Bonaventura, eigentlich Johannes Fidanza (1221 - 1274)
In
Italien (Bagnoregio) geborener Philosoph, Theologe und Kirchenlehrer.
Bonaventura war Franziskaner. 1257 vollendete er als General seines Ordens dessen Verfassung und Organisation. 1273 wurde er Kardinal und bereits
1482 heiliggesprochen (Tag: 15. 7.). |
Inhaltsverzeichnis
Kritik am Aristotelismus
Von der Lenkung der Seele
Christus
Von den fünf Festen des Kindes Jesu
Kritik
am Aristotelismus
III 2 Der Schlüssel der Theorie liegt also
in einer dreifachen Erkenntnis, nämlich in der Erkenntnis des ungeschaffenen
Wortes, durch das alles hervorgebracht wird, in der Erkenntnis des fleischgewordenen
Wortes, durch das alles wiederhergestellt wird, und in der Erkenntnis des eingehauchten
Wortes, durch das alles offenbart wird. Denn wenn jemand nicht zu sehen vermag,
wie die Dinge aus ihrem Ursprung hervorgehen wie sie zu ihrem Ziel zurückgeführt
werden und wie Gott in ihnen aufleuchtet, kann er keine Einsicht haben.
III 3 Über das erste heißt es im Römerbrief: »Das Unsichtbare Gottes ist seit der Erschaffung
der Welt aus dem, was erschaffen wurde, geistig zu erblicken, auch seine ewige
Kraft und seine Gottheit« [Röm. l,20].
Seine ewige Kraft und Gottheit werden durch die Wirkung
erkannt, denn Gott ist der Grund von allem, und durch seine Kraft ist alles
geschaffen worden. Dies geht gegen die Philosophen, die leugnen, dass
Vielgestaltiges aus dem Einen und Identischen, das immer dasselbe bleibt, hervorgehe — aus dem Ewigen die zeitlichen Dinge, aus dem Wirklichsten Mögliches,
aus dem Festesten die veränderlichen Dinge, aus dem Einfachsten die zusammengesetzten
aus dem Höchsten die niedrigsten, sei doch die Wirkung der Ursache ähnlich,
diese Ursache aber stehe in den genannten Hinsichten im Gegensatz zu ihrer Wirkung.
III 4 Der Zugang
dazu liegt in der Erkenntnis des ungeschaffenen Wortes. Sie ist die Wurzel der
Einsicht in alles. Wer deshalb diesen Zugang nicht hat, kann nicht eintreten.
Die Philosophen aber halten das, was im höchsten Maße wahr ist, für
unmöglich, weil ihnen der Zugang verschlossen ist. Wie dies aber eingesehen
werden kann, sagt der Hebräerbrief. »Im Glauben
sehen wir ein, daß die Welt im Wort Gottes gebildet worden ist, damit
aus Unsichtbarem Sichtbares werde« [Hebr.
11,3]. Es ist aber unmöglich, dass der höchste Geist sich
nicht selbst erkenne, und da das geistig Erkannte dem geistig Erkennenden gleicht,
erkennt er alles, was er ist und was er kann. Folglich gleicht auch der Grund
der Erkenntnis dem Intellekt, dessen Abbild er ist. Dieses Abbild aber ist das
Wort, weil, nach Augustin und Anselm, das Bild des sich auf sich zurückwendenden
Geistes, das in der Sehkraft des Geistes entsteht, das Wort ist. Wenn
dieses Bild gleich ist, so ist es Gott, und da es von Gott seinen Ursprung nimmt,
stellt es den Ursprungsgebenden dar und alles, was der Vater vermag. Also stellt
es Vieles dar.
Ferner: Da es die Kraft des Vaters darstellt, stellt es die geeinteste Kraft
dar. Aber je geeinter eine Kraft ist, um so grenzenloser ist sie. Also kann
jenes Abbild Unendliches darstellen. Und so ist es notwendig, dass aus
dem Einen Vieles entstehe. Wenn du also das Wort erkennst, erkennst du alles
Wissbare. Der Jude aber kann das nicht erkennen, und doch sagt die Schrift: »Gott sprach: Es werde Licht«. [Gen.
1,3], und immer wieder: »Gott sprach«,
d. h., er zeugte das Wort, in dem er alles geordnet hat, und in diesem Ordnen
erschaffte er alles. Daher sagt Augustin in den Bekenntnissen:» Durch dein gleichewiges Wort erschaffst
du alles, und nur durch Sprechen erschaffst du, dennoch erschaffst du nicht
ewig, was du ewig sprichst.«
III 5 Könnte nämlich die Eins ihre ganze Kraft erkennen, dann
sähe und erkennte sie alle Zahlen. Und erkennte der Punkt seine ganze Kraft,
dann erkennte er alle Linien im Mittelpunkt. Die Eins ist aber im höheren
Maß Prinzip als der Punkt, denn die Eins ist ein wesenhafter Teil der
Zahl, der Punkt aber ist Prinzip, nicht Teil. Auch ist keines von beiden ein
aktives Prinzip. Da aber der erste Intellekt ein tätiges Prinzip ist, ist
es notwendig, dass er alles in seinem Ebenbilde anordne und alles ausdrücke.
III 6 Ferner: Vom Ewigen stammen alle zeitlichen
Dinge. Denn was aus dem Vater hervorgeht, geht auf geordnete Weise hervor, und
das eine ist der Grund des anderen nach der Rangordnung des Wesens und nach
der Abfolge der Zeit. Folglich stellt das Wort die Dinge so dar, wie sie in
Wirklichkeit hervorgebracht werden. Wie nämlich in meiner Erwartung
oder in meinem Gedächtnis viele zukünftige Dinge sein können
— und zwar eines weiter entfernt als ein anderes — und wie daraus
nicht folgt, dass, wenn sie sich ereignen, in meinem Gedächtnis eine
Änderung geschieht — so gibt es auch im Wort keine Veränderung.
Wenn es nämlich eine einzelne Seele erschafft, ändert es sich nicht,
weil es von Ewigkeit her gesagt hat, diese Seele sei jetzt zu erschaffen. Deshalb
erschafft es jetzt in demselben Ausspruch, in dem es von Ewigkeit her sprach,
so wie — vorausgesetzt, mein Wollen wäre mein Können -, wenn
ich jetzt wollte, dass morgen eine Sache entstünde, keine Veränderung
in mir stattfände, wenn sie geschähe. Sie fände statt, wenn ich
zuerst nicht wollte, danach aber wollte.
III 7 Ferner: Aus dem Wirklichsten entstehen mögliche
oder stoffliche Dinge. Denn wir erkennen den Vater als
den von sich her hervorbringenden Grund, als einen aus dem Nichts hervorbringenden
Grund, auch als einen aus vorliegendem Stoff hervorbringenden Grund. Und das
Wort bringt den Vater zum Ausdruck als einen von sich her hervorbringenden Grund,
und so entfaltet und stellt es dar die Hervorbringung des Heiligen Geistes und
seine eigene, insofern des Ewigen. Es bringt aber auch den Vater zum Ausdruck,
sofern er etwas aus nichts hervorbringt, und so stellt es dar die Hervorbringung
der Immerdauernden, wie der Engel und der Seelen. Es stellt ihn aber
auch dar als einen, der etwas aus etwas wie aus einem Stoff hervorbringt. Was
aber aus einem anderen entsteht, das ist, bevor es entsteht, der Möglichkeit
nach. Darum stellt das Wort notwendigerweise auch Mögliches dar. Notwendigerweise
entsteht also aus dem Wirklichsten Mögliches.
III 8 Und dieses Ebenbild bzw. dieses Wort ist die Wahrheit. Was ist
Wahrheit ihrer Definition nach? Die Übereinstimmung des Intellekts und
der geistig erkannten Sache, ich meine: jenes Intellekts, der Grund der Sache
ist, nicht meines Intellekts, der nicht Grund der Sache ist.
