Schalom Ben-Chorin (1913 - 1999)

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Inhaltsverzeichnis
Die Bedeutung Jesu für das Judentum
Eine Sünde, die nicht vergeben werden kann . . .
Bruder Jesus

Die Bedeutung Jesu für das Judentum
Viel tiefer geht die Frage nach der Bedeutung Jesu für das Judentum. Diese Frage kann aber so nicht gestellt werden. Für das normative, offizielle Judentum, wie es in etwa durch das Oberrabbinat Israels in Jerusalem repräsentiert wird, hat Jesus von Nazareth keine Bedeutung.

Für das mittelalterliche Judentum war die negative Darstellung in der sogenannten Toledoth-Literatur typisch, die aber nur aus der Drangsal der Juden in der Zeit der Kreuzzüge zu verstehen ist, wo im Namen Jesu (unter Missbrauch seines Namens) ganze jüdische Gemeinden am Rhein, in Frankreich und schließlich in Jerusalem selbst ausgerottet wurden.

Auf die Toledoth-Literatur folgte ein jahrhundertelanges Schweigen. Der Name Jesus war im Judentum tabu, zumal die kirchliche Zensur jede Stellungnahme verbot, die nicht der christlichen Dogmatik entsprach.

Erst im 19. Jahrhundert beginnen jüdische historische Darstellungen Jesu. Die eigentliche moderne jüdische Leben-Jesu-Forschung beginnt 1922 mit dem bedeutenden Werk von Joseph Klausner, weiland Professor für die Geschichte des Zweiten Tempels und der Neu-Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem. Das Werk »Jesus von Nazareth« liegt nicht nur im hebräischen Original, sondern auch in deutscher, englischer und französischer Übersetzung vor und bahnte den Weg zu einer jüdischen Leben-Jesu-Forschung, die eine Art Heimholung Jesu in sein jüdisches Volk darstellt. Auch mein eigener Versuch
»Bruder Jesus, der Nazarener in jüdischer Sicht« (München 1967) ist in diese Reihe jüdischer Bemühungen um Erkenntnis und Darstellung Jesu einzuordnen.

Gemeinsam sind allen jüdischen Jesus-Büchern folgende Negativa:

Jesus wird nicht als Messias gesehen, da die Welt nach seinem Opfergang nach Golgatha unerlöst geblieben ist.

Er gilt nicht als der eingeborene Sohn Gottes, da diese Vorstellung dem Judentum fremd ist.

Er wird nicht als die zweite Person einer heiligen Dreifaltigkeit gesehen, die der strenge jüdische Monotheismus nicht kennt.

Er ist nicht der einzige Gerechte, der das stellvertretende Sühneleiden trägt, denn ihrer sind viele.

Er hat das Gesetz nicht für uns erfüllt, da es hier für das Judentum keine Stellvertretung gibt und jeder Jude das Gesetz erfüllen muß, so gut oder so unzulänglich, wie er es eben vermag.

Positiv hingegen gehen die Meinungen weit auseinander:

Für manche jüdische Autoren ist Jesus ein Prophet, ja sogar der größte Prophet des Judentums.

Andere sehen in ihm einen überragenden Rabbi.

Wieder andere sehen in ihm einen Sozialrevolutionär oder nationalen Freiheitskämpfer gegen Rom.

Die Vielfalt der Auffassungen ist typisch für einen Sachverhalt, den viele Christen nicht erkennen: das Judentum stellt keine monolithische Größe dar. Seine Pluralität zeigt sich gerade bei der Stellung zu Jesus, die von der völligen Negation bis zur enthusiastischen Bejahung, was nicht dogmatisch zu verstehen ist, reicht.

Was soll man aber da zu jenem wackeren Schwaben sagen, der in forschem Neudeutsch fragte: »Welchen Stellenwert hat das Neue Testament in der Synagoge?« Als guter Jude fragte ich, wie schon erwähnt, auch diesmal zurück: »Welchen Stellenwert hat der Koran in der Württembergischen Landeskirche?« Da erkannte der Frager unter dem Gelächter des Auditoriums, daß seine Kirchturmsfrage nicht richtig gestellt war.

Manche Frager möchten das Rad der Geschichte rückwärts drehen: »Hätten die Jünger Jesu ihren Meister nicht zum Messias gemacht, wären dann seine Worte in die jüdische Tradition eingegangen?« Diese Art der Fragestellung erinnert mich an einen alten Schulaufsatz: »Was wäre geschehen, wenn Marc Anton nicht seine Rede an der Leiche Caesars gehalten hätte?«

Fragen dieser Art sind sinnlos. Die Weltgeschichte, die Religionsgeschichte, die Heilsgeschichte sind nicht rückgängig zu machen. Das gilt auch für die Biographie des Menschen. Wir müssen uns der Wirklichkeit stellen. Es ist müßig, spekulative Fragen darüber anzustellen, wie es gekommen wäre, wenn . . .

