Schalom Ben-Chorin, ursprünglich Fritz Rosenthal (1913 - 1999)
In München geborener jüdischer Theologe und Publizist, der 1935 nach mehrfachen Verhaftungen durch die Gestapo nach Palästina auswanderte, sich in Jerusalem niederließ, seinen Wunschnamen annahm und ihn zu seinem persönlichen Programm machte. Schalom heißt Friede und Ben-Chorin: Sohn der Freiheit. Er hat in München Germanistik, Philosophie und vergleichende Religionswissenschaft studiert. Als Schriftsteller und aufgeschlossener theologischer Denker kämpfte er auf seine unnachahmliche (insgeheim lauthals schmunzelnde) Art für die Verbesserung des christlich-jüdischen Dialogs und der Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen. 1969 wurde er für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Urzeit und Endzeit - der Dritte Tempel
Die verlorenen Zehn Stämme
Erwählung und Mystik
Die Bedeutung Jesu für das Judentum
Eine Sünde, die nicht vergeben werden kann . . .
Bruder Jesus
Urzeit
und Endzeit - der Dritte Tempel
Urzeit und Endzeit beherrschen sehr oft die weite Skala der Fragen, wenngleich
diese Themen nicht in meinen Vorträgen selbst behandelt werden. Fragen
dieser Art ruhen aber auf dem Grund der Seele christlicher Gesprächspartner.
Immer wieder wird die Frage nach dem Dritten Tempel gestellt. Wann wird er erbaut?
Warum haben die Juden in den ersten dreißig Jahren des Bestehens ihres
Staates Israel den Tempel nicht wieder errichtet?
Den meisten Fragern ist gar nicht bewußt, daß sie damit heißes
Eisen berühren. Die Wiedererrichtung des Tempels an seiner historischen
Stelle auf dem Tempelberg über Jerusalem wurde ja eine Zerstörung
der dortigen islamischen Heiligtümer, des Felsendoms und der Aqsa-Moschee,
einschließen, Es gab einen wahnsinnigen Australier, Michael Denis Rohan,
der versuchte, in der Aqsa Feuer zu legen, um den Weg für den Tempel freizumachen.
Vielleicht war auch ein geistesgestörter amerikanischer Jude, der im Frühling
1982 im Amoklauf auf dem Tempelplatz rasend um sich schoß, von ähnlichen
Wahnideen irregeleitet.
Das normative Judentum aber überläßt die Wiedererrichtung des
Tempels der messianischen Zeit, wobei zwei Lehrmeinungen vertreten werden: Der
Messias, als ein später Nachkomme Davids (und Salomos, des Erbauers des
Ersten Tempels) wird das Heiligtum wieder errichten, oder aber der Dritte Tempel
wird von Gott selbst auf die Erde herabgesenkt. Diese Vorstellung sollte dem
Christen nicht fremd sein, denn im 21. Kapitel der Offenbarung Johannis wird
im zweiten Vers verkündigt, daß das Neue Jerusalem von Gott aus dem
Himmel herabfahren wird, bereitet wie eine ihrem Manne geschmückte Braut.
Und im nächsten Vers hört der Seher von Patmos die himmlische Stimme:
»Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen.«
Auf jeden Fall aber ist eindeutig klarzustellen, daß die Wiedererrichtung
des Tempels nicht die Aufgabe des heutigen Staates Israel sein kann, sondern
der Endzeit vorbehalten bleibt.
Ein Herr aus Berlin aber war damit nicht abzuspeisen. Ihn erfüllte die
Sorge um die Realisierung des Dritten Tempels wie er bei Hesekiel 40—42
vorausgesagt wird; insbesondere beunruhigte ihn aber Hesekiel 45,2—3,
weil hier von ein Quadrat von 500 x 500 Ellen (hebräisch: Ama) die Rede
so daß der Baugrund des Tempels 25000 Ellen lang und 20000 Ellen breit
sein müßte. Nun hat der Frager, ein pensionierter Drogist aus Berlin,
der wohl zu rechnen versteht, den Tempelplatz in Jerusalem besucht und mit Bestürzung
festgestellt, daß das Monstrebauwerk des Hesekiel dort nicht plaziert
werden kann.
