürften wir die Sache nicht anders auffassen.

Indes wir können uns an Plato halten. Mit aller Klarheit sagt er von den vom höchsten Gott erschaffenen Göttern aus, dass sie unsterbliche Leiber hätten, und lässt er ihnen durch Gott selbst, der sie erschaffen, als eine große Wohltat verheißen, dass sie auf ewig im Besitze ihrer Körper bleiben und von ihnen durch keinen Tod getrennt würden.

Also nur um dem christlichen Glauben eins zu versetzen, stellen sich jene Philosophen, als wüssten sie nicht, was ihnen doch bekannt ist, setzen sich sogar lieber in Widerspruch mit sich selbst, wenn sie nur in ihrem Widerspruch gegen uns beharren können. Ja Platos Worte sind es, wie Cicero sie ins Latein übersetzt hat, und also lässt er den höchsten Gott sich an die Götter, die er geschaffen, wenden und ihn sprechen: »Ihr, die ihr aus Göttersaat entsprossen seid, vernehmet: Die Werke, deren Urheber und Bewirker ich bin, die sind unauflöslich, wenn ich's so will, mag schon alles Zusammengesetzte trennbar sein; aber gut ist es mit nichten, voneinander tren¬nen zu wollen, was vernunftgemäß verbunden ist. Jedoch, weil ihr entstanden seid, so könnt ihr nun freilich nicht unsterblich und unauflöslich sein; damit ihr aber gleichwohl nicht der Auflösung verfallet, so soll euch kein Todesgeschick dahinraffen, keines mächtiger sein als mein Ratschluss, der ein stärkeres Band ist zu eurer Verbeständigung, als die Bande, mit denen ihr «bei eurer Zeugung» verbunden worden seid«.

Sieh' da, Plato nennt die Götter sterblich zufolge der Verbindung von Leib und Seele, doch unsterblich nach dem Willen und Ratschluss Gottes, von dem sie erschaffen worden sind. Wäre es also eine Strafe für die Seele, nur überhaupt mit einem Leibe verbunden zu sein, wie würde dann Gott sie in einer eigenen Anrede ihrer Unsterblichkeit versichern, was doch voraussetzt, dass sie besorgt sind, sie möchten sterben, d; i. vom Leibe sich trennen müssen? Sie versichern nicht auf Grund ihrer Natur, die nun einmal zusammengesetzt und nicht einfach ist, sondern auf Grund seines allsieghaften Willens, durch den er Macht hat zu bewirken, dass auch Entstandenes nicht vergeht und Verbundenes sich nicht löse, sondern unvergänglich fortdauere?

Eine andere Frage ist es freilich, ob das wirklich so ist, was hier Plato von den Gestirnen sagt. Man braucht ihm nicht ohne weiteres zuzugeben, dass die Lichtkugeln oder Lichtscheiben, die mit körperhaftem Licht über die Erde hin leuchten bei Tag oder Nacht, aus einer Art eigener Seelen, noch dazu vernünftiger und glückseliger, ihr Leben haben, was Plato in gleicher Weise von der gesamten Welt als einem großen Lebewesen, das alle übrigen Lebewesen in sich schließe, mit aller Bestimmtheit versichert.

Doch, wie gesagt, das ist eine andere Frage und sie steht jetzt nicht zur Erörterung. Ich habe die Ansicht Platos nur herangezogen zur Abwehr gegen die, die ihren Ruhm darin suchen, Platoniker zu heißen oder zu sein und, stolz auf diesen Namen, Christen zu sein sich schämen aus Besorgnis, es möchte diese Bezeichnung, wenn sie sie mit dem gemeinen Volke teilen, den Philosophenmantel verächtlich machen, den diese Handvoll Leute mit einem Hochmut trägt, der zu ihrer Zahl in umgekehrtem Verhältnis steht. Immer auf der Suche, was sie an der christlichen. Lehre aussetzen könnten, stöbern sie die ewige Dauer des Leibes auf und formen einen künstlichen Gegensatz daraus, dass wir für die Seele einerseits Glückseligkeit anstreben und sie andrerseits stets im Leibe wissen wollen, der für sie eine lästige Fessel bedeute, während doch ihr Stifter und Meister Plato es als ein Gnadengeschenk des höchsten Gottes an die von ihm erschaffenen Götter hinstellt, dass sie nie sterben, d. h. von den Leibern, mit denen er sie verband, nie getrennt werden sollen.

17. Wider die Lehre, daß irdische Leiber nicht unvergänglich und ewig sein könnten

Sie behaupten weiterhin, irdische Leiber könnten nicht ewig sein, während sie doch daran festhalten, dass nichts Geringeres als die ganze Erde ein in der Mitte gelegenes und ewig dauerndes Glied ihres Gottes sei, zwar nicht des höchsten, aber doch eines großen, des Gottes dieser gesamten Welt.

Jener höchste Gott hätte nämlich nach ihnen einen zweiten vermeintlichen Gott erschaffen, d. i. diese Welt, erhaben über die anderen Götter, die vielmehr unter ihm stehen, und diesen zweiten Gott betrachten sie als ein beseeltes Wesen, dessen vernünftige oder erkenntnisfähige Seele in der ungeheuren Masse seines Leibes eingeschlossen sei; er habe als Glieder dieses seines Leibes, an ihrem Orte liegend und verteilt, die vier Elemente gebildet, deren Verbindung ihnen, da sonst dieser ihr großer Gott sterben müsste, als unauflöslich und ewig dauernd gilt.

Wenn also am Leibe dieses größeren Lebewesens die Erde selbst als das mittlere Glied ewig ist, warum sollen dann die Lei¬ber anderer Lebewesen auf Erden nicht auch ewig sein können, wofern Gott es will, wie er jenes will? Sie wenden ein, der Erde müsse die Erde zurückgegeben werden, aus der die irdischen Leiber der Lebewesen genommen sind; und darum müssten sich diese Leiber auflösen und absterben und auf solche Weise der sich gleich bleibenden und ewigen Erde, aus der sie genommen sind, zurückerstattet werden.

Man darf nur diese Forderung auch auf das Feuer ausdehnen und sagen, alle Körper, die aus dem Feuer entnommen sind, um Lebewesen am Himmel zu bilden, müssten dem Gesamtfeuer zurückgegeben werden, so würde sofort die Unsterblichkeit, die Plato solchen Göttern (d. i. den Gestirnen, den Lebewesen am Himmel) durch den Mund des höchsten Gottes verheißen lässt, an der unerbittlichen Logik in Stücke gehen. Oder tritt das bei den himmlischen Lebewesen deshalb nicht ein, weil Gott es nicht will, dessen Wille jeder Macht überlegen ist, wie Plato sagt? Warum sollte dann Gott dasselbe nicht auch bei irdischen Körpern bewirken können? Plato räumt ja Gott die Macht ein zu bewirken, dass Entstehendes nicht mehr vergehe und Gebundenes sich nicht löse und den Elementen Entnommenes nicht mehr zurückkehre und Seelen, die sich in Leibern befinden, diese nie mehr verlassen, sondern mit ihnen Unsterblichkeit und ewige Glückseligkeit genießen; warum sollte Gott nicht auch Irdisches dem Tod überheben können? Reicht seine Macht nur so weit, als die Platoniker wollen, nicht so weit, als die Christen glauben? Natürlich, die Philosophen vermochten Gottes Ratschluss und Macht zu erkennen, die Propheten vermochten das nicht! Und doch hat vielmehr im Gegenteil die Propheten Gottes der Geist Gottes angeleitet zur Offenbarung des göttlichen Willens, soviel er dessen zu offenbaren sich herabließ, während die Philosophen in der Erkenntnis des göttlichen Willens auf ihre eigenen Mutmaßungen angewiesen waren und damit in die Irre gingen.

Allerdings brauchten sie nicht so weit in die Irre zu gehen - denn hier handelt es sich nicht mehr bloß um Unwissenheit, sondern es spielt auch Starrsinn mit herein -, dass sie mit sich selbst in handgreiflichsten Widerspruch gerieten. Mit großem Aufwand von gelehrten Worten versichern sie, die Seele müsse, um glückselig sein zu können, nicht nur ihren irdischen Leib, sondern Leibliches jeder Art meiden, und auf der andern Seite sagen sie, die Götter hätten vollkommen glückselige Seelen und gleichwohl mit ewigen Leibern verbundene, die himmlischen Götter mit Feuerleibern, während die Seele Jupiters, den sie als die Welt betrachten, eingeschlossen sei in gar allen körperhaften Elementen der ganzen Weltmasse, von der Erde bis hinauf zum Himmel, Denn nach Platos Meinung ergießt und erstreckt sich die Jupiter-Seele von der innersten Mitte der Erde, vom Zentrum, wie es die Geometrik nennt, über alle ihre Teile bis zu den höchsten Höhen und äußersten Grenzen des Himmels nach harmonischen Verhältnissen, so dass das Weltall das größte und glückseligste Lebewesen von ewiger Dauer ist, dessen Seele einerseits das vollkommene Glück der Weisheit festhalte, andrerseits ihren eigenen Leib nie verlasse, während der Leib dieses Weltalls einerseits auf ewig aus ihr Leben gewinne, andrerseits, obwohl nicht einfach, sondern zusammengefügt aus so vielen und großen Körpern, doch die Seele nicht zu beschweren und zu hemmen vermöge.

Wenn ihnen also derlei Meinungen zulässig erscheinen, warum wollen sie nicht glauben, dass durch Gottes Willen und Macht irdische Leiber unsterblich werden können, so dass die Seelen in ihnen ewig und glückselig wohnen, durch keinen Tod von ihnen getrennt, mit keiner Last von ihnen beschwert, da sie solches doch für möglich erklären bei ihren Göttern in Feuerleibern und bei Jupiter selbst, dem Götterkönig, in der Gesamtheit der körperlichen Elemente?

Denn wenn die Seele, um glückselig zu sein, jeglichen Leib fliehen muss, so sollten diese Götter nur schleunigst ihre Gestirnkugeln verlassen und Jupiter aus Himmel und Erde weichen; können sie das nicht, so sollten sie für unselig erachtet werden. Aber weder das eine noch das andere passt den Platonikern, sie wagen es nicht, ihren Göttern die Trennung vom Leibe zuzuschreiben, damit sie in ihnen nicht Sterbliche zu verehren den Anschein erwecken, und sie wagen ebensowenig von Aufhebung der Glückseligkeit bei ihnen zu sprechen, um nicht deren Unseligkeit eingestehen zu müssen. Es ist also durchaus nicht nötig, zur Erlangung der Glückseligkeit jegliche Art von Leib zu meiden, sondern mir einen vergänglichen, lästigen, beschwerlichen, dem Tode verfallenen; nicht den Leib, wie ihn die Güte Gottes den ersten Menschen anerschaffen hat, sondern den, wie ihn die Sündenstrafe heruntergebracht hat.

18. Widerlegung des Einwurfs der Philosophen, irdische Leiber könnten nicht im Himmel sein, weil das Irdische durch sein natürliches Gewicht zur Erde gezogen werde.
Aber, so hält man uns entgegen, schon das natürliche Gewicht bannt notwendig die irdischen Leiber auf die Erde oder zwingt sie zur Erde nieder, und deshalb können sie unmöglich im Himmel sein. Jene ersten Menschen zwar befanden sich auf Erden in einem fruchtbaren Haine, der den Namen Paradies erhielt*; weil doch im Hinblick auf den Leib, mit dem Christus gen Himmel fuhr, und auf die Leiber der Heiligen, wie sie bei der Auferstehung gestaltet sein werden, auch auf diesen Einwurf erwidert werden muss, so möchte ich die Gegner auffordern, das irdische Schwergewicht selbst einmal etwas genauer ins Auge zu fassen.
* Man wird den Gedanken ergänzen müssen: und waren da glückselig, weshalb eigentlich die Erörterung des Einwurfs an dieser Stelle, wo es sich um die Frage der Möglichkeit glückseligen Leibes im Leibe handelt, unterbleiben könnte.

Wenn es menschliche Kunst fertig bringt, aus Metallen, die im Wasser sofort untergehen, durch geeignete Bearbeitung Behältnisse entstehen zu lassen, die schwimmen können, wieviel annehmbarer und wirksamer vermag dann eine verborgene Behandlungsweise von seiten Gottes, dessen allmächtiger Wille nach Plato das Entstandene vor dem Untergang und das Verbundene vor der Auflösung bewahren kann, obwohl die Verbindung von Unkörperlichem mit Körperlichem weit wunderbarer ist als die von Körperlichem jeder Art untereinander, irdischen Massen die Eigenschaft zu verleihen, dass sie durch keine Schwere nach unten gezogen werden, und ebenso hinwieder vollkommen glückseligen Seelen die Eigenschaft, dass sie ihren wenn auch irdischen, doch bereits unvergänglichen Leibern eine Stelle anweisen, wo sie wollen, und sie beliebig bewegen, ohne dass Stellung und Bewegung die geringste Schwierigkeit machten! Wenn Engel das gelegentlich tun und irdische Wesen aller Art beliebig aufgreifen und an beliebige Orte versetzen, dürfte man annehmen, sie könnten das nicht* oder trügen schwer an der Last?
* Nach dem Zusammenhang ist hier entgegen der handschriftlichen Überlieferung doch wohl die Leseart der Benediktiner-Ausgabe vorzuziehen: »sie könnten das nur mit Mühe«.

Warum sollten wir also nicht auch glauben, dass die durch Gottes Gnade vollkommenen und glückseligen Geister der Heiligen ohne jede Schwierigkeit ihre Leiber versetzen können. wohin sie wollen, und ihnen eine Stelle anweisen können, wo sie wollen. Unterschiede der Lastempfindung gibt es ja selbst im irdischen Bereich; während im allgemeinen Lasten je größer desto schwerer sind und demnach die mehrgewichtigen ihre Träger stärker drücken als die mindergewichtigen, so trägt doch die Seele die Glieder ihres Leibes mit größerer Leichtigkeit, wenn sie in gesundem Zustande stark sind, als wenn sie in krankem Zustande mager sind. Und obwohl für Träger ein gesunder und kräftiger Mensch schwerer zu tragen ist als ein schwächlicher und kranker, so ist doch der Mensch selbst gewandter im Bewegen und Tragen seines Körpers, wenn dieser bei guter Gesundheit mehr Masse hat, als wenn er von Pest oder Hunger zu völliger Kraftlosigkeit heruntergebracht ist.

So sehr kommt es auch bei irdischen Leibern, und zwar noch im Zustand der Vergänglichkeit und Sterblichkeit, gegenüber dem Gewicht der Masse auf die jeweilige Beschaffenheit an. Und nun denke man an den gewaltigen und mit Worten gar nicht darlegbaren Unterschied zwischen dem, was wir hienieden Gesundheit nennen, und der künftigen Unsterblichkeit! Mit dem Hinweis auf die Schwere des Leibes kommen also die Philosophen unserm Glauben nicht bei. Ich will kein Gewicht legen auf den Widerspruch, dass sie an einen irdischen Leib im Himmel nicht glauben, während doch die ganze Erde im Nichts in der Schwebe gehalten wird. Vielleicht ließe sich hierfür auch in der Tat eine wahrscheinliche Begründung geben, hergenommen von der Lage der Erde im Mittelpunkt der Welt, da alles Schwere nach dem Mittelpunkt strebt. Ich sage nur:

Die geringeren Götter, denen Plato mit der Erschaffung der übrigen irdischen Lebewesen auch die des Menschen zuteilt, waren nach Plato imstande, dem Feuer die Eigenschaft des Brennens zu benehmen, die des Leuchtens, wie sie durch die Augen hervorbricht, zu belassen*, und dem höchsten Gott, der durch die Macht seines Willens nach demselben Plato bewirken kann, dass Entstandenes nicht stirbt und so Verschiedenes und Unähnliches wie Körperliches und Unkörperliches durch keine Trennung auseinander gerissen werden kann, diesem höchsten Gott wollen wir nicht unbedenklich die Macht zuschreiben, dem Menschenleib, dem er Unsterblichkeit schenkt, die Vergänglichkeit zu benehmen und das Wesen zu belassen, an ihm die Übereinstimmung der Gestalt und der Glieder beizubehalten und die schwerfällige Gewichtslast aufzuheben?
*Plato spricht im Timäus, da wo von der Erschaffung des menschlichen Leibes die Rede ist, davon, dass die Augen teil hätten an jenem Feuer, das nicht Brand verursacht, sondern das freundliche Licht des Tages über die Welt ausgießt.

