Bonaventura, eigentlich Johannes Fidanza (1221 - 1274)

 

In Italien (Bagnoregio) geborener Philosoph, Theologe und Kirchenlehrer. Bonaventura war Franziskaner. 1257 vollendete er als General seines Ordens dessen Verfassung und Organisation. 1273 wurde er Kardinal und bereits 1482 heiliggesprochen (Tag: 15. 7.).
1587
wurde er zum Kirchenlehrer erklärt.
Neben Thomas von Aquino war Bonaventura die
führende Persönlichkeit der Hochscholastik.

Siehe auch Wikipedia, Heiligenlexikon und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Kritik am Aristotelismus
Von der Lenkung der Seele

Christus
Von den fünf Festen des Kindes Jesu


Kritik am Aristotelismus
III 2 Der Schlüssel der Theorie liegt also in einer dreifachen Erkenntnis, nämlich in der Erkenntnis des ungeschaffenen Wortes, durch das alles hervorgebracht wird, in der Erkenntnis des fleischgewordenen Wortes, durch das alles wiederhergestellt wird, und in der Erkenntnis des eingehauchten Wortes, durch das alles offenbart wird. Denn wenn jemand nicht zu sehen vermag, wie die Dinge aus ihrem Ursprung hervorgehen wie sie zu ihrem Ziel zurückgeführt werden und wie Gott in ihnen aufleuchtet, kann er keine Einsicht haben.

III 3 Über das erste heißt es im Römerbrief: »Das Unsichtbare Gottes ist seit der Erschaffung der Welt aus dem, was erschaffen wurde, geistig zu erblicken, auch seine ewige Kraft und seine Gottheit« [Röm. l,20]. Seine ewige Kraft und Gottheit werden durch die Wirkung erkannt, denn Gott ist der Grund von allem, und durch seine Kraft ist alles geschaffen worden. Dies geht gegen die Philosophen, die leugnen, dass Vielgestaltiges aus dem Einen und Identischen, das immer dasselbe bleibt, hervorgehe — aus dem Ewigen die zeitlichen Dinge, aus dem Wirklichsten Mögliches, aus dem Festesten die veränderlichen Dinge, aus dem Einfachsten die zusammengesetzten aus dem Höchsten die niedrigsten, sei doch die Wirkung der Ursache ähnlich, diese Ursache aber stehe in den genannten Hinsichten im Gegensatz zu ihrer Wirkung.

III 4
Der Zugang dazu liegt in der Erkenntnis des ungeschaffenen Wortes. Sie ist die Wurzel der Einsicht in alles. Wer deshalb diesen Zugang nicht hat, kann nicht eintreten. Die Philosophen aber halten das, was im höchsten Maße wahr ist, für unmöglich, weil ihnen der Zugang verschlossen ist. Wie dies aber eingesehen werden kann, sagt der Hebräerbrief. »Im Glauben sehen wir ein, daß die Welt im Wort Gottes gebildet worden ist, damit aus Unsichtbarem Sichtbares werde« [Hebr. 11,3]. Es ist aber unmöglich, dass der höchste Geist sich nicht selbst erkenne, und da das geistig Erkannte dem geistig Erkennenden gleicht, erkennt er alles, was er ist und was er kann. Folglich gleicht auch der Grund der Erkenntnis dem Intellekt, dessen Abbild er ist. Dieses Abbild aber ist das Wort, weil, nach Augustin und Anselm, das Bild des sich auf sich zurückwendenden Geistes, das in der Sehkraft des Geistes entsteht, das Wort ist. Wenn dieses Bild gleich ist, so ist es Gott, und da es von Gott seinen Ursprung nimmt, stellt es den Ursprungsgebenden dar und alles, was der Vater vermag. Also stellt es Vieles dar.

Ferner: Da es die Kraft des Vaters darstellt, stellt es die geeinteste Kraft dar. Aber je geeinter eine Kraft ist, um so grenzenloser ist sie. Also kann jenes Abbild Unendliches darstellen. Und so ist es notwendig, dass aus dem Einen Vieles entstehe. Wenn du also das Wort erkennst, erkennst du alles Wissbare. Der Jude aber kann das nicht erkennen, und doch sagt die Schrift: »Gott sprach: Es werde Licht«. [Gen. 1,3], und immer wieder: »Gott sprach«, d. h., er zeugte das Wort, in dem er alles geordnet hat, und in diesem Ordnen erschaffte er alles. Daher sagt Augustin in den Bekenntnissen:» Durch dein gleichewiges Wort erschaffst du alles, und nur durch Sprechen erschaffst du, dennoch erschaffst du nicht ewig, was du ewig sprichst.«

III 5 Könnte nämlich die Eins ihre ganze Kraft erkennen, dann sähe und erkennte sie alle Zahlen. Und erkennte der Punkt seine ganze Kraft, dann erkennte er alle Linien im Mittelpunkt. Die Eins ist aber im höheren Maß Prinzip als der Punkt, denn die Eins ist ein wesenhafter Teil der Zahl, der Punkt aber ist Prinzip, nicht Teil. Auch ist keines von beiden ein aktives Prinzip. Da aber der erste Intellekt ein tätiges Prinzip ist, ist es notwendig, dass er alles in seinem Ebenbilde anordne und alles ausdrücke.

III 6 Ferner: Vom Ewigen stammen alle zeitlichen Dinge. Denn was aus dem Vater hervorgeht, geht auf geordnete Weise hervor, und das eine ist der Grund des anderen nach der Rangordnung des Wesens und nach der Abfolge der Zeit. Folglich stellt das Wort die Dinge so dar, wie sie in Wirklichkeit hervorgebracht werden. Wie nämlich in meiner Erwartung oder in meinem Gedächtnis viele zukünftige Dinge sein können — und zwar eines weiter entfernt als ein anderes — und wie daraus nicht folgt, dass, wenn sie sich ereignen, in meinem Gedächtnis eine Änderung geschieht — so gibt es auch im Wort keine Veränderung. Wenn es nämlich eine einzelne Seele erschafft, ändert es sich nicht, weil es von Ewigkeit her gesagt hat, diese Seele sei jetzt zu erschaffen. Deshalb erschafft es jetzt in demselben Ausspruch, in dem es von Ewigkeit her sprach, so wie — vorausgesetzt, mein Wollen wäre mein Können -, wenn ich jetzt wollte, dass morgen eine Sache entstünde, keine Veränderung in mir stattfände, wenn sie geschähe. Sie fände statt, wenn ich zuerst nicht wollte, danach aber wollte.

III 7 Ferner: Aus dem Wirklichsten entstehen mögliche oder stoffliche Dinge. Denn wir erkennen den Vater als den von sich her hervorbringenden Grund, als einen aus dem Nichts hervorbringenden Grund, auch als einen aus vorliegendem Stoff hervorbringenden Grund. Und das Wort bringt den Vater zum Ausdruck als einen von sich her hervorbringenden Grund, und so entfaltet und stellt es dar die Hervorbringung des Heiligen Geistes und seine eigene, insofern des Ewigen. Es bringt aber auch den Vater zum Ausdruck, sofern er etwas aus nichts hervorbringt, und so stellt es dar die Hervorbringung der Immerdauernden, wie der Engel und der Seelen. Es stellt ihn aber auch dar als einen, der etwas aus etwas wie aus einem Stoff hervorbringt. Was aber aus einem anderen entsteht, das ist, bevor es entsteht, der Möglichkeit nach. Darum stellt das Wort notwendigerweise auch Mögliches dar. Notwendigerweise entsteht also aus dem Wirklichsten Mögliches.

III 8 Und dieses Ebenbild bzw. dieses Wort ist die Wahrheit. Was ist Wahrheit ihrer Definition nach? Die Übereinstimmung des Intellekts und der geistig erkannten Sache, ich meine: jenes Intellekts, der Grund der Sache ist, nicht meines Intellekts, der nicht Grund der Sache ist.

