Sri A. Ghose Aurobindo (1872 – 1950)

  Indischer Nationalist, Mystiker und Yoga-Philosoph des Neuhinduismus. Aurobindo strebte eine Integration von europäischem und indischem Gedankengut an. Das Ideal, das Aurobindo aufstellt, besteht in der Verwirklichung eines überindividuellen Bewusstseins. Der Weg dazu ist der von Aurobindo entwickelte »integrale Yoga«, der ein Wirken in der Welt gleichzeitig mit jenem inneren Geschehen ermöglicht. Darin unterscheidet sich der Yoga Aurobindos von dem seit Jahrhunderten in Indien geübten, dass er nicht aus der Welt heraus-, sondern in sie hineinführt und das Werk innerhalb der Welt als Ausdruck der Verbundenheit mit Gott möglich macht. Die meisten indischen Mystiker sahen die Gottheit als das absolute und nicht personale Sein (Sat) an, dem gegenüber alle Personalität versinkt zu Schatten und Schein. Anders Aurobindo. Er ringt nach Worten, um zum Ausdruck zu bringen, dass nach seiner Erfahrung die letzte göttliche Wirklichkeit ein »bewusstes Wesen« ist, eine Person über den begrenzten Personen. Auch das sind nur »unvollkommene Ziffern«, Symbole einer erfahrenen geistesmächtigen Urwirklichkeit. Man hat der Mystik oft vorgeworfen, sie sei Selbsterlösung des Menschen. Aurobindo weiß um die Gnade, ohne die eine existentielle Wandlung des Menschen unmöglich ist.

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Inhaltsverzeichnis
Das spirituelle Ideal
Vom Wirken in der Welt
Gott als Person über allen Personen
Die Herabkunft der Gnade



Das spirituelle Ideal

Ich darf sagen, daß es ganz und gar nicht meine Absicht ist, im Blick auf die Menschheit und ihre Zukunft den Anwalt irgendeiner Religion, alt oder neu, zu spielen oder eine philosophische Schule oder eine Yoga-Schule zu begründen. Einen Weg gilt es zu eröffnen, der noch blockiert ist, das ist meine Auffassung von der Sache.

Ich beabsichtige nicht, meine Sanktion zu einer neuen Auflage des alten Fiaskos zu geben.

Eine vom Verstand erfundene Maschinerie kann weder den individuellen noch den kollektiven Menschen zur Vollendung bringen. Ein innerer Wandel in der menschlichen Natur überhaupt ist notwendig. Eine Gestalt des Lebens muß geboren werden, die Gott näher ist. Wenn das nicht der Weg ist, dann gibt es für die menschliche Art keinen Weg mehr. Dann muß die irdische Evolution den Menschen einfach übergehen, und eine größere Art Mensch muß dann kommen, die der spirituellen Wandlung fähig sein wird.

Die freie Herrschaft, die überwiegende Führung durch den entwickelten spirituellen Menschen, seine Macht und sein Einfluß, das ist unsere Hoffnung.

Die menschliche Evolution muß sich durch ein subjektives Zeitalter zu einem übernationalen oder spirituellen Zeitalter hinbewegen, in dem der Mensch fortschreitende in größeres spirituelles, über-intellektuelles und intuitives und mehr noch als das, schließlich ein gnostisches Bewußtsein entwickeln wird.

Die spirituelle Person wird ein supramentales, gnostisches Individuum sein.

Der supramentale Geist — als direkt selbstwirksame Wahrheitsmacht — ist ein Grad der Existenz über Geist, Leben und Materie hinaus. Und so wie Geist, Leben und Materie sich auf der Erde manifestiert haben, so muß sich auch der supramentale Geist dem unvermeidlichen Gang der Dinge nach in dieser Welt der Materie manifestieren.

Eine entscheidende Wende der Menschheit zum spirituellen Ideal, der Beginn eines ständigen Aufstiegs zu den Höhen, sollte nicht völlig unmöglich sein. Und solch Beginn mag die Herabkunft eines Einflusses bedeuten, der das gesamte Leben der Menschheit und seine Orientierung, seine Potenzen und seine gesamte Struktur sofort verändern und für immer ausweiten wird.

Was wir benötigen, ist ein Weg, dieses Bewußtsein zu erleben, es zu erreichen, einzutreten, darin zu leben.

