Alois Emanuel Biedermann (1819 - 1885)

  Schweizer Theologe, der seit 1860 als Professor für Dogmatik in Zürich zugange war. Biedermann hat der »freien Theologie« in der Schweiz Namen und Programm gegeben. Von Hegels Panlogismus beeinflusst, ist Gott für ihn überpersönlicher, absoluter, unendlicher Geist, der sich im menschlichen Geist offenbart und Weltgrund ist. Der Weltprozess ist unendlich und hat in Gott seinen ewigen Grund und sein Endziel. Die Vorstellung des religiösen Glaubens hat ihren Antrieb im Gefühl und Willen. Die Religion wird als »Wechselbeziehung zwischen Gott als unendlichen und dem Menschen als endlichen Geist« verstanden. Sie ist für ihn »praktisches Selbstbewusstsein des Absoluten«. Theologische Aufgabe ist die denkende Erfassung des christlichen Dogmas als Ausdruck der Vernunft.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Religion und Wissenschaft
Aus „Christliche Dogmatik", 2. Aufl., I. Bd., 1884, § 68 u. § 80.

Der Vorwurf einer einseitig intellektualistischen Auffassung der Religion beruht zwar Hegel gegenüber seinem Kerne nach bloß auf Schein; allein daran, daß dieser Schein sich ihm anheftet, daran trägt die aprioristische Methode von Hegel's Denken doch eine wirkliche Schuld. Und darum ist in der Tat auch nicht alles bloßer Schein daran: Hegel gerät immer und immer wieder in eine das theoretische Moment am psychischen Prozesse der Religion ausschließlich betonende Ausdrucksweise, namentlich auch durch die Art, wie er gegen die Betonung des Gefühles als psychologischer Grundform der Religion polemisiert.

Zwar schließt die Lehre vom Kultus die Korrektur dieser Einseitigkeit in sich; aber gleichwohl bleibt etwas von diesem Vorwurfe doch an Hegel's Religionsbegriff haften: der Schwerpunkt der Religion ruht ihm auf dem theoretischen Momente, auf der Form des Bewußtseins vom Absoluten. Daher der verhängnisvolle Fehler in der Definition der Religion als »Bewußtsein des Absoluten in Form der Vorstellung« im Unterschied von der Philosophie als diesem Bewußtsein in Form des Begriffes. Verhängnisvoll ist dieser Fehler, weil er ein grundfalsches Verhältnis zwischen den beiden Gebieten der Religion und der Philosophie statuiert.

Die Philosophie setzt sich zur Aufgabe, für das Denken überhaupt die Form der bloßen Vorstellung in den Begriff aufzuheben: nach jener Definition hätte sie also auch die Religion in Philosophie aufzuheben. Ob dies »Aufheben« nun nach freundlichen oder nach der feindlichen Seite seines bekannten Doppelsinnes verstanden und angestrebt werde, - das Wesensverhältnis beider Gebiete ist damit von Grund aus schief gestellt. So wahr es auch ist, daß dem gegenständlichen Bewußtsein im Akte der religiösen Erhebung selbst die Form der Vorstellung wesentlich ist: so ist dennoch dadurch, daß der Wesensunterschied von Religion und Philosophie darein gesetzt wird, jene sei Bewußtsein des Absoluten in Form der Vorstellung, diese in Form des Begriffes, durchaus verschoben: um es kurz und präzis in der Schulsprache der formalen Logik auszudrücken, aus dem Verhältnis zweier dem Inhalte nach disparater und darum dem Umfange nach konvenienter Begriffe in das disjunktiv koordinierter verwandelt. Wenn wir die verhängnisvollen Folgen dieses Fehlers in Hegel's Religionsbegriff mit einem Blick überschauen wollen, brauchen wir nur an Strauß zu denken.....

Man kann sich das Verhältnis von Religion und Wissenschaft klar und präzis durch ein geometrisches Bild veranschaulichen. Sie stehen nicht zu einander wie zwei Kreise, die auf einer Fläche sich kreuzen und so einen Teil, aber nur einen Teil ihres Inhaltes gemeinsam haben. Sondern sie stehen zu einander wie zwei Kreisflächen, die in verschiedener Richtung die gleiche Kugel im Zentrum durchschneiden. Dort haben die beiden Kreise neben ihrem besonderen Teil ein gemeinsames Gebiet, das dem einen so gut wie dem anderen angehört. Hier dagegen schneiden sich die beiden Kreisflächen auf dem ganzen Durchmesser der Kugel, berühren sich also auf allen Punkten desselben, haben aber keinen einzigen Flächenteil gemeinsam; sondern jede ist, auch wo sie sich berühren und schneiden, was sie ist unterschieden von der anderen.

