Georg Brandes, eigentlich Morris Cohen (1842 –1927)

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Inhaltsverzeichnis
Was am 20. Mai 325 im großen Kaisersaal in Nizäa geschah
Hat Jesus wirklich existiert?
Der Jesus der Evangelien
Lehre Jesu
Gab es ein Urevangelium?

Was am 20. Mai 325 im großen Kaisersaal in Nizäa geschah
Am 20. Mai 325 wurde im großen Kaisersaal in Nizäa eine Kirchenversammlung mit Kaiser Konstantin selbst in voller kaiserlicher Pracht als Präsident eröffnet.

Die Versammlung nahm einen stürmischen Verlauf, obgleich der Kaiser in einer kurzen Rede auf Lateinisch — er sprach sonst Griechisch — die Bischöfe, die er durch seine Anwesenheit ehrte, ermahnte, sich in Einigkeit zu begegnen und sich nicht durch den, seiner Ausdrucksweise nach »unbedeutenden« Streit zwischen den Anhängern des Arius und denen des Athanasius zersplittern zu lassen. Das Wort des Kaisers von der Notwendigkeit gegenseitiger Duldsamkeit fiel zu Boden.

Die Arianer, die durch Eusebius von Cäsarea repräsentiert wurden, hielten sich anfangs stark zurück; sie befanden sich in bedeutender Minderheit. Der Versuch, Einigkeit über den Grundsatz zu erzielen, daß der Sohn wesensgleich mit dem Vater sei, aber nicht genau das Wesen mit Gottvater gemein habe, mißlang.

Als der Versöhnungsversuch des Kaisers mißglückte, wurde man zuletzt zur Einigkeit über des Eusebius von Nikomedeas Verurteilung »aller ungöttlichen Ketzereien« gezwungen und formulierte folgenden Schlußsatz: »Wer sagt, daß es eine Zeit gab, da Christus nicht existierte, oder daß er überhaupt nicht war, ehe er gezeugt wurde, oder auch, daß er aus dem Nichts entstand, und wer sagt, daß Gottes Sohn aus einer andern Substanz als Gott selbst erschaffen wurde, oder wer ihn veränderlich nennt, den verflucht Gottes allgemeine und apostolische Kirche.«

Diese Worte sind lehrreich, nicht nur weil sie zeigen, daß die Lebensanschauung des Arius ganz zu Boden geschlagen war, sondern auch, weil sie beweisen, daß schon zu Anfang des vierten Jahrhunderts der Jesus der synoptischen Evangelien vollkommen von einem nicht mit der Gottheit verwandten, sondern völlig gleichen, einsgearteten Wesen verdrängt war. Schon damals war das Idyll in Galiläa, der Wanderprädikant in Palästina, gründlich vergessen. Von einem ,»historischen« Jesus war bei Gründung der Kirche keine Rede. Der einzige Christus, den man kannte und anerkannte, war der übernatürliche, überirdische, der im Himmel thronte.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.47-48), Erich Reiss Verlag, Berlin

Hat Jesus wirklich existiert?
Schon die Fragestellung, ob Jesus historisch existiert hat, ist eine Fälschung des Problems. Denn der Name Jesus an sich verkörpert der Anschauung eine menschliche Persönlichkeit. Die Frage geht von der Annahme aus, daß ein solcher menschlicher Jesus auf Erden gelebt hat. Aber davon kann man gerade nicht ausgehen. Man muß die evangelistische Erzählung als von idealisierenden Bestrebungen in den verstreuten hellenistischen Synagogen des zweiten Jahrhunderts erzeugt ansehen, die die Mitteilungen des Alten Testaments allegorisch deuteten. Auf Moses, der dem religiösen Drang nicht mehr genügte, war ja Josva (derselbe Name wie Jeshua) gefolgt, der die Kinder Israel in das gelobte Land führte — ein Sinnbild für die Gnostiker, als sie die neue Religiosität formten.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.41), Erich Reiss Verlag, Berlin