Diese Übereinstimmung ist wahr, wenn eine Sache nach den verschiedenen Kategorien ihre quantitative, qualitative, relative, aktive, passive, raum-zeitliche und ihre Lage festlegende Bestimmtheit hat. Dann nämlich sind die Sachen wahr, wenn sie in Wirklichkeit oder im Universum so sind, wie sie in der ewigen Kunst sind oder wie sie dort zum Ausdruck gebracht werden. Eine Sache ist nämlich so weit wahr, wie sie dem begründenden Intellekt gleicht. Weil sie aber niemals vollkommen dem Grund gleicht, der sie zum Ausdruck bringt oder darstellt, deswegen ist nach Augustin alles Geschaffene Lüge. Eine übereinstimmende Sache ist aber nicht ihre Übereinstimmung. Also ist es notwendig, daß das Wort oder das Ebenbild oder der Vernunftgrund die Wahrheit sei. Dort ist die Wahrheit des Geschaffenen, und die niedrigsten Wesen werden durch das Wort ebenso zur Darstellung gebracht wie die höchsten. Obwohl also ein Engel als Bild Gottes mehr Anteil hat an ranghöheren Bestimmungen als ein Wurm, so ist im Hinblick auf die Urbildlichkeit der Wesensgrund eines Engels nicht ranghöher als der eines Wurmes. Denn der Wesensgrund des Wurms bringt den Wurm zum Ausdruck und stellt ihn dar, so wie der Wesensgrund des Engels den Engel. Und darin ist der Engel nicht ranghöher als der Wurm. Jedes Erschaffene ist aber ein Schatten im Verhältnis zu seinem Schöpfer.


III 9 Und so ist offensichtlich, daß vom Wirklichsten das Mögliche, vom Festesten die veränderlichen Dinge und vom Erhabensten die niedrigsten Dinge stammen. Und wie die Sonne, indem sie leuchtet, die Verschiedenheit und Vielfalt der Farben schafft, so stammt aus jenem Wort die Vielfalt der Dinge. Deshalb gibt es keine geistige Einsicht außer durch das Wort.

V 19 Das dritte ist die Norm des Regierens, d. h., wie ein Herrscher sich zum Volk verhalten soll und umgekehrt.

Auch dies geht hervor aus der ersten Wahrheit, daß das Volk mitreden soll, wenn der Herrscher straft und rächt. Der Herrscher soll nicht seinen Nutzen suchen, sondern den des Staates. Aristoteles sagt, der Unterschied zwischen Tyrann und Herrscher bestehe darin, dass der Tyrann seinen eigenen Vorteil sucht, wie Herodes, der aus Furcht, sein Königreich zu verlieren, gegen die kleinen Jungen wütete, während der Herrscher auf den gemeinsamen Nutzen sinnt. Dennoch ist es heute eine große Schande mit den Regierenden. Man macht nur den zum Kapitän eines Schiffs, der die Kunst des Steuerns beherrscht. Wie kann man dann aber im Staat jemanden aufstellen, der vom Regieren nichts versteht? Daher kommt es: Wenn sie durch Erbfolge regieren, wird der Staat schlecht regiert. David war sehr heilig; Salomon, obwohl sehr schlüpfrig, war dennoch weise; Roboam war töricht, denn er teilte das Reich. Die Römer wählten durch Teufelskunst den Diokletian. Sie wurden geheißen, jemanden zu wählen, der von einem Tisch aus Eisen aß. Da fanden sie ihn, wie er von einer Pflugschar aß. Aber nachher hat er vieles Schlechte gemacht. So haben also die Römer, solange sie ihre Herrscher wählten, sehr weise Herrscher gewählt, und damals wurde der Staat gut regiert. Aber als sie später zur Erbfolge übergingen, wurde das Ganze zerstört.


V 20 Das letzte ist der Maßstab des Beurteilens, damit der Mensch weiß, wie er über jedwede Sache urteilen soll — was Personen, Sachen und Handlungsweisen angeht. Dies alles kommt aus der ersten Wahrheit.

V 21 Aber in alledem ist der Verstand ausschweifend geworden. Ausschweifend geworden ist auch die Metaphysik. Denn einige behaupteten eine ewige Welt, weil bei einer ewigen Ursache auch die Wirkung ewig sei. Und diese haben schlecht über die erste Ursache gedacht. Ähnlich die Mathematiker: Zuerst erkannten sie die Zahlen, und später gingen sie dazu über, Gestirneinwirkungen und die Geheimnisse der Willensentscheidungen zu erforschen. Die Naturforscher wußten etwas über Körper und Mineralien. Dann sagten sie sich: »Die Technik ahmt die Natur nach«, und wir kennen die Geheimnisse der Natur, also werden wir euch Gold und Silber machen. So haben auch die Grammatiker mit Gedichten und Geschichten die ganze Welt beherrscht, bis die Heiligen gegen sie aufstanden. So haben auch die Logiker mit ihren Scheinbeweisen und ihren falschen Thesen die Welt verrückt gemacht. Entsprechend freuten die Rhetoren sich so sehr an der äußeren Form der Rede, dass sie sagten, das Reich Gottes bestehe in nichts anderem. Dennoch ist die Rhetorik jetzt verschwunden Die Ethik wurde nicht so verdorben, weil sie nicht bei reiner Theorie stehenbleibt. Aber die Rechtswissenschaft wird stark korrumpiert aus Profitgier, und die Prozesse, die durch das Recht beendet werden sollten, werden jetzt durch Verschleppung und juristische Spitzfindigkeiten endlos, wo es doch die Aufgabe des Rechts ist, die Prozesse abzukürzen.

V 22 Dies sind die neun Lichter, die die Seele erleuchten, nämlich die Wahrheit der Sachen, der Worte und der Sitten.

Die Wahrheit der Sachen — das ist die der Wesenheiten, der äußeren Gestalten, der Naturen, und zwar im Hinblick auf die verborgenen Unterschiede der Washeiten, sodann im Hinblick auf die zutage liegenden Proportionen der Quantitäten und schließlich im Hinblick auf die gemischten Eigentümlichkeiten der Naturen. Die erste behandelt die Metaphysik, die zweite die Mathematik, die dritte die Naturforschung oder Physik.

Die Wahrheit der Worte ist dreifach, nämlich die der Aussagen, der Schlussfolgerungen, des Überzeugens. Erstens, sofern Aussagen die Begriffe des Geistes anzeigen; zweitens, sofern Schlussfolgerungen die Zustimmung des Geistes nach sich ziehen; drittens, sofern das Überzeugen die Affekte des Geistes beeinflusst. Das erste behandelt die Grammatik, das zweite die Logik, das dritte die Rhetorik.

Die Wahrheit der Sitten ist dreifach; Sie bezieht sich auf äußeres Benehmen, innere Anstrengungen und auf Rechtsverhältnisse. Äußeres Benehmen, das betrifft gewohnheitsmäßiges Verhalten; innere Anstrengungen, das betrifft intellektuelle Tätigkeiten; Rechtsverhältnisse, das betrifft die staatlichen Gesetze. Das erste ist das richtige Handeln als gewohnheitsmäßige Lebensform; das zweite ist die intellektuelle Tugend, das dritte die Tugend des rechtlichen Bereichs.

Dieses neunfache Wissen stifteten die Philosophen, und sie waren dabei erleuchtet. Gott nämlich hat es ihnen enthüllt. Danach wollten sie zur Weisheit vordringen, und die Wahrheit zog sie dorthin. Und dabei versprachen sie — ich meine, sie versprachen ihren Schülern — die Weisheit, das heißt aber: die Glückseligkeit, den »ans Ziel gelangten Intellekt« zu geben. Aber sie versagten.

V 23 Weil aber die Philosophen doch in ihrer Betrachtungsweise irgendwie »das Licht von der Finsternis scheiden« [Gen. 1,43] müssen wir jetzt sehen, wie sie dazu gelangten. Denn indem sie sich von der Finsternis schieden, haben sie sich dem Licht zugewandt. Dies geschieht aber dadurch, dass die Seele sich zuerst auf sich zurückwendet, zweitens auf die spirituellen Geistwesen, drittens auf die ewigen Gründe.

