Otokar Brezina (1868 – 1929)

  Tschechischer Dichter und Denker des Symbolismus, dessen dichterisches Werk einen Höhepunkt der tschechischen Dichtung bildet. In seinen in Versen und Prosa verfassten Visionen lässt er sich vorwiegend von dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit und der Verherrlichung der Arbeit leiten. Unerschütterlich ist dabei sein Glaube an den ewigen Ratschluss Gottes, der das Weltall steuert und den Menschen in kosmischen Zusammenhängen wirken lässt.

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Weihe des Lebens
Es gibt keine andere Einweihung in das Mysterium der Schönheit als das Leben. Der Reinheit des Lebens entspricht die Herrlichkeit der Vision. Die nach dem höchsten Geheimnis der Schönheit fragen, fragen mit der einzigen Frage, die auf den Lippen aller Propheten gleich glühenden Kohlen brannte: Wie sollen wir leben? Denn ebenso wie überall herrscht auch in den Bereichen der Schönheit das Grauen und die Hehre der Gerechtigkeit, die sich gleicherweise zum Wurm hinabbeugt wie zu dem Fürsten des Gedankens, um mit Gestirnen wie mit Granatsand die ungeraden Waagschalen in das ewige, niegestörte, den Kosmos immerdar in gleicher Spannung haltende Gleichgewicht zu bringen. Ein jeglicher bricht von den köstlichen Früchten der Schönheit an den Zweigen, zu denen er mit seinem geistigen Wachstum herangewachsen; ihre übereinander gelagerten Lichtgalerien entsprechen der Hierarchie der Geister.

Stets aber, in all ihren Kundgebungen, verfolgt die Schönheit ihr fernes Ziel: die Geister durch das mächtige Gesicht einer reicheren Erde und Wirklichkeit zu verbünden, als jegliche Wirklichkeit der Erde ist; wie die Schalmei des Hirten die auf den Bergen verstreuten mystischen Herden in höhere Lagen zu sammeln, auf die lichteren, duftenderen, heilkräftigeren Matten der Urgebirge. In jedem sieghaften Blick unserer Augen ist die Freude von Millionen, die für uns die Welt der Farben und Formen, des erhabenen Lächelns von Blüten und Sternen erobert haben. Was einmal erobert ward, bleibt für alle Zeiten erobert. Jede Münze, verzinst, ist fähig, sich in der Ewigkeit zu allem Golde der Erde zu wandeln. Kein einziger machtvoller Blick, der die Welt in neuer Herrlichkeit und Wahrheit sah, geht verloren und wird zerstört in den Jahrtausenden; ein jeder verkörpert sich zu seiner Zeit in eine Tat, erbrennt als Wort, als Kuß, als Prophezeiung; aber auch als Vorwurf, als Schmerz und das heiße Gefühl des Kampfes, der von den Geistern in allen Welten geführt wird. Die Fechsung [Ernte] von allen Feldern der Schönheit ist die Steuer, die für die Städte des Lebens unser Stern abführt, der Ewigkeit zinsbar.

Wie Flammen, die über verborgenen Erdschätzen tanzen, weist uns die Schönheit auf die Orte, wo wir noch suchen sollen. Wenn sie zerteilt und die Leidenschaftlichkeit der Geister zum Kampf entzündet, hat sie hohe und hehre Verbindungen im Sinne, die wie Zielscheiben in Fernen liegen, wohin nicht einmal die Pfeile der kühnsten Blicke zu fliegen vermögen. Ihr Lächeln ist wie das breite, rätselvolle Lächeln des Meeres, gefährlich dem einsamen Schwimmer; und ihre Botschaft ist wie ein mystisches Sendschreiben an das Weltall, mit Sternen versiegelt, das auch die ätherische Hand des mächtigsten der Geister nicht erbricht, das aber dereinst dennoch von allen wird eröffnet werden. Millionen Herzen schlagen im Dienste der Schönheit wie Weberschifflein am Webstuhl des Daseins: Millionen Herzen sehnen sich mit Millionen Schlägen in dem ununterbrochenen Arbeitstag, mit Querfäden der Liebe die zu Beginn der Zeiten abgerissene Webekette wieder zu knüpfen. Und vergeblich schlägt ein jedes Herz, das ihrer einigenden Arbeit entglitten, Schifflein mit abgerissenem Faden, vergeblich die der Müdigkeit verfallenden Geisterhände.

