Albert Bitzius jun. (1835 – 1882)

  Schweizer protestantischer Pfarrer, Theologe und Politiker, der ein Sohn des unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf bekannten gleichnamigen Schriftstellers und Theologen Albert Bitzius war. Bitzius junior war einer der bedeutendsten schweizerischen Prediger der Neuzeit. Er war der führende Kopf der liberalen »schweizerischen Reformer« und ein entschiedener Gegner der Todesstrafe.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Christliche Gleichheit (1878)
Er sprach zu ihnen: Die weltlichen Könige herrschen und die Gewaltigen heißt man gnädige Herren. Ihr aber nicht also; sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener. Denn welcher ist der Größte? Der zu Tische sitzet oder der da dienet? Ist es nicht also, dass der zu Tische sitzet? Ich aber bin unter euch wie ein Diener (Luk. 22, 25-27).

[…] Wer heute an der Umgestaltung unserer öffentlichen Zustände arbeitet, erstrebt dabei nicht mehr Freiheit, sondern minder oder mehr bewusst größere Gleichheit, sei`s nun im Steuern oder im Finden des Rechtes, sei`s in der Erziehung oder im Gemeindeleben durch Ausgleichung zwischen Bürger und Einsaßen. Auch bei unserem übrigen gesellschaftlichen Zusammenleben liegt das Gift viel weniger in der politischen Unfreiheit als in der sozialen Ungleichheit; zwar sind die Schranken zwischen den einzelnen Ständen viel niedriger geworden und leichter zu übersteigen, als sie früher waren, allein immer neu bilden und schließen sich Aristokratieen bald nach der Geburt, bald des Geldes, bald der Bildung, mit unsichtbaren Schranken um sich her und mit Bitterkeit im Herzen gegen Alle, welche sie in ihrem Besitzstande stören wollen; aber auch stets neu dringen in der Luft voller republikanischer Freiheit neue Schichten der Bevölkerung empor, rütteln grimmig an jenen Schranken, nicht geringere Bitterkeit in ihrem Herzen.

Unter solchen Zeitläuften tritt an uns Christen und an unsere Christengemeinschaft die Frage heran: wie stellen wir uns zu diesem Bestreben nach Gleichheit? Grundsätzlich ist diese Frage bereits gelöst: unser Christenglaube anerkennt gar keine Ungleichheit zwischen Mensch und Mensch, Mann und Frau, Herr und Sklave; wir sind alle Kinder desselben himmlischen Vaters und darum gleich vor Gott, wir sind Brüder und Schwestern unter einander, gleich hoch stehet jedes in der Liebe des andern; wir bedürfen derselben Gnade alle gleich sehr, wir genießen desselben Heils alle gleich sehr. So steht auf unserer Christenfahne die Gleichheit. Allein vielfach bloß auf unserer Fahne und nicht in unseren Herzen. Doch war es in unserer christlichen Kirche nicht immer so: im Mittelalter, soweit ihr Arm reichte, hob sie die Leibeigenschaft auf und machte durch ihr Priestergewand den Sohn des Bauern und des Handwerkers dem Grafen und Fürsten gleich.

Dagegen wenn jetzt unser Volk das, was es sich an Gleichheit errungen hat, überblickt, dankt es dafür nicht seiner Kirche, sondern der französischen Nation. Bei ihrem Ansturm im Jahre 1798 ging unsere Republik nicht an ihrer Unfreiheit, sondern an ihrer Ungleichheit zu Grunde, an der Ungleichheit zwischen Kanton, zugewandtem Ort, Untertanenland, Her, Knecht und Leibeigenem; die Republik erträgt immer noch ein großes Maß von Unfreiheit, sobald diese nur auf allen ohne Ausnahme gleich schwer lastet: ist aber das nicht mehr der Fall, dann hat ihre letzte stunde geschlagen. Als wir in den Jahren 1813-15 unsere jungen Freiheiten wieder verloren, da fand sich die durch die französische Revolution errungene größere Gleichheit so tief in die Gemüter eingestampft, dass sie nicht mehr dauernd zu nehmen war.

Traurig ist, dass das Schweizervolk unserer christlichen Gemeinschaft von der in seinem Schoße vermehrten Gleichheit so wenig zu verdanken hat. Allein das ist noch nicht unsere ganze Klage über sie. Statt Gleichheit in`s Volk hinauszutragen, hat sie sich selbst verweltlichen lassen.