Aus: Schalom Ben-Chorin: Vom Kirchenvater Abraham und anderen Ungereimtheiten
Bockhaus-Taschenbuch Band 341 (S.57-59)
© R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1983
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Brockhaus Verlage
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Eine Sünde, die nicht vergeben werden kann . . .
Nach einem Worte Jesu werden alle Sünden vergeben, nur nicht die gegen den heiligen Geist (Matth. 12, 31; Mark. 3, 29). Dieses Wort, wie viele Worte Jesu, ist mannigfacher Deutung zugänglich. Mir scheint der einfache, schlichte Wortsinn der zu sein, daß jede WILLKÜRLICHKEIT und Umdeutung heiliger Überlieferung als Sünde gegen den Geist aufzufassen ist, eine Sünde, die nicht vergeben werden kann.
Das Neue Testament ist für mich gewiß nicht heilige Schrift im kanonischen Sinne, aber ich sehe in ihm, mit Rabbiner Leo Baeck, eine Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte. In dieser Urkunde ist viel vom Heilsgute Israels aufbewahrt und tradiert worden. Es scheint mir daher ebenso illegitim, die Gestalt Jesu willkürlich zu verändern, wie es mir unzulässig scheint, aus Mose einen Ägypter zu machen, wie dies Sigmund Freud in seinem Alterswerk: >Der Mann Moses und die monotheistische Religion< (1939) tat.
Aus: Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, dtv/List (S.9-10)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis von Frau Avital Ben-Chorin

Bruder Jesus
Jesus ist für mich der ewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder, sondern mein JÜDISCHER BRUDER. Ich spüre eine brüderliche Hand, die mich faßt, damit ich ihm nachfolge. Es ist NICHT die Hand des Messias, diese mit den Wundmalen gezeichnete Hand. Es ist bestimmt KEINE GÖTTLICHE, sondern eine MENSCHLICHE Hand, in deren Linien das tiefste Leid eingegraben ist.

Das unterscheidet mich, den Juden, vom Christen, und doch ist es dieselbe Hand, von der wir uns angerührt wissen. Es ist die Hand eines großen Glaubenszeugen in Israel. Sein Glaube, sein bedingungsloser Glaube, das schlechthinnige Vertrauen auf Gott, den Vater, die Bereitschaft, sich ganz unter den Willen Gottes zu demütigen, das ist die Haltung, die uns in Jesus vorgelebt wird und die uns — Juden und Christen — verbinden kann:Der Glaube Jesu einigt uns, habe ich andernorts gesagt, aber der Glaube an Jesus trennt uns.

Der Glaube Jesu, wie er in der Bergpredigt zum Ausdruck kommt, in seinen Gleichnissen von der Vaterschaft Gottes und seinem Reiche und in dem Gebete, das Jesus seine Jünger lehrt, dem »Unser Vater ...«.

Der Glaube an Jesus als den Messias, als die zweite Person einer nirgends im Neuen Testament bezeugten Trinität, als den EINZIGEN Gerechten, der ein stellvertretendes Sühneleiden auf sich nimmt — all das trennt uns notwendig, und all das kommt in der hier versuchten JÜDISCHEN INNENSICHT Jesu bewußt nicht zum Ausdruck. Freilich gibt es heute wesentliche Strömungen in der modernen evangelischen Theologie, die sich mehr und mehr dieser Sicht Jesu annähern, die hier aus jüdischer Perspektive gewonnen wird. Ich möchte hier nur den Mainzer Neutestamentler Herbert Braun erwähnen, der die Nachfolge Christi darin sieht, daß man versucht, mit Jesus zu glauben und wie er, nicht primär an ihn.

Nach Jahrhunderten einer Christologie, die die menschliche Seite Jesu mehr und mehr seiner »göttlichen Natur- opferte, versucht man heute (trotz aller kerygmatischen Vorbehalte) den MENSCHEN JESUS zu sehen. Eine »Theologie nach dem Tode Gottes« (Dorothee Sölle) meint, daß heute nur via Jesus stellvertretend geglaubt werden kann. Jesus wird hier wieder zum Mittler, wenn auch nicht in einem sakramentalen Sinne. Auch hier wird Jesus seiner Leiblichkeit entkleidet, auch hier wird vor allem der JUDE JESUS, dieser Ur- und Nur-Jude, nicht realistisch gesehen, dem eine Stellvertretung im Glauben völlig wesensfremd war.

