Michail Aleksandrowitsch Bakunin (1814 – 1876)

  Russischer Revolutionär, der aus einer altadligen Familie stammte und philosophische Studien im Kreise der »Westler« betrieb (Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhem Friedrich Hegel). In Paris nahm er mit Pierre-Joseph Proudhon und Karl Marx Verbindung auf. Im Mai 1849 beteiligte er sich in Dresden am Aufstand, wurde nach seiner anschließenden Verhaftung an Russland (1851) ausgeliefert und 1857 nach Sibirien verschickt, von wo er 1860 nach London floh. Hier schloss er sich Alexander Ivanovich Herzen an und nahm an der Ersten Internationale teil, doch wurde er 1872 ausgeschlossen.

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Inhaltsverzeichnis
Gott und der Staat
Der Mythos der Erbsünde,
Das frevelhafte Mysterium oder die Dummheit des Glaubens,

Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave
,
Religionen verdummen und sind grausam,

Wenn Gott wirklich existierte, müsste man ihn beseitigen


Gott und der Staat
Der Mythos der Erbsünde
[…] Die Bibel, ein sehr interessantes und manchmal sehr tiefes Buch, wenn man sie als eine der ältesten erhaltenen Äußerungen der menschlichen Weisheit und Phantasie betrachtet, drückt diese Wahrheit sehr naiv in ihrem Mythos der Erbsünde aus. Jehovah, von allen Göttern, die die Menschen je angebetet, gewiss der eifersüchtigste, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despotischste und menschlicher Würde und Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus - man weiß nicht was für einer - Laune heraus, ohne Zweifel, um seine Langeweile zu vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muss, oder um sich neue Sklaven zu schaffen; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze Erde mit allen ihren Früchten und Tieren zur Verfügung, wobei er diesem vollständigen Genuss nur eine einzige Grenze setzte. Er verbot ihnen ausdrücklich, die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen. Er wollte also dass der Mensch, allen Bewußtseins seiner selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herren, untertan. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baume der Erkenntnis zu essen.

Man weiß, was folgte. Der Herrgott, dessen Voraussicht eine seiner göttlichen Eigenschaften, ihm hätte sagen müssen, dass dies so kommen würde, geriet in schreckliche und lächerliche Wut: er verfluchte Satan und die von ihm selbst geschaffenen Menschen und die Welt, sich gewissermaßen selbst in seiner eigenen Schöpfung schlagend, wie dies Kinder im Zorn zu tun pflegen, und sich nicht begnügend, unsere Vorfahren in der Gegenwart zu treffen, verfluchte er sie in allen künftigen Generationen, die an dem Verbrechen ihrer Vorfahren doch unschuldig sind. Unsere katholischen und protestantischen Theologen finden das sehr tief und sehr gerecht, gerade weil es ungeheuer unbillig und unsinnig ist! Dann erinnerte er sich, daß er nicht nur ein Gott der Rache und des Zornes, sondern auch ein Gott der Liebe sei, und nachdem er einige Milliarden armer menschlicher Wesen während ihres Lebens gequält und zu ewiger Höllenqual verdammt hatte, erbarmte er sich der übrigen, und um sie zu retten, um seine ewige und göttliche Liebe mit seinem ewigen und göttlichen, immer opfer- und blutgierigem Zorn zu versöhnen, schickte er als Sühneopfer seinen einzigen Sohn auf die Erde, damit er von den Menschen getötet würde. Dies nennt man das Geheimnis der Erlösung, welches die Grundlage aller christlichen Religionen bildet. Und wenn wenigstens noch der göttliche Retter die Welt der Menschen gerettet hätte! Mitnichten; in dem von Christus versprochenen Paradies wird es, wie man durch ausdrückliche Ankündigung weiß, nur sehr wenige Auserwählte geben. Die übrigen, die ungeheure Mehrheit der gegenwärtigen und künftigen Generationen, werden ewig in der Hölle braten. Inzwischen liefert der stets gerechte, stets gute Gott zu unserem Trost die Erde den Regierungen der Napoleon III. und Wilhelm I., der Ferdinand von Österreich und der Alexander von Rußland aus.