Ich tröstete diesen Templer mit Hinweis auf Sacharja 14,4, wo von der Spaltung
des Ölberges die Rede ist. Die eine Hälfte desselben wird sich mit
dem Areal des Tempelberges verbinden, und damit wird wohl die geologische Umschichtung
stattfinden, die die Baupläne des Hesekiel ermöglicht. Ob die Rechung
aber wirklich stimmt?
Die
verlorenen Zehn Stämme
Eine weitere Sorge der Endzeit stellen die verlorenen Zehn Stämme Israels
dar. Das Judentum hat sich längst damit abgefunden, dass diese Stämme
verloren sind, das heißt, dass sie ihre Identität verloren haben.
Stämme gehen ja nicht verloren wie ein Taschentuch oder ein Füllfederhalter,
sondern gehen in der sie umgebenden Bevölkerung auf. Der Talmud hat das
realistisch erkannt und stellt fest, Sanherib habe die Völker so durcheinander
gewirbelt, daß sie nicht mehr zu erkennen waren.
Der Haifaer Bibelforscher Dr. Elias Auerbach hat in seinem Werk »Wüste
und Gelobtes Land« die sehr einsichtige Theorie vertreten, dass die
arabische Bevölkerung im Lande Israel wohl noch Reste der sogenannten verlorenen
Zehn Stämme darstelle.
Die jüdische Legende freilich phantasiert von einem Reich der Zehn Stämme
hinter dem sagenhaften Strom Sambation, der von einem König Joseph regiert
wird. Ein Renaissance-Abenteurer Reubeni bezeichnete sich selbst gar als Bruder
und Gesandter dieses Königs der Zehn Stämme. Dieser messianische Phantast
ging elend in den Kerkern der Inquisition zugrunde. Dennoch werde ich immer
wieder gefragt: »In Israel lebt nur der Stamm Juda; wo sind die anderen
Stämme geblieben?«
Außer dem Stamm Juda hat noch der Stamm Levi seine Identität bewahrt.
Es müsste auch noch Reste des Stammes Benjamin geben. Paulus war sich
der Zugehörigkeit zu diesem Stamme noch bewusst. Heute gibt es wohl
kaum mehr einen Juden, der sich als Benjaminite bezeichnet.
Christen aber wollen den Verlust der zehn Stämme nicht wahrhaben, da in
der Offenbarung des Johannes von der Wiederkehr dieser Stämme die Rede
ist (Offb. 7,1—8).
Im 19. Jahrhundert hat sogar eine russische Prinzessin eine große Pilgerherberge
für die wiederkehrenden zehn Stämme in Jerusalem errichten wollen,
kam aber über ein bescheidenes Fundament nicht hinaus.
Die Versiegelten aus den Zwölf Stämmen beflügeln immer wieder
die Phantasie als die 144000, die auf dem Berge Zion stehen und aus allen Stämmen
Israels genommen werden. Im 7. Kapitel wird genau angegeben, wie viele auf jeden
Stamm entfallen, jeweils 12000, und davon ist nichts abzuhandeln.
Nun muss man aber bedenken, daß sich die Apokalyptik der Bilder-
und Zahlenmystik bedient, um die Geheimnisse der Endzeit darzustellen. Ich glaube
nicht, dass man solche Texte rational interpretieren kann, aber da ist
mit Fundamentalisten nicht zu reden. Sie beharren auf den Zwölf Stämmen
nach Zahl und Identität ... und da bin ich überfragt.
Aus: Schalom Ben-Chorin: Vom Kirchenvater Abraham
und anderen Ungereimtheiten
Bockhaus-Taschenbuch Band 341 (S.50-52)
© R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1983
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Brockhaus
Verlages
Erwählung
und Mystik
Der Gedanke der Erwählung Israels findet in der Mystik der Kabbala eine
besondere Art der Darstellung, die sich von anderen Interpretationen unterscheidet.