Das Verhältnis des jüdischen Menschen zu Jesus muß wesensmäßig ein anderes sein als das des Christen aus den Völkern. Jesus tritt uns in einer unmittelbaren Nähe gegenüber, die freilich erst erkannt werden kann, wenn wir die Züge des jüdischen Mannes aus Nazareth von der Übermalung der christlichen Ikonologie gereinigt haben. Schicht um Schicht, die die Kirchengeschichte hier hinterlassen hat, muß abgehoben werden, damit man zum ursprünglichen Antlitz Jesu vordringt. Dieses Antlitz und diese Gestalt stehen aber dann nicht in einem leeren Raum, sondern müssen eingefügt erkannt werden in das ihnen zeitgenössische palästinensische Judentum. Jede andere Sicht muß dem Wesen Jesu fremd bleiben.

Mein eigener Weg hat mich nun mehr und mehr in die Nähe Jesu geführt, wobei ich selbst diese Befreiung des Jesus-Bildes von der christlichen Übermalung vornehmen mußte. Aus dem katholischen Bayern, wo mir in Kirchen und Kapellen, auf Feldkreuzen und im Herrgottswinkel der Bauernstuben das Bild des Gekreuzigten begegnete und sich dem jüdischen Kinde schmerzlich einprägte, führte mein Weg in das Land Jesu, das Land Israel, und in die Stadt seiner Passion, die Stadt Jerusalem, in der ich seit über dreißig Jahren ansässig bin. So vieles in diesem Lande und in dieser Stadt und so vieles im Judentum auch noch unserer Tage verlieh den Berichten des Evangeliums eine brennende Aktualität, die mich nicht mehr losgelassen hat. Jesus ist sicher eine zentrale Gestalt der jüdischen Geschichte und Glaubensgeschichte, aber er ist zugleich ein Stück unserer Gegenwart und Zukunft, nicht anders als die Propheten der hebräischen Bibel, die wir ja auch nicht nur im Lichte der Vergangenheit zu sehen vermögen.

Diese Sicht verbindet mich wiederum mit vielen Christen, für die Jesus der »Gekommene« ist, zugleich aber auch die Mitte ihres Lebens und letztlich der Kommende. Das Neue Testament schließt mit den Worten des »Maran ata«: Ja, komm, Herr Jesus. Dieser Kommende im Sinne einer messianischen Erwartung ist Jesus für mich, den Juden, NICHT. Ich glaube allerdings auch, daß sich Jesus selbst nicht als Messias empfunden hat, wenngleich ihm hier und dort eine Ahnung messianischer Berufung als ungelöste Frage seiner eigenen Existenz aufgebrochen sein mag.

Die Nähe, aus der hier die Gestalt Jesu gesehen wird, läßt die Messiasfrage als FRAGE BESTEHEN; eine Vergöttlichung Jesu aber liegt völlig außerhalb der hier angeschnittenen und gebotenen Sicht. Hier weiß ich mich eins mit Goethe, der im achten Buch Suleika im ,Westöstlichen Divan‘ bekennt:

»Jesus fühlte rein und dachte
Nur den EINEN Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte,
Kränkte seinen heil‘gen Willen.«

Die Frage der Göttlichkeit Jesu kann für den Historiker und für den Juden nicht bestehen. Auch die Frage der Messianität Jesu ist hier auszuklammern, da sie sich historischer Erkenntnis und jüdischem Glauben entzieht.

Anders steht es um die Frage des messianischen SELBSTVERSTÄNDNISSES Jesu. Hierzu bemerkt E. Käsemann, den wir noch einmal als Repräsentanten des heutigen Standes der Wissenschaft im Sinne einer kritischen Theologie anführen wollen: »Hat Jesus sich also als Messias verstanden? ... Ich bin davon überzeugt, daß es keinerlei Beweismöglichkeit für die Bejahung der Frage gibt. Alle Stellen, in denen irgendein Messiasprädikat erscheint, halte ich für Gemeinde-Kerygma.« Ich habe dem nichts hinzuzufügen, denn auch mir ist es klargeworden, daß von einem messianischen Selbstzeugnis Jesu nicht zuverlässig geredet werden kann. Es gibt ein MESSIASGEHEIMNIS Jesu, und dieses deutet darauf hin, daß er sich zeitweilig wohl einer messianischen Sendung bewußt wurde, aber er verbietet seinen Jüngern, Proklamationen dieser Art zu verlautbaren, und wartet wohl auf seine Stunde, in der ihm selbst, seinen Jüngern und der Welt sein wahres Wesen offenbart wird.

Jesus kann also nicht als Messias angesprochen werden, wenngleich messianische Züge in dem uns überlieferten Jesusbilde klar hervortreten, doch handelt es sich eben um kerygmatische Korrekturen von späterer Hand.
Aus: Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, dtv/List (S.10-13)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis von Frau Avital Ben-Chorin