Wie die Sonne bei Aufstieg des Tages, verläßt auch die Schönheit scheinbar die Orte, wo sie einmal gestanden. Aber wer ihr Geheimnis begriffen hat, weiß, daß sie reglos ist wie die Sonne, in blendendem, sieghaftem Lachen sich der Welten freuend, die sie belebt.

Solange vor unsern Blicken wie eine mystische Vegetation die Schönheit der Dinge in Flammen emporschlägt, stets neu und Staunen wachrufend, ist es ein Zeichen, daß wir den rechten Weg gehen. Bäume, Blüten, Quellen und Horizonte geben uns in ihrem Glanze das Strahlen unserer Seele wieder, die umso feuriger leuchtet, je näher sie ihrem Ziele kommt. Die Vögel grüßen uns wie Brüder, mit ihrem Fluge die Süße und Leichtigkeit unseres Fluges andeutend. Die ganze Schöpfung, deren Vielfalt und Wirrsal uns beunruhigt hatte, befriedet sich vor uns wie das chaotische Wogen der Kräfte am Schöpfungstag und legt sich vor unserer geistigen Segelfahrt zu der klaren Spiegelbewegung des Stromes zusammen. Die Pflicht erscheint uns mit der Schärfe einer genialen Eingebung, unser Tun erlangt die völlige Genauigkeit einer Funktion, die ausgeübt wird von einem erhellten Instinkt. Wir sehen von allen Seiten zugleich, geistig, zusammengesetzt und übersichtlich; wir gehen in der Richtung der Entwicklung; jeder Augenblick erklärt uns die Rätsel von Jahrhunderten; alles entspricht sich wechselseitig in den herrlichen Perspektiven des Gesetzes; der Rausch der Lebensfülle, des überströmenden Reichtums, läßt uns die Vorahnung der Freiheit verkosten, nach der wir alle Durst in unsern Herzen tragen.

Aber sobald die Dinge unseren Augen in Chaos zu zerfallen beginnen, ohne Gesetz und Rhythmus (mag er auch noch so tragisch sein in den Seelen, denen von der Gerechtigkeit der Weg des Schmerzes vorbestimmt ist), ist es ein Zeichen, daß wir vom Weg abgeirrt sind und in die sumpfigen Orte der Zersetzung gehen, die Jahrtausende lang auf ihre Vegetation warten und sie vielleicht in dem Bestande dieser Erde nicht erst erharren werden. Wie ein verletzter Spiegel, von dem blinde Hände den Silberbelag gelöst haben, verliert die Natur die Fähigkeit, die Züge unseres Geistesantlitzes widerzustrahlen. Wirrungen und Gegensätze, sich einander zu Nichts erschlagend, verraten uns, daß ein Makel auf unserem innern Gesicht liegt. Wir haben den asymptotischen Punkt aller Perspektiven der Schönheit verloren; etwas ist geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen; unser Verhältnis zum Leben der Erde ist gestört worden. War es ein Schmerz, der nicht hätte aufgerufen werden dürfen aus den dunklen Schlupfwinkeln der Schuld?

War es eine Liebe, die nicht hätte zurückgewiesen werden dürfen, als sie – Königin! - wehmütig kam, und die nun Feuer um sich gelassen hat wie die Fürsten auf ihrem Zug durch Feindesland? War es eine Wahrheit, die wir vergessen haben wie eine Kerze, entzündet am Lager und umgestoßen in allzu leidenschaftlichem Traume, und sieht jetzt hat sie uns das Haus überm Haupt in Flammen gesetzt? ... Haben wir viel zu lange geschlafen und uns verspätet auf den Wegen der Zeiten? Haben wir die brüderliche Schar der Vordringenden verloren und irren wir auf ruhig gewordenen Schlachtfeldern umher, wo nur hungrige Gedanken über unsern Köpfen kreisen wie die Schatten dem Heerlager folgender Raubtiere? Haben wir mit unserem Schweigen teilgenommen an der Schuld, die von den Mächtigen begangen wird an Tausenden Namenloser? Haben wir etwa unbewußt gegen die Verbündung der Geister gewirkt? Die Schönheit ist verschwunden. Unser geistiger Blick ist erblindet, die Hände, im Dunkel widereinander stoßend, haben die Fähigkeit des Werkes verloren. Die Kunst ist für uns in diesem Zustande verloren. Denn machtvoll sehen und schaffen ist eins. Der mystische Gärtner führt in seine inneren Gärten nicht jene ein, die die Kraft verloren haben, in ihnen zu arbeiten.