Das heilige Buch der Kabbala, der Sohar, beginnt mit dem Gleichnis von der Rose,
das sich auf die Erwählung Israels bezieht.
Das Buch Sohar wird von der mystischen Tradition dem Rabbi Simon Bar Jochai
zugeschrieben, einem Zeitgenossen des Rabbi Akiba aus dem frühen 2. Jahrhundert.
Die kritisch-historische Forschung aber weist das Buch dem spanischen Mystiker
Mose de Leon (1250—1305) zu, im Sinne einer pseudepigraphischen Schrift,
die der mittelalterliche Verfasser im Namen des Simon Bar Jochai veröffentlichte.
Dieser soll, der Legende nach, dreizehn Jahre mit seinem Sohne in einer Höhle
gelebt haben, und dort wurden ihm himmlische Geheimnisse offenbart. Er verbarg
sich vor den Römern in der Zeit der hadrianischen Verfolgung.
Wenn der Sohar auch auf Mose de Leon zurückgeht, so enthält er doch
viele alte Traditionen, die der Verfasser als Kompilator verwendet hat.
Der Beginn des Sohar (1. fol. 1 a) schließt sich an Hohelied
2,3 an:
»Rabbi Chiskija begann mit den Schriftworten: >Wie die Rose zwischen
den Dornen...< Wer ist die >Rose<? Die Gemeinschaft Israels. Und was
bedeutet: >eine Rose zwischen den Dornen<? In ihr ist Rot und Weiß
— so auch in der Gemeinschaft Israels >Strenge< und >Liebe<.
An der Rose sind dreizehn Blätter, ebenso an der Gemeinschaft Israels dreizehn
Eigenschaften der Liebe, die sie von allen Seiten umkreisen. (Gemeint
sind hier die dreizehn Gnadeneigenschaften Gottes, die dem Mose offenbart wurden,
gemäß Ex 34,6—7: »Herr,
Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade
und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung
und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die
Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und
vierte Geschlecht. «) So gehen denn auch von der ersten Erwähnung
des Namens >Elohim< (Gott) dreizehn Worte aus, die Gemeinschaft Israels
zu umkreisen und zu behüten — bis zur zweiten Nennung. (Die
Nennung des Gottesnamens bezieht sich auf den Schöpfungsbericht der Genesis.
Immer wieder wird die Zahl dreizehn herangezogen, im Sinne der oben erwähnten
dreizehn Gnadeneigenschaften Gottes, die in Mystik und Liturgie eine entscheidende
Rolle spielen, im Gegensatz zum christlichen Volksglauben, in welchem die Zahl
dreizehn als Unglückszahl fungiert, da beim Letzten Abendmahl Jesus mit
den zwölf Jüngern versammelt war, also dreizehn Personen, wovon eine
der Verräter Judas ist, der das Unheil verkörpert. In den Bußgebeten
der Hohen Feiertage, Neujahrs-und Versöhnungstag, den sogenannten Selichoth,
wird immer wieder auf die Zahl dreizehn angespielt, da der Sünder sich
nur auf die dreizehnfache Gnade Gottes, und nicht auf seine eigenen Verdienste,
stützen und berufen kann. Dieser Einfluß der Mystik auf die Liturgie
darf nicht übersehen werden, da die betende Gemeinde viel umfangreicher
ist als die esoterischen Zirkel der Mystik.) Was ist der Sinn der
zweiten Nennung (des Gottesnamens Elohim)?