Diese Übereinstimmung ist wahr, wenn eine Sache nach den verschiedenen
Kategorien ihre quantitative, qualitative, relative, aktive, passive, raum-zeitliche
und ihre Lage festlegende Bestimmtheit hat. Dann nämlich sind die Sachen
wahr, wenn sie in Wirklichkeit oder im Universum so sind, wie sie in der ewigen
Kunst sind oder wie sie dort zum Ausdruck gebracht werden. Eine Sache ist nämlich
so weit wahr, wie sie dem begründenden Intellekt gleicht. Weil sie aber
niemals vollkommen dem Grund gleicht, der sie zum Ausdruck bringt oder darstellt,
deswegen ist nach Augustin alles Geschaffene Lüge. Eine übereinstimmende
Sache ist aber nicht ihre Übereinstimmung. Also ist es notwendig, daß
das Wort oder das Ebenbild oder der Vernunftgrund die Wahrheit sei. Dort ist
die Wahrheit des Geschaffenen, und die niedrigsten Wesen werden durch das Wort
ebenso zur Darstellung gebracht wie die höchsten. Obwohl also ein Engel als Bild Gottes mehr Anteil hat an ranghöheren Bestimmungen als ein Wurm,
so ist im Hinblick auf die Urbildlichkeit der Wesensgrund eines Engels nicht
ranghöher als der eines Wurmes. Denn der Wesensgrund
des Wurms bringt den Wurm zum Ausdruck und stellt ihn dar, so wie der Wesensgrund
des Engels den Engel. Und darin ist der Engel nicht ranghöher als der Wurm.
Jedes Erschaffene ist aber ein Schatten im Verhältnis zu seinem Schöpfer.
III 9 Und so ist offensichtlich, daß vom
Wirklichsten das Mögliche, vom Festesten die veränderlichen Dinge
und vom Erhabensten die niedrigsten Dinge stammen. Und wie die Sonne, indem
sie leuchtet, die Verschiedenheit und Vielfalt der Farben schafft, so stammt
aus jenem Wort die Vielfalt der Dinge. Deshalb gibt es
keine geistige Einsicht außer durch das Wort.
V 19 Das dritte ist die Norm des Regierens, d.
h., wie ein Herrscher sich zum Volk verhalten soll und umgekehrt.
Auch dies geht hervor aus der ersten Wahrheit, daß das Volk mitreden soll,
wenn der Herrscher straft und rächt. Der Herrscher soll nicht seinen Nutzen
suchen, sondern den des Staates. Aristoteles sagt, der Unterschied zwischen
Tyrann und Herrscher bestehe darin, dass der Tyrann seinen eigenen Vorteil
sucht, wie Herodes, der aus Furcht, sein Königreich zu verlieren, gegen
die kleinen Jungen wütete, während der Herrscher auf den gemeinsamen
Nutzen sinnt. Dennoch ist es heute eine große Schande mit den Regierenden.
Man macht nur den zum Kapitän eines Schiffs, der die Kunst des Steuerns
beherrscht. Wie kann man dann aber im Staat jemanden aufstellen, der vom Regieren
nichts versteht? Daher kommt es: Wenn sie durch Erbfolge regieren, wird der
Staat schlecht regiert. David war sehr heilig; Salomon, obwohl sehr schlüpfrig,
war dennoch weise; Roboam war töricht, denn er teilte das Reich. Die Römer
wählten durch Teufelskunst den Diokletian. Sie wurden geheißen, jemanden
zu wählen, der von einem Tisch aus Eisen aß. Da fanden sie ihn, wie
er von einer Pflugschar aß. Aber nachher hat er vieles Schlechte gemacht.
So haben also die Römer, solange sie ihre Herrscher wählten, sehr
weise Herrscher gewählt, und damals wurde der Staat gut regiert. Aber als
sie später zur Erbfolge übergingen, wurde das Ganze zerstört.
V 20 Das letzte ist der Maßstab des Beurteilens,
damit der Mensch weiß, wie er über jedwede Sache urteilen soll — was Personen, Sachen und Handlungsweisen angeht. Dies alles kommt aus der ersten
Wahrheit.
V 21 Aber in alledem ist der Verstand ausschweifend geworden. Ausschweifend
geworden ist auch die Metaphysik. Denn einige behaupteten eine ewige Welt, weil
bei einer ewigen Ursache auch die Wirkung ewig sei. Und diese haben schlecht über die erste Ursache gedacht. Ähnlich die Mathematiker: Zuerst erkannten
sie die Zahlen, und später gingen sie dazu über, Gestirneinwirkungen
und die Geheimnisse der Willensentscheidungen zu erforschen. Die Naturforscher
wußten etwas über Körper und Mineralien. Dann sagten sie sich: »Die Technik ahmt die Natur nach«, und wir kennen die Geheimnisse
der Natur, also werden wir euch Gold und Silber machen. So haben auch die Grammatiker
mit Gedichten und Geschichten die ganze Welt beherrscht, bis die Heiligen gegen
sie aufstanden. So haben auch die Logiker mit ihren Scheinbeweisen und ihren
falschen Thesen die Welt verrückt gemacht. Entsprechend freuten die Rhetoren
sich so sehr an der äußeren Form der Rede, dass sie sagten,
das Reich Gottes bestehe in nichts anderem. Dennoch ist die Rhetorik jetzt verschwunden
Die Ethik wurde nicht so verdorben, weil sie nicht bei reiner Theorie stehenbleibt.
Aber die Rechtswissenschaft wird stark korrumpiert aus Profitgier, und die Prozesse,
die durch das Recht beendet werden sollten, werden jetzt durch Verschleppung
und juristische Spitzfindigkeiten endlos, wo es doch die Aufgabe des Rechts
ist, die Prozesse abzukürzen.
V 22 Dies sind die neun Lichter, die die Seele
erleuchten, nämlich die Wahrheit der Sachen, der Worte und der Sitten.
Die Wahrheit der Sachen — das ist die der Wesenheiten, der äußeren
Gestalten, der Naturen, und zwar im Hinblick auf die verborgenen Unterschiede
der Washeiten, sodann im Hinblick auf die zutage liegenden Proportionen der
Quantitäten und schließlich im Hinblick auf die gemischten Eigentümlichkeiten
der Naturen. Die erste behandelt die Metaphysik, die zweite die Mathematik,
die dritte die Naturforschung oder Physik.
Die Wahrheit der Worte ist dreifach, nämlich die der Aussagen, der Schlussfolgerungen,
des Überzeugens. Erstens, sofern Aussagen die Begriffe des Geistes anzeigen;
zweitens, sofern Schlussfolgerungen die Zustimmung des Geistes nach sich
ziehen; drittens, sofern das Überzeugen die Affekte des Geistes beeinflusst.
Das erste behandelt die Grammatik, das zweite die Logik, das dritte die Rhetorik.
Die Wahrheit der Sitten ist dreifach; Sie bezieht sich auf äußeres
Benehmen, innere Anstrengungen und auf Rechtsverhältnisse. Äußeres
Benehmen, das betrifft gewohnheitsmäßiges Verhalten; innere Anstrengungen,
das betrifft intellektuelle Tätigkeiten; Rechtsverhältnisse, das betrifft
die staatlichen Gesetze. Das erste ist das richtige Handeln als gewohnheitsmäßige
Lebensform; das zweite ist die intellektuelle Tugend, das dritte die Tugend
des rechtlichen Bereichs.
Dieses neunfache Wissen stifteten die Philosophen, und sie waren dabei erleuchtet.
Gott nämlich hat es ihnen enthüllt. Danach wollten sie zur Weisheit
vordringen, und die Wahrheit zog sie dorthin. Und dabei versprachen sie —
ich meine, sie versprachen ihren Schülern — die Weisheit, das heißt
aber: die Glückseligkeit, den »ans Ziel gelangten Intellekt« zu geben. Aber sie versagten.
V 23 Weil aber die Philosophen doch in ihrer Betrachtungsweise irgendwie »das Licht von der Finsternis scheiden« [Gen. 1,43] müssen
wir jetzt sehen, wie sie dazu gelangten. Denn indem sie sich von der Finsternis
schieden, haben sie sich dem Licht zugewandt. Dies geschieht aber dadurch, dass
die Seele sich zuerst auf sich zurückwendet, zweitens auf die spirituellen
Geistwesen, drittens auf die ewigen Gründe.
