Ferdinand Christian Baur (1792 – 1860)

  Deutscher evangelischer Theologe, Kirchen- und Dogmenhistoriker. Baur war seit 1836 Professor in Tübingen, führte in die neutestamentliche Forschung die historisch-kritischen Methode ein und beteiligte sich dadurch am Streit um das »Leben Jesu« von David Friedrich Strauss. Kritisch-spekulativ verstand er die Geschichte des Urchristentums als dialektische Entwicklung vom Judenchristentum des Petrus (Gesetzeskirche) über das Heidenchristentum des Paulus (Geistkirche) zur vorläufigen Synthese der frühkatholischen Kirche.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Die Hegel’sche Spekulation und die Gnosis
«Gott ist die Bewegung in sich selbst, und nur dadurch allein lebendiger Gott, er ist die Bewegung zum Endlichen, und dadurch als Aufhebung desselben zu sich selbst; im Ich, als dem sich als endlich aufhebenden, kehrt Gott zu sich zurück, und ist nur Gott als diese Rückkehr. Ohne Welt ist Gott nicht Gott.»

Wir haben hier nicht bloß den Standpunkt des Systems im allgemeinen, sondern sogleich auch schon die wesentlichen Momente vor uns, um welche es sich bewegt. Bestimmter aber und unmittelbarer kann die ganze Differenz des Schleiermacherschen und Hegelschen Standpunktes nicht ausgesprochen werden, als in dem einen für sich schon das ganze System in sich enthaltenden Satz, dass die Religion, wie Hegel ihr Wesen bestimmt, statt ihren ganzen Inhalt mit Schleiermacher in das Gefühl des Subjekts zu setzen, das Selbstbewusstsein Gottes oder des absoluten Geistes sei, oder die Idee des Geistes, der sich zu sich selbst verhält, die Beziehung des Geistes auf den absoluten Geist, das Wissen des göttlichen Geistes von sich. Vermittelt aber ist dieses Wissen des Geistes von sich durch den endlichen Geist, oder durch das Bewusstsein, das als solches das endliche Bewusstsein ist.

Die Religion hat somit das endliche Bewusstsein an ihr, aber als endliches aufgehoben, denn das andere, wovon der absolute Geist weiß, ist er selbst, und er ist so erst der absolute Geist, dass er sich weiß. Er muss also, um durch das Bewu
sstsein oder den endlichen Geist, vermittelt zu werden sich verendlichen, um durch diese Verendlichung Wissen seiner selbst zu werden.

Ehe aber der Geist sich zu der Religion erhebt, in welcher er durch das Wissen seiner selbst zu sich zurückkehrt, hat er bereits ein unendlich langes Gebiet durchlaufen. Gehen wir vom Sinnlichen aus, vom natürlichen Bewusstsein, das die Natur zu seinem Objekt hat, so ergibt sich als die Wahrheit der Natur der Geist, die Natur geht in ihren Grund zurück, welcher der Geist überhaupt ist.

Die Natur ist ein
vernünftiges System, sie hat das Gesetz der Lebendigkeit der Dinge in sich, aber nur in ihrem Innern, sie weiß nichts von dem Gesetze, das Wahre, der Geist, ist so in einer ihm nicht gemäßen Existenz, der Geist, die wahrhafte Existenz dessen, was an sich ist, geht erst aus der Natur hervor, und zeigt, dass er die Wahrheit, die Grundlage, das Höchste in der Natur sei. Im Verhältnis zur Natur aber, als zu einem äußerlichen, als endliches Bewu
sstsein der Natur, als einem andern gegenüber, ist der Geist zunächst der endliche Geist. Als endlicher Geist ist er im Widerspruch mit sich selbst begriffen, es widerspricht seiner Natur, im Äußerlichen zu sein, daher geht der endliche Geist, um sich vom Nichtigen zu befreien, und sich zu sich selbst zu erheben, in seinen Grund zurück, zu sich in seine Wahrhaftigkeit, und diese Erhebung ist erst das Hervorgehen der Religion, in welcher der Geist von sich weiß, und als der freie, der absolute Geist das wahrhafte Bewusstsein von seinem Wesen hat.