Jesus war zu Beginn unserer Zeitrechnung ein so verbreiteter Personenname wie in späteren Zeiten William in England. Als Nachfolger Mose wird ja schon ein Jeshua oder Josva genannt, welcher Name gleichbedeutend mit dem griechischen Jesus ist; später findet man im Alten Testament ein ganzes Buch von Jesus, dem Sohn des Sirach. Es gibt noch einen andern Jesus, den Sohn des Shiach, der Hohepriester und bei Archelaus, dem Sohn des Herodes beliebt war. Josephus erwähnt noch fast ein Dutzend Männer des Namens Jesus.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.48), Erich Reiss Verlag, Berlin

Wenn Josephus in seinen ,,Antiquitates“ (20, 9) von Jesus spricht, kann die Stelle nicht echt sein. Gemeint ist natürlich der Jakobus, der im Neuen Testament gewöhnlich als der Bruder des Herrn bezeichnet wird. Aber Josephus kann unmöglich selbst den angeführten Satz geschrieben haben. Er, der gleich beliebt bei Vespasian, Titus und Domitian war, erblickte in Domitian, offenbar wegen der Vorzüge, die zu Anfang seiner später grausamen Regierung zutage traten, eine Art Messias, und da er es als eine Gotteslästerung ansah, wenn sich jemand selbst die Christuswürde zulegte, kann er unmöglich leidenschaftslos von ,,Jesus, dem sogenannten Christus“ gesprochen haben. Die Stelle ist so bestimmt unecht wie die berühmte, im Text eingeflochtene Stelle, deren Unechtheit allgemein anerkannt ist (Antiquitates 18, 3, 3), die von Jesus als dem weisen Manne spricht, der vielleicht nicht Mensch genannt werden dürfte. Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.48f.), Erich Reiss Verlag, Berlin

Flavius Josephus: Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Men sehen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Christus.(der Gesalbte, der Messias) Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu, Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten. dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort. (Fourier, Flavius: Jüdische Altertümer, S.515f)
Flavius Josephus: Zur Befriedigung dieser seiner Hartherzigkeit glaubte Ananus auch jetzt, da Festus gestorben, Albinus aber noch nicht angekommen war, ein günstige Gelegenheit gefunden zu haben. Er versammelte daher den hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit dem Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ. (Fourier, Flavius: Jüdische Altertümer, S.667)

Die Frage ist ja indessen gar nicht, ob einmal ein Jesus gelebt hat, der während der starken messianischen Strömung, die durch Israel ging, als Christus auftrat, sondern, ob wir in den Evangelien und Schriften des Neuen Testaments Mittel zur Einsicht in das historische Wesen dieses Jesus besitzen, und ob er als Urheber des Christentums betrachtet werden kann.

Da das ganze Neue Testament und ihm zufolge die ganze Kirche des Altertums den Gedanken an einen rein menschlichen Religionsstifter abweist, sollten die liberalen Theologen nicht behaupten, daß gerade diese uralten Quellen erst durch spätere Trübung das Bild eines nicht nur menschlichen Begründers einer neuen Religion spiegeln.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.49), Erich Reiss Verlag, Berlin

Der Jesus der Evangelien
Als irdischer, fleischlicher Mensch war der Jesus, von dem die Evangelien berichten, schon nach Verlauf ganz weniger Jahre vollkommen aus der Erinnerung der Zeitgenossen verschwunden.
Nicht einmal Markus, der für den ältesten der Evangelisten angesehen wird, hat eine Ahnung, wie er aussah. Markus ist außerstande, eine Beschreibung von ihm zu geben. Schon bei ihm tritt er nicht als ein wahrer Mensch, sondern als Wundertäter, Mirakelmacher, Heller durch Handauflegen auf. Aus: Georg Brandes, Die Jesussage, (S.62.), Erich Reiss Verlag, Berlin

Daß aber die Jesusgestalt als solche so völlig in Vergessenheit geriet, daß nicht ein einziger von den Evangelisten ihn gesehen hat, ja nicht einmal Paulus, außer in einer Vision, wird ja weniger auffällig, wenn die Gestalt selbst eine Sagenfigur ist.