Ich sehe es über mir und weiß, was es ist. Ich fühle es, wie es stets und ständig auf mein eigenes Bewußtsein von oben her herableuchtet. Ich will es ihm ermöglichen, das ist mein Streben, das ganze Dasein in seine eigene, eingeborene Macht aufzunehmen! Die Natur des Menschen soll nicht immer wieder nur halb im Licht, halb im Schatten verharren. Ich glaube, daß die Herabkunft dieser Wahrheit hier auf der Erde den Weg zur Entwicklung eines göttlichen Bewußtseins eröffnet und daß das der endgültige Sinn der irdischen Evolution ist.

Mein Weg ist keine ausgefallene Laune, keine Mißgeburt, nicht ein Mirakel jenseits der Gesetze der Natur und der Bedingungen von Leben und Bewußtsein auf dieser Welt. Wenn ich diese Dinge tun konnte oder wenn sie sich in meinem Yoga ereignen konnten, dann heißt das, daß sie getan werden können und daß solche Entwicklungen und Verwandlungen im irdischen Bewußtsein möglich sind.

Ich tue nichts für mich, denn ich selbst bin nichts bedürftig, weder des Heils noch der Verwandlung in das und durch das Supramentale. Wenn ich nach der Verwandlung in das und durch das Supramentale strebe, dann darum, weil eben dies für das Erdbewußtsein getan werden muß, und wenn das nicht in mir geschieht, dann kann es nicht in anderen geschehen.

Unmittelbar jetzt will ich keineswegs die ganze Welt zu einer supramentalen Welt machen, ich will vielmehr das Supramentale als eine Macht herniederbringen und es mitten in all dem, das sonst noch da ist, als ein Bewußtsein begründen. Es gilt nur, das supramentale Prinzip in das Erdbewußtsein einzuführen, um es dann dort wirken und sich selbst erfüllen zu lassen. Das wird genug sein, die Welt zu verwandeln und ihre gegenwärtigen Grenzzäune niederzureißen.

Vom Wirken in der Welt
Die sich dem Yoga widmen, suchen vor Schwierigkeiten oft in der Einsamkeit Zuflucht. Das ist hier nicht notwendig.

Wenn die Zeit der Vorbereitung im Yoga vorbei ist, dann sitzt man für immer und ewig unbeweglich da? Denn Arbeit, wie du sagst, kann mit Realisation nicht zusammengehen? — Hurra, her Himalaja! Aber warum dann nicht lieber den alten Yoga? Laßt uns doch zurückkehren in die Höhlen und Wälder!
Mein eigenes Leben und mein Yoga sind immer dies-weltlich und überweltlich gewesen, ohne irgendeine Exklusivität auf einer Seite.

Arbeit im ständig sich vertiefenden Bewußtsein des Yogi getan, ist genausogut Mittel der Realisation, wie es die Meditation ist.

Wenn man mitten unter gewöhnlichen Verpflichtungen und in alltäglicher Umgebung sich für das religiöse Leben bereiten will, dann ist der beste Weg der, völligen Gleichmut und völlige Losgelöstheit zu pflegen, dies in dem Glauben, daß Gott da ist und der göttliche Wille in allen Dingen am Werke, wenn auch gegenwärtig unter den in einer Welt der Unwissenheit geltenden Bedingungen.

Selbsthingabe hängt nicht von dem besonderen Werk ab, das du tust, sondern von dem Geist, in dem jedes Werk getan wird, welcher Art es auch sein mag. Jedes Werk ist ein Mittel tätiger Selbsthingabe, wenn es als Opfer für Gott recht und sorgsam getan wird, ohne Wunschhaftigkeit und Begehren, mit Gleichmut des Geistes und in ruhiger Stille bei gutem wie schlechtem Geschick, um Gottes Willen und nicht um persönlichen Gewinnes willen, nicht um Lohn und Frucht, vielmehr in dem Bewußtsein, daß es die göttliche Macht ist, der alles Werk gehört.

Werk kann von zweierlei Art sein — Werk, das ein Feld der Erfahrung wird, die dem Weg und dem Fortschritt dann fruchtbar gemacht wird, und Werk, das Ausdruck der Realisation Gottes ist.

Mit Gott in Liebe eins sein, das bringt bewegenden Sinn, die reine und göttliche Leidenschaft, die Gegenwart des Geliebten selbst in dein Wirken hinein. Eine treibende Arbeitsfreude hebt in dir für Gott an und in allen Wesen für Gott.

Wenn der supramentale Mensch wirkt, dann fühlt er, daß er in Akt und Macht seine Einheit mit dem ausdrückt, was er liebt und anbetet.