Die
Natur und der endliche Geist sind somit nur die Verleiblichungen der Idee, bestimmte Gestaltungen, besondere Weisen der Erscheinung der Idee, in denen die Idee noch nicht durchgedrungen ist zu sich selbst, um als absoluter Geist zu sein. Über der Natur und dem endlichen Geist aber, als den Verleiblichungen der Idee, steht das Reich des reinen Gedankens, die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist, und die Logik, als das System der reinen Vernunft, als das Reich der reinen Gedanken des sein Wesen, die reinen Wesenheiten selbst, wie sie an sich sind, denkenden Geistes, hat zu ihrem Inhalt die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist. Die Philosophie ist daher erstlich die logische Idee, die Idee, wie sie im Gedanken ist, wie ihr Inhalt selbst die Gedankenbestimmungen sind, ferner zeigt sie das Absolute in seiner Tätigkeit, in seinen Hervorbringungen, und dies ist der Weg des Absoluten, für sich selbst zu werden, zum Geist, und Gott ist so das Resultat der Philosophie, von welchem erkannt wird, daß es nicht bloß das Resultat ist, sondern ewig sich hervorbringt, das Vorhergehende ist.

Die Einseitigkeit des Resultates wird im Resultat selbst aufgehoben. Was Resultat ist, ist auch wieder nicht Resultat, nicht durch anderes vermittelt, sondern vielmehr die Grundlage. Das eine also, was auf gleiche Weise Voraussetzung und Resultat ist, ist der sich mit sich selbst vermittelnde absolute Geist, und der Inhalt der Religion ist daher das Selbstbewu
sstsein Gottes. Gott weiß sich in einem von ihm verschiedenen Bewusstsein, das an sich das Bewusstsein Gottes ist, aber auch für sich, indem es seine Identität mit Gott weiß, eine Identität, die vermittelt ist, durch die Negation der Endlichkeit. Gott ist also mit einem Worte dies: sich von sich zu unterscheiden, sich Gegenstand zu sein, aber in diesem Unterschiede schlechthin mit sich identisch zu sein.

Schon dieser allgemeine Überblick über das Hegelsche System im Ganzen stellt uns auf den Punkt, auf welchem seine nahe Verwandtschaft mit den Systemen der alten Gnosis klar in die Augen fällt. Alle diese Systeme, ihrem allgemeinen Charakter nach betrachtet, vor allen andern aber diejenigen, die uns als die Repräsentanten der ersten und dritten Hauptform der Gnosis gelten, das valentinianische und pseudoclementinische (das marcionitische hat, wie gezeigt worden ist, eine Hinneigung zum Standpunkt der Subjektivität), tragen im allgemeinen denselben Charakter an sich, ihr Prinzip ist dasselbe, und die Momente, durch die sie sich in ihrer Entwicklung hindurchbewegen, sind dieselben. An der Spitze der Systeme steht der absolute Geist, wie er an sich ist, in seiner reinen Abstraktheit und Objektivität.

Die Äonen, in welchen im valentinianischen System der eine Uräon sich selbst reflektiert, sind nichts anders, als die reinen Gedanken, die reinen Wesenheiten, in welchen der Geist sein eigenes Wesen denkt, die reine Selbstbewegung des an sich seienden geistigen Lebens. Im pseudoclementinischen System ist es wenigstens die Sophia, die als die mit Gott selbst identische Seele mit ihm verbunden gedacht wird, und das marcionitische charakterisiert seine Eigentümlichkeit ebendadurch, daß es den höchsten unsichtbaren Gott ohne allen objektiven Inhalt setzt, als eine bloße Abstraktion des Bewusstseins. In den Äonen des valentinianischen Systems manifestiert sich zwar in der Einheit auch schon die Verschiedenheit, der Unterschied des Geistes von sich, als Übergang zum Anderssein und zur Verendlichung, aber es gilt hier ganz, was Hegel von Gott sagt, sofern er in seiner ewigen Idee an und für sich, im Elemente des Gedankens betrachtet, sozusagen, vor oder außer Erschaffung der Welt ist, in seiner Ewigkeit, als die abstrakte Idee, dass Gott zwar ewig sich unterscheidet, was aber sich so von sich unterscheidet, noch nicht die Gestalt eines Audersseins hat, sondern das Unterschiedene nur das ist, von dem es geschieden worden ist. Der Geist ist nur als sich offenbarend, sich unterscheidend für den Geist, für den er ist, die ewige Idee, der denkende Geist, Geist im Elemente seiner Freiheit, Gott, nur sofern er sich offenbart, weil er Geist ist, aber noch nicht das Erscheinen ist, rein nur als Denken für den Geist.