Daß auf die fünf starken Kelchblätter hingewiesen sei, welche
die Rose umschließen: sie heißen fünf Heilesweisen und bilden
fünferlei Tore. Auf dieses Geheimnis weist der Satz hin: >Den Kelch
der Heilesweisen (Befreiungen) erhebe ich< (Psalm 116,13). (Im
hebräischen massoretischen Text steht hier auffallenderweise der Plural
von »Heil« (Jeschuoth). In der Liturgie wird dieser Psalmvers als
Einleitungsformel des Unterscheidungssegens beim Ausgang des Sabbath rezitiert,
wobei der Kelch erhoben wird.) Das ist der Kelch des Segens. Und
dieser Kelch bedarf fünf umschließender Finger und nicht mehr —
gleichwie auch die Rose auf fünf starken Blättern sitzt, in der Form
von fünf Fingern. So bedeutet die Rose den Kelch des Segens. Und es sind
auch fünf Worte vom zweiten zum dritten >Elohim<. (Gemeint
ist hier der Gottesname Elohim im Schöpfungsbericht der Genesis, wobei
an die Erschaffung des Lichtes: »Es werde Licht« angespielt wird.) Da erst wird vom Lichte gesprochen, das erschaffen
und sogleich verborgen wurde (gemeint ist das Ur-Licht vor Erschaffung der
lichtspendenden Gestirne Sonne, Mond und Sterne, die erst später geschaffen
wurden) und beschlossen in jenem Bunde, der in die Rose
einging und fruchtbaren Samen in sie strömen ließ (Anspielung
auf das Bundeszeichen der Beschneidung des männlichen Gliedes, im Bundesschluß mit Abraham). Darum heißt es: >Ein
Baum, der Frucht bereitet, worinnen der Same bleibt.< (Vielleicht ein
Hinweis auf das vegetativ sprossende Prinzip, das auch dem Stamme der Pflanze
innewohnt, die immerwährende Zeugungskraft des Geistes symbolisierend.)
Der Same erhält seinen Bestand durch das Bundeszeichen (der Beschneidung)
selber. Wie das Urbild des Bundes samend fruchtbar wird durch zweiundvierzig
Paarungen (Gottes mit dem weiblichen Prinzip seiner
Emanation, die >Schechina< genannt wird), so wird der göttliche Name in seiner Einprägung fruchtbar in zweiundvierzig
Zeichen des Schöpfungswerkes.
Ich zitiere das Gleichnis von der Rose nach der Übersetzung
von Ernst Müller (Wien 1932). Die Anmerkungen stammen, unter Heranziehung
der Ausgabe von Müller, von mir.
Ernst Müller kann als Vorläufer von Gerschom Scholem betrachtet werden,
dem die historisch-philologische Erschließung der jüdischen Mystik
der Kabbala zum weltweit beachteten Lebenswerk wurde. Darüber darf aber
die bahnbrechende Tat von Ernst Müller, Bibliothekar der Jüdischen
Gemeinde in Wien, nicht übersehen werden.
In seinem Buch »Der Sohar und seine Lehre« (Wien 1920) geht Ernst
Müller (S. 41ff.) auf die Erwählung Israels ein, wobei die Einheit
Israels als Abbild der Einheit Gottes gesehen wird: »Wenn wir aber so
in Israels Art und Schicksal gleichsam die Menschheit selbst in Verdichtung
erkennen können, so wird unser Blick frei für die doppelte und doch
in Einheit wieder zusammentreffende Deutung jenes tiefen Zusammenhanges, der
uns die Bibel als den Bund Gottes mit Israel darstellt: auf den gottgewollten
Weg der Menschheit und auf die tiefsten Daseinshintergründe dieses einen
Volkes.«
Ernst Müller stützt sich offenbar auf jene Stelle im Sohar, die in
der Einheit des Volkes Israel das Abbild der göttlichen Einheit sieht,
wobei die Erotik der Kabbala in der menschlichen Vereinigung von Mann und Weib
das Gleichnis für die Einheit von Gott und Israel, seinem erwählten
Volke, sieht (Sohar II. fol. 81 a.b).
Das Anlegen der Gebetsriemen am Haupt und über dem Herzen, am linken Arm
und an der linken Hand, werden in der Symbolik weiterhin als jener Schmuck Israels
mit den Geboten des Herrn gedeutet, der die Erwählung Israels symbolisiert.