V 24 Zuerst also muß man sich selbst sehen, nicht wie das sinnliche Auge, das sich nur durch Widerspiegelung im Spiegel sehen kann, sondern wie das Auge des Geistes, das zuerst sich sieht und danach anderes. Doch dazu gehört, dass jemand sich auf seine Fähigkeiten und Tätigkeiten zurückwendet. Die Seele hat nämlich drei Fähigkeiten, die beseelende, die intellektuelle und die göttliche. Dem entspricht ein dreifaches Auge, das der Sinne, das des Verstandes, das der Schau. Das erste ist lebenskräftig, das zweite tappt im Finstern, das dritte steht geblendet.

Die beseelende Fähigkeit ist zweifach. Sie geht entweder auf die Gegenstände der einzelnen Sinne und des Gemeinsinnes oder auf die Vorstellungsbilder der Sinnendinge und ist so Wahrnehmung und Vorstellung.

Auch die intellektuelle Fähigkeit ist zweifach: Entweder betrachtet sie die allgemeinen, vom Stoff abgelösten Wesensgründe, absehend von Raum, Zeit und Ausdehnung, oder sie erhebt sich zu den selbständigen Geistwesen. Und dies sind zwei Vermögen: Verstand
[ratio] und Vernunft [intellectus]. Mit dem Verstand vergleicht es, mit der Vernunft erkennt es sich selbst und die geistigen Wesen, und dann verbindet es sich den reinen Geistern [intelligentiae] und tritt ein in ihre Zeitlosigkeit.

Entsprechend ist auch die göttliche Tätigkeit oder Fähigkeit zweifach: Die erste wendet sich dem Anschauen der göttlichen Schauspiele, die zweite dem Verkosten göttlicher Tröstungen zu. Das erste geschieht durch die Einsicht [intelligentia], das zweite durch die Kraft der Vereinigung oder der Liebe, die verborgen ist und von der sie wenig oder gar nichts wussten.

V 25 Also gibt es eine dreifache Fähigkeit und sechs Tätigkeiten. Und wenn die Seele alle diese Gegenstände anschaut, kehrt sie zu sich selbst zurück und wird ein überaus schöner und klarer Spiegel, in dem sie alles sieht, was Glanz und Schönheit hat, wie man in einem geputzten Spiegel sein Bild sieht. Doch dazu braucht es auch die natürliche oder künstliche Undurchdringlichkeit, die natürliche wie bei einem Spiegel aus Stahl, die künstliche, wenn dem Glas Blei unterlegt wird. Und durch diese Undurchdringlichkeit wird das widerspiegelnde Bild festgehalten. Zweitens ist das Putzen nötig, wodurch er Gestalt oder Bild aufnimmt. Drittens braucht es ein Leuchten, denn in der Nacht gibt der Spiegel nichts wieder. Dem entsprechen in der Seele die Kräfte: Die niederen Kräfte halten gewissermaßen das Licht fest, damit es nicht wegfließe. Die mittleren Kräfte sind wie das Putzen, die obersten sind wie das hinzukommende Leuchten. Und so ist die Seele ein Spiegel.

V 26 Aber wir brauchen eine Zwischenstufe: Der Spiegel der Seele muss den schönen Gestalten, den ihm entsprechenden Himmelslichtern, den Engeln nämlich, entgegengehalten werden. Denn wenn er sich unmittelbar zur göttlichen Lichtfülle erhöbe, wurde er zurückgeschlagen. Die Engel hingegen sind sowohl Lichter als auch Spiegel. Auf dreifache Art wird die Seele zu ihrer Anschauung erhoben:

Die Engel haben Kräfte — es sind ihre niedersten —, mit denen sie die Bewegungen der Himmelskörper regeln und das Geschehen in der niederen Welt beeinflussen. Und das ist die Ansicht der Philosophen. Steht doch fest, daß die Ursache ranghöher ist als die Wirkung und daß das Lebendige und Beseelte entsteht bzw. gezeugt wird unter dem Einfluß der Himmelskörper, folglich auch die Seele. Wenn also das Beseelte ranghöher ist als Unbeseeltes, dann muß es eine andere Ursache haben als jene Körper. Und diese besteht im Einfluß der Engel zusammen mit dem der Himmelskörper. Daher geschieht dies aufgrund der Leitung einer geistigen Substanz, welche die Bewegung der Himmelssphäre beeinflußt, die sie regiert. — Andere behaupteten, die Zahl der Engel sei bestimmt nach der Zahl der Sphärenbewegungen, wegen ihrer naturhaften Zuordnung zur Himmelsbewegung. — Andere behaupteten, es gebe nur zehn reine Geiste
r [intelligentiae]. Sie hatten dabei die Weise ihres Einwirkens im Auge. Aber sie schufen damit nur Dummheiten und Zänkereien. Ein Engel kann sehr wohl sein, ohne Himmelsschalen zu bewegen.

V 27 Ferner sind in den Engeln Kräfte, die sich auf vernunftbegabte Seelen beziehen. Mit ihnen leiten sie die Menschen. Die Engel bringen nämlich Lichtstrahlen herab und Geistseelen hinauf, damit diese Erleuchtungen empfangen.

Sie haben also eine Kraft des Herabbringens, weil sie in gewissem Sinn Lichter und Durchgang sind und weil sie in sich für uns den göttlichen Lichtstrahl abschwächen, damit er uns mehr entspricht. Dann ist in ihnen aber auch eine Kraft des Hinaufbringens. Mit ihr bereiten sie uns durch ihr Herabsteigen und ihr Hinaufbringen für das Empfangen jenes Lichtstrahls vor, aber nicht so, als ob sie dies selbst vollbrächten. Ferner ist in ihnen eine höchste Kraft, mit der sie sich Gott zuwenden zum Empfang der Erleuchtungen und des ewigen Lichts, das sie lieben. Und alles führen sie zu diesem Licht zurück, so daß es sich Gott in Liebe und Lob zuwendet. Und weil die Seele in Zukunft das Leben der Engel teilen soll, deswegen will Gott, dass sie deren Beispiel annimmt und in diesem Leben, soweit dies möglich ist, sich unter sie mischt. Darum fragt Gott im Buch Hiob den Menschen: »Wo warst du, als mich die morgendlichen Sterne lobten und alle Söhne Gottes« — das sind die Engel — »jubelten« [Hiob 38,4]? Und dies alles haben die Philosophen irgendwie bemerkt.

V 28 Drittens wendet sich die Seele den ewigen Wesensgründen zu, und dies geschieht auf dreifache Weise, nämlich schlußfolgernd, durch einfache Einsicht, in direkter Erfahrung.

Auf dem Wege des Verstandes kommt die Seele zur Erkenntnis der ewigen Wesensgründe, indem sie die Bestimmungen des ersten, ungeschaffenen Seienden mit denen des geschaffenen Seienden vergleichend betrachtet. Es sagt aber der Verstand, daß das erste Seiende oder die erste Ursache des Seienden durch sich selbst ist, das Verursachte hingegen ist hervorgebracht oder erschaffen. Die erste Ursache ist einfach, das Verursachte ist zusammengesetzt, die erste Ursache ist rein, das Verursachte vermischt; die erste Ursache ist fest bestimmt, das Verursachte veränderlich; die erste Ursache ist selbständig, das Verursachte gebunden; die erste Ursache ist vollkommen, das Verursachte ist eingeschränkt. Und weil, wie es im Buch der Weisheit 3,9 heißt, die Seele das, was naheliegt, findet, wenn auch mit Mühe, geht sie von dem Nachgeordneten über zum Ersten, indem sie so schlussfolgert: Wenn es ein hervorgebrachtes Seiendes gibt, so muss man ein erstes Hervorbringendes annehmen. Ferner: Wenn es ein Zusammengesetztes gibt, muss es ein erstes, völlig Einfaches geben. Und ebenso bei den anderen Bestimmungen.