Liebe Mitchristen, in unseren Reihen herrscht die Titelsucht nicht minder, eher stärker, als unter den Kindern dieser Welt. Einst sprach Jesus: ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, einer ist euer Meister, ihr aber seid Brüder – Rabbi lassen wir uns nicht nennen, aber Doktoren der Theologie und Wohlerwürdige und Räte so oder so. Noch immer besteht ein Unterschied in Rang und Ansehen zwischen Geistlichen und Laien, und wenn unser Volk die sogenannten Frommen und Sekten hasst, gelegentlich selbst bis zu rohen Ausbrüchen, so ist daran sein Gleichheitsgefühl mit beteiligt, dieses wird verletzt durch die Selbstüberhebung und Abschließung jener, es liebt das Alleinseligmachende nirgends, sondern misstraut ihm überall und zwar mit dem größten Rechte.

Deshalb, liebe Mitchristen, wollen wir der Gleichheit eine Gasse machen draußen in der Welt, dann müssen wir mit der Ungleichheit zuerst bei uns selbst aufräumen.

Was können wir nun für die christliche Gleichheit tun erst drin in unserem eigenen Schoß, dann draußen in der Welt?


Meine lieben Zuhörer! Ich habe gewiss nicht nötig, euch zu warnen, ihr möchtet die Gleichheit doch nicht zu verwechseln mit einer bloß äußerlichen und gewaltsamen Gleichmacherei; denn ihr wisst ja, dass wir innerlich sehr verschieden von einander, geistig sehr mannigfaltig sind, dass diese Mannigfaltigkeit allen geistigen Austausch zwischen den Menschen, alle gegenseitige Hilfeleistung, die Belehrung und das Wachstum, kurz, alles Leben bedingt und daher die Fesseln einer aufgezwungenen Gleichmacherei immer wieder sprengen wird. Eben sowenig brauche ich euch auf die Milderung dieser natürlichen Ungleichheit aufmerksam zu machen, denn ihr nehmt ja alle Tage wahr, wie hier geistige Bande das Ungleiche immer wieder miteinander verknüpfen, die Ehe, das Familienleben, gemeinsame Arbeit, gleiches Streben, die Liebe, die Mildtätigkeit von oben, die Anhänglichkeit und der treue Dienst von unten.

Allein wenn ihr auch diese beiden Tatsachen in vollem Maße anerkennt und zu würdigen wisst, so bleibt doch noch so manches übrig, das euch wehe tut und für die Zukunft Schlimmes droht. Sucht da Versöhnung und inneren Frieden in drei großen Wahrheiten unseres Christenglaubens. Ihr kennt sie alle drei, nur wendet ihr sie nicht an. Vor allem haltet daran fest, dass Gott selbst ein unermüdlicher Gleichmacher ist. Denkt an das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus. Vielleicht erfüllt es euch mit Bitterkeit, weil eine Ausgleichung erst im Jenseits euch so gut wie gar keine, sondern bloß eine nichtige Vertröstung ist. Dann versteht ihr aber das Gleichnis nicht. Denn ausdrücklich zeigt es, wie die Ausgleichung, welche drüben jedem Auge offenbar werden mag, für den tieferen Blick schon hier vorhanden ist. Denn der reiche Mann, der um Gott, um seine Pflicht, um irgend einen Menschen sich nicht kümmert, sondern bloß der Auffütterung seines Leichnams lebt, der ist schon hier verlassen, er lebt allein, er stirbt allein; der Arme dagegen ist schon hier nicht verlassen, er hat, wie schon sein Name andeutet, auch in seinem Elend seinen Gott und er sammelt auch da eine kleine Gemeinde um sich, ob auch bloß von Hunden – er ist nicht allein, daher nun auch die Engel, die ihn tragen in Abrahams Schoß.

Ohne Bild: wer ein Auge hat nicht bloß für die äußeren, sondern auch für die inneren Wege der Menschen, der findet in den inneren die Ausgleichung für die Ungleichheit der äußeren. Er schaut innere Not da, wo andere nur äußeres Glück erblicken. Er freut sich jeder Spur von Zufriedenheit und Genügsamkeit, weil er weiß, diese vermögen auch den Ärmsten reich zu machen. Er sieht, wie dem am reichsten Beschenkten immer noch etwas fehlt und das Schönste bald wieder genommen wird, wie dagegen der weniger reich Ausgerüstete gerade der höchsten irdischen Güter sich freut, der Gesundheit und Kraft, des Familienglückes. Er schaut hinaus über jedes Menschen ganzes Leben und wird gewahr, wie in demselben Glück und Unglück sich verteilen, wie es mit dem Unglücklichen hinauf, mit dem Glücklichen abwärts geht, wie vor seinem Ende Keiner glücklich gepriesen, bar auch Keiner verloren gegeben werden darf. Er wägt auch Last und Kraft gegen einander ab, die Bürde und die Fähigkeit sie zu tragen, ja verwundert sieht er, wie mit der Last die Fähigkeit sie zu tragen wächst. Und ist der Mensch mit solche hellem Auge für die göttliche Ausgleichung älter und erfahrener geworden, dann wertet er die Kreuze, die auf dem Menschen liegen, alle ungefähr gleich schwer und trägt nun das seine ohne Murren, wie er früher, nicht getan.