Nur im Bunde der Ehe, dem Abbild des Bundes Gottes mit Israel, ganz im Sinne
des Propheten Hosea, gelangt der Mensch zu jenem Eins-Werden, das dem Wesen
Gottes entspricht. Ein Mann ohne Frau kann daher die höchste Stufe der
Einheit in der Imitatio Dei nicht erlangen. Hier zeigt sich der fundamentale
Gegensatz im Heiligkeitsbegriff menschlicher Existenz in Judentum und Christentum.
Im Judentum, hier in der Mystik der Kabbala, wird das Erotische geheiligt, während
es im Christentum in der Askese als zu überwindend erscheint.
Die Einheit Israels im Sinne seiner Erwählung wird auf 2 Sam 7,23 basiert:
»Und wer ist wie dein Volk Israel, ein einig Volk auf Erden«, wobei
die Einheit Israels als das irdische Abbild der Einheit Gottes gesehen wird.
Es muß auffallen, daß alle diese Deutungen — zwar immer unter
Heranziehung von Bibelversen als Belegstellen — gebraucht werden ohne
jede Rücksicht auf die tatsächlichen historischen Begebenheiten, die
keineswegs diesen Idealen entsprachen und entsprechen. Es ist aber offenbar
ein platonischer Einfluß, der allein die Ideen als höhere Realität
anerkennt und in der von uns wahrgenommenen Empirie nur das trübe Schattenbild
erkennt.
Die Erwählung Israels kulminiert für die Kabbala in der Einheit des
erwählten Volkes, die der Einheit Gottes entspricht und von jedem Einzelnen
in der Einigung der Geschlechter konkretisiert wird.
Bund und Bundeszeichen liegen der Erwählung zugrunde, wobei nach dem Sohar
(1. fol. 66b) nicht nur der Bund Gottes mit Abraham im Sinne der Erwählung
Israels gesehen wird, sondern auch der vorausgehende Bund mit Noah, der wesensmäßig
die ganze Menschheit umfaßt, die bei der Sintflut in der Arche bewahrt
wurde:
»Denn nur ein Frommer kann in die Arche eingehen.« Die Arche Noahs
wird als der Ort der Bewahrung und damit der Erwählung gesehen, und die
drei Söhne Noahs, die die Arche unversehrt verlassen, entsprechen den Grundtypen
oder Grundprinzipien der Schöpfung. wobei Sem und Japhet Weisheit und Schönheit
verkörpern. Cham aber das Prinzip des Bösen, der mit dem Fluchnamen
Kanaan beschattet wird und mit der Ur-Schlange in Verbindung steht, die die
Welt verdunkelt.
Für unsere Betrachtung scheint es mir wesentlich, daß in der Mystik
der Kabbala nicht nur Israel Erwählungscharakter trägt, in der Nachfolge
Abrahams, des Vaters des Bundes, sondern auch Noah, mit dem der erste Bundesschluß
erfolgte, der sich auf seine Söhne übertrug.
Es ist aber unverkennbar, daß auch das Böse in der Welt gegeben ist.
Der Sohar verkennt nicht — wie die Christian Science der Mary Baker-Eddie
im 19. Jahrhundert — das Böse als eine Illusion, sondern sieht dieses
realiter als den Schatten des Guten. Nur im Wege einer fortschreitenden Läuterung
wird die Entmachtung des Bösen ersehnt, und dazu führt der Weg des
erwählten Volkes Israel als Licht der Völker in die Zukunft des Reiches
Gottes.
Diese mystische Sicht mag uns als weltfremd erscheinen, sie ist aber eher als
eine Sicht der Überwelt zu verstehen, die dem Mystiker als die wahre Welt
erscheint.
Die Erwählung Israels tritt im Rahmen dieser Weltsicht als kosmisches Prinzip,
nicht als Ausdruck nationaler Überwertigkeit in Erscheinung und sollte
so jeder chauvinistischen Depravierung wehren. Daß dies nicht immer so
ist, zeigen jüngste Entwicklungen, die einen Mißbrauch kabbalistischer
Elemente durch nationalistische Kreise im Staate Israel verraten. Die universale
Mystik erfährt so eine nationalistische Verengung, die ursprünglich
nicht intendiert war.