V 29 Die Einsicht kommt zum Licht der ewigen Wesensgründe auf drei Wegen: schlußfolgernd, durch Erfahrung, durch einfache Einsicht.
Auf dem Weg des Verstandes wie folgt: Gibt es hervorgebrachtes Seiendes, dann gibt es auch ein erstes Seiendes, weil mit der Wirkung auch die Ursache gesetzt ist. Denn wenn es ein Seiendes gibt, das von einem anderen stammt, das gemäß einem anderen und wegen eines anderen ist, dann gibt es auch ein Seiendes aus sich selbst, das sich selbst gemäß und um seinetwillen ist.

Ferner: Wenn es ein zusammengesetztes Seiendes gibt, muß ein einfaches Sein existieren, von dem es das Sein hat, denn Sein, das von der Einfachheit abweicht, stürzt in die Zusammensetzung.

Ferner: Gibt es ein vermischtes Seiendes, so gibt es notwendigerweise auch ein reines Sein. Nichts Geschaffenes aber ist rein.

Ferner: Gibt es ein wesentlich verändertes Seiendes, so muß es auch ein fest Bestimmtes geben, weil das Veränderliche auf das Unveränderliche zurückgeführt wird. Wird die Hand bewegt, ruht der Ellenbogen, und wird der Ellenbogen bewegt, ruht die Schulter. Und so wird immer das, was bewegt wird, von etwas Festem bewegt werden.

Ferner: Gibt es ein Gebundenes, dann gibt es auch ein Selbständiges [absolutum]. Aber jedes Geschaffene ist an eine bestimmte Kategorie gebunden. Aber was gebunden ist, gibt dem anderen nicht das Sein. Also muss es ein Selbständiges geben, von dem sie das Sein empfangen.

Ferner: Wenn es ein eingeschränktes Seiendes gibt, dann muss es ein vollkommenes Seiendes geben.

Auf diesem Weg ging Aristoteles dahin weiter, die Ewigkeit der Welt zu beweisen, weil jeder Bewegung und Veränderung die kreisförmige Ortsbewegung vorausgeht, die nämlich vollkommen ist. Aber ich erwidere: Dass das Vollkommene dem Verminderten vorausgeht, das gilt vom schlechthin Vollkommenen, nicht von dem, was in einer bestimmten Gattung vollkommen ist, wie die Kreisbewegung es ist.

Und das ist die Art, wie die Einsicht schlussfolgernd zu den ewigen Wesensgründen kommt.


V 30 Entsprechend kommt sie aus Erfahrung dorthin, und zwar so: Das Hervorgebrachte ist im Vergleich zum ersten Wesen mangelhaft. Ebenso das Zusammengesetzte im Vergleich zum Einfachen und das Vermischte im Vergleich zum Reinen. So auch bei den anderen Bestimmungen. Die Seele macht so die Erfahrung, daß das Abgeleitete vom Grundlegenden stammt. Was wir haben, erkennen wir, wenn wir seiner beraubt sind, und so wird in der Erfahrungserkenntnis das Vollkommene nur durch das Unvollkommene erfaßt und das Gerade nur durch das Krumme. Und dies ist auch der Weg Augustins sowie aller derer, die eine Umkehr mitmachen: Wenn du das einsiehst, mußt du erkennen, was es ist, das dies Licht gibt. Und dieser Weg, der ein Erfahrungsweg ist, ist uns gewissermaßen angeboren.

V 31 Drittens wendet die Seele sich zum ersten Wesen auf dem Weg der einfachen Einsicht, im reinen Hinblicken und Anschauen, z. B. wenn sie die folgende Aussage einsieht:

»Nur dem ersten Sein kommt Sein im eigentlichen Sinn zu«, oder: »Das Sein ist das Vollkommene, d. h. das, worüber hinaus Besseres nicht gedacht werden kann«, denn Besseres als Gott kann nicht gedacht werden, und er kann, wie Anselm beweist, nicht als nicht-seiend gedacht werden.

V 32 Wenn die Seele dies erfasst in einfacher Schau, dann sagt man von ihr, sie wende sich ganz vertraut zu Gott und ruhe dann. Da sie in sich trägt, was die erste Substanz, die erste Kraft und die erste Tätigkeit ist, erkennt sie deren Einheit, Wahrheit und Gutheit entsprechend den genannten sechs Grundbedingungen (wie z. B. einfach-zusammengesetzt, rein-
vermischt) und dass es in ihm ein erstes und einfaches Gedächtnis, eine ebensolche Einsicht und einen solchen Willen gibt, ferner, dass es in ihm Leben, Weisheit, Freude wiederum gemäß jenen sechs Grundbestimmungen gibt, ferner, dass er wesenhaft glückselig ist und die anderen beseligt, also das ist, was man am meisten anstrebt.


Dies schauend ruht die Seele. Denn aus diesem Grund ist sie selbst wie ein Spiegel und sind die Engel wie Lichter. Ruhend im göttlichen Anblick ist sie vollkommen, und dann erkennt sie, dass sie einen »ans Ziel gelangten Intellekt« hat. Dieser ist eine Art Herabkommen und eine Art Anschmiegung der ersten Wesen an die letzten wie durch den Weg eines Schlusses [conclusio].

V 33 Diesen Intellekt oder diesen letzten Anblick des Lichtes haben die Philosophen versprochen. Aber da sie sahen, dass sie dahin nur durch die höchste Aktivität des sittlichen Lebens gelangen könnten, übten sie sich sehr in den reinigenden Tugenden und in den Tugenden der gereinigten Seele, wie es an Sokrates offensichtlich ist, der in der Lebensführung der Größte war. Und nach Gregor gründen sich die anderen, die das erste Licht erreichen wollen, auf diesen Weg.

Über die erste urbildliche Ursache der Tugenden (Collatio VI)
VI 1 »Gott sah das Licht, dass es gut war, und er schied das Licht von der Finsternis» [Gen. 1,4].

Dieses Wort wurde gewählt wegen des ersten Anschauens, das dem Geist von Natur aus eingegeben ist. »Gott sah das Licht«, d. h., er machte sehen. Darüber wurde oben in zwei Ansprachen geredet, über das Sehen als wissenschaftliche Untersuchung, weil das Licht strahlt als Wahrheit der Sachen, der Worte und der Sitten. Und es wurden neun Disziplinen unterschieden, von denen drei die grundlegenden Strahlen sind, die nach Augustin aus dem Wort des ewigen Lichtes stammen.

Ferner: »Er sah«, d. h., er machte sehen durch betrachtende Weisheit, indem er die Seele in ihr selbst wie einen Spiegel, in einem Geistwesen [intelligentia] wie in einem nach unten durchlässigen Medium und im ungeschaffenen Licht wie in seiner Quelle erleuchtete, und zwar entsprechend den sechs Grundbestimmungen, die er dem Geist einprägt. Und ihnen folgend steigt die Seele auf zu jenem Licht durch Schlußfolgern, durch direkte Erfahrung, durch einfache Einsicht, wie gesagt. Und dahin gelangten die Philosophen, die edlen von ihnen und die Alten, daß ein Prinzip existiert und ein Ziel und ein urbildlicher Wesensgrund.

VI 2 Wenn Gott also »das Licht schied von der Finsternis«, so sollte dies ebenso für die Philosophen wie für die Engel gelten. Aber woher kam es, daß einige der Finsternis gefolgt sind? Das kam daher, daß sie, obwohl alle in der ersten Ursache den Anfang und das Ziel von allem erkannt haben, in bezug auf die Mitte sich geschieden haben. Denn einige leugneten, daß es in der ersten Ursache Urbilder der Dinge gebe. Deren Anführer war offenbar Aristoteles, der am Anfang und am Ende seiner Metaphysik sowie an vielen anderen Stellen die Ideen Platons verwirft. Deswegen behauptet er, Gott wisse nur von sich und bedürfe nicht der Kenntnis irgendeines anderen Dinges. Und er bewege als ein Ersehntes und Geliebtes. Daraus folgern sie, daß er nichts oder nichts Einzelnes erkenne. Darum hat vor allem Aristoteles die Ideen bekämpft, so auch in seiner Ethik. Er sagt dort, das höchste Gut könne keine Idee sein. Aber seine Argumente taugen nichts, und der Kommentator hat sie widerlegt.