Er hat nicht eine geschriebene Zeile hinterlassen. Vielleicht konnte er gar nicht schreiben. An der schönen Stelle im vierten Evangelium, die als spätere Hinzufügung anerkannt ist, schreibt er in den Sand. Aber irgendeiner von seinen Zuhörern oder Anhängern muß doch haben schreiben können. Waren ihnen seine Worte so teuer, weshalb schrieben sie denn nie auf, was er sagte? Warum begnügten sie sich damit, Bruchstücke aus dem Talmud und volkstümliche Redensarten oder Gleichnisse zusammenzuflicken und ihm in den Mund zu legen? Sie haben uns nicht einmal mitgeteilt, wo er zu wohnen pflegte.
Aus: Georg Brandes, Die Jesussage, (S.65f..), Erich Reiss Verlag, Berlin

Der Jesus der Evangelien ist als Persönlichkeit eine undeutliche Gestalt. Selbst sein Geistesleben bleibt unklar. Wir erfahren nichts darüber, wie er sich im Innersten zur Messiashoffnung, zur jüdischen Gesetzgebung, zur römischen Herrschaft verhalten hat. Aber wir verstehen, daß er der Idealsohn des jüdischen Volkes gewesen ist. Er ist der Ausdruck für die zähe Geduld des kleinen Volkes, seinen Glauben an die Zukunft, seine Begeisterung, seine Selbstkritik. Er lebt und stirbt wie sein Volk. Er aufersteht aus seiner Erniedrigung, als Jerusalem und der Tempel der Stadt zerstört sind. Das fleischliche Jerusalem stirbt also, lebt aber wieder auf, ersteht aus dem Grabe unter einem neuen Namen, der trotz dem Unwillen des Volkes mit dem seinen verschmilzt.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.108), Erich Reiss Verlag, Berlin

Die Christusgestalt der kirchlich autorisierten Evangelien ist aus vielerlei Christustypen zusammengesetzt. Die älteste von ihnen, die eingreifende, handelnde, ist offenbar vor der Jesusgestalt geformt, die an einzelnen Stellen verstreut in der Apostelgeschichte und in den Evangelien zutage tritt. Die nächste Gestalt ist der Morallehrer, der Prädikant. Die nächste wieder ist scheidend und strafend, fest und streng. Die vierte ist der Erlöser, in dessen Namen Menschen bekehrt werden und Sündern vergeben wird. Die fünfte ist der Geist, der heilige Geist. Die sechste und letzte ist der barmherzige Christus, der mitleidig auf die Sünderin blickt und zu dem reuigen Räuber wie zu einem Bruder spricht. Alle diese Christusbilder hat die katholische Kirche verschmolzen, ungefähr wie man durch Aufnahme einer ganzen Anzahl aufeinandergelegter Photographien im neunzehnten Jahrhundert ein einziges Porträt hervorbrachte.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.133), Erich Reiss Verlag, Berlin

Die evangelische Geschichte ist eine Mythe, eine auf Phantasie beruhende Lehrform, in der die ältesten Christen ihre abergläubisch ausgeschmückten, religiösen Ideale ausgedrückt haben. Kreuzestod und Auferstehung scheinen die ältesten Bestandteile der Verkündigung gewesen zu sein, um die sich allmählich andere Erzählungen gruppieren.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.139), Erich Reiss Verlag, Berlin

Als um das Jahr 150 die ältesten kanonischen Evangelien Form annahmen, besaßen weder die katholisch gesonnenen Christen noch ihre Widersacher zuverlässige Zeugnisse bezüglich der Person Jesu oder seines Lebenswerkes. Der evangelistische Jesus zeichnet zum Beispiel nicht Bilder, sondern nur Karikaturen von den Pharisäern. Der Rabbinismus war jedoch damals noch mild und die judenfeindliche Bewegung Marcions nicht stark genug, der Mehrzahl der Judenchristen ihren Glauben an die von den Vätern stammende Heilige Schrift zu rauben.
Die in der Bildung begriffene Kirche kanonisierte sowohl die freisinnig klingenden wie die konservativen Jesusworte. Daher die einander widersprechenden Aussagen und Paradoxe.

Da der Name Jesus identisch mit Josva ist, legte man damals viel Gewicht darauf, daß Jahve zu Mose sagt: ,,Josva, der Sohn Nuns, der ein Mann ist, in dem der Geist ist“, und an einer andern Stelle steht: ,,Josva aber, der Sohn Nuns, ward erfüllet mit dem Geist der Weisheit; denn Mose hatte seine Hände auf ihn gelegt“ (4. Mose 27, 18; 5. Mose 34, 9). Jesus ward dadurch in den Augen der ersten Christen der von Gott eingesetzte Erbe Mose.