V 24 Zuerst also muß man sich selbst sehen,
nicht wie das sinnliche Auge, das sich nur durch Widerspiegelung im Spiegel
sehen kann, sondern wie das Auge des Geistes, das zuerst sich sieht und danach
anderes. Doch dazu gehört, dass jemand sich auf seine Fähigkeiten
und Tätigkeiten zurückwendet. Die Seele hat nämlich drei Fähigkeiten,
die beseelende, die intellektuelle und die göttliche. Dem entspricht ein
dreifaches Auge, das der Sinne, das des Verstandes, das der Schau. Das erste
ist lebenskräftig, das zweite tappt im Finstern, das dritte steht geblendet.
Die beseelende Fähigkeit ist zweifach. Sie geht entweder auf die Gegenstände
der einzelnen Sinne und des Gemeinsinnes oder auf die Vorstellungsbilder der
Sinnendinge und ist so Wahrnehmung und Vorstellung.
Auch die intellektuelle Fähigkeit ist zweifach: Entweder betrachtet sie
die allgemeinen, vom Stoff abgelösten Wesensgründe, absehend von Raum,
Zeit und Ausdehnung, oder sie erhebt sich zu den selbständigen Geistwesen.
Und dies sind zwei Vermögen: Verstand [ratio] und
Vernunft [intellectus]. Mit dem Verstand vergleicht
es, mit der Vernunft erkennt es sich selbst und die geistigen Wesen, und dann
verbindet es sich den reinen Geistern [intelligentiae]
und tritt ein in ihre Zeitlosigkeit.
Entsprechend ist auch die göttliche Tätigkeit oder Fähigkeit
zweifach: Die erste wendet sich dem Anschauen der göttlichen Schauspiele,
die zweite dem Verkosten göttlicher Tröstungen zu. Das erste geschieht
durch die Einsicht [intelligentia], das zweite durch die Kraft der Vereinigung oder der Liebe, die verborgen ist und von der
sie wenig oder gar nichts wussten.
V 25 Also gibt es eine dreifache Fähigkeit
und sechs Tätigkeiten. Und wenn die Seele alle diese Gegenstände anschaut,
kehrt sie zu sich selbst zurück und wird ein überaus schöner
und klarer Spiegel, in dem sie alles sieht, was Glanz und Schönheit hat,
wie man in einem geputzten Spiegel sein Bild sieht. Doch dazu braucht es auch
die natürliche oder künstliche Undurchdringlichkeit, die natürliche
wie bei einem Spiegel aus Stahl, die künstliche, wenn dem Glas Blei unterlegt
wird. Und durch diese Undurchdringlichkeit wird das widerspiegelnde Bild festgehalten.
Zweitens ist das Putzen nötig, wodurch er Gestalt oder Bild aufnimmt. Drittens
braucht es ein Leuchten, denn in der Nacht gibt der Spiegel nichts wieder. Dem
entsprechen in der Seele die Kräfte: Die niederen Kräfte halten gewissermaßen
das Licht fest, damit es nicht wegfließe. Die mittleren Kräfte sind
wie das Putzen, die obersten sind wie das hinzukommende Leuchten. Und so ist
die Seele ein Spiegel.
V 26 Aber wir brauchen eine Zwischenstufe: Der
Spiegel der Seele muss den schönen Gestalten, den ihm entsprechenden
Himmelslichtern, den Engeln nämlich, entgegengehalten werden. Denn
wenn er sich unmittelbar zur göttlichen Lichtfülle erhöbe, wurde
er zurückgeschlagen. Die Engel hingegen sind sowohl
Lichter als auch Spiegel. Auf dreifache Art wird die Seele zu ihrer Anschauung
erhoben:
Die Engel haben Kräfte — es sind ihre niedersten —, mit denen
sie die Bewegungen der Himmelskörper regeln und das Geschehen in der niederen
Welt beeinflussen. Und das ist die Ansicht der Philosophen. Steht doch fest,
daß die Ursache ranghöher ist als die Wirkung und daß das Lebendige
und Beseelte entsteht bzw. gezeugt wird unter dem Einfluß der Himmelskörper,
folglich auch die Seele. Wenn also das Beseelte ranghöher ist als Unbeseeltes,
dann muß es eine andere Ursache haben als jene Körper. Und diese
besteht im Einfluß der Engel zusammen mit dem der Himmelskörper.
Daher geschieht dies aufgrund der Leitung einer geistigen Substanz, welche die
Bewegung der Himmelssphäre beeinflußt, die sie regiert. — Andere
behaupteten, die Zahl der Engel sei bestimmt nach der Zahl der Sphärenbewegungen,
wegen ihrer naturhaften Zuordnung zur Himmelsbewegung. — Andere behaupteten,
es gebe nur zehn reine Geister [intelligentiae]. Sie
hatten dabei die Weise ihres Einwirkens im Auge. Aber sie schufen damit nur
Dummheiten und Zänkereien. Ein Engel kann sehr wohl sein, ohne Himmelsschalen
zu bewegen.
V 27 Ferner sind in den Engeln Kräfte, die
sich auf vernunftbegabte Seelen beziehen. Mit ihnen
leiten sie die Menschen. Die Engel bringen nämlich
Lichtstrahlen herab und Geistseelen hinauf, damit diese Erleuchtungen empfangen.
Sie haben also eine Kraft des Herabbringens, weil sie in gewissem Sinn Lichter
und Durchgang sind und weil sie in sich für uns den göttlichen Lichtstrahl
abschwächen, damit er uns mehr entspricht. Dann ist in ihnen aber auch
eine Kraft des Hinaufbringens. Mit ihr bereiten sie uns durch ihr Herabsteigen
und ihr Hinaufbringen für das Empfangen jenes Lichtstrahls vor, aber nicht
so, als ob sie dies selbst vollbrächten. Ferner ist
in ihnen eine höchste Kraft, mit der sie sich Gott zuwenden zum Empfang
der Erleuchtungen und des ewigen Lichts, das sie lieben. Und alles führen
sie zu diesem Licht zurück, so daß es sich Gott in Liebe und Lob
zuwendet. Und weil die Seele in Zukunft das Leben der Engel teilen soll,
deswegen will Gott, dass sie deren Beispiel annimmt und in diesem Leben,
soweit dies möglich ist, sich unter sie mischt. Darum fragt Gott im Buch
Hiob den Menschen: »Wo warst du, als mich die
morgendlichen Sterne lobten und alle Söhne Gottes« — das sind die Engel — »jubelten«
[Hiob 38,4]? Und dies alles haben die Philosophen
irgendwie bemerkt.
V 28 Drittens wendet sich die Seele den ewigen
Wesensgründen zu, und dies geschieht auf dreifache Weise, nämlich
schlußfolgernd, durch einfache Einsicht, in direkter Erfahrung.
Auf dem Wege des Verstandes kommt die Seele zur Erkenntnis der ewigen Wesensgründe,
indem sie die Bestimmungen des ersten, ungeschaffenen Seienden mit denen des
geschaffenen Seienden vergleichend betrachtet. Es sagt aber der Verstand, daß
das erste Seiende oder die erste Ursache des Seienden durch sich selbst ist,
das Verursachte hingegen ist hervorgebracht oder erschaffen. Die erste Ursache
ist einfach, das Verursachte ist zusammengesetzt, die erste Ursache ist rein,
das Verursachte vermischt; die erste Ursache ist fest bestimmt, das Verursachte
veränderlich; die erste Ursache ist selbständig, das Verursachte gebunden;
die erste Ursache ist vollkommen, das Verursachte ist eingeschränkt. Und
weil, wie es im Buch der Weisheit 3,9 heißt,
die Seele das, was naheliegt, findet, wenn auch mit Mühe, geht sie von
dem Nachgeordneten über zum Ersten, indem sie so schlussfolgert: Wenn es ein hervorgebrachtes Seiendes gibt, so muss man ein erstes Hervorbringendes
annehmen. Ferner: Wenn es ein Zusammengesetztes gibt, muss es ein
erstes, völlig Einfaches geben. Und ebenso bei den anderen Bestimmungen.
V 29 Die Einsicht kommt zum Licht der ewigen Wesensgründe auf drei
Wegen: schlußfolgernd, durch Erfahrung, durch einfache Einsicht.
Auf dem Weg des Verstandes wie folgt: Gibt es hervorgebrachtes
Seiendes, dann gibt es auch ein erstes Seiendes, weil mit der Wirkung auch die
Ursache gesetzt ist. Denn wenn es ein Seiendes gibt, das von einem anderen stammt,
das gemäß einem anderen und wegen eines anderen ist, dann gibt es
auch ein Seiendes aus sich selbst, das sich selbst gemäß und um seinetwillen
ist.