Das Zentrum ist das Ich; die Kugel die Welt, die überhaupt für das Ich da ist: Religion und Wissenschaft bilden jede in ihrer Weise einen ganzen Kugeldurchschnitt, nicht mehr und nicht minder. Nur die Welt, die für unser Ich da ist, aber auch diese ganze Welt ist Objekt der Beziehung seines Denkens; und dieselbe Welt bildet auch den Umkreis der Beziehung des Glaubens.

Der Glaube bezieht sich auf den in der Welt an den Menschen sich offenbarenden Gott, und nicht auf Gott abgesehen von dieser Beziehung; er bezieht sich auf Gott, wie er allgegenwärtig auf allen Punkten der Welt sich dem Menschen bezeugt. Für das »Glauben« mag Gott der große Unbekannte jenseits der Welt sein; der Glaube bezieht sich auf den in seiner ganzen Welt gegenwärtigen und sich ihm bezeugenden Gott.

Wenn nun irgendein Vorstellen, sei's nun wegen seiner Form als »Glauben«, oder wegen seines Gegenstandes, des überweltlichen »Absoluten«, als solches schon für sich ein selbständiges Stück des religiösen Glaubens ausmachte, und nicht einzig und allein als Moment der persönlichen Beziehung : so fände das erstere Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft statt, das zweier auf einer Fläche sich kreuzender Kreise, und dann stünden beide in einem niemals endenden Kompetenzstreit, wem von beiden, der Religion oder der Wissenschaft, das Souveränitätsrecht der letzten Entscheidung über das beiden ge¬meinsam zugehörige Gebiet zukomme.

Dies Verhältnis eines solchen endlosen Kompetenzstreites liegt nun in der Tat offener oder versteckter in allen Theorien vor, welche um die Selbständigkeit und Eigenartigkeit der Religion zu wahren, ihr ein Sondergebiet theoretischer Überzeugung, das Gebiet eines das Wissen von vorn herein transzendierenden »Glaubens« zuweisen zu sollen glauben und darein das »Mysterium« der Religion setzen.

Die Geistestätigkeit des objektiven Bewußtseins ist das Vorstellen oder das Denken im allgemeinen Sinn; diejenige, welche die Bedingungen und Gesetze dieses Bewußtseinsprozesses sucht, ist das Denken im engeren Sinn; das Gebiet des Geisteslebens, welches dieses Denken zur Aufgabe hat, ist die Wissenschaft.

In der Frage nach der objektiven Wahrheit unseres Bewußtseins-Inhaltes kommt die letzte Instanz der Entscheidung ihr zu, die in dieser Frage autonom ist, d. h. nach den dem Menschengeist immanenten Gesetzen des Denkens urteilt. Ihr kommt in letzter Instanz auch die Entscheidung über das Wissen von demjenigen Gebiet objektiven Bewußtseins zu, das als Objekt der religiösen Überzeugung zugleich einen Gebietsteil der Religion ausmacht.

Wäre nun dieses Gebiet in einer bestimmten theoretischen Form tale quale ein Teil der Religion; so stände die Religion wenigstens mit diesem Gebietsteil unter der höchsten Gerichtsbarkeit der Wissenschaft. Will sie nun aber ihre Selbständigkeit und eigene Oberherrlichkeit auch auf diesem ihrem gemeinsamen Gebietsteil in Anspruch nehmen, so entsteht ein Krieg zwischen beiden Mächten, bei dem es zu keinem ehrlichen Frieden, sondern nur zu einem temporären Kompromiß kommen kann, den jede der beiden Parteien anders versteht und darum keine ehrlich hält.

Wir können das fragliche gemeinsame Gebiet objektiven Bewußtseins, ohne eine Widerrede befürchten zu müssen, hier auch mit dem anderen Namen des »Übernatürlichen« (im Sinn von übersinnlich) bezeichnen; denn gerade in der Verschiedenheit der Fassung dieses Begriffes drückt sich die Stellung aus, die man in dem Streite zu nehmen gesonnen ist. Nun spricht die Wissenschaft für dieses Gebiet wenigstens die letzte Entscheidung an, ob es erkennbar sei oder nicht; die Religion dagegen nimmt in dem angenommenen Fall die letzte Entscheidung über den »Glauben« daran in Anspruch. Wie stellt sich nun der Kompromiß heraus?

Wohlverstanden, wir lassen die metaphysische Frage noch ganz aus dem Spiele und fragen lediglich: wie macht sich der Kompromiß tatsächlich psychologisch?