Es hat das entstandene Christentum gestärkt, daß alle damaligen Mysterienreligionen die Frage: „Wie erreiche ich die Erlösung“ beantworteten: Durch Gemeinschaft mit dem toten und wiederauferstandenen Gott. Daß das Hilariafest zu Ehren der Auferstehung des Osiris nach dem Tode des Gottes wie die christlichen Ostern am dritten Tage gefeiert wurde, konnte auch keine zufällige Übereinstimmung sein. Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.142f.), Erich Reiss Verlag, Berlin

Lehre Jesu
Der nicht zu verkennende Grundgedanke des Evangeliums ist der einfache, immer wieder variierte, daß es auf die innere, nicht auf die äußere Reinlichkeit ankommt. Was ein Mensch ißt, macht ihn nicht unrein — eine im übrigen nicht überzeugende Behauptung. Aber die unreinen Worte, die aus dem Munde eines Menschen kommen, stempeln ihn als unrein. Das wichtigste im Leben ist mit andern Worten nicht das Zeremoniell, sondern die Gesinnung, eine unzweifelhafte Wahrheit, aber wahrlich keine neue in der israelitischen Welt, da die hervorragendsten Propheten, ein Amos, ein Micha, ein Hosea, schon Jahrhunderte zuvor von ihr durchdrungen gewesen waren. Man fühlt, daß die Evangelisten im Glauben an den nahe bevorstehenden Untergang der Welt leben. Darum lassen sie Jesus Wehe über die schwangeren und stillenden Frauen rufen, wie vor ihnen auch Paulus die Männer gewarnt hatte, sich jetzt mit ihren Frauen zu paaren, da das Reich Gottes vor der Tür stände.

Schon in der Genesis war die Arbeit als ein Fluch betrachtet worden, der die Menschheit ihres Ungehorsams wegen traf. Jesus, der nach der Beschreibung der Evangelisten nie selbst gearbeitet, sondern sich von den Gaben begeisterter Frauen ernährt hat (Lukas 6, 1—3) und der seinen Jüngern empfiehlt, a1s Bettler zu leben, betont nie die Freude oder Ehre der Arbeit, sondern weist auf die Vögel und die Lilien des Feldes hin, die weder säen noch ernten und doch Nahrung und Kleidung vom himmlischen Vater erhalten.

Die Evangelisten lassen Jesus gleichgültig gegen seine Familie und sein Vaterland sein. Das Verhältnis zur Mutter und zur Familie wird als schlecht geschildert, und man merkt deutlich die Absicht, daß gezeigt werden soll, wie er sich der römischen Herrschaft unterwirft. Er verkehrt mit Zöllnern, die im Dienst der römischen Regierung stehen und daher vom jüdischen Volk verabscheut werden, er nimmt ausdrücklich Abstand von denen, die raten, dem Kaiser keine Steuern zu bezahlen — ja, er läßt ein Wunder geschehen, einen Fisch fangen, der die Steuer für den Kaiser im Maul hat (Matthäus 17, 27).

Die Moral, die die Evangelisten Jesus verkünden lassen, hat heute nur noch historisches Interesse. Wo sie am originellsten erscheint, wie in dem Gebot der Bergpredigt, daß man seine Feinde lieben, d. h. Böses mit Gutem vergelten soll, greift sie nur altjüdische Lehre und einen der Lieblingsgegenstände der römisch-griechischen Philosophie auf. So antwortete Diogenes auf die Frage, wie jemand am besten den Angriff seines Feindes abschlüge: ,»Erweise dich edel und gut gegen ihn.« Äußerungen in derselben Richtung findet man bei Xenophon, Platon, Seneka, Epiktetes, Cicero. Namentlich die griechischen Zyniker setzten ihren Stolz darein, ohne Bitterkeit Unrecht zu erleiden.

Im 3. Buch Moses 19, 17—18 lautet das Gebot nur: »Du sollst dich nicht rächen und Zorn nachtragen den Söhnen deines Volkes.«

Nach der Berufung der Jünger folgt bei Matthäus die Bergpredigt. Markus kennt keine Bergpredigt. Sie ist eine Kompilation, die auch nie so gehalten worden ist. Wenn Matthäus und Lukas Jesus die Vorschrift zuschreiben: »So dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar«, so findet man diese bis zum äußersten gespannte Forderung bereits in der Didache, die älter als irgendein Evangelium ist.