Das letzte Ziel der Mystik stellt die Unio mystica dar, die ekstatische Vereinigung
mit Gott. Sie wird gewöhnlich in drei Phasen eingeteilt:
1. die Purifikation, die Reinigung oder Entleerung der Seele von allen störenden
weltlichen Elementen;
2. die Illumination, die Erleuchtung der nun bereiten Seele;
3. jene Ekstase oder Entführung in höhere Welten, die oft unverkennbar
erotische Züge trägt, insbesondere bei christlichen Mystikerinnen.
Nicht selten hängt die Unio mystica mit epileptischen Zuständen zusammen,
nachweisbar von Paulus über Mohammed bis Dostojewski. Solche Epileptiker wünschen gar keine Befreiung von ihrem Leiden, in ihrem Zustand ein Zeichen
der Erwählung sehend, da ihnen bei ihren Anfällen jene Unio mystica gewährt wird, die ihnen sonst versagt bleibt.
Martin Buber hat in seinem Buch »Ekstatische Konfessionen« Zeugnisse
der Unio mystica aus den verschiedensten Religionen und Kulturkreisen zusammengestellt,
wobei er von der jüdischen Mystik leider nur den Chassidismus berücksichtigte,
jene um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene ostjüdische Sekte. Die
frühere kabbalistische Mystik bleibt dabei unberücksichtigt.
Für den erotischen Charakter der Unio mystica im Chassidismus sei hier
ein von Buber gewähltes Beispiel angeführt:
»Wer eine Frau sehr begehrt und ihre buntfarbenen Gewänder betrachtet,
dessen Sinn geht nicht auf das Prunkzeug und die Farben, sondern auf die Herrlichkeit
der begehrten Frau, die in sie gehüllt ist. Aber die Andern sehen nur die
Gewänder und nichts mehr. So schaut, wer Gott in Wahrheit begehrt und empfängt,
in allen Dingen der Welt nur die Kraft und den Stolz des Bildners des Urbeginns,
der in den Dingen lebt. Wer aber nicht auf dieser Stufe ist, sieht die Dinge
von Gott getrennt.«
Bubers »Ekstatische Konfessionen« erschienen erstmalig im Jahre
1909 bei Eugen Diederichs in Jena. Später trennte sich Buber weitgehend
von der Mystik, da ihm der gewissermaßen asoziale Charakter dieser extremen
Geisteshaltung klarwurde. Was die Mystiker selbst als Überwindung der Welt
sahen, erschien ihm nun als eine Weltflucht, die das soziale Element, die menschliche
Gemeinschaft, ausschließt.
Dies trifft aber auf die kabbalistische Mystik nicht zu, die vom Gedanken der
Erwählung Israels getragen wird. Die mystische Vereinigung mit Gott gilt
hier nicht nur der Einzelseele, sondern will jene höhere Einheit von Gott
und Volk herstellen, die die Harmonie der Welt bedingt.
Nur wenn die Kongruenz der oberen und der unteren Welt in der Unio mystica hergestellt
ist, öffnet sich das Tor der Erlösung. Die kabbalistische Mystik geht
so über den individuellen Bereich hinaus und wählt das Gleichnis der
Verschmelzung der Geschlechter für die Berührung der oberen und der
unteren Welten, vorgegeben in der göttlichen Vereinigung mit der Schechina,
des männlichen und des weiblichen Prinzips, in der Infrastruktur der Schöpfung.
Erwählung Israels und Unio mystica hängen so für das kabbalistische
Weltbild zusammen und haben ihre Relevanz bis in die Gegenwart bewahrt.
Aus : Schalom Ben-Chorin, Die Erwählung Israels.
Ein theologisch-politischer Traktat (S. 153-160)
©Piper Verlag GmbH, München 1993
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis von Frau
Avital Ben-Chorin und des Piper Verlages