Indes über den Glauben an die Auferstehung der Toten und über deren unsterbliche Leiber wird, so Gott will, zu Ende dieses Werkes (XXII, 11ff.) ausführlicher zu handeln sein.

19. Auseinandersetzung mit den Lehrmeinungen derer, die die ersten Menschen, falls sie nicht gesündigt hätten, nicht für unsterblich halten und den Seelen im Ewigkeitszustande die Verbindung mit Leibern absprechen.
Nun wollen wir die Erörterung über den Leib der ersten Menschen wieder aufnehmen und weiterführen; ihn hätte jener Tod, der sich für die Guten gut erweist und nicht etwa nur wenigen Einsichtsvollen oder nur den Gläubigen, sondern allen gar wohl bekannt ist, jener Tod, durch den die Trennung der Seele vom Leibe herbeigeführt wird, und so jedenfalls der Leib des Lebewesens, der augenscheinlich lebte, augenscheinlich abstirbt, er hätte den Leib der ersten Menschen nicht getroffen, wenn er nicht als Strafe der Sünde erfolgt wäre. Mögen immerhin die Seelen der Gerechten und Frommen, woran man nicht zweifeln darf, ihr Leben in der Ruhe hinbringen, so wäre es doch besser für sie, in der Verbindung mit ihren wohlbehaltenen Leibern zu leben; werden ja selbst die, welche in allweg ohne Leib zu sein für das Glückseligste erachten, durch einen Widerspruch in ihrer Meinung Lügen gestraft. Keiner von ihnen würde sich getrauen, die weisen Menschen, gleichviel ob dem Tod eine Zukunftsbeute oder schon gestorben, d, h. ob des Leibes ledig oder dereinst erst vom Leibe scheidend, über die unsterblichen Götter zu stellen, denen nach Plato der höchste Gott ein ungemein großes Gnadengeschenk verheißt, unauflösliches Leben nämlich, d. i. ewig dauernde Gemeinschaft mit ihren Leibern. Und vortrefflich stehe es, meint Plato, um die Menschen, vorausgesetzt, dass sie das irdische Leben fromm und gerecht hingebracht haben: indem sie nach der Trennung von ihrem eigenen Leibe in den Schoß der Götter aufgenommen würden, die ihren Leib niemals verlassen,

»Und erinnerungslos aufs neu das Gewölbe des Himmels
Schauen und wieder zurück in Leiber zu wandern verlangen«,

wie sich Vergil im Anschluss an die platonische Lehre ausdrückt (nach Platos Ansicht können nämlich die Seelen der Sterblichen nicht immerfort in ihren eigenen Leibern verharren, sondern werden durch den unvermeidbaren Tod von ihnen getrennt, können aber auch nicht ewig ohne Leiber bleiben, sondern abwechslungsweise werden unablässig die Toten zu Lebenden und die Lebenden zu Toten). Von den übrigen Menschen würden sich also die Weisen darin unterscheiden, dass sie nach dem Tode in Gestirne versetzt werden. Dort würde jeder eine Zeitlang in dem ihm entsprechenden Sterne ruhen und dann abermals, der Erinnerung an das frühere Elend bar und von dem Verlangen nach dem Besitz eines Leibes überwältigt, zu den Mühen und Beschwernissen der Sterblichen zurückkehren. Dagegen würden die Toren sofort nach dem Tode in Leiber zurückversetzt, wie sie ihren Missverdiensten entsprächen, seien es Menschen- oder Tierleiber.

Plato hat demnach sogar den guten und weisen Seelen, da ihre Leiber nicht derart sind, um immerfort und ewig; in Verbindung damit leben zu können, das harte Los zugewiesen, weder in ihren Leibern verharren noch ohne sie in ewiger Reinheit bleiben zu können. Von dieser Lehre Platos war schon früher die Rede und es wurde da ausgeführt, wie Porphyrius sich ihrer schämte angesichts der christlichen Zeitströmung und nicht nur mit den Tierleibern für Menschenseelen aufräumte, sondern auch die Seelen der Weisen von der Verbindung mit dem Körperhaften so gänzlich befreit wissen wollte, dass sie, jeglichen Leib meidend, glückselig beim Vater ohne Ende behalten würden. Er hat also, um nicht von Christus besiegt zu erscheinen, der den Heiligen ewiges Leben verheißt, auch seinerseits den gereinigten Seelen ihren Platz angewiesen in ewiger Seligkeit ohne Rückkehr zu dem früheren Elend; und hat zugleich, um sich in Gegensatz zu Christus zu setzen, die Auferstehung unverweslicher Leiber in Abrede gestellt und behauptet, die Seelen würden ewig leben ohne irdischen, ja überhaupt ohne jeglichen Leib. Dabei hat er aber andrerseits nicht verboten, dass sich die Seelen den mit Leibern behafteten Göttern in religiöser Verehrung unterwerfen.

Offenbar nur deshalb, weil er sie, obwohl mit keinem Körper verbunden, doch nicht für besser hielt als die Götter. Wenn sie sich also die menschlichen Seelen nicht über die glückseligen und gleichwohl in ewigen Leibern befindlichen Götter zu stellen getrauen - und sie getrauen sich, denke ich, nicht -, warum dünkt sie dann die Lehre des christlichen Glaubens ungereimt, wonach einerseits die ersten Menschen so erschaffen wurden, dass sie im Fall der Sündelosigkeit durch keinen Tod von ihrem Leibe getrennt worden wären, sondern, zum Lohn für die Wahrung des Gehorsams mit Unsterblichkeit begabt, in Verbindung mit ihrem Leibe ewig gelebt hätten, und andrerseits die Heiligen in der Auferstehung ihren eigenen Leib, worin sie sich hienieden abgemüht haben, in einem Zustand erhalten werden, dass ihrer Leiblichkeit keinerlei Verfall oder Hinderlichkeit begegnen kann und ebensowenig ihrer Glückseligkeit ein Schmerz oder Unheil?

20. Die Leiblichkeit der Heiligen, dermalen ruhend in Hoffnung, soll einst zu besserer Beschaffenheit erneuert werden, als sie bei den ersten Menschen vor der Sünde war.
Und so fühlen dermalen die Seelen der verstorbenen Heiligen den Tod, durch den sie von ihrem Leibe getrennt worden sind, deshalb nicht als Beschwerde, weil ihre »Leiblichkeit in Hoffnung ruht« (Ps. 15, 9), mag ihr auch nach Entfliehen aller Empfindung Schmach aller Art angetan worden sein. Denn diese Seelen verlangen nicht, wie Plato meinte, der Erinnerung bar, nach Leibern, sondern eingedenk der Verheißung dessen, der niemand irreführt, der ihnen über die volle Erhaltung selbst ihrer Haare Sicherheit gegeben hat (Luk. 21, 18), erwarten sie in Sehnsucht und Geduld die Auferstehung des Leibes, in welchem sie viel Hartes erduldet haben, während sie fürder in ihm nichts solches mehr empfinden sollen. Denn wenn sie ihre Leiblichkeit schon damals nicht hassten (Vgl. Eph. 5, 29), als sie sie, wenn sie aus Schwachheit dem, Geiste widerstand, nach dem Rechte des Geistes in Schranken wiesen, wieviel mehr lieben sie sie nun, da auch sie eine geistige werden soll! Wie man nämlich einen Geist, der dem Fleische untertan ist, sehr bezeichnend einen fleischlichen nennt, so darf man eine dem Geiste botmäßige Leiblichkeit mit Recht eine geistige nennen, nicht weil sie sich in einen Geist verwandelt, wie manche glauben auf Grund des Schriftwortes (1 Kor. 15,44): »Gesäet wird ein seelischer Leib, auferstehen wird ein geistiger Leib«, sondern weil sie dem Geiste mit höchster und wunderbarer Leichtigkeit des Gehorchens ergeben sein und den ganz bestimmten Willen einer unlöslichen Unsterblichkeit aufs genaueste erfüllen wird, ohne jedes Gefühl einer Last, ohne die drohende Aussicht auf Verfall, ohne alle Schwerfälligkeit.

Denn der geistige Leib wird nicht sein, wie der jetzige auch bei allerbester Gesundheit ist, noch auch von der Art, wie der Leib vor der Sünde bei den ersten Menschen war, die freilich nicht sterben sollten, wenn sie nicht sündigten, aber doch wie die Menschen Nahrung zu sich nahmen, da sie noch nicht einen geistigen, sondern noch erst einen seelischen Leib trugen, Und wenn dieser Leib auch nicht alterte und somit nicht von selbst dem Tode verfiel (ein Zustand, der ihm aus dem Lebensbaum, der zugleich mit dem verbotenen Baum inmitten des Paradieses stand, durch außerordentliche Gnade Gottes zuteil ward), so nahm er doch noch andere Speisen zu sich, ausgenommen von dem einen Baum, der verboten war, nicht als ob er an sich etwas Böses gewesen wäre, sondern um das Gut des reinen und einfachen Gehorsams, einzuschärfen, der eine herrliche Tugend des vernunftbegabten, Gott dem Schöpfer unterstehenden Geschöpfes ist. Denn wo nichts Böses zu berühren war, bestand die Sünde klärlich nur im Ungehorsam, wenn Verbotenes berührt würde. Andere Nahrung also bewirkte, dass, der tierische Leib keine Beschwerde durch Hunger und Durst empfand; vom Lebensbaum dagegen kostete man, damit er nicht vom Tod irgendwoher beschlichen werde oder, von Alter aufgerieben, im Lauf der Zeit zugrunde gehe, gleichsam als sollte das übrige zur Nahrung dienen, der Lebensbaum aber zum Heilszeichen. Der Lebensbaum im irdischen Paradies hätte also ungefähr die Bedeutung wie im geistigen, d. i. übersinnlichen Paradies die Weisheit Gottes, von der geschrieben steht (Spr. 3, 18). - »Ein Baum des Lebens ist sie denen, die sie erfassen«.

21. Unter dem Paradies, worin sich die ersten Menschen befanden, kann man recht wohl etwas Geistiges verstehen, ohne dass die Geschichtserzählung über das Paradies als einen wirklichen Ort angetastet würde.
Darum rechnen manche das ganze Paradies selbst auch zu den übersinnlichen Dingen, den Aufenthaltsort der Stammeltern des Menschengeschlechtes nach dem Berichte der in allweg wahrhaftigen Heiligen Schrift, und beziehen jene Bäume und fruchttragenden Sträucher auf Lebenstugenden und sittliche Beschaffenheiten, und zwar in dem Sinne, als handle es sich da nicht um sichtbare und körperliche Dinge, sondern sei das so gesagt oder niedergeschrieben zur Bezeichnung von übersinnlichen Dingen.*
* Die allegorische Schriftauflassung der Alexandriner ist gemeint.

Als ob das Paradies, weil man es auch geistig auffassen kann, nicht ein wirklicher Ort hätte sein können; gleich als wenn es nicht zwei Frauen, Agar und Sara, gegeben hätte und zwei Söhne Abrahams von ihnen, einen von der Magd und einen von der Freien, weil der Apostel (Gal. 4, 22ff.) in ihnen die beiden Testamente gesinnbildet sein lässt; oder es keinen Fels gegeben hätte, aus dem der Stab des Moses Wasser schlug (Exod. 17, 6; Num. 20, 11), weil man darunter auch in übertragener Bedeutung Christus verstehen kann gemäß dem Worte des Apostels (1 Kor. 10, 4): »Der Fels aber war Christus«.

Niemand also verwehrt, unter dem Paradies das Leben der Seligen zu verstehen, unter seinen vier Strömen die vier Tugenden: Klugheit, Starkmut, Mäßigung und Gerechtigkeit, unter seinen Bäumen alle nützlichen Wissenschaften und Künste und unter deren Früchten die Sitten der Frommen, unter dem Lebensbaum die Weisheit als die Mutter aller Güter und unter dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen die Erfahrnis infolge der Übertretung des Gebotes.

Denn gut ist es, dass Gott Strafe festgesetzt hat für die Sünde, weil es so gerecht ist, aber nicht zu seinem Besten erfährt sie der Mensch. Man mag dies alles auch auf die Kirche deuten und es demgemäß richtiger als prophetische Vorzeichen auffassen: das Paradies als die Kirche selbst, wie von ihr im Hohen Liede zu lesen ist (Hoheslied 4, 12f.), die vier Paradiesesströme als die vier Evangelien, die fruchttragenden Bäume als die Heiligen, und ihre Früchte als deren Werke, den Lebensbaum als den Heiligen der Heiligen, als Christus, den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen als den eigenen freien Willen. Denn auch von sich selbst kann der Mensch, wenn er den göttlichen Willen verachtet, nur zu seinem Verderben Gebrauch machen, und so lernt er den Unterschied kennen zwischen dem Anschluss an das allen gemeinsame Gut und dem Ergötzen am eigenen Sondergut. Liebt er sich selbst, so wird er sich selbst überlassen, damit er dann, vorausgesetzt, dass er sein Elend fühlt, voll Furcht und Trauer mit dem Psalmisten ausrufe (Ps. 41, 7): »In mir selbst ist verwirrt meine Seele«, und sich aufraffe und bessere und dann spreche (Ps. 58, 10) : »Meine Kraft bewahre ich in Dir«. All das und vielleicht sonst noch Entsprechendes mag man über die geistige Bedeutung des Paradieses sagen, niemand wehrt es, wenn man nur auch an die geschichtliche Wahrheit glaubt, wie sie durch die getreue Schilderung der Geschehnisse nahe gelegt wird.

22. Der Leib der Heiligen wird nach der Auferstehung geistig sein, ohne dass jedoch Fleisch in Geist verwandelt würde.
Der Leib der Gerechten nun, wie er in der Auferstehung sein wird, bedarf keines Lebensbaumes, der ihn vor todbringender Krankheit oder Greisenhaftigkeit bewahre, noch sonstiger leiblicher Nahrungsmittel, um etwaiger Hunger- und Durstbeschwer vorzubeugen; denn er wird mit dem unverlierbaren und gänzlich unverkümmerbaren Gnadengeschenk der Unsterblichkeit begabt sein, so dass er nur, wenn er will, Speise genießt, also fähig ist dazu, nicht aber das Bedürfnis danach hat. So hielten es auch die Engel, wo sie in sichtbarer und greifbarer Gestalt erschienen: sie aßen, nicht weil sie mussten, sondern weil sie konnten und wollten, um sich den Menschen anzupassen durch menschliche Art bei ihrer Dienstleistung (denn dass sie nur dem Scheine nach gegessen hätten, wenn sie von Menschen als Gäste aufgenommen wurden (Gen 18; Tob. 11, 20), ist nicht anzunehmen), obwohl es denen, die um ihre Engeleigenschaft nicht wussten, vorkam, als nähmen sie wie wir aus Bedürfnis Speise zu sich. Darum sagt der Engel im Buche Tobias (Tob. 12, 19): »Ihr sahet mich essen, aber ihr sahet es nach eurer Art« d. i. ihr glaubtet, ich nähme Speise, wie ihr tut, aus Bedürfnis, den Leib zu erquicken. Kann aber auch vielleicht bei den Engeln eine andere Auffassung Platz greifen, so steht doch beim Erlöser selbst für den christlichen Glauben unzweifelhaft fest, dass er auch nach der Auferstehung, bereits im geistigen, aber doch eben wirklichen Fleische, Speise und Trank mit den Jüngern nahm (Luk. 24). Denn nicht die Fähigkeit, sondern nur das Bedürfnis zu essen und zu trinken ist aufgehoben bei solchen Leibern. Sie werden daher auch nicht deshalb, weil sie aufhörten, Leiber zu sein, geistig sein, sondern weil ihr Sein auf dem belebenden Geiste beruhen wird.