Ferner: Wenn es ein zusammengesetztes Seiendes gibt, muß ein einfaches
Sein existieren, von dem es das Sein hat, denn Sein, das von der Einfachheit
abweicht, stürzt in die Zusammensetzung.
Ferner: Gibt es ein vermischtes Seiendes, so gibt es notwendigerweise
auch ein reines Sein. Nichts Geschaffenes aber ist rein.
Ferner: Gibt es ein wesentlich verändertes Seiendes, so muß es auch
ein fest Bestimmtes geben, weil das Veränderliche auf das Unveränderliche
zurückgeführt wird. Wird die Hand bewegt, ruht der Ellenbogen, und
wird der Ellenbogen bewegt, ruht die Schulter. Und so wird immer das, was bewegt
wird, von etwas Festem bewegt werden.
Ferner: Gibt es ein Gebundenes, dann gibt es auch ein Selbständiges [absolutum]. Aber jedes Geschaffene ist an eine bestimmte Kategorie gebunden. Aber was gebunden
ist, gibt dem anderen nicht das Sein. Also muss es ein Selbständiges
geben, von dem sie das Sein empfangen.
Ferner: Wenn es ein eingeschränktes Seiendes gibt,
dann muss es ein vollkommenes Seiendes geben.
Auf diesem Weg ging Aristoteles dahin weiter, die Ewigkeit der Welt zu beweisen,
weil jeder Bewegung und Veränderung die kreisförmige Ortsbewegung
vorausgeht, die nämlich vollkommen ist. Aber ich erwidere: Dass das
Vollkommene dem Verminderten vorausgeht, das gilt vom schlechthin Vollkommenen,
nicht von dem, was in einer bestimmten Gattung vollkommen ist, wie die Kreisbewegung es ist.
Und das ist die Art, wie die Einsicht schlussfolgernd
zu den ewigen Wesensgründen kommt.
V 30 Entsprechend kommt sie aus Erfahrung dorthin,
und zwar so: Das Hervorgebrachte ist im Vergleich zum
ersten Wesen mangelhaft. Ebenso das Zusammengesetzte im Vergleich zum Einfachen
und das Vermischte im Vergleich zum Reinen. So auch bei den anderen Bestimmungen.
Die Seele macht so die Erfahrung, daß das Abgeleitete vom Grundlegenden
stammt. Was wir haben, erkennen wir, wenn wir seiner beraubt sind, und
so wird in der Erfahrungserkenntnis das Vollkommene nur durch das Unvollkommene
erfaßt und das Gerade nur durch das Krumme. Und dies ist auch der Weg
Augustins sowie aller derer, die eine Umkehr mitmachen: Wenn du das einsiehst,
mußt du erkennen, was es ist, das dies Licht gibt. Und dieser Weg, der
ein Erfahrungsweg ist, ist uns gewissermaßen angeboren.
V 31 Drittens wendet die Seele sich zum ersten
Wesen auf dem Weg der einfachen Einsicht, im reinen Hinblicken und Anschauen,
z. B. wenn sie die folgende Aussage einsieht:
»Nur dem ersten Sein kommt Sein im eigentlichen
Sinn zu«, oder: »Das Sein ist das Vollkommene,
d. h. das, worüber hinaus Besseres nicht gedacht werden kann«, denn
Besseres als Gott kann nicht gedacht werden, und er kann, wie Anselm beweist,
nicht als nicht-seiend gedacht werden.
V 32 Wenn die Seele dies erfasst in einfacher
Schau, dann sagt man von ihr, sie wende sich ganz vertraut zu Gott und ruhe
dann. Da sie in sich trägt, was die erste Substanz, die erste Kraft und
die erste Tätigkeit ist, erkennt sie deren Einheit, Wahrheit und Gutheit
entsprechend den genannten sechs Grundbedingungen (wie z. B. einfach-zusammengesetzt,
rein-vermischt) und dass es in ihm ein erstes und einfaches Gedächtnis,
eine ebensolche Einsicht und einen solchen Willen gibt, ferner, dass es
in ihm Leben, Weisheit, Freude wiederum gemäß jenen sechs Grundbestimmungen
gibt, ferner, dass er wesenhaft glückselig ist und die anderen beseligt,
also das ist, was man am meisten anstrebt.
Dies schauend ruht die Seele. Denn aus diesem Grund ist sie selbst wie ein Spiegel und sind die Engel wie Lichter. Ruhend im göttlichen Anblick ist sie vollkommen,
und dann erkennt sie, dass sie einen »ans Ziel
gelangten Intellekt« hat. Dieser ist eine Art Herabkommen und eine
Art Anschmiegung der ersten Wesen an die letzten wie durch den Weg eines Schlusses
[conclusio].
V 33 Diesen Intellekt oder diesen letzten Anblick des Lichtes haben die
Philosophen versprochen. Aber da sie sahen, dass sie dahin nur durch die
höchste Aktivität des sittlichen Lebens gelangen könnten, übten
sie sich sehr in den reinigenden Tugenden und in den Tugenden der gereinigten
Seele, wie es an Sokrates offensichtlich ist, der in der Lebensführung
der Größte war. Und nach Gregor gründen sich die anderen, die
das erste Licht erreichen wollen, auf diesen Weg.
Über
die erste urbildliche Ursache der Tugenden
(Collatio VI)
VI 1 »Gott sah das
Licht, dass es gut war, und er schied das Licht von der Finsternis»
[Gen. 1,4].
Dieses Wort wurde gewählt wegen des ersten Anschauens, das dem Geist von
Natur aus eingegeben ist. »Gott sah das Licht«, d. h., er machte
sehen. Darüber wurde oben in zwei Ansprachen geredet, über das Sehen
als wissenschaftliche Untersuchung, weil das Licht strahlt als Wahrheit der
Sachen, der Worte und der Sitten. Und es wurden neun Disziplinen unterschieden,
von denen drei die grundlegenden Strahlen sind, die nach Augustin aus dem Wort
des ewigen Lichtes stammen.
Ferner: »Er sah«, d. h., er machte sehen durch betrachtende Weisheit,
indem er die Seele in ihr selbst wie einen Spiegel, in einem Geistwesen [intelligentia]
wie in einem nach unten durchlässigen Medium und im ungeschaffenen Licht
wie in seiner Quelle erleuchtete, und zwar entsprechend den sechs Grundbestimmungen,
die er dem Geist einprägt. Und ihnen folgend steigt die Seele auf zu jenem
Licht durch Schlußfolgern, durch direkte Erfahrung, durch einfache Einsicht,
wie gesagt. Und dahin gelangten die Philosophen, die edlen von ihnen und die
Alten, daß ein Prinzip existiert und ein Ziel und ein urbildlicher Wesensgrund.
VI 2 Wenn Gott also »das
Licht schied von der Finsternis«, so sollte dies ebenso für
die Philosophen wie für die Engel gelten. Aber woher kam es, daß
einige der Finsternis gefolgt sind? Das kam daher, daß sie, obwohl alle
in der ersten Ursache den Anfang und das Ziel von allem erkannt haben, in bezug
auf die Mitte sich geschieden haben. Denn einige leugneten, daß es in
der ersten Ursache Urbilder der Dinge gebe. Deren Anführer war offenbar
Aristoteles, der am Anfang und am Ende seiner Metaphysik sowie an vielen anderen
Stellen die Ideen Platons verwirft. Deswegen behauptet er, Gott wisse nur von
sich und bedürfe nicht der Kenntnis irgendeines anderen Dinges. Und er
bewege als ein Ersehntes und Geliebtes. Daraus folgern sie, daß er nichts
oder nichts Einzelnes erkenne. Darum hat vor allem Aristoteles die Ideen bekämpft,
so auch in seiner Ethik. Er sagt dort, das höchste Gut könne keine
Idee sein. Aber seine Argumente taugen nichts, und der Kommentator hat sie widerlegt.
VI 3 Aus diesem Irrtum folgt ein anderer Irrtum,
nämlich daß Gott kein Vorherwissen und keine Vorsehung besitze, weil
er nicht die Wesensgründe der Dinge in sich trage, durch die er sie erkenne.