Das sind die unsinnigen Geschichten und ungeheuerlichen Lehren, die man mitten im neunzehnten Jahrhundert in allen Volksschulen Europas, auf den ausdrücklichen Befehl der Regierungen erzählt und lehrt. Das nennt man die Völker zivilisieren! Liegt es nicht auf der Hand, daß all diese Regierungen die systematischen Vergifter, die eigennützigen Verdummer der Volksmassen sind?

Ich ließ mich von meinem Gegenstand abziehen durch den Zorn, der mich stets packt, wenn ich an die elenden und verbrecherischen Mittel denke, durch die man die Völker in ewiger Knechtschaft hält, ohne Zweifel, um sie besser scheren zu können. Was sind die Verbrechen aller Tropmann der Welt, gegen¬über diesem Verbrechen beleidigter Menschheit, das täglich am hellen Tag, auf der ganzen Fläche der zivilisierten Erde von denen begangen wird, die sich Schützer und Väter der Völker zu nennen wagen? - Ich kehre zum Mythos von der Erbsünde zurück.

Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung des Ungehorsams, zu dem er sie verleitete; denn sobald sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): »Sieh‘ da, der Mensch ist wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das Böse; hindern Wir ihn also die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich werde wie Wir.«

Lassen wir jetzt die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir seinen wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken. S.47f.

Das frevelhafte Mysterium oder die Dummheit des Glaubens
[...] Statt dem natürlichen Weg zu folgen von unten nach oben, vom Niedrigen zum Höheren, vom relativ Einfachen zum Komplizierten, statt klug und verständig die tatsächliche fortschreitende Bewegung von der anorganisch genannten Welt zur organischen, Pflanzen-, dann Tier, dann speziell menschlichen Welt zu begleiten und die Bewegung der chemischen Materie oder des chemischen Wesens zur lebenden Materie oder dem lebenden Wesen und vom lebenden zum denkenden Wesen, statt dessen schlagen die idealistischen Denker, von dem von der Theologie ererbten göttlichen Phantom besessen, verblendet und angetrieben, den ganz entgegengesetzten Weg ein. Sie gehen von oben nach unten, vom Höheren zum Niedrigen, vorn Komplizierten zum Einfachen. Sie beginnen mit Gott, sei es als Person, sei es als göttliche Substanz oder Idee, und ihr erster Schritt ist ein schrecklicher Fall von den erhabenen Höhen des ewigen Ideals in den Schlamm der materiellen Welt, von der absoluten Vollkommenheit zur absoluten Unvollkommenheit, von dem Gedanken zum Wesen oder vielmehr vom höchsten Wesen zum Nichts. Wann, wie und warum das göttliche, ewige, unendliche Wesen, das absolut Vollkommene, wahrscheinlich von sich selbst gelangweilt, sich zu diesem verzweifelten salto mortale entschloß, das hat kein Idealist, Theologe, Metaphysiker, Dichter je selbst zu verstehen gewußt, noch es den Profanen erklären können. Alle vergangenen und gegenwärtigen Religionen und alle übersinnlichen philosophischen Systeme drehen sich um dieses einzige und frevelhafte Geheimnis.

Heilige Männer, inspirierte Gesetzgeber, Propheten und Erlöser suchten darin das Leben und fanden darin nur Folter und Tod. Es verzehrte sie, wie die antike Sphinx, weil sie es nicht zu erklären wußten. Große Philosophen, von Heraklit und Plato bis Descartes, Spinoza, Leibnitz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, ohne der indischen Philosophen zu gedenken, schrieben Haufen von Büchern und schufen ebenso ingeniöse wie erhabene Systeme, in denen sie neben¬bei viele schöne und große Dinge sagten und unsterbliche Wahrheiten entdeckten, die aber dieses Mysterium, den Hauptgegenstand ihrer übersinnlichen Forschungen, ebenso unergründet ließen, wie es vor ihnen gewesen war. Da aber die gigantischen Anstrengungen der bewunderswürdigen Genies, die die Welt kennt, die seit wenigstens dreißig Jahrhunderten immer von neuem diese Sisyphusarbeit unternahmen, nur dazu, führten, dieses Geheimnis noch unverständlicher zu machen, können wir hoffen, daß es uns heute durch die routinehafte Spekulation irgendeines pedantischen Schülers einer künstlich aufgewärmten Metaphysik enthüllt werde und das zu einer Zeit, in der alle lebendigen und ernsten Geister sich von dieser zweifelhaften Wissenschaft abgewendet haben, die das Resultat einer historisch gewiß erklärlichen Transaktion zwischen der Unvernunft des Glaubens und der gesunden wissenschaftlichen Vernunft ist?