23. Über die Begriffe: »seelischer Leib und geistiger Leib«
(1 Kor. 15, 44) und »sterben in Adam« und »belebt werden in Christo« (1 Kor. 15, 22)

Wie nämlich unser jetziger Leib, der eine lebendige Seele hat, aber noch nicht den belebenden Geist, als seelisch gilt und doch nicht eine Seele ist, sondern ein Leib, so heißt der Auferstehungsleib ein geistiger, ohne dass wir ihn deshalb für einen Geist halten dürften. Vielmehr wird er ein Leib sein, der Wesenheit nach Fleisch, aber durch den belebenden Geist aller Schwerfälligkeit und Vergänglichkeit des Fleisches überhoben. Da wird der Mensch nicht mehr erdhaft, sondern himmlisch sein; nicht als wäre der von der Erde genommene Leib nicht er selbst, sondern weil er durch des Himmels Gabe nunmehr von einer Art sein wird, dass er sich zum Bewohnen des Himmels eignet, und zwar ohne seine Natur zu verlieren, lediglich durch Änderung seiner Beschaffenheit. Jedoch der erste Mensch, erdhaft aus der Erde (1 Kor. 15, 47), ward zur lebenden Seele erschaffen, nicht zum belebenden Geist; das war ihm als Lohn des Gehorsams vorbehalten.

Sein Leib also, der zur Abwehr von Hunger und Durst Speise und Trank brauchte und nicht durch jene vollkommene und unauflösliche Unsterblichkeit vor dem Tode bewahrt und in Jugendblüte erhalten wurde, sondern durch den Lebensbaum, war ohne Zweifel nicht ein geistiger, sondern ein seelischer Leib, jedoch hätte er nicht sterben sollen, wenn der Mensch nicht durch die Sünde der von Gott vorhergesagten und angedrohten Strafe verfallen wäre. So aber wurde der Mensch, ohne dass ihm außerhalb des Paradieses die Nahrungsmittel vorenthalten worden wären, jedoch unter Entziehung des Lebensbaumes, der Zeit und dem Alter als Beute überlassen zur Auflösung wenigstens jenes Lebens, das er im Paradies, hätte er nicht gesündigt, ewig hätte haben können, wenn auch zunächst m einem seelischen Leibe, bis dieser ein geistiger geworden wäre zum Lohn für geleisteten Gehorsam. Obwohl wir daher auch den allbekannten Tod, die Trennung von Leib und Seele, einbegriffen erachten in die Drohung (Gen. 2, 17) »An welchem Tage ihr davon esset, werdet ihr sterben«, so braucht es doch nicht widersinnig zu erscheinen, wenn sie nicht am selben Tage, da sie die verbotene und todbringende Speise genossen, die gänzliche Trennung vom Leibe erfuhren.

An jenem Tage trat bei ihnen vielmehr durch Verschlechterung und Verderbung der Natur und die wohlverdiente Entziehung des Lebensbaumes die Unvermeidbarkeit des Todes, auch des leiblichen, ein, die uns hinwieder schon angeboren ist. Daher heißt es beim Apostel (Röm. 8, 10) nicht: Der Leib zwar wird dem Tode anheimfallen um der Sünde willen, sondern: »Der Leib zwar ist gestorben um der Sünde willen, der Geist jedoch ist Leben um der Gerechtigkeit willen«. Und er schließt daran die Worte (Röm. 8, 11): »Wenn aber der Geist dessen, der Christum von den Toten erweckt hat, in euch wohnt, so wird der, welcher Christum von den Toten erweckt hat, auch eure sterblichen Leiber beleben durch seinen in euch wohnenden Geist«.

Zum belebenden Geist also wird alsdann der Leib werden, der jetzt lebendige Seele ist und gleichwohl vom Apostel als tot bezeichnet wird, weil er bereits in die Unvermeidbarkeit des Todes verwickelt ist. Im Paradies dagegen war, er zwar nicht belebender Geist, aber doch [in einer Weise] lebendige Seele, dass man ihn nicht als tot hätte bezeichnen können, da er sich die Unvermeidbarkeit des Todes erst durch Begehung der Sünde zuziehen sollte. Während nun Gott einerseits den Tod der Seele, der eintrat durch sein Verlassen der Seele, andeutete durch die Frage: »Adam wo bist du?« (Gen. 3,9) und andrerseits den Tod des Leibes, der eintritt durch Scheiden der Seele, andeutete in den Worten (Gen. 3, 19): »Staub bist du und zu Staub sollst du werden«, hat er vom zweiten Tod wohl deshalb nichts gesagt, weil er ihn mit Rücksicht auf das Neue Testament, wo der zweite Tod in aller Deutlichkeit geoffenbart wird, noch verborgen wissen wollte. Zunächst sollte nur der erste Tod, der allen gemeinsame, als Folge der in dem Einen allen gemeinsam gewordenen Sünde hervortreten; der zweite Tod dagegen ist ja nicht allen gemeinsam im Hinblick auf die, »die nach dem Ratschluss berufen sind, die er« schon voraus »vorhergewusst und vorherbestimmt hat«, wie der Apostel sagt (Röm. 8, 28f.), »gleichförmig zu werden dem Bilde seines Sohnes, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern«, die Gottes Gnade durch den Mittler von dem zweiten Tode erlöst hat.

Dass nun der erste Mensch in einem seelischen Leibe erschaffen worden, darüber spricht sich der Apostel ebenfalls aus; um nämlich das, was jetzt seelisch ist, zu unterscheiden von dem Geistigen, das in der Auferstehung eintreten wird, sagt er (1 Kor. 15, 42ff.): »Gesäet wird [der Leib] in Verweslichkeit, auferstehen wird er in Unverweslichkeit; gesäet wird er in Schmach, auferstehen wird er in Herrlichkeit, gesäet wird er in Schwachheit, auferstehen wird er in Kraft; gesäet wird ein seelischer Leib, auferstehen wird ein geistiger Leib«. Sodann fügt er zum Beweise dessen bei: »Gibt es einen seelischen Leib, so gibt es auch einen geistigen Leib«. Und um klar zu machen, was ein seelischer Leib sei, sagt er: »So steht auch geschrieben (Gen.2, 7): Es ward der erste Mensch zu einer lebendigen Seele«. Damit wollte er also klar machen, was ein seelischer Leib sei, obschon die Schrift vom ersten Menschen, Adam genannt, da ihm durch Gottes Hauch die Seele erschaffen ward, nicht sagt: Es ward der Mensch in einem seelischen Leibe, sondern: »Es ward der Mensch zu einer lebendigen Seele«. Des seelischen Leib des Menschen also will der Apostel verstanden wissen in dem Schriftwort: »Es ward der erste Mensch zu einer lebendigen Seele«.

Wie aber der geistige Leib zu verstehen sei, erklärt er in den anschließenden Worten: »Der letzte Adam ward zu einem belebenden Geist«, ohne Zweifel auf Christus anspielend, der nunmehr von den Toten so auferstanden ist, dass er fürder überhaupt nicht mehr sterben kann. Und endlich folgen die Worte: »Doch nicht zuerst das Geistige, sondern das Seelische, dann das Geistige«. Und damit gibt er noch viel deutlicher zu erkennen, daß er an den seeli¬schen Leib gedacht hat bei dem Schriftwort, der erste Mensch sei zur lebendigen Seele geworden, und an den geistigen Leib bei seinen eigenen Worten: »Der letzte Adam ward zum belebenden Geist«. Denn voran geht der seelische Leib, wie der erste Adam einen hatte, wenn auch nicht einen dem Tode verfallenen ohne vorangegangene Sünde, und wie wir jetzt einen haben, mit insofern veränderter und verschlechterter Natur, als für ihn nach der Sünde nunmehr die Unvermeidbarkeit des Todes als Folge eingetreten ist (einen solchen zunächst zu haben ließ sich auch Christus herab zu unserem Besten, nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Machtvollkommenheit); dann erst kommt der geistige Leib, wie er bereits vorangegangen ist in Christus als unserm Haupte, in seinen Gliedern aber folgen wird durch die schließliche Auferstehung der Toten.

Im Anschluss daran gibt der Apostel sodann den in die Augen springenden Unterschied zwischen diesen beiden »Menschen« an: »Der erste Mensch aus Erde ist irdisch, der zweite Mensch ist vom Himmel. Wie der irdische, so auch die irdischen; wie der himmlische, so auch die himmlischen. Und wie wir das Ebenbild des irdischen angezogen haben, so wollen wir auch das Ebenbild dessen anziehen, der im Himmel ist«. Der Apostel meint das in dem Sinne, dass es jetzt in uns vor sich gehen möge durch die Wirkung des Sakramentes der Wiedergeburt, wie er an einer andern Stelle sagt (Gal. 3, 27): »Ihr alle, die ihr in Christo getauft seid, habt Christum angezogen«; in Wirklichkeit aber wird es sich erst vollenden, wenn auch in uns das, was seelisch ist durch die Geburt, durch die Auferstehung, geistig geworden ist. Denn »der Hoffnung nach sind wir gerettet worden«, um mich wieder seiner Worte (Röm. 8, 24) zu bedienen. Das Ebenbild des irdischen Menschen haben wir angezogen durch die Vererbung der Übertretung und des Todes auf dem Wege der Zeugung; das Ebenbild des himmlischen Menschen werden wir anziehen durch die Gnade der Verzeihung und des ewigen Lebens, die Wirkung der Wiederzeugung, und zwar allein auf dem Wege über den »Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Christus Jesus« (1 Tim. 2, 5). Ihn versteht er unter dem himmlischen Menschen, weil er vom Himmel kam, um sich mit dem Leibe irdischer Sterblichkeit zu bekleiden und so diesen Leib mit himmlischer Unsterblichkeit auszustatten.

Und himmlisch nennt er auch andere, weil sie durch Gnade Glieder Christi werden, so dass Christus mit ihnen eins ist wie Haupt und Leib. Das spricht er im nämlichen Briefe (1 Kor. 15, 21f.) deutlicher also aus: »Durch einen Menschen der Tod, und durch einen Menschen die Auferstehung von den Toten. Wie nämlich in Adam alle sterben, so werden hinwieder in Christo alle lebendig gemacht werden«; nunmehr im geistigen Leibe natürlich, der zum belebenden Geiste wird; »alle« übrigens, nicht weil alle, die in Adam sterben, Glieder Christi sein werden (der weitaus größere Teil davon wird vielmehr mit dem zweiten, ewig währenden Tode bestraft), sondern deshalb ist in beiden Satzgliedern »alle« gesetzt, weil man nur in Christo durch einen geistigen Leib belebt wird, wie man nur in Adam dem seelischen Leibe nach stirbt. Demnach ist durchaus nicht anzunehmen, dass wir bei der Auferstehung einen Leib erhalten werden, wie ihn der erste Mensch vor der Sünde hatte, und die Worte: »Wie der irdische (Mensch), so die irdischen« dürfen auch nicht bezogen werden auf etwas, was durch Begehung der Sünde herbeigeführt worden ist. Denn irrig wäre die Ansicht, der Mensch hätte vor der Sünde einen geistigen Leib gehabt, der erst infolge der Sündenschuld in einen seelischen verwandelt worden wäre. Wer das meinte, würde die Worte des großen Lehrers zu wenig beachten: »Gibt es einen seelischen Leib, so gibt es auch einen geistigen; so steht auch geschrieben: Es ward der erste Mensch zu einer lebendigen Seele«. Das ist doch nicht erst nach der Sünde so geworden, da es sich hier um die ursprüngliche Beschaffenheit des Menschen handelt, für die der heilige Apostel dieses Zeugnis des Gesetzes aufruft, um das Vorhandensein eines seelischen Leibes darzutun.

24. Über die Bedeutung des Anhauchens Gottes, durch das der erste Mensch zur lebendigen Seele ward, und die Bedeutung jenes Anhauchens, mit dem der Herr seine Worte an die Jünger begleitete: »Empfanget den Heiligen Geist«.
Daher ist auch die von manchen vertretene Auffassung nicht recht wohlerwogen*, die in dem Schriftwort (Gen. 2, 7): »Gott hauchte in sein Angesicht den Geist des Lebens, und es ward der Mensch zur lebendigen Seele« nicht die Erschaffung der Seele des ersten Menschen sehen will, sondern die Belebung der schon einerschaffenen durch den Heiligen Geist.
*Vertreten von Origenes, Tertullian, Cyprian, Cyrillus von Alexandrien, Basilius, Ambrosius u. A. (nach Anmerkung der Maurianer)

Sie lassen sich davon bestimmen, dass der Herr Jesus nach seiner Auferstehung von den Toten seine Jünger anhauchte mit den Worten (Joh. 20, 22): »Empfanget den Heiligen Geist«. Deshalb denken sie bei jenen Worten des Schöpfungsberichtes an ein Vorkommnis ähnlich diesem, als ob auch bei diesem der Evangelist die Worte folgen ließe: Und sie wurden zu einer lebendigen Seele. Hieße es wirklich so, dann würden wir den Schöpfungsbericht dahin auffassen, dass der Geist Gottes für die Seelen eine Art Leben sei und dass die vernünftigen Seelen ohne ihn als tot zu erachten seien, mögen immerhin ihre dermaligen Leiber offensichtlich leben.

Aber dass sich nicht eine Geistergießung bei der Erschaffung des Menschen zutrug, bezeugt der Wortlaut des Berichtes: »Und Gott gestaltete den Menschen als Staub von der Erde«. Das hat man dann, um es klarer zu machen, in die Worte umgesetzt: »Und Gott bildete den Menschen aus Erdenschlamm« (Gen. 2, 7), weil vorhergeht: »Ein Quell stieg auf aus der Erde und befeuchtete die ganze Oberfläche der Erde«; es legt sich also der Gedanke an den aus Erde und Feuchtigkeit sich bildenden Schlamm nahe. Denn auf die eben angeführten Worte folgt unmittelbar: »Und Gott gestaltete den Menschen als Staub von der Erde«, wie die griechischen Handschriften haben, aus denen der Schrifttext selbst ins Lateinische übersetzt ist. Dabei tut es nichts zur Sache, ob man das griechische Originalwort mit »formavit« (»gestaltete«) oder mit »finxit« (»bildete«) wiedergibt; wortgetreuer ist »finxit«. Durch die Wahl des Ausdrucks »formavit« vermied man jedoch eine Zweideutigkeit, weil im Lateinischen fingere, wie sich der Sprachgebrauch herausgebildet hat, mehr von solchen gesagt wird, die etwas mit Hilfe von Verstellung und Lüge frei erfinden. Also dieser aus Erdenstaub oder Erdenschlamm (es war feuchter Staub) gestaltete Mensch, dieser »Staub von der Erde«, um mich wörtlich an die Schrift zu halten, ist, wie der Apostel lehrt, ein beseelter Leib geworden, als er eine Seele erhielt: »Und es ward« dieser »Mensch zur lebendigen Seele«, d, h. dieser gestaltete Staub ward zur lebendigen Seele.