Sie sagen ferner, es gebe keine Wahrheit über zukünftige Ereignisse
außer der Wahrheit der notwendigen Verknüpfungen, und die Wahrheit
zufälliger Ereignisse sei keine Wahrheit. Daraus folgt, daß alles
entweder aus Zufall oder aus schicksalhafter Notwendigkeit geschieht. Und weil
Entstehen aus Zufall unmöglich ist, führten die Araber die schicksalhafte
Notwendigkeit ein, in dem Sinne, daß die sphärenbewegenden Substanzen
die notwendigen Ursachen von allem seien. Infolgedessen wird die Wahrheit darüber
verdunkelt, daß die Weltdinge im Hinblick auf Strafen und Herrlichkeit
eingerichtet sind. Wenn nämlich jene Substanzen irrtumslos alles bewegen,
braucht man weder die Hölle noch die Existenz des Satans zu behaupten.
Und Aristoteles hat niemals die Existenz des Satans oder die Glückseligkeit
nach diesem Leben behauptet. Er nahm auch an, es gebe nicht mehr Engel als Sternschalen.
Dies ist also ein dreifacher Irrtum, nämlich
die Bestreitung der Urbildlichkeit, der göttlichen
Vorsehung, der göttlichen Einrichtung des Weltlaufs.
VI 4 Daraus folgt eine dreifache Blindheit oder
ein dreifaches Dunkel. Die erste betrifft die Ewigkeit der Welt, wie Aristoteles
sie offenbar behauptet hat, allen griechischen Kirchenlehrern zufolge, wie
Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz,
Damascenus, Basilius und allen arabischen Kommentatoren zufolge, die sagen,
Aristoteles habe so gedacht, und sein Wortlaut stimmt offenbar damit überein.
Du wirst niemals finden, daß er selbst sagte, die
Welt habe einen Ursprung oder einen Anfang. Er wies sogar Platon
zurück, der offenbar als einziger lehrte, die Zeit habe einen Anfang gehabt.
Damit widerstreitet er dem Licht der Wahrheit.
Daraus folgt eine zweite Blindheit, die über die Einheit des Intellekts.
Denn wenn behauptet wird, die Welt sei ewig, dann ergibt sich eine der folgenden
Konsequenzen: Entweder, daß es unendlich viele Seelen gibt, weil es unendlich
viele Menschen gab, oder daß die Seele vergänglich ist oder daß
die Seele von einem Körper zum anderen wandert oder daß es in allen
Menschen nur einen Intellekt gibt. Dieser Irrtum wird von Averroes dem Aristoteles
zugeschrieben. Aus beidem folgt, daß es nach diesem Leben weder Glückseligkeit
noch Strafe gibt.
VI 5 Diese stürzten in Irrtümer und wurden
von der Finsternis nicht geschieden. Und das sind die schlimmsten Irrtümer.
Und auch jetzt sind sie noch nicht eingeschlossen mit dem Schlüssel zum
Schlund des Abgrunds. Das ist die Finsternis Ägyptens. Obwohl in ihnen
aus den vorangehenden Wissenschaften ein großes Licht zu leuchten schien,
wurde es doch durch die genannten Irrtümer völlig ausgelöscht.
Und andere, da sie sehen, wie groß Aristoteles in anderen Dingen war und
wie sehr er die Wahrheit sagte, können nicht glauben, daß er nicht
auch in diesen Dingen etwas Wahres gesagt habe.
VI 6 Ich sage also: Jenes
ewige Licht ist das Urbild von allem, und ein Geist, der wie der Geist
der anderen edlen Philosophen der Antike emporgehoben wird, kann zu ihm gelangen.
In jenem Licht begegnen also der Seele zuerst die Urbilder der Tugenden. Denn,
wie Plotin sagt, wäre es absurd, wenn die Urbilder der anderen Dinge in
Gott wären, nicht aber die Urbilder der Tugenden.
VI 7 Zuerst leuchten also in dem ewigen Licht die
urbildhaften Tugenden oder die Urbilder der Tugenden auf, die Erhabenheit der
Reinheit, die Schönheit der Klarheit, die Stärke der Tugend, die Richtigkeit
ihrer Verteilung, wovon Philo, der redegewaltige Jude, als Philosoph gesprochen
hat. Wenn es im siebten Buch der Weisheit heißt: »Sie
ist nämlich ein Hauch der Kraft Gottes und ein lauteres Ausströmen
der Klarheit des allmächtigen Gottes. Nichts Beflecktes dringt in sie ein«,
siehe, das ist die Erhabenheit der Reinheit. —
»Sie ist der Glanz des ewigen Lichtes und ein makelloser Spiegel der Majestät
Gottes und ein Bild seiner Güte.« Und weiter: »Sie
ist nämlich schöner als die Sonne und als die Ordnung der Sterne.
Im Vergleich mit dem Licht hat sie den Vorrang« [Weish. 7,25—29],
siehe, das ist die Schönheit der Klarheit. Denn wo Spiegel, Bild und Abglanz,
da ist notwendigerweise Darstellung und Schönheit. Schönheit ist nichts
anderes als zahlenhafte Gleichheit. Dort aber sind die zahlenhaften Wesensgründe
zur Einheit zurückgeführt. Und weil sie so überaus schön
ist, reicht sie überall hin in ihrer Lauterkeit.
VI 8 Daraus folgt, daß sie sehr stark ist.
Deswegen heißt es: »Die Bosheit besiegt nicht
die Weisheit. In ihrer Stärke reicht sie von einem Ende zum anderen»
[Weish. 7,30], siehe, das ist die Stärke der Tugend. Sie reicht
vom Höchsten oder Obersten bis zum Niedrigsten, vom Inneren bis nach außen,
vom Ersten bis zum Letzten, denn das Zentrum ihrer Macht ist überall, daher
ist sie unendliche Kraft.
VI 9 Daher kommt die Richtigkeit ihrer Verteilung,
siehe, das ist die Gerechtigkeit. Und deswegen sagt der Verfasser des Buches
der Weisheit: »Sie ordnet alles auf sanfte Weise.« Und weil er als
Philosoph und als Liebhaber der Weisheit spricht, sagt er: »Sie habe ich
geliebt und von meiner Jugend an gesucht, und ich habe begehrt, sie als Braut
zu nehmen und ich wurde ein Liebhaber ihrer Gestalt.« Nicht nur um ihrer
selbst willen, sondern weil in der Folge durch sie ähnliche Eigenschaften
in mir entstehen. Deswegen heißt es gleich darauf: »Nüchternheit
und Klugheit, Gerechtigkeit und Tugend lehrt sie. Nichts ist nützlicher
im Leben der Menschen« [Weish. 8,1—7].
VI 10 Diese Tugenden werden in die Seele durch jenes urbildliche Licht
eingeprägt, und sie steigen herab in Erkennen, Fühlen und Wirken.
Aus der Erhabenheit der Reinheit wird uns die unverstellte Mäßigung
eingeprägt, aus der Schönheit der Klarheit die Heiterkeit der Klugheit,
aus der Stärke der Tugend die Festigkeit des Standhaltens, aus der Richtigkeit
der Verteilung die Sanftheit der Gerechtigkeit. — Dies sind die vier urbildlichen
Tugenden, von denen die ganze Hl. Schrift spricht, und von denen Aristoteles
nichts wußte, wohl aber die alten, edlen Philosophen.
XIX 6 Die Art des Studierens soll vier Grundbedingungen aufweisen: Ordnung,
Ausdauer, Wohlgefallen, Maßhalten.
Die Ordnung wird von Verschiedenen verschieden aufgefaßt. Aber geordnet
vorgehen muß man doch, damit wir nicht das Erste zuletzt tun. Es gibt
aber vier Arten von Schriften, mit denen sich das Studium auf geordnete Weise
befassen muß. Die ersten Bücher sind die Hl. Schriften. Im Alten
Testament sind es nach Hieronymus zweiundzwanzig Bücher, im Neuen Testament
acht. In zweiter Linie gibt es die verbürgten Texte der Kirchenväter,
in dritter Linie die Sentenzen der Universitätslehrer, in vierter die der
weltlichen Wissenschaften oder der Philosophen.