Es ist augenscheinlich, daß dieses schreckliche Geheimnis unerklärlich ist, das heißt, daß es unsinnig ist, weil das Unsinnige allein sich nicht erklären läßt. Es ist augenscheinlich, daß, wer dasselbe zu seinem Glück, zu seinem Leben braucht, auf seine Vernunft verzichten und, wenn er kann, zum naiven, blinden, dummen Glauben zurückkehrend, mit Tertullian und allen aufrichtigen Gläubigen diese Worte wiederholen muß, welche die wahre Quintessenz der Theologie enthalten: Credo quia absurdum [Ich glaube, weil es unsinnig ist].

Dann hört jede Diskussion auf und es bleibt nur die triumphierende Dummheit des Glaubens. Aber eine andere Frage stellt sich sofort: Wie kann in einem intelligenten und unterrichteten Menschen das Bedürfnis entstehen, an dieses Geheimnis zu glauben?

Nichts ist natürlicher, als daß der Glaube an Gott, den Schöpfer, Organisator, Richter, Herrn, Verflucher, Retter und Wohltäter der Welt sich im Volk erhalten hat, und zwar vor allem bei der Landbevölkerung, viel mehr als beim städtischen Proletariat. Das Volk ist leider noch sehr unwissend und wird in seiner Unwissenheit erhalen durch die systematischen Anstrengungen aller Regierungen, welche diese Unwissenheit sehr begründeter Weise für eine der wichtigsten Bedingungen ihrer eigenen Macht halten. Von der täglichen Arbeit erdrückt, ohne Muße, geistigen Verkehr, Lektüre, kurz aller Mittel und der meisten Antriebe beraubt, welche das menschliche Denken entwickeln, akzeptiert das Volk meist ohne Kritik und in Bausch und Bogen die religiösen Traditionen, die es von der frühesten Kindheit in allen Lebensverhältnissen umgeben und die von einer Menge offizieller Vergifter aller Art, Priestern und Laien, künstlich in ihm am Leben erhalten werden, wodurch sie sich in ihm in eine Art geistiger und moralischer Gewohnheit verwandeln, die nur zu oft viel mächtiger ist, als ein natürlicher gesunder Menschenverstand.

Noch eine andere Ursache erklärt und rechtfertigt in gewissem Grade den unsinnigen Glauben des Volkes. Dies ist die elende Lage, zu der es durch die bestehende Gesellschaftsordnung in den zivilisierten Ländern Europas unabänderlich verurteilt ist. In geistiger und moralischer, wie in materieller Hinsicht auf ein Minimum menschlicher Existenz eingeschränkt, in seiner Lebensweise eingesperrt wie ein Gefangener in den Kerker, ohne Ausblick, ohne Ausweg, sogar ohne Zukunft, wenn man den Ökonomisten glauben will, müßte das Volk die merkwürdig enge Seele und den niedrigen Instinkt der Bourgeois haben, wenn es nicht das Bedürfnis empfinden würde, aus diesen Verhältnissen herauszukommen; dazu gibt es nur drei Mittel, zwei phantastische und ein Wirkliches. Die beiden ersteren sind das Wirtshaus und die Kirche, körperliche und geistige Ausschweifung; das dritte ist die soziale Revolution. Ich schließe daraus, daß letztere allein, viel mehr wenigstens als alle theoretische Propaganda der Freidenker, imstande sein wird, den religiösen Glauben und die Ausschweifungsgewohnheiten im Volk bis zu ihren letzten Spuren zu zerstören, einen Glauben und Gewohnheiten, die viel enger miteinander verknüpft sind, als man gemeinhin glaubt; durch Ersatz der gleichzeitig trügerischen und niedrigen Genüsse dieser körperlichen und geistigen Zügellosigkeit durch die ebenso feinen wie wirklichen Genüsse der in jedem und in allen sich vollständig entwickelnden Menschheit, wird die soziale Revolution allein die Macht haben, gleichzeitig alle Wirtshäuser und alle Kirchen zu schließen.