Aber, wendet man ein, er muss doch schon eine Seele gehabt haben, sonst würde er nicht Mensch genannt, da doch der Mensch nicht Leib allein und nicht Seele allein ist, sondern ein Wesen, das aus Leib und Seele zusammen besteht. Das ist ja richtig, dass die Seele nicht der ganze Mensch, sondern sein besserer Teil ist, und dass der Leib nicht der ganze Mensch, sondern sein niedrigerer Teil ist; und erst wenn beides miteinander verbunden ist, spricht man von einem Menschen; allein diese Bezeichnung wird doch auch von den einzelnen Teilen gebraucht. Der alltägliche Sprachgebrauch gestattet zu sagen: Dieser Mensch ist verschieden und befindet sich jetzt in der Ruhe oder in Pein, obwohl man das nur von der Seele sagen kann; oder: Da und da ist dieser Mensch begraben, obwohl das nur vom Leibe verstanden werden kann.

Oder will man sich darauf berufen, dass die Heilige Schrift solchen Sprachgebrauch nicht kennt? Aber sie gibt vielmehr uns darin Recht und gebraucht sogar da, wo beides verbunden ist und es sich um einen lebenden Menschen handelt, den Ausdruck Mensch für jeden einzelnen Teil, indem sie die Seele den inneren Menschen und den Leib den äußeren Menschen nennt, als wären es zwei Menschen, da doch beides zusammen nur den einen Menschen ausmacht. Man darf in der Tat nur darauf achten, in welcher Hinsicht der Mensch Gottes Ebenbild und auf der andern Seite Staub und Staubesbeute heißt: das eine im Hinblick auf die vernünftige Seele, wie sie Gott durch Einblasen, oder vielleicht besser gesagt, durch Einhauchen dem Menschen gegeben, d. i, dem Leibe des Menschen; das andere im Hinblick auf den Leib, wie Gott ihn gebildet hat aus Staub als Mensch, dem eine Seele verliehen ward, auf dass er ein beseelter Leib werde, d, i. dass der Mensch werde zur lebendigen Seele.

Also wollte der Herr in dem Vorgang des Einhauchens, womit er die Worte begleitete: »Empfanget den Heiligen Geist«, doch wohl darauf hinweisen, dass der Heilige Geist nicht allein des Vaters, sondern auch sein, des Eingeborenen, Geist ist. Ein und derselbe Geist ist ja der des Vaters und der des Sohnes, mit dem zusammen eine Dreieinigkeit bilden der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, und er ist Schöpfer, nicht ein Geschöpf. Denn jener körperliche Hauch aus irdischem Munde war nicht das Wesen und die Natur des Heiligen Geistes, sondern, wie gesagt, nur ein sinnfälliger Hinweis darauf, dass der Heilige Geist dem Vater und dem Sohne gemeinsam ist, weil nicht jeder der beiden einen eigenen, sondern beide den einen haben. Allein dieser Geist wird in der Heiligen Schrift stets mit dem griechischen Worte … bezeichnet, wie ihn auch Jesus an dieser Stelle genannt hat, da er ihn seinen Jüngern mitteilte, durch den Hauch seines leiblichen Mundes ihn sinnbildend; an keiner Stelle der Heiligen Schrift finde ich diesen je anders genannt. Dagegen in der Stelle: »Und Gott bildete den Menschen als Staub von der Erde und blies oder hauchte in sein Antlitz den Geist des Lebens«, hier hat der griechische Text nicht … wie der Heilige Geist in der Regel genannt wird, sondern …, ein Wort, das häufiger im Zusammenhang mit einem geschöpflichen Wesen als mit dem Schöpfer gebraucht wird.

Manche lateinische Übersetzer haben daher, um den Unterschied anzudeuten, das Wort flatus (Hauch) an dieser Stelle dem Wort spiritus (Geist) vorgezogen. Denn dasselbe Wort … findet sich in der griechischen Übersetzung auch in der Isaiasstelle, wo Gott sagt (Is. 57, 16 nach der Septuaginta). »Jeglichen Hauch (flatus) habe ich geschaffen«, wobei ohne Zweifel jegliche Seele gemeint ist. Also das griechische … haben unsere Übersetzer bald mit flatus, bald mit spiritus wiedergegeben, oder auch mit inspiratio (Einhauchung) oder aspiratio (Anhauchung), selbst auch wenn sie von Gott ausgeht; … dagegen stets mit spiritus, mag es sich nun handeln um den Geist des Menschen (den der Apostel meint in der Stelle (1 Kor. 2, 11): »Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist?«) oder des Tieres (wie es im Buche Salomons heißt (Ekkle. 3, 21); »Wer weiß, ob der Geist des Menschen emporsteigt zum Himmel und der Geist des Tieres herniedersteigt zur Erde?«) oder um das geistartige Luftgebilde, das sonst Wind heißt (dies ist z. B, gemeint in der Psalmstelle (Ps. 148 ,8): »Feuer, Hagel, Schnee, Eis, Sturmgeist«) oder überhaupt nicht um einen geschaffenen Geist, sondern um den Schöpfer, wie der Geist ist, von dem der Herr im Evangelium sagt: »Empfanget den Heiligen Geist«, indem er ihn zugleich sinnbildet durch Hauch seines leiblichen Mundes, oder in der Stelle (Matth. 28, 19): »Gehet hin, taufet «alle» Völker im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, wo eben die Dreieinigkeit auf das glänzendste und deutlichste bezeugt ist, oder in der Stelle (Joh. 4, 24): »Gott ist ein Geist« und an sehr vielen anderen Stellen der Heiligen Schrift. In all diesen Schriftzeugnissen lesen wir im Griechischen nirgends xxx, immer yyy, und bei den Lateinern nicht flatus, sondern spiritus. Böte daher der griechische Text in der Stelle: »Er hauchte« oder vielleicht wörtlicher »er blies in sein Angesicht den Geist des Lebens«, statt !!!, wie es dort heißt, das Wort ???, so müssten wir darunter noch immer nicht notwendig den Schöpfer-Geist verstehen, der in der Dreieinigkeit den nur ihm eigenen Namen Heiliger Geist führt, Denn es ist kein Zweifel, dass man, wie gesagt, ??? auch vom Geschöpf, nicht bloß vom Schöpfer gebraucht.

Allein man hat noch einen weiteren Einwand: Der heilige Autor hätte dem Worte »Geist« nicht die nähere Bestimmung »des Lebens« beigefügt, wenn er nicht den Heiligen Geist hätte verstanden wissen wollen; noch auch hätte er den Worten: »es ward der Mensch zur Seele« das Eigenschaftswort »zur lebendigen« beigefügt, wenn er nicht das Leben der Seele gemeint hätte, das ihr von Gott verliehen wird durch das Geschenk des Geistes Gottes. Da nämlich die Seele ohnehin schon als solche ihr eigenes Leben habe, so lasse sich die Beifügung von »lebendig« nur dahin verstehen, daß man an das Leben zu denken habe, das ihr durch den Heiligen Geist verliehen wird. Aber so kann man nur folgern, wenn man geistreiche Mutmaßung alles und die Heilige Schrift nichts gelten lässt. Man hätte gar nicht weit zu gehen brauchen; im nämlichen Buch, kurz vorher, heißt es (Gen. 1, 24): »Die Erde bringe hervor die lebendige Seele«, und zwar da, wo von der Erschaffung aller irdischen Lebewesen berichtet wird. Und es hätte nicht viel Aufmerksamkeit erfordert zu entdecken, dass es dann in der Folge, aber immer noch im nämlichen Buche, heißt (Gen. 7, 22): »Und alles, was den Geist des Lebens hat, und jeglicher, der sich auf dem Erdboden befand, starb«; so in der Erzählung, dass alles, was auf der Erde lebte, durch die Sündflut zugrunde ging.

Wenn wir also, dem Sprachgebrauch der Heiligen Schrift nachgehend, die lebendige Seele und den Geist des Lebens auch bei den Tieren finden, wobei übrigens der griechische Text in der Stelle: »Alles, was den Geist des Lebens hat« wieder das Wort xxx, nicht das Wort yyy bietet, so könnten wir hier gerade so gut fragen: Wozu die Beifügung von »lebendig«, da doch die Seele ohne Leben nicht sein kann? und wozu die Beifügung von »des Lebens« zu dem Worte »Geist«? Aber man sieht wohl ein, dass die Schrift in der ihr eigentümlichen Ausdrucksweise von »lebendiger Seele« und von »Geist des Lebens« spricht, wenn sie Lebewesen, d, i. beseelte Körper meint, denen durch ihre Seele auch klare leibliche Empfindung innewohnt. Bei dem Bericht über die Erschaffung des Menschen jedoch vergisst man den Sprachgebrauch der Schrift, obwohl sie sich da genau ihrer Ausdrucksweise bedient, um bekannt zu geben, daß der Mensch, obschon mit vernünftiger Seele ausgestattet, die sie durch Gottes Hauch erschaffen sein lässt, nicht gleich den Seelen der anderen irdischen Lebewesen durch Zeugungstätigkeit von Wasser und Erde, dennoch nach dem Schöpfungsplane in einem beseelten Leibe, der zustande kommt durch die in ihm lebende Seele, Leben gewinnen sollte, so gut wie jene anderen Lebewesen, von denen sie sagt: »Die Erde bringe hervor die lebendige Seele« und denen sie in gleicher Weise den Geist des Lebens zuspricht, wobei es im Griechischen auch nicht xxx, sondern yyy heißt, da eben nicht der Heilige Geist, sondern deren Seele mit diesem Worte bezeichnet werden will.

Aber Gottes Hauch muss doch aus Gottes Mund hervorgegangen sein, und wenn man also unter Gottes Hauch die Seele versteht, so müsste man folgerichtig die Seele als gleichwesentlich mit Gott und als identisch mit jener Weisheit erklären, die gesprochen hat (Ekkli. 24, 3): »Ich bin aus dem Munde des Allerhöchsten hervorgegangen«. Doch die Weisheit sagt nicht, dass sie aus dem Munde Gottes ausgehaucht worden, sondern dass sie daraus hervorgegangen sei. So wie wir beim Atmen den Hauch erzeugen aus der uns umgebenden Luft, die wir durch Ein- und Ausatmen an uns ziehen und von uns stoßen, und nicht aus unserer Natur, aus unserm Wesen als Menschen, so brauchte Gott den Hauch weder aus seiner Natur noch aus einer geschöpflichen Unterlage hervorzubringen, vielmehr konnte er vermöge seiner Allmacht aus nichts den Hauch hervorbringen; den er, wie es völlig zutreffend heißt, dem Menschenleib durch Zuführung eingehaucht oder eingeblasen hat, einen unkörperlichen Hauch, weil er vom Unkörperlichen ausging, jedoch einen wandelbaren, trotzdem er vom Unwandelbaren ausging, weil es sich um einen erschaffenen Hauch des Unerschaffenen handelt. Übrigens mögen sich die, die über die Heilige Schrift reden, ohne ihre Redeweise zu beachten, das Gotteswort vor Augen halten (Off. 3, 16): »Weil du lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde«. Daraus sollten sie erkennen, dass es nicht ausschließlich von solchem, was gleichen Wesens ist mit Gott, heißt, es gehe aus dem Munde Gottes hervor.

Damit fällt jeder Grund dahin, warum wir dem so deutlich redenden Apostel widersprechen sollten, wo er den seelischen Leib vom geistigen, d. i. den, worin wir gegenwärtig sind, von dem, worin wir künftig sein werden, unterscheidet mit den Worten (1 Kor. 15, 44ff.):

»Gesäet wird ein seelischer Leib, auferstehen wird ein geistiger Leib; gibt es einen seelischen Leib, so auch einen geistigen; so steht auch geschrieben: Es ward der erste Mensch Adam zu einer lebendigen Seele, der letzte Adam zu einem belebenden Geist. Doch nicht zuerst das Geistige, sondern das Seelische, dann das Geistige. Der erste Mensch aus Erde ist irdisch, der zweite Mensch ist vom Himmel. Wie der irdische, so auch die irdischen, und wie der himmlische, so auch die himmlischen. Und wie wir das Ebenbild des irdischen angezogen haben, so wollen wir auch das Ebenbild dessen anziehen, der im Himmel ist«.

Über diese ganze Stelle aus dem Apostel haben wir bereits oben gesprochen. Der seelische Leib also, in welchem nach ihm der erste Mensch Adam erschaffen worden ist, ward so erschaffen, dass er nicht sterben sollte, wenn der Mensch nicht sündigte, nicht aber so, dass er überhaupt nicht sollte sterben können. Denn überhaupt nicht sterben können wird erst der Leib, der durch den belebenden Geist geistig sein wird und unsterblich, wie die erschaffene Seele unsterblich ist, die freilich durch die Sünde erstirbt, wie man sagt, und einer bestimmten Art ihres Lebens verlustig geht, nämlich des ihr weises und glückliches Leben bedingenden Gottesgeistes, dabei aber nicht aufhört ihr Eigenleben, wenn auch ein unseliges, zu führen, weil sie als unsterblich erschaffen ist; wie auch die abtrünnigen Engel, obgleich sie in einer gewissen Hinsicht durch ihr Sündigen erstorben sind, weil sie Gott, den Quell des Lebens, verlassen haben, von dessen Labung ihr weises und glückseliges Leben abhing, gleichwohl nicht in dem Sinne sterben konnten, als ob sie gänzlich aufhörten zu leben und zu empfinden, weil sie eben als unsterblich erschaffen sind.

Und so werden sie selbst im zweiten Tod, in den sie nach dem letzten Gericht gestürzt werden, des Lebens nicht bar sein, da sie ja der Pein unterworfen und also nicht ohne Empfindung sein werden. Dagegen werden die zu Gottes Gnade gehörigen Menschen, die Mitbürger der heiligen und im glückseligen Leben beharrenden Engel, mit geistigen Leibern in der Weise ausgestattet werden, dass sie nicht mehr sündigen noch auch sterben, mit einer solchen Unsterblichkeit jedoch bekleidet, die gleich der der Engel auch nicht durch Sünde aufgehoben werden kann, wobei das Wesen des Fleisches erhalten bleibt, ohne dass aber irgendwelche fleischliche Vergänglichkeit oder Schwerfälligkeit zurückbleibt.

Es erhebt sich nun aber eine Frage, die wir nicht umgehen können und mit Hilfe des Herrn, des Gottes der Wahrheit, zu lösen hoffen: Wenn sich das Begehren der unbotmäßigen Glieder infolge der Sünde der Unbotmäßigkeit in den ersten Menschen erst erhob, als die göttliche Gnade von ihnen gewichen war, weshalb sie jetzt erst die Augen auf ihre Nacktheit richteten, d, h. mit Neugier auf sie aufmerksam wurden, und über dem Widerstreit ihres freien Willens wider die unschamhafte Regung ihre Scham bedeckten, wie hätten sie dann Kinder zeugen können, wenn sie ohne Sünde geblieben wären, wie sie erschaffen waren? Doch es ist Zeit dieses Buch zu beenden, und eine so wichtige Frage lässt sich nicht in ein paar Worten erledigen; es wird sich also empfehlen, ihre Beantwortung dem folgenden Buche zuzuweisen. S. 250-297
Aus: Des heiligen Kirchenvaters Aaurelius Augustinus Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesststaat. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Alfred Schröder. II. Band (Buch IX-XVI) Bibliothek der Kirchenväter. Verlag Josef Kösel&Friedrich Pustet.KG Kenpten und München. 1914 (unter Beachtung der neuen Rechtschreibung übertragen)

Ausgewählte Briefe - Drittes Buch

Brief an Proba
II. (Nr. 130.)
Geschrieben im Jahre 412.
Der Bischof Augustinus, Diener Christi und der Knechte Christi, grüßt Proba, die fromme Dienerin Gottes, in dem Herrn der Herren.