VI 3 Aus diesem Irrtum folgt ein anderer Irrtum, nämlich daß Gott kein Vorherwissen und keine Vorsehung besitze, weil er nicht die Wesensgründe der Dinge in sich trage, durch die er sie erkenne.

Sie sagen ferner, es gebe keine Wahrheit über zukünftige Ereignisse außer der Wahrheit der notwendigen Verknüpfungen, und die Wahrheit zufälliger Ereignisse sei keine Wahrheit. Daraus folgt, daß alles entweder aus Zufall oder aus schicksalhafter Notwendigkeit geschieht. Und weil Entstehen aus Zufall unmöglich ist, führten die Araber die schicksalhafte Notwendigkeit ein, in dem Sinne, daß die sphärenbewegenden Substanzen die notwendigen Ursachen von allem seien. Infolgedessen wird die Wahrheit darüber verdunkelt, daß die Weltdinge im Hinblick auf Strafen und Herrlichkeit eingerichtet sind. Wenn nämlich jene Substanzen irrtumslos alles bewegen, braucht man weder die Hölle noch die Existenz des Satans zu behaupten. Und Aristoteles hat niemals die Existenz des Satans oder die Glückseligkeit nach diesem Leben behauptet. Er nahm auch an, es gebe nicht mehr Engel als Sternschalen.

Dies ist also ein dreifacher Irrtum, nämlich die Bestreitung der Urbildlichkeit, der göttlichen Vorsehung, der göttlichen Einrichtung des Weltlaufs.

VI 4 Daraus folgt eine dreifache Blindheit oder ein dreifaches Dunkel. Die erste betrifft die Ewigkeit der Welt, wie Aristoteles sie offenbar behauptet hat, allen griechischen Kirchenlehrern zufolge, wie Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz, Damascenus, Basilius und allen arabischen Kommentatoren zufolge, die sagen, Aristoteles habe so gedacht, und sein Wortlaut stimmt offenbar damit überein. Du wirst niemals finden, daß er selbst sagte, die Welt habe einen Ursprung oder einen Anfang. Er wies sogar Platon zurück, der offenbar als einziger lehrte, die Zeit habe einen Anfang gehabt. Damit widerstreitet er dem Licht der Wahrheit.

Daraus folgt eine zweite Blindheit, die über die Einheit des Intellekts. Denn wenn behauptet wird, die Welt sei ewig, dann ergibt sich eine der folgenden Konsequenzen: Entweder, daß es unendlich viele Seelen gibt, weil es unendlich viele Menschen gab, oder daß die Seele vergänglich ist oder daß die Seele von einem Körper zum anderen wandert oder daß es in allen Menschen nur einen Intellekt gibt. Dieser Irrtum wird von Averroes dem Aristoteles zugeschrieben. Aus beidem folgt, daß es nach diesem Leben weder Glückseligkeit noch Strafe gibt.

VI 5 Diese stürzten in Irrtümer und wurden von der Finsternis nicht geschieden. Und das sind die schlimmsten Irrtümer. Und auch jetzt sind sie noch nicht eingeschlossen mit dem Schlüssel zum Schlund des Abgrunds. Das ist die Finsternis Ägyptens. Obwohl in ihnen aus den vorangehenden Wissenschaften ein großes Licht zu leuchten schien, wurde es doch durch die genannten Irrtümer völlig ausgelöscht. Und andere, da sie sehen, wie groß Aristoteles in anderen Dingen war und wie sehr er die Wahrheit sagte, können nicht glauben, daß er nicht auch in diesen Dingen etwas Wahres gesagt habe.

VI 6 Ich sage also: Jenes ewige Licht ist das Urbild von allem, und ein Geist, der wie der Geist der anderen edlen Philosophen der Antike emporgehoben wird, kann zu ihm gelangen. In jenem Licht begegnen also der Seele zuerst die Urbilder der Tugenden. Denn, wie Plotin sagt, wäre es absurd, wenn die Urbilder der anderen Dinge in Gott wären, nicht aber die Urbilder der Tugenden.

VI 7 Zuerst leuchten also in dem ewigen Licht die urbildhaften Tugenden oder die Urbilder der Tugenden auf, die Erhabenheit der Reinheit, die Schönheit der Klarheit, die Stärke der Tugend, die Richtigkeit ihrer Verteilung, wovon Philo, der redegewaltige Jude, als Philosoph gesprochen hat. Wenn es im siebten Buch der Weisheit heißt: »Sie ist nämlich ein Hauch der Kraft Gottes und ein lauteres Ausströmen der Klarheit des allmächtigen Gottes. Nichts Beflecktes dringt in sie ein«, siehe, das ist die Erhabenheit der Reinheit. — »Sie ist der Glanz des ewigen Lichtes und ein makelloser Spiegel der Majestät Gottes und ein Bild seiner Güte.« Und weiter: »Sie ist nämlich schöner als die Sonne und als die Ordnung der Sterne. Im Vergleich mit dem Licht hat sie den Vorrang« [Weish. 7,25—29], siehe, das ist die Schönheit der Klarheit. Denn wo Spiegel, Bild und Abglanz, da ist notwendigerweise Darstellung und Schönheit. Schönheit ist nichts anderes als zahlenhafte Gleichheit. Dort aber sind die zahlenhaften Wesensgründe zur Einheit zurückgeführt. Und weil sie so überaus schön ist, reicht sie überall hin in ihrer Lauterkeit.

VI 8 Daraus folgt, daß sie sehr stark ist. Deswegen heißt es: »Die Bosheit besiegt nicht die Weisheit. In ihrer Stärke reicht sie von einem Ende zum anderen» [Weish. 7,30], siehe, das ist die Stärke der Tugend. Sie reicht vom Höchsten oder Obersten bis zum Niedrigsten, vom Inneren bis nach außen, vom Ersten bis zum Letzten, denn das Zentrum ihrer Macht ist überall, daher ist sie unendliche Kraft.

VI 9 Daher kommt die Richtigkeit ihrer Verteilung, siehe, das ist die Gerechtigkeit. Und deswegen sagt der Verfasser des Buches der Weisheit: »Sie ordnet alles auf sanfte Weise.« Und weil er als Philosoph und als Liebhaber der Weisheit spricht, sagt er: »Sie habe ich geliebt und von meiner Jugend an gesucht, und ich habe begehrt, sie als Braut zu nehmen und ich wurde ein Liebhaber ihrer Gestalt.« Nicht nur um ihrer selbst willen, sondern weil in der Folge durch sie ähnliche Eigenschaften in mir entstehen. Deswegen heißt es gleich darauf: »Nüchternheit und Klugheit, Gerechtigkeit und Tugend lehrt sie. Nichts ist nützlicher im Leben der Menschen« [Weish. 8,1—7].

VI 10
Diese Tugenden werden in die Seele durch jenes urbildliche Licht eingeprägt, und sie steigen herab in Erkennen, Fühlen und Wirken. Aus der Erhabenheit der Reinheit wird uns die unverstellte Mäßigung eingeprägt, aus der Schönheit der Klarheit die Heiterkeit der Klugheit, aus der Stärke der Tugend die Festigkeit des Standhaltens, aus der Richtigkeit der Verteilung die Sanftheit der Gerechtigkeit. — Dies sind die vier urbildlichen Tugenden, von denen die ganze Hl. Schrift spricht, und von denen Aristoteles nichts wußte, wohl aber die alten, edlen Philosophen.

XIX 6
Die Art des Studierens soll vier Grundbedingungen aufweisen: Ordnung, Ausdauer, Wohlgefallen, Maßhalten.

Die Ordnung wird von Verschiedenen verschieden aufgefaßt. Aber geordnet vorgehen muß man doch, damit wir nicht das Erste zuletzt tun. Es gibt aber vier Arten von Schriften, mit denen sich das Studium auf geordnete Weise befassen muß. Die ersten Bücher sind die Hl. Schriften. Im Alten Testament sind es nach Hieronymus zweiundzwanzig Bücher, im Neuen Testament acht. In zweiter Linie gibt es die verbürgten Texte der Kirchenväter, in dritter Linie die Sentenzen der Universitätslehrer, in vierter die der weltlichen Wissenschaften oder der Philosophen.