Im übrigen besteht kein Gegensatz irgendwelcher Art zwischen der Moral der Bergpredigt und der altjüdischen. Das ist schon im Jahre 1868 von Rodriguez in Les origines du sermon de la Montagne, später von Robertson in Christianity and Mythology und von Schreiber in Die Prinzipien des Judentums verglichen mit denen des Christentums (1877) nachgewiesen. Parallelstellen mit dem Alten Testament und mit dem Talmud sind außerordentlich zahlreich.
Die Seligpreisungen müssen verglichen werden mit den Psalmen 96,6; 24, 3, Jesaia 66, 13; 57, 15, Sprüchen 29, 23; 21, 21, Jesus Sirach 3, 17 usw.

Psalm 96, 6: Es stehet herrlich und prächtig vor ihm und gehet gewaltig und löblich zu in seinem Heiligtum.
Psalm 24, 3: Wer wird auf des HERRN Berg gehen, und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?
Jesaja 66, 13: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem ergötzt werden.
Jesaja 57, 15: Denn also spricht der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnt, des Name heilig ist: Der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen.
Sprüche 29, 23: Die Hoffart des Menschen wird ihn stürzen; aber der Demütige wird Ehre empfangen.
Sprüche 23, 21: denn die Säufer und Schlemmer verarmen, und ein Schläfer muß zerrissene Kleider tragen.
Jesus Sirach 3, 17: Und in der Not wird an dich gedacht werden, und deine Sünden werden Vegehen wie das Eis in der Sonne.

Die Betonung der Gesinnung im Gegensatz zur Handlungsweise, wie es in der Bergpredigt in dem Satze »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren usw.« ausgedrückt ist, ist nur eine Umschreibung ähnlicher Grundsätze im Talmud: »Wer nur den kleinen Finger eines Weibes ansieht, hat schon im Herzen Ehebruch begangen« (Berechit 14 und 24a) und entspricht einem Gedankengang, mit dem auch das römische Recht vertraut war, nach dem schon die bloße Absicht, zu verführen, bestehlen usw., ein Gegenstand der Züchtigung war.

Aber nicht nur auf den Ursprung der Bergpredigt, auch auf den Umstand, daß man die Zahl der Apostel mit zwölf festsetzte, fiel neues Licht, als Philotheos Bryennios, Erzbischof von Nikomedien, im Jahre 1873 in einer Bibliothek, die dem Kloster des Heiligen Grabes im griechischen Viertel von Konstantinopel gehörte, einige alte Handschriften entdeckte, unter denen sich die berühmte Didache befand, die er im Jahre 1883 herausgab. Niemand hat die Echtheit der Handschrift in Zweifel gezogen. Daß in der ältesten Kirche eine Die Lehren der zwölf Apostel genannte Schrift existierte, wußten Eusebius und Athanasius. Aber es hat schon seine Gründe, daß die Kirche lange Zeit nicht gewünscht hat, die Didache ans Tageslicht zu ziehen. Es ist, wie es scheint, eine Art offizieller Akte gewesen, die der Hohepriester für die im Römischen Reiche verstreuten Juden verfaßt hat. In den ersten entscheidenden Kapiteln, sechs an der Zahl, ist keine Rücksicht auf das Christentum genommen, wie auch der Name Jesus nirgends genannt wird. Der Schluß der kleinen Schrift ist dann einer kirchlichen Umkalfakterung unterzogen worden.

Das entscheidende ist jedoch, daß wir hier offenbar an der wichtigsten Quelle dessen stehen, was im Evangelium zur Bergpredigt wird, und das im Grunde den Kapiteln 4 und 5 von Jesus Sirach nahe verwandt ist.