Anicia Faltonia Proba, Witwe des Sextus Petronius Probus, entstammte einer römischen Familie von großem Reichtum und edler Abstammung. Drei ihrer Söhne erlangten das Konsulat, zwei zusammen 395, der dritte 406. Als Rom 410 von Alarich genommen wurde, waren Proba und ihre Familie in der Stadt und entgingen nur mit Mühe Gewalttaten während der sechs Tage, während deren die Goten die Stadt plünderten. Um diese Zeit starb einer ihrer Söhne, und bald nach diesem traurigen Ereignisse entschloss sie sich, Rom zu verlassen. Sie veräußerte ihre umfangreichen Besitztümer und schiffte nach Afrika, begleitet von ihrer Schwiegertochter Juliana, der Witwe von Anicius Rermogonianus Olybrius, und Demetrias, Julianas Tochter, die 413 den Schleier nahmen und dadurch einen gewaltigen Eindruck in der kirchlichen Welt erregten. Ein beträchtliches Gefolge von Witwen und jüngeren Frauen suchte Schutz in ihrem Schutzgebiete und begleitete die vornehmen Flüchtlinge nach Karthago. Um sich den Schutz des Heraclianus, das Statthalters von Afrika, zu sichern, bezahlte sie eine beträchtliche Summe und erhielt die Erlaubnis, sich mit ihrem Gefolge frommer Frauen in Karthago niederzulassen. Ihre Frömmigkeit führte sie dazu, die Freundschaft und den Rat des hl. Augustinus zu suchen.

Augustinus wünscht der Adressatin Glück, dass sie, von der Fülle äußerer Gnaden überhäuft, doch Verlangen nach einer Unterweisung über das Gebet empfinde. Beim Gebete komme es vor allem auf die Person des Betenden, d. h auf seinen Seelenzustand an: er müsse sich als hilfsbedürftig und verlassen erkennen. Sodann komme es an auf den Gegenstand des Gebetes; dieser sei Gott und seine Gnade. Von irdischen Dingen solle man nur um das Notwendige bitten, besonders um Gesundheit und ausreichendes Auskommen. Man solle allzeit beten durch das beständige Verlangen nach Gott und seinen Gütern und durch die sogenannten Pfeilgebete. Augustinus gibt sodann eine kurze Erklärung des »Vaterunser« und der Tatsache, dass so manches Gebet unerhört zu bleiben scheine.

I. 1. Da ich mich an deine Bitte und mein Versprechen, dir etwas über das Gebet zu Gott zu schreiben, erinnere und derjenige zu dem wir beten, Zeit und Kraft verliehen hat, so muss ich endlich meine Schuld abtragen und deinem frommen Verlangen in der Liebe Christi zu Dienste zu sein. Wie sehr mich aber deine Bitte erfreut hat, da ich aus ihr erkannte, wieviel dir aus dieser so wichtigen Sache gelegen ist, kann ich mit Worten nicht erklären. denn was für ein wichtigeres Geschäft kann es für dich als Witwe geben, als nach der Mahnung des Apostels Tag und Nacht im Gebete zu verharren? Er sagt nämlich: Die aber wahrhaft Witwe ist und trostlos, hat auf Gott gehofft und verharrt Tag und Nacht im Gebete«* Da du vor den Augen dieser Welt vornehm, reich und Mutter einer so angeseheren Familie bist, also Witwe, aber keineswegs trostlos, so könnte es erstaunlich erscheinen, dass der Gebetseifer dein Herz ergriffen und in besonderer Weise eingenommen hat. Allein du hast mit Klugheit eingesehen, dass in dieser Welt und in diesem Leben keine Seele in Sicherheit zu sein vermag.
* 1. Tim. 5, 5.
So lautet die Stelle bei Augustinus; in unseren Ausgaben lautet sie bekanntlich etwas anders. Insbesondere muss »desolata« mit »trostlos« statt mit »verlassen« übersetzt werden, weil in der ganzen folgenden Erklärung diese Deutung vorausgesetzt wird.

2. Derjenige, der dir diesen Gedanken eingegeben hat, tut deshalb gewiss an dir, was er seinen Jüngern in wunderbar mildreicher Weise verheißen hat, als sie nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen des Menschengeschlechtes betrübt waren und daran verzweifelten, dass jemand selig werden könne; hatten sie doch von ihm hören müssen, »leichter gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher ein in das Himmelreich« (Matth. 19, 23—26; Luk. 18, 25 und 27).

Er erwiderte ihnen nämlich, bei Gott sei leicht, was bei den Menschen unmöglich sei. Derjenige also, bei dem es leicht ist, dass auch ein Reicher in das Himmelreich eingehe, hat dir eine fromme Sorge wegen der Art deines Gebetes eingeflösst, und du hast geglaubt, mich hierüber befragen zu müssen. Er hat ja auch, als er noch auf Erden weilte, den reichen Zachäus ins Himmelreich aufgenommen
(2. Luk. 19, 2—10.), und nach seiner Verherrlichung durch die Auferstehung und Himmelfahrt hat er viele Reiche durch Erteilung des Heiligen Geistes zu Verächtern dieser Welt gemacht und sie noch mehr bereichert, indem ihre Begierde nach Reichtum ein Ende nahm. Und wie könntest auch du dich so bestreben, zu Gott zu beten, wenn du nicht auf ihn hofftest? Du könntest aber nicht auf ihn hoffen, wenn du auf unsicheren Reichtum hofftest und das so heilsame Gebot verachtetest, das der Apostel ausspricht: »Den Reichen dieser Welt gebiete, nicht hochmütig zu sein und nicht zu vertrauen auf hinfälligen Reichtum, sondern auf den lebendigen Gott, der uns alles reichlich darbietet zum Genusse; sie sollen reich sein an guten Werken, gerne geben und mitteilen und sich einen Schatz sammeln als gute Grundlage für die Zukunft, auf dass sie erfassen mögen das wahre Leben« (1 Tim. 6, 17—19.)

II. 3. Aus Liebe zu diesem wahren Leben musst du dich also in dieser Welt als trostlos betrachten, so groß auch der Wohlstand sein mag, in dem du dich befindest. Denn wie nur jenes Leben das wahre ist, in Vergleich mit dem das so vielfach geliebte, so angenehm und lang es auch sein mag, nicht einmal den Namen des Lebens verdient, so ist auch jener Trost der wahre, den der Herr durch den Propheten mit den Worten verheißt:
»ich werde ihnen wahren Trost geben, Frieden über Frieden«
(Is. 57, 18 und 19 nach der Septuaginta). Ohne diesen Trost wird in allen irdischen Tröstungen mehr Trostlosigkeit als Stärkung gefunden. Denn welchen Trost bringen Reichtum, hohe Ehrenstellen und andere derartige Dinge, durch die die Sterblichen des wahren Glückes entbehren, sich für glücklich halten, da es doch besser ist, ihrer nicht zu bedürfen. als einen Vorrang zu besitzen? Und hat man sie erlangt, quält dann nicht die Furcht, sie zu verlieren, noch mehr als die Begierde, sie zu erlangen, quälte, so lange man sie noch nicht besaß? Durch solche Güter werden die Menschen nicht gut; nur wenn sie auf eine andere Weise gut geworden sind, so bewirken sie durch rechten Gebrauch dieser Dinge, dass auch sie gut werden. In diesen Dingen liegt also kein wahrer Trost, sondern vielmehr da, wo das wahre Leben ist. Denn der Mensch muss eben, dadurch glückselig werden, wodurch er gut wird.

4. Gute Menschen aber sieht man schon in diesem Leben großen Trost spenden. Wenn die Armut bedrängt, wenn Trauer darniederdrückt, wenn körperliche Schmerzen die Ruhe rauben, wenn Verbannung Trübsal bringt, wenn irgendein anderes Missgeschick Qual verursacht, so mögen gute Menschen kommen, die nicht bloß »mit den Fröhlichen sich zu freuen, sondern auch mit den Weinenden zu weinen«
(Römer 12, 15) verstehen, die in tröstlicher Weise anzusprechen und eine Unterredung zu führen wissen: in den meisten Fällen wird dann das Harte gemildert, das Schwere erleichtert, das Widerwärtige überwunden werden. Dies bewirkt aber in ihnen und durch sie derjenige, der sie mit seinem Geiste zu guten Menschen gemacht hat. Nun nimm das Gegenteil an! Wenn auch Reichtum im Überflusse vorhanden ist, kein Mangel sich fühlbar macht, der Leib sich gesund befindet, wenn man im ungefährdeten Vaterlande wohnt, aber von bösen Menschen umgeben ist, unter denen niemand ist, auf den man vertrauen könnte, niemand, dessen List, Betrug, Zorn, Hader und Nachstellung nicht zu fürchten oder nicht zu erdulden wäre — wird da nicht all dieses bitter und hart, so dass nichts Angenehmes und Erfreuliches mehr dabei bleibt? So ist in allen menschlichen Dingen dem Menschen nichts freundlich ohne einen Freund. Aber wie selten wird ein Freund gefunden, über dessen Gesinnung und Charakter in diesem Leben volle Gewissheit besteht! Denn niemand kennt einen anderen so, wie er sich selbst kennt, und auch sich selbst kennt niemand so, dass er hinsichtlich seiner morgigen Handlungsweise sicher sein dürfte. Obwohl man also viele an ihren Früchten erkennt und die einen durch ihr gutes Leben den Nächsten erfreuen, die anderen ihn durch ihren schlechten Wandel betrüben, so ermahnt uns doch der Apostel wegen der Verborgenheit und Unzuverlässigkeit der menschlichen Gesinnung mit vollstem Rechte, »nicht vor der Zeit über irgend etwas zu richten, bis der Herr kommt und das im Finstern Verborgene erleuchtet und die Gedanken des Herzens offenbar macht; dann wird jeder sein Lob von Gott empfangen«(1 Kor. 4, 5).

5. So lange wir also in der Finsternis dieses Lebens, »ferne gerückt vom Herrn, im Glauben und nicht im Schauen wandeln«
(2. Kor.5, 6 und 7)‚ muss sich die christliche Seele als trostlos betrachten, damit sie nicht zu beten ablasse. Auch lerne sie, das Auge des Glaubens hinzuwenden auf das Wort der göttlichen und heiligen Schriften »wie auf eine an finsterem Orte befindliche Leuchte, bis der Tag heranbricht und der Morgenstern sich in unserem Herzen erhebt« (2. Petr.1, 19). Diese Leuchte hat gleichsam ihre unergründliche Quelle in jenem Licht, das so in der Finsternis leuchtet, dass es von der Finsternis nicht begriffen wird, weil die Herzen, um es zu sehen, durch den Glauben gereinigt werden müssen. Denn »selig, die eines reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen« (Matth. 5, 8.). Und: »Wir wissen, dass, wenn es offenbar sein wird, wir ihm ähnlich sein werden, weil wir ihn sehen werden, wie er ist« (1. Joh 3, 2 Zum Verständnis der Stelle muss an den Anfang dieses Verses erinnert werden: »Vielgeliebte! Jetzt sind wir Kindsr Gottes. aber es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.«). Dann wird nach dem Tode das wahre Leben und nach der Trostlosigkeit der wahre Trost sein. Jenes Leben wird unsere »Seele vom Tode« (Ps. 114, 8. Die Stelle lautet vollständig: »Er errette meine Seele vom Tode, meine Augen von den Tränen und meine Füße vom Falle.« retten und jener Trost unsere »Augen von den Tränen« befreien. Und weil dort keine Versuchung mehr sein wird, so folgt in demselben Psalm das Wort: »Und meine Füße vom Falle«. Wo es aber keine Versuchung mehr gibt, da gibt es auch kein Gebet mehr (Offenbar meint der hl. Augustinus hier zunächst das Bittgebet für eigene Angelegenheiten.); denn dort ist keine Erwartung eines verheißenen Gutes mehr, sondern die Anschauung eines empfangenen. Darum heißt es: »Ich will dem Herrn gefallen im Lande der Lebendigen« (Ps. 114, 9), wo wir dann sein werden, nicht in der Wüste der Toten, in der wir uns jetzt befinden. »Denn ihr seid abgestorben«, schreibt der Apostel, »und euer Leben ist mit Christus in Gott verborgen. Wenn aber Christus, euer Leben, erschienen ist, dann werdet auch ihr selbst vor ihm in Herrlichkeit erscheinen« (Kol 3. 3 und 4.). Dies ist nämlich das wahre Leben, das die Reichen nach dem Befehle des Apostels durch gute Werke erfasssen sollen und dort ist der wahre Trost, dessen die trostlose Witwe jetzt entbehrt. Wenn sie darum auch »Söhne und Enkel hat« (1 Tim. 5, 4 und 5.), ihr Haus mit Frömmigkeit verwaltet und bei all den Ihrigen dahin wirkt, dass sie ihr Vertrauen auf Gott setzen, so spricht sie doch in ihrem Gebete: »Nach Dir dürstet meine Seele, wie sehr schmachtet nach Dir mein Fleisch im wüsten, weg- und wasserlosen Lande!« (Ps. 62, 2 und 3.), das heißt in diesem Sterbensleben. Denn wie viel menschlicher Trost ihr auch zu Gebote stehe, wie viele Reisegefährten sie auch begleiten mögen, wie große Schätze sich auch vor ihr aufhäufen — du weißt ja, wie unsicher all dieses ist! Und was wäre dieses alles im Vergleich mit der verheißenen Glückseligkeit, auch wenn es nicht so unsicher wäre!

6. Dies sage ich, damit du, die du als reiche und vornehme Witwe und Mutter einer so großen Familie von mir eine Abhandlung über das Gebet verlangt hast, dich verlassen fühlest, auch wenn in diesem Leben die Deinigen bei dir bleiben und dir gehorchen. Noch ist ja jenes Leben nicht erfasst, wo der wahre und sichere Trost sich findet, wo erfüllt werden wird, was in der Weissagung gesagt ist: »Früh am Morgen sind wir gesättigt worden von Deiner Barmherzigkeit, wir haben frohlockt und uns gefreut an allen unseren Tagen. Wir haben uns gefreut wegen der Tage, an denen Du uns gedemütigt hast, wegen der Jahre, in denen wir Unglück gesehen haben« (Ps. 89, 14 und 15.).

III. 7. Bevor also dieser Trost kommt, sei, um »Tag und Nacht im Gebet« zu verharren, eingedenk, dass du eine Trostlose bist, mag der Wohlstand an zeitlichen Gütern, der dich umgibt, noch so groß sein. Denn nicht jeder beliebigen Witwe schreibt der Apostel diese Beschäftigung zu, sondern er sagt: »Die wahrhaft Witwe und trostlos ist, hat auf den Herrn gehofft und verharrt Tag und Nacht im Gebete« (1 Tim. 5, 5.). Hüte dich aber mit aller Sorgfalt vor dem, was es weiter heißt: »Denn die sich mit Vergnügungen zu schaffen macht, ist lebendig tot« (1 Tim. 5, 6.). Denn der Mensch macht sich mit dem zu schaffen, was er liebt, wonach er als etwas Großem trachtet, worin er seine Glückseligkeit zu finden glaubt. Was deshalb die Heilige Schrift vom Reichtum sagt: »Wenn Reichtum zufließt, so wendet ihm euer Herz nicht zu« (Ps 61, 11.), das sage ich dir hinsichtlich der Vergnügungen: Wenn Vergnügungen zuströmen, so wende dein Herz ihnen nicht zu! Halte dich nicht für groß, weil sie dir nicht fehlen, weil sie sich im Überflusse darbieten, weil sie gleichsam der überreichen Quelle irdischen Wohlstandes entströmen! Überhaupt verachte all dieses an dir und schätze es gering und verlange von ihm nichts als vollständige körperliche Gesundheit! Denn diese darf man nicht gering schätzen, weil man sie notwendig zum Leben braucht, so lange dieses Sterbliche nicht das Unsterbliche, das heißt die wahre, vollkommene und ewige Gesundheit angezogen hat, die nicht durch eine irdische Krankheit zugrunde geht, auch nicht durch vergängliche Erholung wieder hergestellt wird, sondern in himmlischer Festigkeit verbleibt und in ewiger Unverwes!ichkeit erblüht. Selbst der Apostel sagt ja: »Traget nicht Sorge für das Fleisch wegen der Begierlichkeit« (Röm. 13, 14.). Nun tragen wir allerdings ja Sorge für das Fleisch, aber wegen der notwendigen Gesundheit. »Niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst« (Eph. 5,29.), sagt ja derselbe Apostel. Darum ermahnt er ja auch den Timotheus, der offenbar seinen Leib zu sehr züchtigte, »er solle wegen seines Magens und seiner zahlreichen Krankheiten etwas Wein genießen« (1. Tim. 5, 23).