XIX 7 Wer also lernen will, der suche das Wissen an der Quelle, in der Hl. Schrift, denn bei den Philosophen gibt es kein Heilswissen zur Sündenvergebung, auch nicht in den Summen der Universitätslehrer, weil diese sich auf die Kirchenväter stützen, die Kirchenväter aber auf die Hl. Schrift. Deswegen sagt Augustin, daß er genau so irren könne wie andere. Nur dort ist uneingeschränkter Glaube am Platz, wo keine Täuschung sein kann. Deswegen sagt Dionysius im Buch Von den göttlichen Namen, daß nur das akzeptiert werden soll, was in den heiligen Aussprüchen von Gott selbst gesagt wurde.Der Jünger Christi soll in der Hl. Schrift, die frei von Irrtum ist, studieren, wie die Jungen zuerst das ABC lernen, danach das Silbenbilden, danach das Lesen, danach die Bedeutung eines Satzteils und welche Konstruktion vorliegt, und danach erst verstehen sie Genau so soll man bei der Hl. Schrift zuerst den Text studieren, ihn gegenwärtig haben und verstehen, was ein Wort bedeutet, aber nicht nur so wie der Jude, der stets nur den buchstäblichen Sinn sucht. Die Hl. Schrift als ganze ist wie eine Zither, und eine tiefe Saite an ihr schafft für sich allein noch keine Harmonie, sondern nur zusammen mit anderen. So hängt eine Stelle der Schrift von der anderen ab, ja es gibt tausend Stellen, die sich auf eine Stelle beziehen.

XIX 8 Man muß darauf achten: Als Jesus das Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein wirkte, hat er nicht sofort gesagt: »Es werde Wein!« Er hat ihn auch nicht aus nichts erschaffen, sondern er wollte, wie Gregor hervorhebt, daß die Diener die Krüge mit Wasser füllten. Vom Buchstaben her gedeutet, kann man keinen Grund angeben, warum er das tat. Aber bei einem geistigen Verständnis kann man einen Grund angeben: Weil der Heilige Geist kein geistiges Verständnis schenkt, wenn der Mensch nicht den Krug, d. h. sein Fassungsvermögen, mit Wasser, d. h. mit dem Wissen von der buchstäblichen Bedeutung, füllt. Und danach verwandelt Gott das Wasser der buchstäblichen Bedeutung in den Wein des geistigen Verständnisses. Deswegen war Paulus so groß, weil er das Gesetz zu Füßen Gamaliels gelernt hatte. Deswegen ist, wer die Schrift kennt, mächtig im Reden, auch in wohlgeformter Rede. So wußte der hl. Bernhard nicht viel, aber da er intensiv die Schrift studierte, redete er auch auf sehr fließende Weise.

XIX 9 Das erste also ist, daß der Mensch mit der Schrift nicht umgehe wie ein Jude, der nur die äußere Hülle will. Denke an die Geschichte mit dem Juden, der in Paris einen Vortrag hielt und der seinen Zuhörern — es waren christliche Kleriker — diesen Text des Jesaiss »Herr, wer glaubte unserem Wort?« [Jes. 53,1] erklären wollte, sich dabei aber zu sehr an den Buchstaben klammerte, der manchmal nur eine geistige Bedeutung hat. Als er den Text nach seinem wörtlichen Sinn überhaupt nicht erklären konnte, warf er das Buch zu Boden.

XIX 10 Zu dieser Einsicht kann der Mensch aber nicht von sich her kommen, sondern nur durch die, denen Gott sie enthüllt hat, also durch die verbürgten Texte der Kirchenväter, z. B. Augustins, Hieronymus‘ und anderer. Man muß also auf die Texte der Kirchenväter zurückgehen. Aber diese sind schwierig. Darum sind die Summen der Universitätslehrer notwendig, in denen jene Schwierigkeiten aufgehellt werden. Aber man muß sich hüten vor zu vielen Büchern. Da diese Schriften oft Aussagen der Philosophen zitieren, muß man diese kennen und hinzuziehen.

Es ist also gefährlich, zu den Kirchenvätertexten herabzusteigen, denn ihre Rede ist schön. Die Bibel hat keine so schöne Rede. Deswegen hält Augustin es nicht für gut, wenn du die Schrift beiseite legst und seine Bücher studierst, so wie auch Paulus von denen nichts hielt, die auf seinen Namen tauften. Die Schrift ist es, die großen Respekt verdient.

XIX 11 Noch gefährlicher ist es, zu den Summen der Universitätslehrer herabzusteigen. Denn manchmal irren sie und glauben, sie verstünden die Kirchenvätertexte, und sie verstehen sie doch nicht, sondern widersprechen ihnen sogar. So wie jemand töricht wäre, der sich immer nur mit Einleitungsschriften befassen wollte, ohne zum Text selbst aufzusteigen, so ist das Verweilen bei den Summen der Universitätslehrer. Bei ihrem Studium muß man auch vorsichtig sein, daß man immer die eher allgemeinen Auffassungen teile.

XIX
12 Am gefährlichsten aber ist es, zu den Philosophen herabzusteigen. Deswegen sagt Jesaias: »Weil dieses Volk die ruhig dahinfließenden Wasser von Siloe verachtet und es eher mit Rasin und dem Sohn Romelias hält, siehe, deswegen wird der Herr die gewaltigen, großen Wasser des Flusses, den König der Assyrer, über sie dahinfluten lassen« [Jes. 8,6]. Wir dürfen nicht mehr nach Ägypten zurückkehren! Man beachte, was Hieronymus geschah, der nach dem Studium Ciceros keinen Geschmack mehr fand an den prophetischen Büchern und der deshalb vor dem göttlichen Richterstuhl gegeißelt wurde (Ep. 22,30 PL 22,416). Dies ist aber unsretwegen geschehen. Deswegen sollen die Universitätslehrer auf der Hut sein, daß sie die Aussagen der Philosophen nicht zu sehr empfehlen und zu hoch einschätzen, damit nicht bei der Gelegenheit das Volk nach Ägypten zurückkehrt oder aufgrund ihres Beispiels das Wasser von Siloe, also die höchste Vollkommenheit, verlasse und hinlaufe zu den Gewässern der Philosophen, in denen ewige Täuschung ist.

XIX 13 Dies wurde symbolisch verkörpert durch Gideon: Diejenigen, die die Probe am Wasser bestanden, die nämlich das Wasser schleckten wie Hunde, haben gekämpft und gesiegt [Richt. 7,4]. Diejenigen, die sich hinknieten, und die gebückt tranken, wurden zurückgewiesen. Die, die siegten, bekamen Posaunen, Krüge und Fackeln, und durch das Dröhnen der Posaunen und das Zusammenschlagen der Krüge siegten sie. Dies sind die Prediger der Kirche; sie dröhnen wie Posaunen bei der Predigt. Die Krüge bedeuten ihre Leiber, die Fackeln die Wunder. Als sie nämlich für die Wahrheit starben, begannen sie zu strahlen durch Wunder und besiegten die Feinde. Die nun, die trinken, indem sie wie die Hunde das Wasser mit der Zunge schlecken, sind die, die von der Philosophie nur wenig annehmen. Aber jene, die mit gebeugtem Knie trinken, das sind die, die sich ganz zu ihr herabbeugen. Und die werden zu unzähligen Irrtümern heruntergedrückt. Und von dort wird der Gärstoff des Irrtums genährt. Hosea schreibt: »Die Stadt überließ den Teig eine Weile sich selbst, bis alles durchsäuert war« [Hos. 7,4]. Und: »Sie brüten Schlangeneier aus. Zertritt man eins, so schlüpft eine Otter heraus« [Jes. 59,5].