Das führt uns bereits auf die zweite christliche Wahrheit, die von der geringeren oder größeren Verantwortung, von der leichteren oder schwereren Rechenschaft: wem viel gegeben ward, an dem suchet man viel, wem wenig gegeben ward, an den stellt man geringere Anforderungen. Machen wir Ernst mit diesem Satz, dann entsteht daraus das Gegenteil von aller Kirchenzucht und von aller kirchlichen Meinung noch heute. Die Kirchenzucht ist fast immer streng, sehr streng nach unten, milde, lose nach oben; das arme Mädchen saß auf der Büßerbank und der vornehme Wüstling im Stuhle der Kirchenpfleger. Ja wir wollen gleich noch einen Schritt weiter gehen und sagen: während die öffentliche Meinung in der Kirche gegen die Gefallenen aller Art milde sein, sich zu ihnen niederbeugen und sie emporzurichten und emporzuziehen suchen soll, hat sie dem Vornehmen, dem Reichen, dem Gebildeten gegenüber den alten Wahlspruch geltend zu machen: Adel verpflichtet. Mit deinem Einfluss, deinem Besitz, deiner Bildung wächst nicht dein Verdienst, dein Vorrecht, sondern deine Schuld; von Gottes wegen sollst du an deinen Brüdern das tun, was kein menschliches Gesetz dir aufzulegen vermag. Wenn die christliche Kirche tut was Gott, die Stolzen beugt und den gebeugten hebt, dann ist wohl auch sie eine Gleichmacherin.

Endlich müssen wir uns mehr und mehr gewöhnen, die Menschen nach anderem Maßstab als bisher zu schätzen und zu werten, nicht nach Stellung und dem Range, die sie einnehmen, sondern nach dem Nutzen, den sie schaffen, nach dem Segen, den sie stiften. Dies spricht unser Text mit einzigen Worten aus. Hei! Wie gramselt es in dem Menschengeschlecht, wie sucht sich da jeder emporzuschieben und zu drücken, da halten sich zwei und zwei, die droben, dass keiner von ihnen hinunter müsse, die drunten, damit keiner von ihnen emporsteigen könne; dabei Unzufriedenheit und Streit überall, Neid, Intrige droben wie drunten. Mitten in diesem Allem Jesus, ruhig, gelassen, glücklich unter den Geringsten; wie ein Stern so still, so fest, so sicher wandelt er seine Bahn und findet in seiner Pflichterfüllung, in seiner Treue im Kleinen, in seiner reich gesegneten Wirksamkeit seinen Frieden. Hier liegt das Glück noch heute: es geht zu denen, welche dem Range nach am höchsten stehen, wie viel kostbare Lebenszeit verlieren sie, um diesen Rang zu erlangen und zu behaupten, und wie viel Bitterkeit tauschten sie dagegen ein, unglücklich und einsam auf stolzer Höhe; steigt hinunter zur Mutter an der Wiege ihres Kindes, am Lager ihres kranken Gatten, zur armen Witwe, die wissen, warum sie da sind, sie sind nötig, ihre Pflicht füllt ihre Seele ganz und gar und Segen folgt ihren Schritten. Das ist das Glück, das einzig, nicht Rang, nicht Name.

Meine lieben Zuhörer! Sagen wir zum Schlusse noch ein paar Worte darüber, wie unsere christliche Gemeinschaft die innere Gleichheit ihrer Glieder in die Welt hinaustragen soll. Erwartet da, und nie, von mir großartige Anpreisungen unfehlbarer Mittel. Im Gegenteil, ich wünsche, dass wir ganz bescheiden hinaustreten, still und anspruchslos wie unser Meister, und in solcher Weise dem Neuen Geiste Bahn machen. Auch gelten mir stets höher als Mittel, Einrichtungen und Anstalten: die Menschen, die lebendige Mauer von Habsburg. Damit treten wir auf den Plan.