Wenn der religiöse Glaube einfach in ein theoretisches »Glauben« aufgeht, oder wenn ihm ein solches auch nur als notwendiger Bestandteil zukommt, ohne den er nicht religiöser Glaube wäre, so erhebt der Sachwalter der Religion - nennen wir ihn den Theologen vom reinen Wasser - den Anspruch: auf diesem Gebiete des »Übernatürlichen« kommt die Entscheidung, was für wahr zu halten und was nicht, nur der Religion, nicht der Wissenschaft zu. Gut, der Sachwalter der Wissenschaft - der Philosoph vom reinen Wasser - ist bereit sich zu einem Kompromiss herbeizulassen: das Gebiet des »Natürlichen« der Wissenschaft, - das des »Übernatürlichen« der Religion; so wird Gott gegeben was Gottes, und dem Kaiser was des Kaisers ist. Allein nun bestimmt doch er selbst, warum und wie er jenes Gebiet abtrete: weil auf demselben nichts objektiv zu erkennen, nur subjektiv vorzustellen und zu »glauben« sei. Er läßt also das Gebiet, das er von der Wissenschaft an die Religion abzutreten bereit ist, leer an Wert für objektiv gültige Überzeugung zurück. Allein so hat es der Sachwalter der Religion nun doch nicht gemeint; so kann er sich auch nicht damit zufrieden geben - und zwar mit allem Rechte nicht. Er nimmt ja für das ihm abzutretende Gebiet den Wert voller Wahrheit, ja der höchsten, wichtigsten, allerrealsten Wahrheit in Anspruch.

Aber nicht genug; es folgt noch ein Weiteres. Der Sachwalter der Wissenschaft will wohl das »Glauben« auf dem Gebiete des »Übernatürlichen« ganz frei gewähren lassen; allein er läßt dasselbe nur frei auf dasselbe hinaus, aber von da nicht wieder zurück in das Gebiet der natürlichen Welt. Alle Anwendung des »Glaubens« auf diese, in theoretischer wie in praktischer Beziehung, will er der Kontrolle, der Kritik und der letztinstanzlichen Entscheidung der Wissenschaft unterstellt wissen.

Er überläßt also der Religion das ihr willig eingeräumte jenseitige Gebiet nur als ein für die wirkliche Welt und das wirkliche Leben unfruchtbares Gebiet beliebiger Phantasie, von beliebiger, aber nur subjektiver Wertschätzung. So hat es nun aber der Sachwalter der Religion vollends nicht gemeint; er nimmt - und zwar wieder mit allem Rechte - für die Religion gerade die allerhöchste Bedeutung für die wirkliche Welt in Anspruch, als höchste Norm für die theoretische und für die praktische Stellungnahme des Menschen, als seinen allein festen Halt und seinen allein stichhaltigen Trost im Leben und Sterben.

So sucht jeder der beiden Sachwalter bei jenem Kompromiß den anderen unwillkürlich zu übervorteilen, und jeder sieht sich dabei vom anderen zuletzt betrogen. Der Sachwalter der Wissenschaft hat der Religion bloß ein für ihn selbst wertloses Oberstübchen einzuräumen gemeint; - und schließlich zeigt es sich, daß er damit gerade auf das Wertvollste, auch für die Wissenschaft Wertvollste, zu verzichten im Begriffe gestanden; denn eine bloß naturalistische Wissenschaft, die auf die Ideen des»Übernatürlichen« wirklich Verzicht leistet und nur mit Verstandesbegriffen der sinnlichen Erfahrungswelt zu operieren sich bescheidet, ist auch als Wissenschaft ein armseliges Ding.

Auf der anderen Seite hat der Sachwalter der Religion in der Aussicht auf den ungeschmälerten Besitz der »übernatürlichen« Welt die Oberhoheit in der Erkenntnis der natürlichen getrost der Wissenschaft überlassen; - und schließlich zeigt es sich, daß er damit gerade das Wertvollste für die Religion, die Durchdringung der natürlichen Welt mit ihrem Glauben, aus der Hand gegeben hat; denn eine im Ernst bloß in einer übernatürlichen Welt jenseits der Erfahrungswelt »glaubend« phantasierende Religion, die auf die volle Durchdringung des Lebens in der natürlichen Welt verzichtete, wäre ein ebenso armseliges und wertloses Ding, als auf der anderen Seite eine auf die »Idealwelt« verzichtende Wissenschaft.

Dieser gegenseitige Betrug aber ist, wie immer er sich auch im Verlaufe der diplomatischen Verhandlung verstecken mag, unausweichlich das Endergebnis des Gebietsstreites zwischen Religion und Wissenschaft, so lange irgendein Gebiet theoretischen Überzeugtseins zum selbständigen Gebietsteil der Religion erklärt, ihr »Mysterium« in diesem gesucht, und damit ihr Verhältnis zur Wissenschaft als das zweier auf der gleichen Fläche sich schneidender Kreise gefaßt wird, und nicht als das zweier Kreisflächen, welche die ganze Kugel der für das menschliche Ich vorhandenen Welt im Zentrum durchschneiden, und auf dem ganzen Durchmesser auf allen Punkten sich kreuzend berühren, aber auf keinem einzigen sich ausschließen
. S.196-202
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925