8. Wenn also eine Witwe sich mit diesen Vergnügungen zu schaffen macht, das heißt wenn sie mit Freude des Herzens daran hängt und darin verweilt, so ist sie lebendig tot. Darum haben viele Heilige beiderlei Geschlechtes sich ganz und gar ihrer enthalten, sich gewissermaßen ihres Reichtums, der Mutter dieser Vergnügungen, durch Verteilung an die Armen entledigt und ihn lieber auf andere Weise in der himmlischen Schatzkammer hinterlegt. Wenn du auch dies, durch irgendeine Liebespflicht gebunden, nicht tust, so weißt du doch, welche Rechenschaft du von deinem Reichtume Gott ablegen musst. »Denn niemand weiß, was im Menschen geschieht, als der Geist des Menschen, der in ihm ist«
(1 Kor. 2, 11.) Wir dürfen nicht »vor der Zeit über etwas urteilen, bis. der Herr kommt, der das im Finstern Verborgene erleuchten und die Gedanken des Herzens offenbar machen wird; dann wird jeder sein Lob von Gott empfangen« (1 Kor 4, 5.). Jedoch gehört es zu deinen Witwensorgen, wenn Vergnügungen zuströmen, ihnen das Herz nicht zuzuwenden, damit nicht durch sie verwese und sterbe, was in der Höhe sein muss, wenn es leben soll. Halte dafür, dass du dich in der Zahl derer befindest, von denen geschrieben steht: »Ihre Herzen werden leben von Ewigkeit zu Ewigkeit« (Ps. 21. -27.)

IV. 9. Du hast also gehört, wie du selbst bei deinem Gebete beschaffen sein sollst; nun höre, worum du beten sollst, denn darüber glaubtest du ja vorzüglich mich befragen zu müssen, weil dich das Wort des Apostels beunruhigt: »Worum wir beten sollen, wie es sein muss, das wissen wir nicht«
(Röm. 8, 26.). Du hast sogar gefürchtet, es möge dir mehr zum Schaden gereichen, nicht so zu beten, wie es sein muss, als überhaupt gar nicht zu beten. Hierauf lässt sich in Kürze antworten: Bete um ein glückseliges Leben! Denn alle Menschen wollen ein solches haben. Sogar jene, die ein ganz schlechtes und verworfenes Leben führen, würden keineswegs dies tun, wenn sie nicht glaubten, auf diese Weise glückselig sein oder werden zu können. Um was anderes also solltest du beten als um das, was sowohl Gute als Böse begehren, wozu aber nur die Guten gelangen?

V. 10. Hier möchtest du vielleicht schon die Frage stellen, was denn eigentlich das glückselige Leben sei. An dieser Frage haben viele Philosophen ihren Scharfsinn und ihre Zeit vergeudet und doch ihre richtige Lösung um so weniger gefunden, je weniger sie der Quelle des glückseligen Lebens Ehre erwiesen und ihr Dank gesagt haben. Bedenke also zuerst, ob man jenen zustimmen dürfe, die da sagen, glückselig sei der, der nach seinem Willen lebe. Aber ferne sei es von uns, dies für wahr zu halten. Denn wie, wenn er etwa gottlos leben wollte? Ist er nicht erweislich umso unglücklicher, je leichter sein böser Wille sich erfüllt? Mit Recht haben diese Ansicht sogar diejenigen verworfen, die ohne Anbetung Gottes philosophische Studien getrieben haben. So spricht der Beredsamste aus ihnen das allerdings schöne Wort: »Sieh aber, andere, die zwar keine Philosophen, aber zum Disputieren bereit sind, behaupten, alle seien glückselig, die so leben, wie sie wollen. Das ist nun allerdings unrichtig; denn wollen, was sich nicht geziemt, ist selbst schon das größte Unglück. Auch ist es kein so großes Unglück, nicht zu erlangen, was man will, als erlangen zu wollen, was man nicht soll«
(Cicero Hortensius; vgl. Augustinus de beata vita c. 10.). Was hast du für eine Ansicht? Sind diese Worte nicht von der Wahrheit selbst durch irgendeinen Menschen gesprochen? Wir können also hier sagen, was der Apostel von einem Propheten aus Kreta (Epimenides) sagte dessen Ausspruch ihm gefiel: »Dieses Zeugnis ist wahrhaft« (Titus 1,12-13.)

11. Derjenige ist also glücklich, der alles hat, was er will, aber nichts will, was sich nicht geziemt
(Damit führt Augustinus eine weitere Definition des glückseligen Lebens an, nicht seine eigene Ansicht.). Wenn dem so ist, so beachte, was die Menschen alles wollen können, ohne dass es unziemlich ist. Der eine will verheiratet sein, der andere will, nachdem er Witwer geworden, von nun an enthaltsam leben, wieder ein anderer will auch in der Ehe von keinem Geschlechtsverkehr wissen. Und wenn auch hierbei das eine sich besser erweist denn das andere, so kann man doch von keinem aus diesen sagen, dass er etwas Unziemliches wolle. So verhält es sich auch mit dem Wunsche, Kinder zu bekommen, als Frucht der Ehe nämlich, und mit dem Wunsche, dass diejenigen, die man bekommen hat, Leben und Gesundheit besitzen möchten. Diesen letzteren Wunsch hegen ja gewöhnlich auch Personen, die als Verwitwete enthaltsam sind. Denn wenn sie auch keine Ehe mehr wollen und deshalb nicht mehr wünschen, Kinder zu bekommen, so wünschen sie doch, dass ihre bereits geborenen Kinder sich wohl befinden. Die jungfräuliche Reinheit hingegen ist auch von dieser Sorge gänzlich frei. Alle besitzen jedoch teure Angehörige, denen sie ohne jede Ungebühr auch zeitliches Wohlergehen wünschen. Wenn aber die Menschen dieses Wohlergehen für sich und für jene, die sie lieben, erlangt haben, können wir sie dann etwa schon glückselig preisen? Sie besitzen dann etwas, was zu wollen nicht unziemlich ist; wenn sie aber andere, größere, bessere, an Nutzen und Ehre reichere Güter nicht besitzen, so sind sie noch weit entfernt vom glückseligen Leben.

VI. 12. Ist man also der Ansicht, dass man außer diesem zeitlichen Wohlergehen sich und den Seinigen auch noch Ehre und Macht wünschen soll? Gewiss, wenn, sie hierdurch für jene Sorge tragen wollen, die unter ihnen leben, wenn sie nicht diese Dinge selbst, sondern ein anderes daraus entstehendes Gut im Auge haben, so geziemt es sich, solches zu wünschen; wenn es aber aus eitler Prahlerei und wegen überflüssigen, nichtigen, ja sogar schädlichen Prunkes geschieht, so geziemt es sich nicht. Ebenso verhält es sich auch, wenn sie sich und den Ihrigen ausreichendes Auskommen hinsichtlich der notwendigen Dinge wünschen; darüber sagt ja der Apostel folgendes: »Gottseligkeit mit Genügsamkeit ist ein großer Erwerb. Denn wir haben nichts in die Welt gebracht, aber wir können auch nichts von hier fortnehmen. Haben wir Kleidung und Nahrung, so lasst uns damit zufrieden sein. Denn die reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke des Teufels und in viele unnütze und schädliche Begierden, die die Menschen in Verderben und Untergang versenken. Denn die Wurzel alles Bösen ist Habsucht; in ihrem Banne sind einige vom Glauben abgeirrt und haben sich mit mancherlei Qual behaftet«
(1 Tim. 6, 6—10.). Wer immer nur dieses ausreichende Auskommen und nicht mehr will, der will nichts Ungeziemendes; denn wenn er mehr will, dann begehrt er über sein Auskommen, und dann will er nichts Geziemendes. Dieses wünschte, darum bat derjenige, der sprach: »Reichtum und Armut gib mir nicht; verleihe mir aber das Notwendige in hinreichendem Maße, damit ich nicht etwa gesättigt Lügen rede und spreche: Wer sieht mich? Oder aus Armut stehle und falsch schwöre bei dem Namen meines Gottes ?« (Sprichw. 30, 8 und 9) Du siehst ohne Zweifel, dass dieses ausreichende Auskommen nicht um seiner selbst willen, sondern wegen des leiblichen Wohlbefindens und des den persönlichen Verhältnissen entsprechenden Haushaltes anzustreben sei; denn dieser Haushalt soll jenen nicht ungeeignet erscheinen, mit denen man in ehrbarer und standesgemäßer Weise zu verkehren hat.

13. Bei all dem also wird das persönliche Wohlbefinden und die Freundschaft um ihrer selbst willen angestrebt, das ausreichende Auskommen sucht man nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der beiden ebengenannten Zwecke, so lange man nämlich in geziemender Weise danach verlangt. Das Wohlbefinden aber schließt in sich sowohl das Leben selbst als auch die Gesundheit und Unversehrtheit des Leibes und der Seele. Auch sind der Freundschaft nicht enge Grenzen zu ziehen; sie umfasst vielmehr alle, denen man Liebe und Zuneigung schuldet, wenn man auch zu dem einen mehr, zu dem anderen weniger sich hingezogen fühlt; sie reicht sogar bis zu den Feinden, da uns befohlen ist, auch für sie zu beten, So gibt es niemanden im Menschengeschlechte, dem man nicht Liebe, wenn auch nicht als wechselseitige Zuneigung, so doch wegen der Gemeinsamkeit der Natur schuldig wäre. Aber an jenen haben wir mit Recht große Freude, die uns in heiliger und keuscher Weise entgegenlieben. Besitzt man solche Freunde, so soll man beten, dass man sie behalte; besitzt man sie nicht, dass man sie erhalte.


VII. 14. Ist dies nun das Ganze, ist dies alles, woraus sich der Begriff des glückseligen Lebens zusammensetzt, oder lehrt die Wahrheit noch etwas anderes, was all diesem vorzuziehen ist? Man muss ja dieses ausreichende Auskommen, sogar dieses Wohlbefinden, sowohl das eigene als das der Freunde, so lange es nur zeitlich ist, preisgeben, um das ewige Leben zu erlangen. Doch — mag auch der Körper vielleicht gesund sein, auf keine Weise aber ist die Seele, die das Ewige dem Zeitlichen nicht vorzieht, für gesund zu halten. Denn man lebt nur dann nutzbringend in dieser Zeit, wenn man das Leben dazu verwendet, sich Verdienste zu erwerben, die ewiges Leben verleihen. Auf dieses eine Leben also, in dem man mit Gott und aus Gott lebt, ist ohne Zweifel alles Übrige zu beziehen, was man in nützlicher und geziemender Weise sich wünscht. Dann lieben wir ja uns selbst, wenn wir Gott lieben, und ebenso lieben wir unseren Nächsten gemäß dem anderen Gebote wahrhaft wie uns selbst, wenn wir ihn, soweit es an uns ist, zu einer Gott ähnlichen Liebe führen. Gott also lieben wir um seiner selbst willen, uns und den Nächsten aber um seinetwillen, Aber auch wenn wir so leben, sollen wir nicht glauben, dass wir uns schon im glückseligen Leben befinden, gleich als gäbe es nichts mehr, um was wir zu beten hätten. Denn wie könnten wir jetzt schon glückselig leben, da uns noch fehlt, wodurch allein wir gut zu leben vermögen? (Nämlich Gott selbst.)

VIII. 15. Warum also zerstreuen wir uns durch die Rücksicht auf viele Dinge, fragen, worum wir beten sollen, und fürchten, wir könnten vielleicht nicht so beten, wie es sein soll? Warum sprechen wir nicht lieber mit dem Psalm: »Eins habe ich vom Herrn erbeten, wiederum verlange ich's: dass ich weile im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens, dass ich die Lieblichkeit Gottes betrachte und seinen Tempel besuche«? (Ps. 26. 4.) Dort entsteht die Gesamtheit »aller Tage des Lebens« nicht dadurch, dass sie kommen, auch ist dort nicht der Anfang des einen Tages das Ende des anderen, sondern alle Tage sind dort zugleich und ohne Ende; hat ja doch auch das Leben selbst, dessen Tage sie sind, kein Ende. Um dieses glückselige Leben zu erlangen, lehrt uns derjenige, der das wahre glückselige Leben ist, zu beten nicht mit vielen Worten, gleich als ob wir um so eher erhört würden, je zungenfertiger wir sind, während wir doch zu dem beten, der, wie der Herr selbst sagt, weiß, was wir bedürfen, noch ehe wir ihn darum bitten. Es könnte deshalb auffallend erscheinen, dass der Herr, der doch weiß, was wir bedürfen, noch ehe wir ihn darum bitten, trotz dieses Verbotes vieler Worte uns zum Gebete mit den Worten ermahnt:»Man muss allezeit beten und darf nicht davon ablassen« (Luk. 18, 1). Auch stellt er uns das Beispiel einer Witwe vor Augen, die gegen ihren Widersacher Recht bekommen wollte und durch öfteres Drängen einen ungerechten Richter dazu bewog, ihr Gehör zu schenken, wobei dieser sich nicht von Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit bestimmen ließ, sondern vom Überdruss. Daraus sollten wir die Lehre schöpfen, um wie viel gewisser der barmherzige und gerechte Gott und Herr uns erhört, wenn wir ohne Unterlass beten, da diese Witwe von einem ungerechten und gottlosen Richter bei ihrem beständigen Drängen nicht zurückgewiesen werden konnte. Wie gern und freudig muss außerdem wohl Gott die guten Wünsche derer erfüllen, die, wie er weiß, anderen ihre Beleidigungen vergeben, da selbst jene ihr Ziel erreichte, die Rache an ihrem Gegner verlangte. Auch jener, der plötzlich den Besuch eines reisenden Freundes erhielt, aber nichts ihm vorzusetzen hatte, wollte von einem anderen Freunde drei Brote entlehnen (wodurch vielleicht die Dreifaltigkeit des einen göttlichen Wesens angedeutet ist); so weckte er als höchst dringlicher und lästiger Bittsteller ihn, obwohl er schon mit seinen Knechten schlief, so dass dieser ihm so viel er wollte, wobei auch er mehr sich der Störung entledigen als ihm einen Gefallen erweisen wollte (Luk. 11, 5-3). Erkennen wir also daraus, wie viel wohlwollender derjenige gibt, der den Schlaf nicht kennt, der vielmehr uns zum Gebete erweckt, wenn wir schlafen; wird doch selbst zum Geben gezwungen, wer gegen seinen Willen von einem Bittsteller aus dem Schlafe geweckt wird.