XIX 7 Wer also lernen will, der suche das Wissen
an der Quelle, in der Hl. Schrift, denn bei den Philosophen gibt es kein Heilswissen
zur Sündenvergebung, auch nicht in den Summen der Universitätslehrer,
weil diese sich auf die Kirchenväter stützen, die Kirchenväter
aber auf die Hl. Schrift. Deswegen sagt Augustin, daß er genau so irren
könne wie andere. Nur dort ist uneingeschränkter Glaube am Platz,
wo keine Täuschung sein kann. Deswegen sagt Dionysius im Buch Von den göttlichen
Namen, daß nur das akzeptiert werden soll, was in den heiligen Aussprüchen
von Gott selbst gesagt wurde.Der Jünger Christi soll in der Hl. Schrift, die frei von
Irrtum ist, studieren, wie die Jungen zuerst das ABC lernen, danach das Silbenbilden,
danach das Lesen, danach die Bedeutung eines Satzteils und welche Konstruktion
vorliegt, und danach erst verstehen sie Genau so soll man bei der Hl. Schrift
zuerst den Text studieren, ihn gegenwärtig haben und verstehen, was ein
Wort bedeutet, aber nicht nur so wie der Jude, der stets nur den buchstäblichen
Sinn sucht. Die Hl. Schrift als ganze ist wie eine Zither, und eine tiefe Saite
an ihr schafft für sich allein noch keine Harmonie, sondern nur zusammen
mit anderen. So hängt eine Stelle der Schrift von der anderen ab, ja es
gibt tausend Stellen, die sich auf eine Stelle beziehen.
XIX 8 Man muß darauf achten: Als Jesus das
Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein wirkte, hat er nicht sofort gesagt:
»Es werde Wein!« Er hat ihn auch nicht aus nichts erschaffen, sondern
er wollte, wie Gregor hervorhebt, daß die Diener die Krüge mit Wasser
füllten. Vom Buchstaben her gedeutet, kann man keinen Grund angeben, warum
er das tat. Aber bei einem geistigen Verständnis kann man einen Grund angeben:
Weil der Heilige Geist kein geistiges Verständnis schenkt, wenn der Mensch
nicht den Krug, d. h. sein Fassungsvermögen, mit Wasser, d. h. mit dem
Wissen von der buchstäblichen Bedeutung, füllt. Und danach verwandelt
Gott das Wasser der buchstäblichen Bedeutung in den Wein des geistigen
Verständnisses. Deswegen war Paulus so groß, weil er das Gesetz zu
Füßen Gamaliels gelernt hatte. Deswegen ist, wer die Schrift kennt,
mächtig im Reden, auch in wohlgeformter Rede. So wußte der hl. Bernhard
nicht viel, aber da er intensiv die Schrift studierte, redete er auch auf sehr
fließende Weise.
XIX 9 Das erste also ist, daß der Mensch
mit der Schrift nicht umgehe wie ein Jude, der nur die äußere Hülle
will. Denke an die Geschichte mit dem Juden, der in Paris einen Vortrag hielt
und der seinen Zuhörern — es waren christliche Kleriker — diesen
Text des Jesaiss »Herr, wer glaubte unserem Wort?«
[Jes. 53,1] erklären wollte, sich dabei aber zu sehr an den Buchstaben
klammerte, der manchmal nur eine geistige Bedeutung hat. Als er den Text nach
seinem wörtlichen Sinn überhaupt nicht erklären konnte, warf
er das Buch zu Boden.
XIX 10 Zu dieser Einsicht kann der Mensch aber
nicht von sich her kommen, sondern nur durch die, denen Gott sie enthüllt
hat, also durch die verbürgten Texte der Kirchenväter, z. B. Augustins,
Hieronymus‘ und anderer. Man muß also auf die Texte der Kirchenväter
zurückgehen. Aber diese sind schwierig. Darum sind die Summen der Universitätslehrer
notwendig, in denen jene Schwierigkeiten aufgehellt werden. Aber man muß
sich hüten vor zu vielen Büchern. Da diese Schriften oft Aussagen
der Philosophen zitieren, muß man diese kennen und hinzuziehen.
Es ist also gefährlich, zu den Kirchenvätertexten herabzusteigen,
denn ihre Rede ist schön. Die Bibel hat keine so schöne Rede. Deswegen
hält Augustin es nicht für gut, wenn du die Schrift beiseite legst
und seine Bücher studierst, so wie auch Paulus von denen nichts hielt,
die auf seinen Namen tauften. Die Schrift ist es, die großen Respekt verdient.
XIX 11 Noch gefährlicher ist es, zu den Summen
der Universitätslehrer herabzusteigen. Denn manchmal irren sie und glauben,
sie verstünden die Kirchenvätertexte, und sie verstehen sie doch nicht,
sondern widersprechen ihnen sogar. So wie jemand töricht wäre, der
sich immer nur mit Einleitungsschriften befassen wollte, ohne zum Text selbst
aufzusteigen, so ist das Verweilen bei den Summen der Universitätslehrer.
Bei ihrem Studium muß man auch vorsichtig sein, daß man immer die
eher allgemeinen Auffassungen teile.
XIX 12 Am gefährlichsten aber ist es, zu den Philosophen herabzusteigen.
Deswegen sagt Jesaias: »Weil dieses Volk die ruhig
dahinfließenden Wasser von Siloe verachtet und es eher mit Rasin und dem
Sohn Romelias hält, siehe, deswegen wird der Herr die gewaltigen, großen
Wasser des Flusses, den König der Assyrer, über sie dahinfluten lassen«
[Jes. 8,6]. Wir dürfen nicht mehr nach Ägypten zurückkehren!
Man beachte, was Hieronymus geschah, der nach dem Studium Ciceros keinen Geschmack
mehr fand an den prophetischen Büchern und der deshalb vor dem göttlichen
Richterstuhl gegeißelt wurde (Ep. 22,30 PL 22,416).
Dies ist aber unsretwegen geschehen. Deswegen sollen die Universitätslehrer
auf der Hut sein, daß sie die Aussagen der Philosophen nicht zu sehr empfehlen
und zu hoch einschätzen, damit nicht bei der Gelegenheit das Volk nach
Ägypten zurückkehrt oder aufgrund ihres Beispiels das Wasser von Siloe,
also die höchste Vollkommenheit, verlasse und hinlaufe zu den Gewässern
der Philosophen, in denen ewige Täuschung ist.
XIX 13 Dies wurde symbolisch verkörpert durch
Gideon: Diejenigen, die die Probe am Wasser bestanden, die nämlich das
Wasser schleckten wie Hunde, haben gekämpft und gesiegt [Richt.
7,4]. Diejenigen, die sich hinknieten, und die gebückt tranken,
wurden zurückgewiesen. Die, die siegten, bekamen Posaunen, Krüge und
Fackeln, und durch das Dröhnen der Posaunen und das Zusammenschlagen der
Krüge siegten sie. Dies sind die Prediger der Kirche; sie dröhnen
wie Posaunen bei der Predigt. Die Krüge bedeuten ihre Leiber, die Fackeln
die Wunder. Als sie nämlich für die Wahrheit starben, begannen sie
zu strahlen durch Wunder und besiegten die Feinde. Die nun, die trinken, indem
sie wie die Hunde das Wasser mit der Zunge schlecken, sind die, die von der
Philosophie nur wenig annehmen. Aber jene, die mit gebeugtem Knie trinken, das
sind die, die sich ganz zu ihr herabbeugen. Und die werden zu unzähligen
Irrtümern heruntergedrückt. Und von dort wird der Gärstoff des
Irrtums genährt. Hosea schreibt: »Die
Stadt überließ den Teig eine Weile sich selbst, bis alles durchsäuert
war« [Hos. 7,4].
Und: »Sie brüten Schlangeneier aus. Zertritt
man eins, so schlüpft eine Otter heraus« [Jes.
59,5].
XIX 14 Denke an den hl. Franz, wie
er dem Sultan predigte. Der Sultan sagte ihm, er solle mit seinen Priestern
disputieren. Aber er erwiderte, er könne nicht mit Vernunftargumenten über
den Glauben disputieren, weil dieser über der Vernunft stehe. Er könne
es auch nicht anhand der Bibel, weil jene sie nicht anerkennen würden.