Aber die Arbeit, die von der Kunst geleistet wird, ist die gleiche Arbeit, auf die das gesamte Leben der Erde gerichtet ist. Es ist eine Fortsetzung des Schöpfungswerkes, das die Sterne als die Grundsteine seines Baues gesetzt hat und die Phantasie als die Brücke zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten.

Es kann daher keine Kunst gegen das Leben geben. Gegen das Leben ist nicht einmal die Kunst des Grauens, nicht einmal die Kunst, welche die dämmerhaften Stellen zwischen Tag und Nacht belebt. Denn die Kunst ist wie das Leben die Herrschaft des Gesetzes über das Chaos, die Sprache, die für die Zeiten formt, die Linie, die noch weiter abgrenzt als die Natur, die Farbe, welche die Herrlichkeit von Morgen ahnen läßt, die von anderer Sonne entzündet sind als von der unsern, die Musik, die auch noch aus dem Stöhnen der Stürme, aus dem Brausen der Wellen, aus dem Wimmern und Jauchzen der Tiere die Lichtbebungen erhabener Töne befreit und sie so mächtig zu einen weiß, daß sie wie Beschwörungsworte bis in die Welt der Geister dringen und aus ihren Tiefen das Schluchzen reiner, noch ungeborener Wesen wecken. Denn in der Kunst kündigen sich bisher nicht Körper gewordene Lebensformen an. Gegen das Leben aber ist die Stummheit, mag sie sich auch in einem Jahrhunderte lang währenden Wortregen entkräften und mag auch ihre Stille das Schweigen ganzer Bibliotheken sein; die Blindheit, mag sie auch in alle Rosenfarben der Morgenröten, eingefangen in die gehöhlten Handflächen der Abende, ihre Pinsel tauchen und von ihnen Sonnen wie Tropfen flüssigen Goldes niedertropfen lassen; Taubheit, mag sie auch wie der Windsturm sich in Raserei abarbeiten, um die gigantischen Klaviaturen der Meere zum Spiel zu bringen. Stummheit, Blindheit und Taubheit aber sind gegen das Leben, weil sie den Zusammenhang zwischen den Wesen zerreißen und so das Werk der geistigen Vereinigung, den Sinn der Schönheit stören.

An diesen Orten gibt es keinen innern Unterschied zwischen den einzelnen Formen des menschlichen Strebens. Die Meister der Wissenschaft sind hier ebenso Künstler wie die Genies der Tat und des Herzens, Eroberer und Heilige und all die Unzähligen, die mit ihnen an dem gemeinsamen Werke der Vereinigung der Geister arbeiten. Alle führt die Schönheit, stets entweichend im grausamen Liebesspiel, stets verfolgt von der Phantasie. Jener Phantasie, ohne die es keine Entdeckung auf Erden gäbe und deren Schiffe zu den weißen Vorgebirgen neuer Küsten um Jahrhunderte früher gefahren kamen als die aus Eisen und Holz gefügten Schiffe; die bei dem Anblick des Frühlings das Zwitschern von tausend Lenzen hört, in dem Liede der Schnitter die Musik der reifenden Sternenfelder und in der Schönheit des Weibes die Liebe der strahlenden Bruderwesen begrüßt, die aus den Zeiten aufsteigen; von der Phantasie, die den Begriff der Allmacht geschaffen hat in der tiefen Intuition der geistigen Daseinswesenheit und die aus Dankbarkeit für einen Augenblick ekstatischen Erblickens des Zieles den ganzen Kosmos erhellt wie ein Lächeln, Jahrtausende hindurch geschlagene Wunden von Millionen Herzen vergißt und den Tod, den die Lebenden nicht lieben dürfen, mag er auch mehr vereinigen denn das Leben.

Die ganze geheimnisvolle Welt, die unausgedrückt in uns schläft, die nicht einmal von einer Reihe von Sternbildern in Tausenden Ländern wird ausgedrückt werden, deren Weite und Herrlichkeit nicht einmal das kühnste Träumen ahnt, erbebt in uns bei jedem Erblitzen des schöpferischen Kusses, als wäre wieder eine Fessel des mystischen Fluches zerrissen und als hätten sich wiederum dichter genähert die ausgebreiteten Arme der Geister, die sich sehnen nach Vereinigung und Befreiung.

Und diesen Eindruck bewirken alle großen Werke des Menschen auf der Erde.

Enthalten in: Slavische Geisteswelt 3. West- und Südslavien, Mensch und Welt. (S.135ff) Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und C. Wytrzens, Holle Verlag