16. An derselben Stelle heißt es auch: »Bittet, und ihr werdet empfangen; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan werden. Denn ein jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet, ünd wer klopft, dem wird aufgetan. Denn wer von euch reicht seinem Sohn, der ihn um Brot bittet, einen Stein? Oder wenn er um einen Fisch bittet, gibt er ihm etwa eine Schlange? Oder wenn er um ein Ei bittet, gibt er ihm etwa einen Skorpion? Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset, wie viel mehr wird euer himmlischer Vater denen Gutes geben, die ihn darum bitten?«
(Luk. 11, 9—13. Doch hat unsere Vulgata im letzten Vers »guten Geist« statt »Gutes«.) An dieser Stelle ist, entsprechend jenen drei vom Apostel empfohlenen Tugenden, durch den Fisch der Glaube versinnbildet, sowohl wegen des Taufwassers als auch, weil er in den Fluten dieser Zeit sich unversehrt erhält. Ihm entgegengesetzt ist die Schlange, die es mit ihrer giftigen List dahin brachte, dass Gott der Glaube verweigert wurde. Die Hoffnung ist durch das Ei versinnbildet, weil das Küchlein im Ei noch kein Leben besitzt, sondern es erst erhalten soll, auch noch nicht gesehen, sondern erst gehofft wird; »denn hoffen, was man sieht, ist keine Hoffnung« (Röm. 8. 24). Ihr wiederum ist der Skorpion entgegengesetzt; denn wer auf das ewige Leben hofft, vergisst, was hinter ihm liegt, und streckt sich nach dem aus, was vor ihm ist, und es ist für ihn schädlich, nach rückwärts zu schauen. Bei dem Skorpion aber ist das Hinterteil zu fürchten, an dem er sein Gift und seinen Stachel hat. Die Liebe aber wird durch das Brot versinnbildet, »denn die Liebe ist das Größte von diesen« (1. Kor. 1-18). Auch unter den Speisen übertrifft das Brot alles übrige durch seinen Nutzen. Der Liebe ist der Stein entgegengesetzt; denn harte Herzen sind für die Liebe unempfänglich. Diese Ausdrücke könnten passender auch auf anderes gedeutet werden; doch der, der seinen Kindern gute Gaben zu geben weiß, treibt uns durch sie an, zu bitten, zu suchen und zu klopfen.

17. Warum er uns hierzu antreibt, obwohl er, noch ehe wir ihn darum bitten, weiß, was wir bedürfen, dies könnte uns auffallen, wenn wir es nicht so verständen, dass unser Herr und Gott nicht unseren Willen kennen lernen will, da er ihm nicht unbekannt sein kann, sondern dass durch unser Gebet unser Verlangen gestärkt werden soll damit wir imstande seien zu erfassen, was Gott zu geben beabsichtigt. Denn dieses ist sehr groß, wir aber sind klein und schwach zum Erfassen. Darum wird uns gesagt: »Erweitert euch, damit ihr nicht an demselben Joche wie die Ungläubigen ziehet«
(Kor. 6, 18 und 14.). Denn um so fähiger werden wir sein zum Genusse jenes erhabenen Gutes, »das kein Auge gesehen hat — da es keine Farbe hat —, kein Ohr gehört — da es kein Schall ist —, das in keines Menschen Herz gedrungen ist« (1 Kor. 2. 9.) — da des Menschen Herz sich zu ihm emporschwingen muss, um so fähiger also, je treuer wir daran glauben, je zuversichtlicher wir darauf hoffen, je glühender wir nach ihm Verlangen tragen.

IX. 18. Wenn also unser Verlangen fortdauert, so beten wir immer in diesem Glauben, in dieser Hoffnung und in dieser Liebe. Darum aber bitten wir Gott nach Ablauf bestimmter Stunden und Zeiten auch mit Worten, damit wir durch die Bezeichnung der Dinge uns selbst ermahnen, damit wir uns vergewissern, wie weit wir in dem erwähnten Verlangen vorwärts gekommen sind, und damit wir um so lebhafter angeregt werden, es in uns zu vermehren. Denn um so schöner wird der Erfolg sein, je glühender der Eifer ist, der ihm vorausgegangen. Und was will darum auch das Wort des Apostels: »Betet ohne Unterlass«
(1 Thess. 5, 17.) anderes besagen, als dass man das glückselige Leben, das kein anderes als das ewige ist, ohne Unterlass von dem, der es allein zu geben vermag, mit Sehnsucht erwarten müsse? Immer also wollen wir dieses von Gott erwarten, immer darum bitten. Aber eben deshalb sollen wir auch das Gemüt von anderen Sorgen und Geschäften, durch die jene Sehnsucht sich gewissermaßen abkühlt, zu gewissen Stunden zum Geschäfte des Betens wieder zurücklenken, indem wir uns durch die Worte des Gebetes selbst ermahnen, auf das zu achten, was wir ersehnen; sonst könnte ganz erkalten, was schon lau zu werden begonnen hatte, und vollends erlöschen, was öfter hätte angefacht werden sollen. Darum ist auch das Wort desselben Apostels: »Eure Bitten mögen kund werden vor Gott« (Phil. 4, 6.). nicht so zu fassen, als ob sie Gott kund werden sollten — denn er kannte sie ja, noch ehe sie vorhanden waren —‚ sondern sie sollen uns kund werden durch unsere Geduld vor Gott, nicht durch unsere Prahlerei vor den Menschen. Vielleicht aber sollen sie auch den Engeln kund werden, die bei Gott sind, damit sie gewisser Weise sie Gott aufopfern, in betreff ihrer anfragen und erfahren, was nach Gottes Befehl zu vollbringen sei, und damit sie schließlich uns heimlich oder offenbar überbringen, was, wie sie bei Gott erfahren haben, geschehen soll. Denn es sprach ein Engel zu einem Menschen: »Und jetzt, als du mit Sara betetest, habe ich euer Gebet vor das Angesicht der Herrlichkeit Gottes gebracht« (Tob. 12. 12 (nach der Septuaginta).

X. 19. Unter diesen Umständen ist es nun keineswegs tadelnswert oder nutzlos, wenn man auch viele Zeit auf das Gebet verwendet, das heißt wenn nicht andere pflichtgemäße Handlungen dadurch verhindert werden, obwohl man auch bei diesen durch jenes Verlangen, von dem ich gesprochen habe, allzeit beten muss. Denn es heißt nicht, wie einige meinen, mit vielen Worten beten, wenn man etwas länger betet. Etwas anderes ist Vielrednerei, etwas anderes andauernde Andacht. Denn vom Herrn selbst steht geschrieben, dass er die Nacht im Gebete zugebracht und mit größerer Dringlichkeit gebetet hat. Hat er uns hierdurch nicht ein Beispiel gegeben, da er in der Zeit auf die rechte Weise betete, während er beim Vater in alle Ewigkeit die Gebete erhört?


20. Wie man sagt, verrichten die Brüder in Ägypten zwar häufig Gebete, aber sie sollen ganz kurz, gleichsam Pfeilgebete sein, damit nicht die sorgfältig erweckte Herzensandacht, die dem Beter vorzüglich notwendig ist, durch zu lange Dauer dahinschwinde und ihre Kraft verliere. Auch zeigen sie uns dadurch, dass man diese Herzensandacht eben sowenig abstumpfen lassen darf, wenn sie nicht auszudauern vermag, als man sie plötzlich abbrechen soll, wenn sie noch andauert. Ferne sei vom Gebete vieles Reden, aber es fehle nicht an vielen Bitten, wenn der Eifer der Andacht fortwirkt. Denn viel redet man, wenn man beim Gebet das, was uns notwendig ist, mit überflüssigen Worten erörtert. Man bittet aber viel, wenn man mit andauernder und frommer Herzensregung sich an jenen wendet, zu dem wir beten. Denn dieses Geschäft wird meistens besser mit Seufzern als mit Worten, besser mit Weinen als mit Reden betrieben. Der alles durch sein Wort erschaffen hat und kein Verlangen trägt nach Menschenworten, »er setzt unsere Tränen vor sein Angesicht« (Ps. 55, 9.), und unser Seufzen ist vor ihm nicht verborgen.

XI. 21. U n s also sind Worte notwendig, damit wir durch sie uns selbst ermahnen und auf den Gegenstand des Gebetes achten, nicht aber als ob wir glaubten, wir müssten den Herrn durch sie belehren oder erweichen. Wenn wir also sprechen: »Geheiligt werde Dein Name«
(Matth. 6, 9—11 und Luk. 11, 2 und 3.), so ermahnen wir uns zur Sehnsucht, dass Gottes allezeit heiliger Name auch von den Menschen heilig gehalten werden, das heißt nicht verunehrt werden möchte. Dies aber gereicht nicht Gott, sondern uns zum Nutzen. Wenn wir sprechen: »Zukomme uns Dein Reich!«, so wird dieses Reich zwar kommen, ob wir es wünschen oder nicht, aber wir regen durch dieses Wort unsere Sehnsucht nach diesem Reiche an, damit es für uns komme und wir in ihm zu herrschen verdienen. Wenn wir sprechen: »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden«, so erbitten wir uns von Gott eigentlich den Gehorsam, damit sein Wille so von uns geschehe, wie er im Himmel von seinen Engeln geschieht. Wenn wir sprechen: »Gib uns heute unser tägliches Brot«, so wird unter ‚heute‘ verstanden ‚in dieser Zeit‘, in der wir um das ausreichende Auskommen bitten, das wir mit dem Ausdruck ‚Brot‘ bezeichnen, da das Brot sein vorzüglichster Bestandteil ist. Oder wir können darunter auch das Sakrament der Gläubigen verstehen, das in dieser Zeit uns notwendig ist, aber nicht um zeitliche, sondern um ewige Glückseligkeit zu erlangen. Wenn wir sprechen: »Vergib uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«, so ermahnen wir uns, sowohl worum wir bitten sollen, als auch was wir zu tun haben, damit wir das Erbetene zu erlangen verdienen. Wenn wir sprechen: »Führe uns nicht in Versuchung«, so ermahnen wir uns, darum zu bitten, dass wir nicht, des göttlichen Beistandes beraubt, uns von irgendeiner Versuchung zur Einwilligung verleiten lassen oder verzagten Sinnes ihr nachgeben. Wenn wir sprechen: »Erlöse uns von dem Übel«, so legen wir uns den Gedanken nahe, dass wir noch nicht in jenem glücklichen Zustande uns befinden, wo wir kein Übel mehr erdulden werden. Und dieser Schluss des Gebetes des Herrn ist so inhaltsreich, dass der Christ, in welcher Not er sich auch befinden mag, bei diesem Gedanken seine Seufzer emporsendet, seine Tränen vergießt, mit diesem Gedanken beginnt, bei ihm verweilt und sein Gebet mit ihm beschließt. So sollten durch diese Worte die betreffenden Wahrheiten selbst unserem Gedächtnisse eingeprägt werden.

XII. 22. Und wenn wir auch irgendwelche andere Worte sprechen, wie sie die Andacht. dem Beter zuvorkommend, einflößt, um sich noch höher zu schwingen, oder wie man sie gebraucht, um dadurch eine nachfolgende Andachtsvermehrung zu erfahren, so sprechen wir doch — vorausgesetzt, dass wir in der rechten und geziemenden Weise beten — nichts anderes, als was auch im Gebete des Herrn enthalten ist. Jeder aber, der Worte gebraucht, die mit dieser evangelischen Gebetsvorschrift unvereinbar sind, der betet, wenn auch nicht in unerlaubter, so doch in fleischlicher Weise. Vielleicht aber ist auch dieses unerlaubt zu nennen, da es sich geziemt, dass die aus dem Geiste Wiedergeborenen in geistiger Weise. beten. Wer z. B. spricht: »Verherrliche Dich bei allen Völkern, wie Du bei uns verherrlicht bist, und mögen Deine Propheten als wahrhaft erfunden werden«
(Sir, 36, 4 und 18.), sagt nichts anderes als: »Geheiligt werde Dein Name.« Wer spricht: »Gott der Heerscharen, bekehre uns, zeige uns Dein Angesicht, und wir werden gerettet werden« (Ps. 79. 4.), sagt nichts anderes als: »Zukomme uns Dein Reich Wer spricht: »Lenke meine Pfade nach Deinem Worte, und keine Bosheit herrsche über mich« (Ps. 79, 118, 133), sagt nichts anderes aIs: »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden« Wer spricht »Armut und Reichtum gib mir nicht« (Sprichw. 30, 8.), sagt nichts anderes als: »Gib uns heute unser tägliches Brot.« Wer spricht: »Gedenke, o Herr, des David und all seiner Sanftmut« (Ps. 181, 1.), oder: »Herr, wenn ich dies getan, wenn Unrecht ist an meinen Händen, wenn ich denen vergolten habe, die mir Böses getan« (Ps. 181, 7 , 4. Der Nachsatz, den der hl. Augustinus nicht anführt. lautet: »So möge ich nach Verdienst vor meinen Feinden zuschanden werden.«), sagt nichts anderes als: »Vergib uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.« Wer spricht: »Nimm von mir die Völlerei, lass mich nicht von Fleischeslust ergriffen werden!« (Sir.23, 6), sagt nichts anderes als: »Führe uns nicht in Versuchung.« Wer spricht: »Rette mich von meinen Feinden, o Gott, befreie mich von denen, die sich über mich erheben« (Ps. 58, 2.), sagt nichts anderes als: »Erlöse uns von dem Übel.« Und wenn du alle Ausdrücke heiliger Gebetsformeln durchgehst, so wirst du, wie ich glaube, nichts finden, was nicht im Gebete des Herrn enthalten und eingeschlossen wäre. Darum steht es frei, die einen oder die anderen Worte zu gebrauchen, während man das gleiche Gebet verrichtet, aber es kann nicht freistehen, ein anderes Gebet zu verrichten.

23. Für uns und die Unsrigen wie für fremde Leute und sogar für unsere Feinde soll ohne Zweifel und Bedenken dieses Gebet verrichtet werden, obwohl in dem Herzen des Beters bald ein Antrieb zum Gebet für diesen, bald ein Antrieb zum Gebet für jenen entstehen und sich erheben mag, je nachdem er ihm näher oder ferner steht. Wenn aber jemand z. B. im Gebete spricht: »Herr, vermehre mir meinen Reichtum«, oder: »Gib mir so großen Reichtum, wie du ihn diesem oder jenem gegeben hast«, oder: »Verleihe mir mehr Ehre, mache mich in diesem Leben mächtig und berühmt« oder etwas Ähnliches, und wenn er solches spricht aus Begierde danach, nicht in der Absicht, dadurch nach Gottes Willen den Menschen nützlich zu sein, so glaube ich, dass er im Gebete des Herrn nichts findet, was für solche Wünsche passen würde. Deshalb schäme er sich, um solches zu bitten, wenn er sich schon nicht schämt, danach Verlangen zu tragen. Wenn er sich aber auch seiner Begierde schämt und sich doch von ihr überwältigen lässt, so ist es umso angebrachter, auch um Befreiung von dem Übel dieser Begierlichkeit denjenigen anzuflehen, zu dem wir sprechen: »Erlöse uns von dem Übel.«

XIII. 24. Du hast nun vernommen, wie ich glaube, nicht nur, wie du selbst beim Gebete beschaffen sein musst, sondern auch, worum du beten sollst. Und zwar habe nicht ich dich dieses gelehrt, sondern derjenige, der sich gewürdigt hat, uns alle zu lehren. Nach dem glückseligen Leben muss man Verlangen tragen, um dieses Gott den Herrn anflehen. Was es heißt, glückselig zu sein, darüber ist vieles von vielen erörtert worden, aber warum sollten wir uns wegen dieser vielen Meinungen an viele wenden? Kurz und wahr heißt es in der Heiligen Schrift: »Glückselig das Volk, dessen Herr sein Gott ist«
(Ps. 143, 15.). Damit wir zu seinem Volke gehören und zum Genuss seiner Anschauung und zum endlosen Leben mit ihm gelangen können, deshalb ist »der Endzweck des Gebotes die Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben« (1 Tim. 1. 5). Bei jenen drei Stücken (Das heißt den drei vom Apostel Paulus erwähnten Tugenden: Glaube. Hoffnung und Liebe (1 Kor. 13, 13).) ist statt des guten Gewissens die Hoffnung gesetzt. Der Glaube, die Hoffnung und die Liebe also führen den Beter zu Gott, das heißt jenen, der glaubt, hofft, Verlangen trägt und das erwägt, worum er den Herrn im Gebete des Herrn anfleht. Das Fasten und die Enthaltung von anderen sonst erlaubten sinnlichen Genüssen, vorzüglich aber das Almosengeben kommen dem Gebete sehr zu Hilfe, so dass wir sprechen können: »Am Tage meiner Trübsal habe ich Gott mit meinen Händen gesucht, des Nachts stand ich vor ihm, und ich bin nicht getäuscht worden« ( Ps. 76. 3.). Denn wie könnte man den unkörperlichen und ungreifbaren Gott mit Händen suchen, wenn die Werke hiermit gemeint wären?