XIX 14
Denke an den hl. Franz, wie er dem Sultan predigte. Der Sultan sagte ihm, er solle mit seinen Priestern disputieren. Aber er erwiderte, er könne nicht mit Vernunftargumenten über den Glauben disputieren, weil dieser über der Vernunft stehe. Er könne es auch nicht anhand der Bibel, weil jene sie nicht anerkennen würden. Aber er bat, man möge ein Feuer anzünden, und er und jene sollten hineingehen.

Man soll also nicht so viel Wasser der Philosophie in den Wein der Hl. Schrift mischen, so daß aus Wein Wasser würde. Das wäre das schlechteste Wunder. Und wir lesen doch, daß Christus aus Wasser Wein machte, nicht umgekehrt.

Daraus wird klar, daß den Gläubigen ihr Glaube nicht mit der Vernunft, sondern mit der Schrift und mit Wundern bewiesen werden kann. In der Urkirche verbrannte man die Bücher der Philosophen [Apg. 19,19]. Denn man darf die Brote nicht in Steine verwandeln. Aber was in der Gegenwart geschieht, ist die Verwandlung des Weins in Wasser und des Brotes in Stein, entgegen den Wundern Christi.

XIX 15
Dies ist also die Abfolge: Zuerst studiere der Mensch die Bibel nach Buchstaben und Geist, dann die Kirchenvätertexte und unterwerfe sie der Bibel. Entsprechend auch die Schriften der Universitätslehrer und Philosophen, aber vorübereilend und wie ein Dieb, nicht, als solle man dabei verweilen. Was hatte Rachel davon, daß sie die Götzenbilder ihres Vaters stahl? Sie hatte nur dies davon, daß sie log und eine Krankheit vortäuschte und die Götzenbilder unter Kameldecken versteckte und sich darauf setzte. Genauso ist es, wenn man die Hefte der Philosophen versteckt. Unsere Wasser sollen nicht niederfließen ins Tote Meer, sondern in ihren ersten Ursprung.
Aus: Collationes in Hexaemeron III 2-9, V 19-33, VI 1-10, XIX 6-15. In: Opera omnia. Bd 5. quaracchi 1891. S.343-345, 357-359, 360-362, 421f. . Übersetzt von Kurt Flasch
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Herausgeber: Rüdiger Bubner Band 2, Mittelalter. Herausgegeben von Kurt Flasch
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9912, S.334-354
© 1982 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Von der Lenkung der Seele
1. Vor allem anderen tut dir not, meine Seele, daß du zur höchsten Erhabenheit, Güte- und Heiligkeit dich erhebst im Gedanken an Gott, den Höchsten und Besten, - mit gewisser Zuversicht glaubend, mit hingegebenem Gemüte betrachtend und mit tiefschauendem Blicke des Geistes voll Bewunderung durchdringend.

2. Zur höchsten Erhabenheit steigst du empor im Gedanken an Gott, den Besten und Höchsten, wenn du die unermeßliche Macht dessen, der alles insgesamt aus dem Nichts erschafft und im Dasein trägt, - des Allregierers und Allordners unendliche Weisheit, - des Allrichters und Allvergelters unbegrenzte Gerechtigkeit in andachtsvoller und tiefdringender Beschauung glaubst, bewunderst und lobpreisest, - sowohl zu dem, was außerhalb deiner, dich im Geiste bewegend, als auch in dein eigenes Innere zurück dich wendend, sowie über dich selbst hinaus zur Höhe emporsteigend, auf daß du mit dem Propheten in Wahrhaftigkeit singest: »Es frohlocken die Töchter Judas um deiner Gerichte willen; o Herr, denn du bist der höchste Herr über die ganze Erde; überaus erhaben über alle Götter« -

Zur höchsten Güte steigst du empor im Gedanken an Gott, den Allerbesten, wenn du seine unermeßliche Barmherzigkeit bewunderst, umarmest und benedeist; insofern sie von höchster Güte erfüllt in der Annahme unserer menschlichen und sterblichen Natur, insofern sie der tiefsten Verwundung sich preisgibt im Erleiden des Kreuzes und Todes, und insofern sie aufs höchste freigebig in der Schenkung des Heiligen Geistes und der Einsetzung der Sakramente, da er sich selbst, über alle Grenzen freigebig, mitteilt im Sakramente des Altars, — indem du jene Worte des Psalmes aus ganzer Seele anstimmst: »Mild ist der Herr allen Wesen, und seine Erbarmungen über all seinen Werken.«

Zur höchsten Heiligkeit steigst du empor im Herzen, wenn du seine unbegreifliche Heiligkeit betrachtest, bewunderst und - zu ihrer Ehre lobsingend mit den seligen Seraphim das »Heilig, heilig, heilig« ertönen lässest.

»Heilig« einmal, da er in sich selbst die Heiligkeit auf solche Weise in höchster Art und Reinheit ist, daß er unmöglich irgendein Nicht-heiliges will oder billigt;

»heilig« zum Zweiten, da er die Heiligkeit in so vollkommener Weise an anderen liebt, daß er unmöglich denen, die sie in Wahrheit beobachten, sei es der Gnade Geschenke entzieht, sei es der Glorie Belohnungen verweigert;

»heilig« zum Dritten, da er so streng das ihr Entgegengesetzte verabscheut, daß er unmöglich die Sünden nicht verwirft oder ungestraft läßt. Wenn du so denkest in deinem Herzen, wirst du mit dem Gesetzgeber singen: »Gott ist getreu und ohne alle Bosheit, gerecht und gerade.«

3. Darauf wende die Augen deines Geistes dem Gesetze Gottes zu, welches gebietet, daß du entgegenbringest dem Allerhöchsten ein Herz voller Demut, dem Allergütigsten ein Herz voll liebender Andacht, dem Allerheiligsten ein Herz, das sich selbst als Opfer weiht. Ein Herz voller Demut sollst du dem Höchsten entgegenbringen durch Ehrfurcht in der Gesinnung, durch Gehorsam in der Tat, durch Ehrerbietung in Wort und Zeichen, so daß du gemäß der apostolischen Vorschrift und Lehre »alles zur Ehre Gottes tust«.

Ein Herz voll liebender Andacht sollst du entgegenbringen dem Gütigsten durch Bestürmung mit glühenden Gebeten, durch Verkosten geist¬licher Süßigkeit, durch Abstattung vielfältigen Dankes, so daß deine Seele beständig »durch die Wüste emporsteigt« zu Gott, »wie eine Säule Rauches aus den Gewürzen der Myrrhe und des Weihrauchs«. —

Ein Herz, das sich selbst als Opfer weiht, sollst du dem heiligsten Bräutigam auf solche Weise entgegenbringen, daß in dir keinerlei verderbtes Gefallen herrsche, sei es in Sinnesempfindung, sei es in Zustimmung, sei es in Anhänglichkeit an leibliche Lust, — daß in dir sei kein Streben irdischer Gier, keine Leidenschaft innerer Bosheit, so daß du, frei von aller Makel der Sünde, mit dem Psalmisten singen kannst: »Es werde mein Herz ohne Makel in deinen Rechtfertigungen, auf daß ich nicht zugrunde gehe«.

4. Achte also mit Sorgfalt darauf und siehe zu, ob du alles dieses seit deiner Jugend bewahrt: Wofern du es so in deinem Gewissen befunden, so rechne nicht dir es zu, sondern danke es Gott und seinem Geschenke. Wenn du aber entdeckst, daß du einmal oder öfter in einem dieser Stücke oder in mehreren, vielleicht in allen auf schwere oder leichte Art es hast fehlen lassen; sei es aus Schwäche, sei es aus Unkenntnis oder aber mit vollem Wissen, so trachte danach, durch »unaussprechliche Seufzer« mit Gott aufs neue versöhnt zu werden - und damit du ihm Sühne erweisest, sollst du erfüllen dich lassen von dem Geiste der Tugend; auf daß du mit dem Büßer wahrhaft singen und psallieren könnest: »Denn unter der Geißel bin ich allzeit, und mein Schmerz ist stets vor meinem Angesicht«.