Bis dahin wird die Masse des Volkes glauben und wird dabei, wenn auch nicht die Vernunft, so doch wenigstens das Recht, dies zu tun, auf seiner Seite haben.
Es gibt eine Menschenklasse, die, wenn sie auch nicht selbst glauben, sich doch wenigstens gläubig stellen müssen. Das sind Folterer, Unterdrücker und Ausbeuter der Menschheit. Geistliche, Monarchen, Staatsmänner, Krieger, öffentliche und private Finanziers, Beamte aller Art, Polizisten, Gendarmen, Kerkermeister und Henker, Monopolisten, Kapitalisten, Steuereintreiber, Unternehmer und Hausbesitzer, Advokaten, Ökonomisten, Politiker aller Farben, bis zum letzten Philister, alle wiederholen einstimmig die Worte Voltaires:

Wenn es keinen Gott gäbe, müßte man einen erfinden. Denn, ihr versteht, das Volk braucht eine Religion. Sie ist das Sicherheitsventil.

Es gibt endlich eine ziemlich zahlreiche Klasse ehrlicher, aber schwacher Seelen, die zu intelligent sind, um die christlichen Dogmen ernst zu nehmen und sie im einzelnen verwerfen, aber nicht die nötige Kraft und Entschlossenheit haben, sie als Ganzes zu verwerfen. Sie geben alle speziellen Unsinnigkeiten der Religion der Kritik preis, sie weisen alle Wunder zurück, aber sie klammern sich verzweifelt an den Hauptunsinn, der die Quelle aller anderen ist, an das Wunder, das alle anderen Wunder erklärt und rechtfertigt, an das Dasein Gottes. Ihr Gott ist nicht das starke und mächtige Wesen, der brutal positive Gott der Theologie. Er ist ein nebelhaftes durchsichtiges und trügerisches Wesen, so trügerisch, daß, wenn man ihn zu packen glaubt, er sich in das Nichts verwandelt; er ist eine Spiegelung, ein Irrlicht, das weder wärmt noch erhellt. Und doch halten sie an ihm fest und glauben, daß mit seinem Verschwinden alles mit ihm verschwinden würde. Das sind unentschlossene krankhafte Seelen, die sich in der heutigen Kultur nicht zurechtfinden, die weder der Gegenwart noch der Zukunft angehören, blasse Phantome, die ewig zwischen Himmel und Erde hängen und die sich in derselben Stellung zwischen der Bourgeoispolitik und dem Sozialismus des Proletariats befinden. Sie fühlen sich nicht stark genug, einen Gedanken bis zu Ende zu denken, zu wollen und sich zu entschließen, und sie verlieren ihre Zeit und Mühe damit, immer das Unversöhnliche versöhnen zu wollen. Im öffentlichen Leben nennt man sie Bourgeoissozialisten.
Eine Diskussion ist weder mit ihnen, noch gegen sie möglich. Sie sind zu krank. S.50ff. […]

Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave
Alle Religionen, mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Erlösern und Heiligen wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer intellektuellen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben exaltiert, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, das heißt vergöttlicht. Die Geschichte der Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intelligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem historischen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden übertrugen sie dieselben auf ihre Götter, übertrieben, ins Maßlese ausgedehnt, wie Kinder zu tun pflegen, durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie. Dank dieser Bescheidenheit und frommen Großmütigkeit der gläubigen und leichtgläubigen Menschen bereicherte sich der Himmel durch das, was der Erde geraubt wurde, und konsequenterweise, je reicher der Himmel wurde, desto elender wurden die Menschheit, die Erde. Sobald einmal die Gottheit installiert war, wurde sie natürlich als Grund, Ursache, Schiedsrichter und absoluter Verfüger über alle Dinge proklamiert: die Welt war nichts mehr, die Gottheit alles, und der Mensch, ihr wahrer Schöpfer, der sie ohne sein Wissen aus dem Nichts herausgezogen kniete vor ihr nieder, betete sie an und erklärte sich als ihre Kreatur und ihr Sklave.