Hier verschmähen wir vor Allem eines Bundesgenossenschaft nicht, diejenige mit jener gesunden republikanischen Gesinnung, welche frei von Neid, kleinlichem Misstrauen und Enge des Herzens oder des Kopfes doch nie vergisst, dass der Mensch schwach ist, dass allzu große Macht auch die Besten verdirbt, und die sogar ihre Lieblinge in festen Schranken hält und oft zur Rechenschaft fordert, gleichzeitig aber auch im Geringsten und Trotzigsten nie den Volksfeind, sondern ein Glied am großen Leibe erblickt und nie gegen ganze Volksteile sich vergrämen lässt. Freuen wir uns dieser echt republikanischen Weise, machen wir sie mit.

Außerdem aber haben wir von uns aus ein Wort, ein Bild und eine Sitte, alle längst bekannt, aber alle noch lange nicht ausgenutzt. Wir haben das Wort von der Gleichheit der Schuld und der Gleichheit der Gnade. Das Erste, was uns draußen begegnet, ist eine große Anzahl streitender Parteien politischer, kirchlicher und sozialer Natur. Allzumal rufen sie uns ihr Halt, wer da! zu. Wir werden uns zu erkennen geben und uns entscheiden müssen, zu welchen wir halten wollen. Aber nie soll eine einzige von uns Christen verlangen dürfen, dass wir ihr Treiben ganz mitmachen. Auch die Erwachsenen, zur Partei zusammengeballt, betragen sich noch ganz als Kinder. Seht sie am Tag der Not: da wälzt jede die Schuld an den Missständen, an den Schäden des Landes auf die gegnerische; legt diese aber Hand an, um zu bessern, so liegt sie zurück und vereitelt lieber, als dass sie fördert. Seht sie am Tage des Glückes: da nimmt jede allen Ruhm für sich, da will jede politische und soziale Partei alles Recht, jede kirchliche alle Gottesgnade für sich haben, da wird man eng, ausschließlich, klein. Darum werden wir nie aufhören, am Tag der Not zu rufen: gleich ist die Schuld, wir haben alle zum Verderben beigetragen, alle müssen wir bessern und retten helfen; am Tage des Glückes dagegen: gleich ist die Gnade, der Gegner hat das gleiche Recht wie wir, vom großen Geist der Wahrheit lebt ein Hauch in ihm. Gottes Herz ist weiter als unser Herz: so lang er sie duldet und braucht, sollen wir tun wie er und neue Brücken zu ihnen schlagen.

Zum Wort gesellt sich das Bild des Abendmahls. Wohl verdient es viel unmittelbarer als bisher in unser Volksleben hinausgestellt zu werden, denn ich wenigstens kenne kein Volksfest, welches so verschiedene Elemente unseres Volkes zu vereinigen vermag, wie das heilige Abendmahl selbst in seiner gegenwärtigen verkrüppelten Gestalt, kein Bild, das so ungekünstelt uns an`s Herz legt, was uns trotz Allem und Allem doch immer gemeinsam ist und bleibt, keine Feier, die uns unsere Gleichheit unter einander so spürbar macht.

Und wir haben schließlich die Sitte des Sonntags, diesen Tag des Ausspannens und sich Wiederfindens aus aller leiblichen und geistigen Getrenntheit heraus. Noch immer gelten seine ältesten Einsetzungsworte zum Geringen und Abhängigen: du Knecht, du Sohn einer Magd, ruhe und erquicke dich; zum Meister: gedenke, dass du einst ein Knecht warst in Ägyptenland. Noch immer löset dieser Tag die Seele des Kleinen, dass er spürt, wie er doch auch ein Mensch ist, noch immer löset er die Seele des Großen, dass er spürt, ich bin auch nur ein Mensch und ein Glied am großen Leib. Noch immer führt er Klein und Groß zusammen zum Dienste dessen, das Allen gleich gehört, zum Dienste Gottes, zum Dienste des Vaterlandes.

Ja, Herr, in deinem ewigen Reich ist Alles recht und Alles gleich. Wir danken dir von Herzen, dass wir in diesen trüben Tagen der Ernüchterung und Entmutigung zu dir kommen dürfen, und du hast Neues für uns bereit, neue Lösungen, neue Aufgaben, neue Segnungen. Sende uns, deine Knechte und Mägde, hinaus in dein Ackerfeld, die Welt, dass wir, eine geschlossene Schar von Gleichgesinnten, Getrenntes wieder vereinen, Hass stillen, Liebe wecken und über jede Kluft zwischen Menschenherz und Menschenherz die Brücke deines Friedens schlagen. Amen.
S.35-43
Aus: Predigten von Albert Bitzius seiner Zeit Pfarrer in Twann, hernach bernischem Regierungs-Rat (Aus dem Nachlaß herausgegeben) J. Dalp`sche Buchhandlung, Bern 1884