5. Es muß jedoch der Schmerz der Seele von zweierlei begleitet sein, damit er die Fähigkeit habe, die Seele zu läutern und Gott zu versöhnen, - nämlich von der Furcht vor Gottes Gericht und von der Glut innerer Sehnsucht, auf daß du fürchtend wiedererlangst ein Herz; das voll Demut, dich sehnend ein Herz, das voll liebender Andacht, Schmerzen fühlend ein Herz, das als Opfer geweiht. -

Fürchte also die göttlichen Gerichte, welche ein »tiefer Abgrund« sind. Fürchte heftig, daß du, wenn auch von einiger Bußfertigkeit, gleichwohl noch Gott mißfallen möchtest; fürchte noch heftiger, daß du nach der Buße wiederum Gott beleidigst; am heftigsten aber fürchte, daß du am Ende von Gott in die Ferne weichest, für immer des Lichtes entbehrend, für immer brennend im Feuer, niemals frei von dem nagenden Wurme, sowie es wahrhaft geschehen wird, wenn du nicht nach wahrer Buße in der Gnade des Endes hinübergehest, - so daß du mit dem Propheten singst: »Durchbohre mit deiner Furcht mein Fleisch; denn vor deinem Gerichte bin ich in Bangen«.

6. Fühle auch Schmerz und Not um der begangenen Sünden willen. Fühle heftigen Schmerz wegen der Vernichtung alles Guten, das von Gott dir verliehen; fühle heftigeren Schmerz, weil du Christus widerstritten, der für dich geboren ward und gekreuzigt; fühle den heftigsten Schmerz, weil du Gott gering geschätzt, - da durch Übertretung seiner Gebote du der Ehre beraubt hast seine Majestät, geleugnet seine Wahrheit, beleidigt seine Güte, - überdies noch das ganze Universum schändend, entstellend, verwirrend, indem du den göttlichen Satzungen, Geboten und Urteilssprüchen dich widersetzend, Mißbrauch getrieben hast mit allen Naturen, Schriften, Rechtfertigungen, Erbarmungen, Gnadengaben und verheißenen Belohnungen, die um Gottes willen dir zu Gebote standen. Hast du dies mit Hingebung ins Auge gefaßt, so »trage Leid wie über einen eingebore¬nen Sohn; laß einem Bache gleich Tränen fließen Tag und Nacht; ruhe nicht, und laß nicht rasten deinen Augapfel«.

7. Gleichwohl sehne dich aber nach den göttlichen Gnadengaben, durch die Flamme göttlicher Liebe zu Gott dich erhebend, welcher dich, den Sünder, so geduldig ertragen, so langmütig erwartet, so barmherzig zur Buße zurückgeführt; der da Verzeihung gewährt, mit Gnade erfüllt und die Krone verheißt, auf daß du ihm erstattest, - oder vielmehr von ihm selbst empfängst, was du ihm nur wiedererstattest : »das Opfer eines zerknirschten Geistes, eines betrübten Herzens, das sich demütigt« in bitterer Reue, in wahrhafter Buße, in angemessener Genugtuung. Sehne dich glühend nach dem göttlichen Wohlgefallen, geschenkt in der eingegossenen Fülle des Heiligen Geistes, sehne dich glühender nach der Gleichförmigkeit mit Gott, die erwächst in voller Nachahmung des gekreuzigten Christus, sehne dich am glühendsten nach der Umfassung Gottes in der eröffneten Anschauung des ewigen Vaters, auf daß du wahrhaft mit dem Propheten singest: »Es dürstete meine Seele nach Gott, dem Starken, Lebendigen; wann werde ich kommen und erscheinen vor dem Angesicht Gottes«?

8. Damit du sodann diesen Geist der Furcht, des Schmerzes und der Glut in deinem Innern bewahrest, sollst du nach außen dich üben in jeglicher Sittsamkeit, Gerechtigkeit, Gottseligkeit, so daß du nach der Lehre des Apostels »entsagend der Gottlosigkeit und allen weltlichen Lüsten, sittsam, gerecht und gottselig lebest in dieser Welt«. -

Übe dich denn in jeder Sittsamkeit, auf daß nach der Lehre des Apostels »deine Sittsamkeit kund werde allen Menschen«. Die Sittsamkeit des sparsamen Maßes übe in Speise und Kleidung, in Schlaf und Wachen, in Muße und Arbeit, so daß du in nichts das Maß überschreitest. Die Sittsamkeit der Zucht jedoch übe durch Maßhaltung in Schweigen und Rede, in Trauer und Freude, in Milde und Strenge, je wie die Gelegenheit es erfordert und die rechte Vernunft es vorschreibt. -

Die Sittsamkeit der Ehrbarkeit sollst du üben durch Regelung, Ordnung und Mäßigung deiner Handlungen, Bewegungen, Gebärden, deiner Kleider oder Gewänder, deiner Glieder und Sinne, so wie es Ehrbarkeit der Sitten und Einhaltung geregelten Wandels verlangt, so daß du mit Recht zu jenen gezählt werdest, zu denen der Apostel spricht: »Alles geschehe bei euch in Ehrbarkeit und nach Ordnung«.

9. Übe dich auch in der Gerechtigkeit, daß man wahrhaft auf dich jenes Wort des Propheten anwenden könne: »Um der Wahrheit und Milde und Gerechtigkeit willen...« usw.

In ganzer Gerechtigkeit sollst du dich üben durch den Eifer für Gottes Ehre, durch Beobachtung des göttlichen Gesetzes, durch die Sehnsucht nach dem Heile deiner Brüder. -

In geordneter Gerechtigkeit übe dich durch Gehorsam im Hinblick auf die Oberen, durch Verträglichkeit im Hinblick auf die Gleichstehenden, durch Zucht im Hinblick auf die Untergebenen. -

In vollkommener Gerechtigkeit sollst du dich der Art üben, daß du aller Wahrheit beistimmest, aller Güte geneigt seiest, aller Bosheit widerstrebest, sowohl im Geist wie im Wort oder im Werk, nichts einem andern zufügend, wovon du nicht willst, daß es dir zugefügt werde, nichts einem andern verweigernd, wovon du wünschest, daß es dir erteilt werde, so daß du jenen in vollkommener Weise nachahmst, denen gesagt ward: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht überfließender ist denn jene der Pharisäer und Schriftgelehrten, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen«.

10. Übe dich endlich in der Gottseligkeit; denn, wie der Apostel sagt, »die Gottseligkeit ist zu allem nützlich, und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens«.

Übe dich in der Gottseligkeit des Gottesdienstes, indem du voller Aufmerksamkeit, Andacht und Ehrfurcht die kanonischen Tagzeiten betest, indem du täglich deine Sünden bekennst und beweinst, indem du zu angemessener Zeit die allerheiligste Eucharistie empfängst und täglich die heilige Messe hörst. –

Übe dich in der Gottseligkeit, die nach dem Heile der Seelen strebt, indem du ihnen beistehst durch häufiges Gebet, durch unterweisende Rede, durch den Antrieb des Beispiels, so daß »wer es höret, reden mag: Komme«. Hierbei aber mußt du so weise verfahren, daß du nicht an eigenem Heile Einbuße leidest. –

Übe dich in der Gottseligkeit der Linderung leiblicher Not, indem du trägst mit Geduld, tröstest mit Freundlichkeit, Hilfe erweisest mit Demut, Heiterkeit und Barmherzigkeit, auf daß du so erfüllest das göttliche Gesetz, welches der Apostel ausspricht mit den Worten: »Der eine von euch trage des anderen Lasten, und so werdet ihr erfüllen das Gesetz Christi«.

Daß man alles dieses vollbringe, hierzu - so glaube ich - fließt die Kraft vor allem aus der Erinnerung an den Gekreuzigten, durch welche dein Geliebter gleich wie »ein Myrrhenbüschlein« an dem »Busen« deines Gemütes ständig »verweile«; was jener dir zu verleihen sich würdige, der da gebenedeit ist von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!
S.137-145
Aus: Des Hl. Bonaventura Mystisch-Ascetische Schriften, Erster Teil. Nach der Ausgabe von Quaracchi übertragen und herausgegeben von Siegfried Johannes Hamburger, Theatiner-Verlag München 1923