Das Christentum ist gerade die Religion par excellence, weil es in seiner Ganzheit die Natur, die eigentliche Essenz jedes religiösen Systems ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Vernichtung der Menschheit zum Vorteil der Gottheit.

Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, die Unbill, das Übel, die Häßlichkeit die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden, und kann sie nur durch eine göttliche Offenbarung erreichen. Aber wer Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber die Gott selbst inspirierte, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Unterweiser der Menschheit, die Gott selbst auswählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen unbegrenzten und passiven Gehorsam, denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur bestimmte und privilegierte Völker umfaßten, während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz verkündigt und verwirklicht Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Religion, und die apostolische römische Kirche die einzig konsequente, legitime und göttliche.

Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Negation der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen, in Theorie und in Praxis.

Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen, wie die Jesuiten, die protestantischen Mômiers, Pietisten oder Methodisten, können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht die geringste Konzession machen. Denn wer in diesem mystischen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten.

Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: folglich existiert Gott nicht.

Ich fordere jeden heraus, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.
S.58f.

Religionen verdummen und sind grausam
Ist es nötig zu erinnern, wie sehr und wie die Religionen die Völker verdummen und verderben? Sie töten in ihnen die Vernunft, dieses Hauptwerkzeug der menschlichen Emanzipation, und führen sie zum Schwachsinn, der wesentlichen Bedingung ihrer Sklaverei. Sie entehren die menschliche Arbeit und machen sie zum Zeichen und zur Quelle der Knechtschaft. Sie töten Begriff und Gefühl der menschlichen Gerechtigkeit und lassen immer die Waagschale sich neigen auf die Seite der triumphierenden Schurken, der privilegierten Objekte der göttlichen Gnade. Sie töten menschlichen Stolz und Würde und schützen nur die Kriechenden und Demütigen. Sie ersticken im Herz der Völker jedes Gefühl menschlicher Brüderlichkeit und erfüllen es mit göttlicher Grausamkeit.

Alle Religionen sind grausam, alle sind auf Blut gegründet;
denn alle ruhen hauptsächlich auf der Idee des Opfers, das heißt auf der beständigen Opferung der Menschheit zugunsten der unersättlichen Rache der Gottheit. In diesem blutigen Mysterium ist der Mensch immer das Opfer, und der Priester, auch ein Mensch, aber ein durch die Gnade privilegierter, ist der göttliche Henker. Dies erklärt uns, warum die Priester aller Religionen, die besten, die menschlichsten, die sanftesten beinahe immer auf dem Grund ihres Herzens — und wenn nicht im Herzen, in ihrer Einbildung, ihrem Geist (und man kennt den großen Einfluß beider auf das Herz der Menschen) — warum, sage ich, in den Gefühlen jedes Geistlichen etwas Grausames und Blutdürstiges liegt. S.60

Wenn Gott wirklich existierte, müsste man ihn beseitigen
All das wissen unsere ausgezeichneten Idealisten der Gegenwart besser als irgendjemand. Sie sind gelehrte Leute. die ihre Geschichte kennen, und da sie gleichzeitig lebende Menschen sind, große Seelen, von aufrichtiger und tiefer Liebe zur Menschheit durchdrungen, so verfluchten und brandmarkten sie all diese Untaten, all diese Verbrechen der Religionen mit unerreichter Beredsamkeit. Mit Entrüstung weisen sie jede Gemeinschaftlichkeit mit dem Gott der positiven Religionen und ihren vergangenen und gegenwärtigen irdischen Vertretern zurück.