Gott als Person über allen Personen
Gott ist ein personaler Gott, der nicht eine Person ist, sondern die einzig wirkliche Person und die Quelle aller Personalität.

Gott ist mehr als ein Mann oder eine Frau, ein Streifen Land oder ein Glaube, eine Meinung, Entdeckung oder ein Prinzip. Er ist die Person über allen Personen, das Heim und Vaterland aller Seelen, die Wahrheit, von der die Wahrheiten nur unvollkommene Ziffern sind.

Gott ist ein Wesen und nicht eine abstrakte Existenz oder ein Status reiner, zeitloser Unendlichkeit. Die originale und universale Existenz ist Er.
So wie wir selber nicht nur eine Anzahl von Qualitäten oder Kräften oder eine psychologische Quantität sind, sondern ein Wesen, eine Person, die so ihre Natur zum Ausdruck bringt, so ist Gott eine Person, ein bewußtes Wesen.

Wenn Herz und Leben sich dem Höchsten und Unendlichen zuwenden, dann gelangen sie nicht zu einer abstrakten Existenz oder Nicht-Existenz, einem Sat oder einem Nirvâna, sondern zu einem Existierenden, einem Sat Purusha; nicht zu einem Bewußtsein, sondern zu einem bewußten Wesen, einem Chaitanya Purusha; nicht nur zu der rein impersonalen Freude des »Ist«, sondern zu dem unendlichen »Ich bin Seligkeit«, zu einem Anandamaya Purusha. Das ist die Wahrheit, die im integralen Yoga ihren Platz hat und ihn behält.

Wir suchen und bekennen ihn nicht um der Transzendenz willen, sondern weil Er transzendent ist, nicht um der Universalität willen, sondern weil Er universal ist, nicht um der individuellen Befriedigung willen, sondern weil Er der Individuelle ist.

Er ist Er selbst, jenseits aller unserer positiven wie negativen Definitionen.


Die Herabkunft der Gnade
Es handelt sich nicht um Befähigtsein oder Nichtbefähigtsein, sondern um das Annehmen der Gnade. Kein Mensch ist zum Yoga befähigt. Es geschieht durch die Gnade und ein Licht von oben, daß man fähig wird, und das dafür Notwendige ist, nicht nachzulassen und sich dem Licht zu öffnen.

Stärke ist recht für den Starken — aber sich sehnendes Streben und die Gnade, die dem antwortet, sind auch nicht einfach Mythen, sie sind große Wirklichkeiten des religiösen Lebens.

Wenige sind ihrer, von denen sich die Gnade zurückzieht, viele aber, die sich von der Gnade zurückziehen.

Glaube an Gott, an die göttliche Gnade!

Ich habe gesagt, daß Friede und Stille höchst entscheidenderweise in einer Herabkunft von oben her kommen, wirklich und wahrhaftig kommen sie immer so, wenn auch nicht immer dem Anschein nach, denn der Adept ist sich nicht immer des Prozesses bewußt. Er fühlt, daß der Friede sich in ihm niederläßt oder wenigstens manifestiert, aber er ist sich nicht bewußt, wie und woher er kam. Gleichwohl ist es eine Wahrheit, daß alles, was dem höheren Bewußtsein zugehört, von oben kommt, nicht nur der geistliche Friede und die Stille — das Licht, die Kraft, die Erkenntnis, das höhere Sehnen und Denken, die Freude kommen von oben.

Für den größten wie den kleinsten unter uns ist unsere Kraft nicht unsere, sondern uns gegeben.

Diese Herabkunft ist ein sine qua non des Überganges und der Verwandlung. Die göttliche Liebe steigt zuerst als etwas Transzendentes und Universales herab, und aus dieser Transzendenz und Universalität teilt sie sich, der göttlichen Wahrheit und dem göttlichen Willen gemäß, den Menschen mit, indem sie eine umfassendere, größere, reinere Liebe schafft, als irgendein menschlicher Geist und menschliches Herz es je auszudenken vermögen. Wer diese Herabkunft gefühlt hat, der kann dann wirklich ein Instrument für die Geburt und das Handeln in der Welt werden.

Es geschieht wirklich auf diese Weise.

Zitiert aus: So spricht Aurobindo. Hrsg. von O. Wolff, S.13, 25 38, 46f., Barth-Verlag
Enthalten in: Die Söhne Gottes, Aus den heiligen Schriften der Menschheit, (S.105-108)
Auswahl und Einleitungen von Gustav Mensching, R. Löwit . Wiesbaden