Es ist dies das theoretische Bewusstsein, worin das denkende Subjekt sich ganz ruhig verhält, noch nicht in den Prozess gesetzt ist, sondern in ganz unbewegter Stille des denkenden Geistes sich verhält, da ist Gott gedacht für ihn, und dieser ist so in dem einfachen Schlusse, dass er sich durch seinen Unterschied, der aber hier nur noch in der reinen Idealität ist, und nicht zur Äußerlichkeit kommt, mit sich selbst zusammenschließt, unmittelbar bei sich selbst ist
(der gnostische Horos), im Element des Gedankens. Gott ist Geist, keine Dunkelheit, keine Färbung oder Mischung tritt in dies reine Licht (das gnostische Licht des Vaters, das lumen paternum [Licht vom Vater] Ir. II. 8,2), die Identität mit sich. Er ist zwar Prozess, Bewegung, Leben, d. h. sich zu unterscheiden, bestimmen, aber die erste Unterscheidung ist, dass er ist als diese allgemeine Idee selbst, und in diesem Urteil ist das andere, das dem Allgemeinen Gegenüberstehende, als das von ihm Unterschiedene, seine ganze Idee an und für sich, so daß diese zwei Bestimmungen auch für einander dasselbe, diese Identität, das Eine, sind. Dass es so ist, ist der Geist selbst, oder nach der Weise der Empfindung ausgedrückt, die ewige Liebe. Denn die Liebe ist ein Unterscheiden zweier, die doch für einander schlechthin nicht unterschieden sind (der gnostische Begriff der Syzygien
[Paare von Äonen]).

Die Verwandtschaft der
Hegelschen Religions-Philosophie mit der alten Gnosis, wie sie hier klar vor Augen liegt, besteht demnach vor allem hauptsächlich darin, daß es hier, wie dort, derselbe Prozess ist, durch welchen der absolute Geist sich mit sich selbst vermittelt, der Proze
ss des Sich-Unterscheidens, Dirimierens [trennen, entfremden] und Insich-Zurückgehens, in den drei Momenten des an sich, für sich und bei sich Seins, oder den Momenten der substantiellen absoluten Einheit, die die Idee in ihrer sich selbst gleichen Affirmation ist, des Unterscheidens, und des Zurückgehens des Unterschiedenen zur absoluten Affirmation. Auch den gnostischen Systemen liegt die Voraussetzung zugrunde, dass Gott nur in diesem Prozess ein lebendiger Gott, der absolute Geist, die denkende Vernunft ist, weil das Leben nicht ohne Bewegung, das Denken nicht ohne vermittelnde Tätigkeit ist, oder das wahre Wissen nur der Begriff selbst ist, sofern er sich in den drei Momenten als Begriff an sich, als bestimmter Begriff, und als der aus der Bestimmtheit zu sich kommende, aus der Beschränktheit sich wiederherstellende Begriff selbst expliziert. Ohne Welt ist daher auch Gott nicht Gott. Zugleich erhellt aber auch schon hieraus der große Unterschied zwischen dem rein logisch bestimmten Begriff des Prozesses, und der schlechthin gesetzten, nur postulierten, platonisch-gnostischen Idee eines Abfalls vom Absoluten, wie sie selbst noch in den frühern Darstellungen der Schellingschen Philosophie eine sehr wesentliche und tiefeingreifende Bedeutung hat.
Aus: Ferdinand Chistian Baur: Die Christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835, (S.56-64)
Enthalten auch in: Peter Sloterdijk / Thomas H. Macho (Hg.), Die Weltrevolution der Seele, ( S.332-336)
Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart, Erster Band
Artemis & Winkler Verlag