Aber er bat, man möge ein Feuer anzünden, und er und jene sollten
hineingehen.
Man soll also nicht so viel Wasser der Philosophie in den Wein der Hl. Schrift
mischen, so daß aus Wein Wasser würde. Das wäre das schlechteste
Wunder. Und wir lesen doch, daß Christus aus Wasser Wein machte, nicht
umgekehrt.
Daraus wird klar, daß den Gläubigen ihr Glaube nicht mit der Vernunft,
sondern mit der Schrift und mit Wundern bewiesen werden kann. In der Urkirche
verbrannte man die Bücher der Philosophen [Apg. 19,19].
Denn man darf die Brote nicht in Steine verwandeln. Aber was in der Gegenwart
geschieht, ist die Verwandlung des Weins in Wasser und des Brotes in Stein,
entgegen den Wundern Christi.
XIX 15 Dies ist also die Abfolge: Zuerst studiere der Mensch die Bibel
nach Buchstaben und Geist, dann die Kirchenvätertexte und unterwerfe sie
der Bibel. Entsprechend auch die Schriften der Universitätslehrer und Philosophen,
aber vorübereilend und wie ein Dieb, nicht, als solle man dabei verweilen.
Was hatte Rachel davon, daß sie die Götzenbilder ihres Vaters stahl?
Sie hatte nur dies davon, daß sie log und eine Krankheit vortäuschte
und die Götzenbilder unter Kameldecken versteckte und sich darauf setzte.
Genauso ist es, wenn man die Hefte der Philosophen versteckt. Unsere Wasser
sollen nicht niederfließen ins Tote Meer, sondern in ihren ersten
Ursprung.
Aus: Collationes in Hexaemeron III 2-9, V 19-33, VI
1-10, XIX 6-15. In: Opera omnia. Bd 5. quaracchi 1891. S.343-345, 357-359, 360-362,
421f. . Übersetzt von Kurt Flasch
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung,
Herausgeber: Rüdiger Bubner Band 2, Mittelalter. Herausgegeben von Kurt
Flasch
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9912, S.334-354 ©
1982 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages
Von
der Lenkung der Seele
1. Vor allem anderen tut dir not,
meine Seele, daß du zur höchsten Erhabenheit, Güte- und Heiligkeit
dich erhebst im Gedanken an Gott, den Höchsten und Besten, - mit gewisser
Zuversicht glaubend, mit hingegebenem Gemüte betrachtend und mit tiefschauendem
Blicke des Geistes voll Bewunderung durchdringend.
2. Zur höchsten Erhabenheit
steigst du empor im Gedanken an Gott,
den Besten und Höchsten, wenn du die unermeßliche Macht dessen, der
alles insgesamt aus dem Nichts erschafft und im Dasein trägt, - des Allregierers
und Allordners unendliche Weisheit, - des Allrichters und Allvergelters unbegrenzte
Gerechtigkeit in andachtsvoller und tiefdringender Beschauung glaubst, bewunderst
und lobpreisest, - sowohl zu dem, was außerhalb deiner, dich im
Geiste bewegend, als auch in dein eigenes Innere zurück dich wendend, sowie
über dich selbst hinaus zur Höhe emporsteigend, auf daß du mit
dem Propheten in Wahrhaftigkeit singest: »Es frohlocken
die Töchter Judas um deiner Gerichte willen; o Herr, denn du bist der höchste
Herr über die ganze Erde; überaus erhaben über alle Götter«
-
Zur höchsten Güte steigst du empor im Gedanken an Gott, den Allerbesten,
wenn du seine unermeßliche Barmherzigkeit bewunderst, umarmest und benedeist;
insofern sie von höchster Güte erfüllt in der Annahme unserer
menschlichen und sterblichen Natur, insofern sie der tiefsten Verwundung sich
preisgibt im Erleiden des Kreuzes und Todes, und insofern sie aufs höchste
freigebig in der Schenkung des Heiligen Geistes und der Einsetzung der Sakramente,
da er sich selbst, über alle Grenzen freigebig, mitteilt im Sakramente
des Altars, — indem du jene Worte des Psalmes aus ganzer Seele anstimmst:
»Mild ist der Herr allen Wesen, und seine Erbarmungen
über all seinen Werken.« —
Zur höchsten Heiligkeit steigst du empor im
Herzen, wenn du seine unbegreifliche Heiligkeit
betrachtest, bewunderst und - zu ihrer Ehre lobsingend mit den seligen Seraphim
das »Heilig, heilig, heilig« ertönen
lässest.
»Heilig« einmal, da er in sich selbst
die Heiligkeit auf solche Weise in höchster Art und Reinheit ist, daß
er unmöglich irgendein Nicht-heiliges will oder billigt;
»heilig« zum Zweiten, da er die Heiligkeit
in so vollkommener Weise an anderen liebt, daß er unmöglich denen,
die sie in Wahrheit beobachten, sei es der Gnade Geschenke entzieht, sei es
der Glorie Belohnungen verweigert;
»heilig« zum Dritten, da er so streng
das ihr Entgegengesetzte verabscheut, daß er unmöglich die Sünden
nicht verwirft oder ungestraft läßt. Wenn du so denkest in deinem
Herzen, wirst du mit dem Gesetzgeber singen: »Gott
ist getreu und ohne alle Bosheit, gerecht und gerade.«
3. Darauf wende die Augen deines
Geistes dem Gesetze Gottes zu, welches gebietet, daß du entgegenbringest
dem Allerhöchsten ein Herz voller Demut, dem Allergütigsten
ein Herz voll liebender Andacht, dem Allerheiligsten ein Herz, das sich
selbst als Opfer weiht. Ein Herz voller Demut sollst du dem Höchsten entgegenbringen
durch Ehrfurcht in der Gesinnung, durch Gehorsam in der Tat, durch Ehrerbietung
in Wort und Zeichen, so daß du gemäß der apostolischen Vorschrift
und Lehre »alles zur Ehre Gottes tust«.
—
Ein Herz voll liebender Andacht sollst du entgegenbringen dem Gütigsten
durch Bestürmung mit glühenden Gebeten, durch Verkosten geist¬licher
Süßigkeit, durch Abstattung vielfältigen Dankes, so daß
deine Seele beständig »durch die Wüste emporsteigt« zu
Gott, »wie eine Säule Rauches aus den Gewürzen
der Myrrhe und des Weihrauchs«. —
Ein Herz, das sich selbst als Opfer weiht, sollst du dem heiligsten Bräutigam
auf solche Weise entgegenbringen, daß in dir keinerlei verderbtes Gefallen
herrsche, sei es in Sinnesempfindung, sei es in Zustimmung, sei es in Anhänglichkeit
an leibliche Lust, — daß in dir sei kein Streben irdischer Gier,
keine Leidenschaft innerer Bosheit, so daß du, frei von aller Makel der
Sünde, mit dem Psalmisten singen kannst: »Es
werde mein Herz ohne Makel in deinen Rechtfertigungen, auf daß ich nicht
zugrunde gehe«.
4. Achte also mit Sorgfalt darauf
und siehe zu, ob du alles dieses seit deiner Jugend bewahrt: Wofern du es so
in deinem Gewissen befunden, so rechne nicht dir es zu, sondern danke es Gott
und seinem Geschenke. Wenn du aber entdeckst, daß du einmal oder öfter
in einem dieser Stücke oder in mehreren, vielleicht in allen auf schwere
oder leichte Art es hast fehlen lassen; sei es aus Schwäche, sei es aus
Unkenntnis oder aber mit vollem Wissen, so trachte danach, durch »unaussprechliche
Seufzer« mit Gott aufs neue versöhnt zu werden - und damit
du ihm Sühne erweisest, sollst du erfüllen dich lassen von dem Geiste
der Tugend; auf daß du mit dem Büßer wahrhaft singen und psallieren
könnest: »Denn unter der Geißel bin ich
allzeit, und mein Schmerz ist stets vor meinem Angesicht«.