XIV. 25. Vielleicht möchtest du aber noch die Frage stellen, warum der Apostel gesagt hat: »Worum wir beten müssen, wie es sein soll, wissen wir nicht«
(Röm. 8, 26.). Denn man kann doch keineswegs glauben, dass ihm oder denen, zu denen er sprach, das Gebet des Herrn unbekannt gewesen ist. Was können wir also als Grund dieses Wortes des heiligen Apostels angeben, da er es doch weder unbedacht noch lügenhaft hat aussprechen können? Gewiss hat er damit sagen wollen, dass zeitliche Trübsale und Leiden meistens nützlich sind, entweder um allzu stolzes Selbstgefühl zu heilen oder um in der Geduld zu prüfen und zu üben, indem ihr dann ein schönerer und reicherer Lohn aufbewahrt ist, oder um irgendwelche Sünden zu strafen und auszurotten, während wir, ihren Nutzen nicht kennend, von allen Leiden befreit sein möchten. Von dieser Unwissenheit hat sich der Apostel selbst nicht frei gezeigt. Oder wusste er etwa, worum er, wie es erforderlich ist, beten müsse, als ihm, damit er sich nicht wegen der Größe der Offenbarungen überhebe, jener Stachel des Fleisches gegeben wurde, ein Engel des Satans, der ihm Faustschläge gab? Dreimal hat er den Herrn gebeten, ihn von ihm hinwegzunehmen. Er wusste also nicht, worum man beten müsse, wie es erforderlich ist. Endlich vernahm er als Antwort Gottes, warum nicht geschehe, worum ein so großer Mann bete, und warum die Erhörung nicht dienlich sei: »Es genügt dir meine Gnade. Denn die Kraft wird in der Schwachheit vervollkommnet« (2 Kor. 12, 9.)

26. Bei diesen Trübsalen also, die sowohl nützen als schaden können, »wissen wir nicht, worum wir beten sollen, wie es erforderlich ist«. Und doch, da diese Dinge hart und beschwerlich sind, beten wir gemäß der allgemeinen menschlichen Willensrichtung, dass sie von uns hinweggenommen werden möchten. Soviel Ergebenheit aber schulden wir dem Herrn, unserem Gott, dass wir nicht glauben, von ihm vernachlässigt zu werden, wenn er sie nicht hinwegnimmt, sondern vielmehr in frommer Ertragung des Leidens auf größere Güter hoffen. Denn so »wird die Kraft in der Schwachheit vervollkommnet«. Bisweilen hat Gott der Herr Ungeduldigen im Zorne gewährt, worum sie baten, wie er es hingegen dem Apostel huldvoll verweigert hat. So lesen wir auch von den Israeliten, worum und wie sie gebeten und wie sie es empfangen haben; als aber ihre Begierlichkeit gestillt war, wurde ihre Ungeduld schwer gezüchtigt. - Er gab ihnen auch, als sie darum baten, einen König, aber, wie geschrieben steht (1 Kön. 8, 5—7), nach ihrem, nicht nach seinem Herzen. Er gab auch zu, was der Teufel verlangte, dass sein Diener versucht werden durfte, um sich zu bewahren (Job. 1, 12 und 2, 6.). Er erhörte auch die Bitte der unreinen Geister, dass eine Legion böser Geister in eine Schweineherde fahren dürfe (Matth. 8, 30—82; Luk. 8. 32.). Diese Beispiele stehen geschrieben, damit sich niemand für groß halte, wenn sein ungestümes Gebet in einer Sache Erhörung gefunden hat, während es nützlicher gewesen wäre, darum nicht zu beten; sie stehen aber auch geschrieben, damit niemand den Mut verliere oder an der Barmherzigkeit Gottes gegenüber seiner Person verzweifle, da er vielleicht um etwas bitten könnte, dessen Gewährung ihn noch tiefer ins Unglück bringen oder gar wegen des verführerischen Einflusses des Glückes ihm gänzlich zum Untergang. gereichen würde. Bei solchen Dingen wissen wir also nicht, worum wir beten sollen, wie es notwendig ist. Wenn sich also etwas ereignet, was unserer Gebetsmeinung widerspricht, so müssen wir es geduldig tragen, für alles Dank sagen und nicht zweifeln, dass das notwendig gewesen sei, was in Gottes, nicht in unserem Willen gelegen war. Auch hiervon hat uns der göttliche Mittler ein Beispiel gegeben. Denn nachdem er gesagt hatte: »Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen« (Matth. 26, 39.), wandelte er den menschlichen Willen, den er infolge seiner Menschwerdung besaß, um und fügte sogleich bei: »Aber nicht, was ich will, sondern was Du, o Vater, willst« (Matth. 26, 39.). Mit Recht werden daher »um des Gehorsams dieses Einzigen willen viele gerecht gemacht« (Röm. 5, 19.).

27. Wer aber immer jenes »eine vom Herrn erbittet und verlangt«
(Ps. 26, 4.), der bittet mit Sicherheit und Gewissheit und fürchtet nicht, es möchte ihm etwa die empfangene Gabe zum Schaden gereichen, da ohne sie nichts nützt, was immer man auch durch ein Gebet, wie es sein soll, erlangt haben möchte. Denn dies ist das eine, wahre und allein glückselige Leben, dass wir die Freude des Herrn in Ewigkeit betrachten, unsterblich und unverweslich an Körper und Geist. Wegen dieses Einen verlangt man das übrige, und zwar keineswegs in ungeziemender Weise. Wer dieses hat, wird alles haben, was er nur will, und wird nicht imstande sein, etwas haben zu wollen, was sich nicht geziemt. Da findet sich ja die Lebensquelle, nach der wir jetzt im Gebete dürsten müssen, so lange wir in der Hoffnung leben und noch nicht sehen, was wir hoffen, so lange wir weilen wir unter dem Schutze der Flügel dessen, vor dem unsere ganze Sehnsucht offen liegt; trunken sollen wir werden von der Fülle seines Hauses und getränkt von dem Strome seiner Wonne. Denn bei ihm ist die Quelle des Lebens, und in seinem Lichte werden wir das Licht schauen. Da wird unsere Sehnsucht mit Gütern gesättigt werden, und wir werden nichts mehr mit Seufzen zu suchen, sondern nur mit Freuden zu erfassen haben. Indessen, da es »jener Frieden ist, der jeden Begriff übersteigt« (Phil. 4, 7.), so wissen wir, wenn wir im Gebete ihn begehren, nicht, worum wir beten sollen, wie es erforderlich ist. Denn was wir nicht so denken können, wie es ist, das kennen wir offenbar nicht; wir verwerfen vielmehr, auf was immer unsere Gedanken kommen, weisen es zurück, missbilligen es, weil wir wissen, dass es nicht das ist, was wir suchen, obgleich wir noch nicht wissen, wie es beschaffen ist.

XV. 28. Es findet sich also in uns, ich möchte sagen, eine gewisse belehrte Unwissenheit, belehrt jedoch vom Geiste Gottes, der unserer Schwachheit zu Hilfe kommt. Denn nachdem der Apostel gesagt hat: »Wenn wir hoffen, was wir nicht sehen, so erwarten wir in der Geduld«, fügt er bei: »So kommt auch der Geist unserer Schwachheit zu Hilfe. Denn worum wir bitten sollen, wie es notwendig ist, wissen wir nicht; der Geist selbst aber bittet für uns mit unaussprechlichen Seufzern. Der aber die Herzen durchforscht, weiß, was der Geist beabsichtigt; denn er ist nach gottgefälliger Weise Fürsprecher für die Geheiligten«
(Röm. 8, 25—27.). Das darf man nicht so verstehen, als ob wir glauben würden, der göttliche Heilige Geist, der in der Dreifaltigkeit unwandelbarer Gott ist, e i n Gott mit dem Vater und mit dem Sohne, bitte für die Heiligen wie jemand, der nicht ebenso hoch steht wie Gott selbst. Es heißt vielmehr: »Er bittet für die Heiligen«, weil er die Heiligen zum Gebete antreibt, wie es auch heißt: »Es versucht euch der Herr, euer Gott, damit er wisse, ob ihr ihn liebet« (5. Moses18, 3), das heißt damit er es euch wissen lasse. Er bewirkt also, dass die Heiligen mit unaussprechlichen Seufzern beten, indem er ihnen Sehnsucht einflößt nach jenem herrlichen, noch unbekannten Gute, das wir in Geduld erwarten. Denn wie könnte dies ausgesprochen werden, da man ersehnt, was man nicht kennt? Wenn es aber ganz unbekannt wäre, so würde man sich nicht danach sehnen, und umgekehrt, wenn man es sähe, so würde man sich nicht danach sehnen und es mit Seufzen suchen.

XVI. 29. Erwäge dies alles und auch was dich sonst noch der Herr in dieser Beziehung erkennen lässt und was mir entweder nicht einfiel oder mir zu weitführend schien, um mich darüber zu verbreiten: kämpfe im Gebete um die Welt zu besiegen, bete in der Hoffnung, bete mit Treue und Liebe, bete inständig und geduldig, bete als eine Witwe Christi. Denn obwohl es allen seinen Gliedern, das heißt allen, die an ihn glauben und mit seinem Leibe vereinigt sind, zukommt, so zu beten, wie er es gelehrt hat, so ist doch in der Heiligen Schrift den Witfrauen ganz besonders eingeschärft, große Sorgfalt auf das Gebet zu verwenden. Zwei Frauen mit dem Namen Anna werden in ihr ehrenvoll erwähnt, die eine war eine Verheiratete, die den heiligen Samuel gebar, die andere Witfrau, die den Heiligen der Heiligen erkannte, als er noch Kind war. Auch die Verheiratete hat im Schmerz ihrer Seele und in der Trübsal ihres Herzens gebetet, weil sie keine Kinder hatte; hierauf erlangte sie den Samuel und weihte ihn Gott, wie sie es Zeit ihres Gebetes gelobt hatte
(1. Kön. 1, 28). Aber man findet nicht leicht in ihrem Gebete eine Beziehung auf das Gebet des Herrn außer auf die Bitte: »Erlöse uns von dem Übel«; denn es erschien als kein geringes Übel, verheiratet zu sein, aber keine Frucht der Ehe zu besitzen, da doch die Ehe nur um der Kindererzeugung willen zu rechtfertigen ist. Beachte aber, was von jener Witfrau Anna geschrieben steht: »Sie kam nicht vom Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht« (Luk. 2, 87.). Aus demselben Grunde sagt auch der Apostel, was ich bereits angeführt habe: »Die aber wahrhaft Witwe ist und verlassen, hat auf den Herrn gehofft und verharrt im Gebete Tag und Nacht« (1 Tim. 5, 5.). Und da der Herr uns ermahnte, allzeit zu beten und nicht davon abzulassen, führte er eine Witwe an, die einen Richter, obwohl er ungerecht und gottlos war und Gott und Menschen verachtete, dennoch durch ihr beständiges Drängen vermochte, sich ihrer Sache anzunehmen. Dass also die Witwen mehr als andere sich dem Gebete hingeben sollen, geht hinreichend daraus hervor, dass allen Menschen das Beispiel einer Witwe vor Augen gestellt ist, um sie zum Eifer im Gebete zu ermahnen.

30. Was hat aber eine Witwe bei diesem Werke voraus als Hilflosigkeit und Verlassenheit? Wenn sich darum jede Seele in diesem Leben, so lange sie ferne vom Herrn pilgert, als hilflos und verlassen erkennt
(2 Kor. 5, 6.), so empfiehlt sie ohne Zweifel mit beständigem, innigstem Gebete gleichsam ihre Witwenschaft Gott, ihrem Verteidiger. Bete daher als eine Witwe Christi, da du noch .nicht die Anschauung dessen besitzest, um dessen Hilfe du flehest. Und wenn du auch noch so reich bist, so bete doch als eine Arme! Denn du besitzest noch nicht die wahren Schätze des zukünftigen Lebens, wo kein Verlust mehr zu befürchten ist. Wenn du auch Söhne und Enkel hast und eine höchst zahlreiche Verwandtschaft, so bete doch, wie oben bemerkt, als eine Verlassene; unsicher ist ja alles Zeitliche, auch wenn es bis zum Ende dieses Lebens uns zum Troste bliebe. Wenn du aber suchest und empfindest, was droben ist, so sehnst du dich nach Ewigem und Sicherem, und so lange du dieses noch nicht besitzest, musst du dich für verlassen erachten, auch wenn alles in gutem Zustande sich befindet und deine Angehörigen gesund sind. Und mit je größerer Liebe du, dann deine Schwiegertochter, die ohne Zweifel durch dein Beispiel ganz gottesfürchtig geworden ist, und die anderen heiligen Witfrauen und Jungfrauen, die durch eure Sorgfalt sich in so guter Hut befinden, mit je größerer Liebe also ihr eure Angehörigen behandelt, um so eifriger müsst ihr dem Gebete obliegen und euch mit zeitlichen Angelegenheiten nur soweit beschäftigen, als es die Mildtätigkeit erfordert.

31. Möchtet ihr doch eingedenk sein, auch für uns fleißig zu beten! Denn wir möchten nicht, dass ihr uns die gefahrvolle Ehre, mit der wir belastet sind, in solcher Weise zuteil werden lasset, dass ihr uns die Unterstützung versaget, der wir doch, wie wir uns nur zu sehr bewusst sind, dringend bedürfen. Von der Familie Christi wurde gebetet für Petrus und für Paulus: wir freuen uns, dass ihr auch zu dieser Familie gehöret, aber wir bedürfen ohne Vergleich mehr als Petrus und Paulus der Gebetshilfe von seiten unserer Geschwister. Betet in heiligem, einträchtigem Wettkampfe; ihr kämpfet hierbei nicht gegeneinander, sondern gegen den Teufel, den Feind aller Heiligen. Durch Fasten und Wachen und jegliche leibliche Abtötung wird das Gebet außerordentlich gefördert. Möge jede von euch tun, was sie kann; was die eine nicht zustande bringt, das vollbringt sie in jener, die es zustande bringt, wenn sie in der anderen das liebt, was sie selbst aus Unvermögen nicht vollbringt. Deshalb sei diejenige, die weniger vermag, nicht jener im Wege, die mehr vermag, und jene, die mehr vermag, sei nicht aufdringlich gegen die, die weniger Kraft besitzt. Denn euer Gewissen seid ihr Gott schuldig; von euch aber »sollt ihr niemandem etwas schulden außer der gegenseitigen Liebe«
(Röm. 18, 8). »Es erhöre dich der Herr, der die Macht besitzt, mehr zu tun, als wir bitten und begreifen« (Eph. 3, 20.).
Bibliothek der Kirchenväter, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, Aus dem Lateinischen übersetzt X. Band, Ausgewählte Briefe, II.Band (Buch III-V), Brief an Proba, S.10-38, 1917 Kempten&Kösel, Verlag der Jos. Köselschen Buchhhandlung