Der Gott, den sie anbeten oder anzubeten glauben, unterscheidet sich von den wirklichen Göttern der Geschichte gerade dadurch, daß er durchaus kein positiver und auf irgend eine Weise, theologisch oder selbst metaphysisch bestimmter Gott ist. Er ist weder das höchste Wesen Robespierres und Jean Jacques Rousseaus, noch der pantheistische Gott Spinozas, noch der gleichzeitig immanente und transzendente und sehr zweideutige Gott Hegels. Sie hüten sich, ihm irgendeine positive Bestimmung zu geben, da sie sehr gut fühlen, daß eine solche Bestimmung ihn der zersetzenden Tätigkeit der Kritik preisgeben würde. Sie werden nie sagen, ob es ein persönlicher oder unpersönlicher Gott ist, ob er die Welt erschaffen hat oder nicht; sie sprechen nicht einmal von seiner göttlichen Vorsehung. All das könnte ihn bloßstellen. Sie werden sich begnügen zu sagen: »Gott« und nichts weiter. Aber was ist dann ihr Gott? Nicht einmal eine Idee, sondern ein bloßer Hauch.

Er ist der Gattungsname für alles, das ihnen groß, gut, schön, edel, menschlich erscheint. Aber warum sagen sie dann nicht: »Mensch«? Ach, weil König Wilhelm von Preußen und Napoleon III. und alle ihresgleichen auch Menschen sind, und dies setzt sie in große Verlegenheit. Die wirkliche Menschheit bildet eine Verbindung des Erhabensten und Schönsten und des Erbärmlichsten und Ungeheuerlichsten, was es gibt. Wie kommen sie aus dieser Verlegenheit heraus? Sie nennen das eine göttlich, das andere tierisch, und stellen sich die Göttlichkeit und die Animalität als zwei Pole vor, zwischen die sie die Menschheit stellen. Sie wollen oder können nicht begreifen, daß diese drei Ausdrücke nur einen einzigen bilden und daß man sie zerstört, wenn man sie trennt.
Sie sind in der Logik nicht stark und man möchte glauben, daß sie sie verachten. Das unterscheidet sie von den pantheistischen und deistischen Metaphysikern und drückt ihren Ideen den Charakter eines praktischen Idealismus auf, der sein Trachten viel weniger aus der strengen Entwicklung eines Gedanken schöpft, als aus den geschichtlichen, kollektiven und individuellen Erfahrungen, beinahe sage ich Bewegungen des Lebens. Dies gibt ihrer Propaganda einen Schein von Reichtum und Lebenskraft, aber nur einen Schein; denn das Leben selbst wird unfruchtbar, wenn es von einem logischen Widerspruch gelähmt wird.

Dieser Widerspruch ist folgender: sie wollen Gott und sie wollen die Menschheit. Sie versteifen sich darauf, zwei Begriffe zusammenzubringen, die, einmal getrennt, sich nur wieder treffen können, um sich gegenseitig zu zerstören. Sie sagen in einem Atemzug: »Gott und die Freiheit des Menschen«, »Gott und die Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wohl der Menschen«, - ohne sich um die unvermeidliche Logik zu kümmern, nach welcher, wenn Gott existiert, alles zum Nichtvorhandensein verurteilt ist. Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr da ist, ist der Mensch der Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit, noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich. Mögen diese Idealisten sich immer gegen den gesunden Menschenverstand und alle geschichtliche Erfahrung, ihren Gott von der zartesten Liebe für die Menschheit beseelt vorstellen: ein Herr, was immer er tun und wie freiheitlich er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, das unter ihm ist, ein. Wenn also Gott existierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit zu dienen: aufhören zu existieren.

Als eifersüchtiger Anhänger der menschlichen Freiheit, die ich als die unbedingte Grundbedingung von allem, das wir in der Menschheit verehren und achten, ansehe, drehe ich Voltaires Satz um und sage: wenn Gott wirklich existierte, müßte man ihn beseitigen. S.61f.
Nach: Michael Bakunin, Gott und der Staat, © Trotzdem-Verlagsgenossenschaft 2003 Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Zustimmung des Trotzdem-Verlags