5. Es muß jedoch der Schmerz
der Seele von zweierlei begleitet sein, damit er die Fähigkeit habe, die
Seele zu läutern und Gott zu versöhnen, - nämlich von der Furcht
vor Gottes Gericht und von der Glut innerer Sehnsucht, auf daß du fürchtend
wiedererlangst ein Herz; das voll Demut, dich sehnend ein Herz, das voll liebender
Andacht, Schmerzen fühlend ein Herz, das als Opfer geweiht. -
Fürchte also die göttlichen Gerichte, welche ein »tiefer
Abgrund« sind. Fürchte heftig, daß du, wenn auch von
einiger Bußfertigkeit, gleichwohl noch Gott mißfallen möchtest;
fürchte noch heftiger, daß du nach der Buße wiederum Gott beleidigst;
am heftigsten aber fürchte, daß du am Ende von Gott in die Ferne
weichest, für immer des Lichtes entbehrend, für immer brennend im
Feuer, niemals frei von dem nagenden Wurme, sowie es wahrhaft geschehen wird,
wenn du nicht nach wahrer Buße in der Gnade des Endes hinübergehest,
- so daß du mit dem Propheten singst: »Durchbohre
mit deiner Furcht mein Fleisch; denn vor deinem Gerichte bin ich in Bangen«.
6. Fühle auch Schmerz und
Not um der begangenen Sünden willen. Fühle heftigen Schmerz wegen
der Vernichtung alles Guten, das von Gott dir verliehen; fühle heftigeren
Schmerz, weil du Christus widerstritten, der für dich geboren ward und
gekreuzigt; fühle den heftigsten Schmerz, weil du Gott gering geschätzt,
- da durch Übertretung seiner Gebote du der Ehre beraubt hast seine Majestät,
geleugnet seine Wahrheit, beleidigt seine Güte, - überdies noch das
ganze Universum schändend, entstellend, verwirrend, indem du den göttlichen
Satzungen, Geboten und Urteilssprüchen dich widersetzend, Mißbrauch
getrieben hast mit allen Naturen, Schriften, Rechtfertigungen, Erbarmungen,
Gnadengaben und verheißenen Belohnungen, die um Gottes willen dir zu Gebote
standen. Hast du dies mit Hingebung ins Auge gefaßt, so
»trage Leid wie über einen eingebore¬nen Sohn; laß einem
Bache gleich Tränen fließen Tag und Nacht; ruhe nicht, und laß
nicht rasten deinen Augapfel«.
7. Gleichwohl sehne dich aber
nach den göttlichen Gnadengaben, durch die Flamme göttlicher Liebe
zu Gott dich erhebend, welcher dich, den Sünder, so geduldig ertragen,
so langmütig erwartet, so barmherzig zur Buße zurückgeführt;
der da Verzeihung gewährt, mit Gnade erfüllt und die Krone verheißt,
auf daß du ihm erstattest, - oder vielmehr von ihm selbst empfängst,
was du ihm nur wiedererstattest : »das Opfer eines
zerknirschten Geistes, eines betrübten Herzens, das sich demütigt«
in bitterer Reue, in wahrhafter Buße, in angemessener Genugtuung. Sehne
dich glühend nach dem göttlichen Wohlgefallen, geschenkt in der eingegossenen
Fülle des Heiligen Geistes, sehne dich glühender
nach der Gleichförmigkeit mit Gott, die erwächst in voller Nachahmung
des gekreuzigten Christus, sehne dich am glühendsten nach der Umfassung
Gottes in der eröffneten Anschauung des ewigen Vaters, auf daß du
wahrhaft mit dem Propheten singest: »Es dürstete
meine Seele nach Gott, dem Starken, Lebendigen; wann werde ich kommen und erscheinen
vor dem Angesicht Gottes«?
8. Damit du sodann diesen Geist
der Furcht, des Schmerzes und der Glut in deinem Innern bewahrest, sollst du
nach außen dich üben in jeglicher Sittsamkeit, Gerechtigkeit, Gottseligkeit,
so daß du nach der Lehre des Apostels »entsagend
der Gottlosigkeit und allen weltlichen Lüsten, sittsam, gerecht und gottselig
lebest in dieser Welt«. -
Übe dich denn in jeder Sittsamkeit, auf daß nach der Lehre des Apostels
»deine Sittsamkeit kund werde allen Menschen«.
Die Sittsamkeit des sparsamen Maßes übe in Speise und Kleidung, in
Schlaf und Wachen, in Muße und Arbeit, so daß du in nichts das Maß
überschreitest. Die Sittsamkeit der Zucht jedoch übe durch Maßhaltung
in Schweigen und Rede, in Trauer und Freude, in Milde und Strenge, je wie die
Gelegenheit es erfordert und die rechte Vernunft es vorschreibt. -
Die Sittsamkeit der Ehrbarkeit sollst du üben durch Regelung, Ordnung und
Mäßigung deiner Handlungen, Bewegungen, Gebärden, deiner Kleider
oder Gewänder, deiner Glieder und Sinne, so wie es Ehrbarkeit der Sitten
und Einhaltung geregelten Wandels verlangt, so daß du mit Recht zu jenen
gezählt werdest, zu denen der Apostel spricht: »Alles
geschehe bei euch in Ehrbarkeit und nach Ordnung«.
9. Übe dich auch in der Gerechtigkeit,
daß man wahrhaft auf dich jenes Wort des Propheten anwenden könne:
»Um der Wahrheit und Milde und Gerechtigkeit willen...« usw.
In ganzer Gerechtigkeit sollst
du dich üben durch den Eifer für Gottes Ehre, durch Beobachtung des
göttlichen Gesetzes, durch die Sehnsucht nach dem Heile deiner Brüder.
-
In geordneter Gerechtigkeit übe
dich durch Gehorsam im Hinblick auf die Oberen, durch Verträglichkeit im
Hinblick auf die Gleichstehenden, durch Zucht im Hinblick auf die Untergebenen.
-
In vollkommener Gerechtigkeit
sollst du dich der Art üben, daß du aller Wahrheit beistimmest, aller
Güte geneigt seiest, aller Bosheit widerstrebest, sowohl im Geist wie im
Wort oder im Werk, nichts einem andern zufügend, wovon du nicht willst,
daß es dir zugefügt werde, nichts einem andern verweigernd, wovon
du wünschest, daß es dir erteilt werde, so daß du jenen in
vollkommener Weise nachahmst, denen gesagt ward: »Wenn
eure Gerechtigkeit nicht überfließender ist denn jene der Pharisäer
und Schriftgelehrten, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen«.
10. Übe dich endlich in der
Gottseligkeit; denn, wie der Apostel sagt, »die
Gottseligkeit ist zu allem nützlich, und hat die Verheißung dieses
und des zukünftigen Lebens«.
Übe dich in der Gottseligkeit des Gottesdienstes, indem du voller Aufmerksamkeit,
Andacht und Ehrfurcht die kanonischen Tagzeiten betest, indem du täglich
deine Sünden bekennst und beweinst, indem du zu angemessener Zeit die allerheiligste
Eucharistie empfängst und täglich die heilige Messe hörst. –
Übe dich in der Gottseligkeit, die nach dem Heile der Seelen strebt, indem
du ihnen beistehst durch häufiges Gebet, durch unterweisende Rede, durch
den Antrieb des Beispiels, so daß »wer es
höret, reden mag: Komme«. Hierbei aber mußt du so weise
verfahren, daß du nicht an eigenem Heile Einbuße leidest. –
Übe dich in der Gottseligkeit der Linderung leiblicher Not, indem du trägst
mit Geduld, tröstest mit Freundlichkeit, Hilfe erweisest mit Demut, Heiterkeit
und Barmherzigkeit, auf daß du so erfüllest das göttliche Gesetz,
welches der Apostel ausspricht mit den Worten: »Der
eine von euch trage des anderen Lasten, und so werdet ihr erfüllen das
Gesetz Christi«.
Daß man alles dieses vollbringe, hierzu - so glaube ich - fließt
die Kraft vor allem aus der Erinnerung an den Gekreuzigten, durch welche dein
Geliebter gleich wie »ein Myrrhenbüschlein«
an dem »Busen« deines Gemütes
ständig »verweile«; was jener
dir zu verleihen sich würdige, der da gebenedeit ist von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Amen! S.137-145
Aus: Des Hl. Bonaventura Mystisch-Ascetische
Schriften, Erster Teil. Nach der Ausgabe von Quaracchi übertragen und herausgegeben
von Siegfried Johannes Hamburger, Theatiner-Verlag München 1923