Hier als Probe der Anfang: »Es gibt zwei Wege, den des Lebens und den des Todes, und groß ist der Unterschied zwischen den beiden Wegen. Der Weg des Lebens ist dieser: Fürs erste, du sollst den Gott lieben, der dich erschaffen, fürs zweite, deinen Nächsten wie dich selbst, und Dinge, die du nicht willst, daß andere dir tun, die sollst du nicht andern tun. Die Lehre, die du hieraus ziehen sollst, ist diese: Segne, die dich verfluchen! Du sollst beten für deine Feinde und fasten für die, die dich verfolgen, denn welchen Dank hast du, liebst du die, die dich lieben! Tun Fremde nicht dasselbe? Aber liebe, die dich hassen, und du wirst keinen Feind haben. Enthalte dich fleischlicher und weltlicher Lust. Gibt jemand dir einen Schlag auf deine rechte Wange, so kehre ihm auch die andere Seite zu, und du wirst vollkommen werden. Zwingt dich jemand, eine Meile zu gehen, so gehe zwei mit ihm, nimmt jemand deinen Mantel, so gib ihm auch dein Gewand. Nimmt jemand dir, was dein ist, so fordere es nicht zurück, du kannst es auch nicht (vermutlich, weil der Jude im fremden Lande rechtlos ist). Jedem, der dich bittet, gib, und fordere es nicht zurück, denn der Vater wünscht, daß du allen von seinen eigenen freien Gaben geben sollst (?). Gesegnet ist, wer gemäß dem Gebote gibt, denn er ist ohne Schuld. Weh dem, der empfängt! Empfängt einer, der bedürftig ist, so ist er ohne Schuld, wer aber nicht bedürftig ist, soll Rechenschaft ablegen, weshalb und zu welchem Zwecke er nahm, und wenn er unter die Fuchtel kommt, soll er verhört werden, was er tat, und soll nicht frei ausgehen, ehe er nicht den letzten Heller bezahlt hat. Und auch darüber ist gesagt worden: Laß deine Almosen in deinen Händen brennen, bis du weißt, wem du geben sollst.«

Selbst das Vaterunser ist, wie jetzt allgemein anerkannt, keine neutestamentarische Schöpfung, sondern eine Kompilation nach alttestamentarischen Vorbild.
Aus: Georg Brandes, Die Jesus-Sage, (S.97-103.), Erich Reiss Verlag, Berlin

Gab es ein Urevangelium?
Vieles deutet darauf hin, daß es ein jetzt verlorenes Urevangelium gegeben hat. Aber das ist doch nur eine nicht bewiesene Vermutung. Hat es existiert, so hätte man darin aller Wahrscheinlichkeit nach verfolgen können, wie Judentum und griechischer Geist jener Zeit einander allmählich durchdrangen. Das Urevangelium muß den Fortschritt der neuen, damals als revolutionär aufgefaßten Gedanken und ihre befreiende Macht in einem Geistesleben, das in alte Gesetzesregeln eingeschnürt war, zum Gegenstand gehabt haben.

Alles ist ja hier Ungewißheit und Vermutung, oder doch wenigstens fast alles. Soviel ist jedoch kraft der Beschaffenheit der Menschheit klar: Allmählich wurde die Mitteilung nach den verschiedenen Anforderungen des Lesers variiert.

Soweit ersichtlich, hatte die neue Bewegung zwei Brennpunkte, Rom und Alexandria, die beiden Werkstätten, wo Okzident und Orient zusammengeschweißt wurden. In Alexandria wurde das Judentum teils durch den von Herakleitos stammenden Logos, teils durch neuplatonische Ideen bereichert. In Rom kristallisierte sich die Weltbetrachtung der hellenischen Naturphilosophie zu Monotheismus und Gesetzestreue.

Die Werke Philons mit ihrer Umdeutung des Alten Testaments sind die Vorrede zum Christentum. Unbewußt bereitet er es vor. Im übrigen wirkt in Alexandria er mit den Stoikern, das Judentum mit der römischen Fähigkeit zur Zentralisation zusammen. Sogar die römischen Kaiser wirken durch Errichtung ihrer Weltmacht mit zur Verbreitung des Christentums. In den Gemütern entsteht eine Parallele zwischen diesem Herrn der Welt und dem Herrn des Himmelreichs.
Früh versteinerte allerdings der Glauben und wurde aus einer begeisterten Schwärmerei zu einer katholischen Glaubensregel. Was in den Evangelien anfangs aufrührerisch gewesen war, wurde zu gesetzlichem Katholizismus. Aber die ursprüngliche Flamme erlosch lange nicht.
Aus: Georg Brandes, Urchristentum, (S.110f.), Erich Reiss Verlag, Berlin