Peter Jakovlevic Caadaev, auch Tschaadajeff (1794 – 1856)

   Russischer Philosoph, dem – inspiriert von Jung-Stillings mystischen Schriften – am 25. Januar 1822 eine »große Erleuchtung« widerfuhr, die ihn von seinem Pessimismus erlöste, der ihn bis dato gelähmt hatte. Seine Karlsruher Begegnung mit Schelling verstärkte in ihm den Wunsch sich für ein neues verinnerlichtes russisches Christentum einzusetzen. Dabei ließ sich der »Philosoph von Moskau« - wie er auch von seinen Verehrerinnen genannt wurde – von dem Grundgedanken leiten, dass die katholische Kirche als alleinige Vertreterin der göttlichen Idee auf Erden, respektive also das Papsttum, für das Höchste Prinzip, nämlich das der christlichen Einheit, zuständig ist. Die Idee der christlichen Einheit war auch ein Schwerpunkt in seinem »Ersten Philosophischen Brief« an Frau Katharina Panova, deren religiöse Zweifel er mit diesem Brief beseitigen wollte.

Siehe Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Aus dem »Ersten philosophischen Brief«
Adveniat regnum tuum
Gnädige Frau!
Was die äußeren Bedingungen betrifft, so lassen Sie sich einstweilen an dem Bewusstsein genügen, dass die Lehre, die auf dem obersten Prinzip der Einheit und einer direkten Mitteilung der Wahrheit in der stetigen Reihe ihrer Diener gegründet ist, natürlich dem wahren Geist der Religion am meisten entspricht; denn er geht ganz und gar zurück auf die Idee der Vereinigung aller auf der Welt vorhandenen moralischen Kräfte in einen Gedanken, in ein Gefühl und auf die allmähliche Festsetzung eines solchen sozialen Systems oder einer Kirche, die das Reich der Wahrheit unter den Menschen aufrichten soll. Jede andere Lehre weist durch die Tatsache ihres Abfalls selbst von der ursprünglichen Doktrin von vornherein die Wirkung des erhabenen Vermächtnisses des Erlösers ab: Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien gleich wie wir (Joh. 17, 11) und strebt nicht nach einer Begründung des Reiches Gottes auf Erden...


Im Leben ist eine gewisse Seite, die sich nicht auf das physische, sondern auf das geistige Sein des Menschen bezieht. Man soll sie nicht gering schätzen; auch für die Seele gibt es ein bestimmtes Regime wie für den Körper; man muss sich ihm unterordnen können. Das ist eine alte Wahrheit, ich weiß es; aber es dünkt mich, dass sie in unsrem Vaterlande noch sehr oft den ganzen Wert einer Neuheit hat. Es ist einer der traurigsten Züge unserer eigenartigen Zivilisation, dass wir Wahrheiten allererst entdecken, die an anderen Orten und sogar bei Völkern, die in vielem hinter uns zurückblieben, schon abgenutzt sind. Das kommt daher, dass wir niemals mit andern Völkern Hand in Hand gegangen sind; wir gehören zu keiner der großen Familien des Menschengeschlechts; wir gehören weder zum Westen noch zum Osten, und uns fehlen die Überlieferungen des einen und des anderen. Indem wir gleichsam außerhalb der Zeit stehen, wurden wir von der universellen Erziehung des Menschengeschlechts nicht berührt.

Dieser wunderbare Zusammenhang der menschlichen Ideen im Laufe von Jahrhunderten, diese Geschichte des menschlichen Geistes, die ihn zu der Höhe erhoben haben, auf der er jetzt in der ganzen übrigen Welt steht — haben auf uns keinen Einfluss geübt. Das was in anderen Ländern schon längst die Grundlage des Gemeinlebens selber bildet, ist für uns nur Theorie und Spekulation...

Umfassen Sie alle von uns durchlebten Jahrhunderte, den ganzen von uns eingenommenen Raum mit dem Blick — Sie werden keine anziehende Erinnerung, kein ehrwürdiges Denkmal finden, das Ihnen machtvoll von der Vergangenheit reden, sie vor Ihnen lebendig und bildhaft erstehen lassen würde. Wir leben nur durch das Gegenwärtige in dessen engsten Grenzen, ohne Vergangenheit und Zukunft, inmitten eines toten Stillstandes. Und wenn wir uns bisweilen erregen, so doch gewiss nicht in der Erwartung oder Berechnung irgendeines gemeinsamen Gutes, sondern aus Leichtsinn, wie ein Kind, das Anstrengungen macht aufzustehen und seine Hände nach dem Spielzeug ausstreckt, das ihm die Wärterin zeigt . . .

Die Jahre der frühen Jugend, die wir in einer stumpfen Unbeweglichkeit verbrachten, haben keine Spur in unserer Seele zurückgelassen, und wir besitzen nichts Individuelles, worauf sich unser Gedanke stützen könnte; aber, durch ein sonderbares Schicksal von der universellen Bewegung der Menschheit isoliert, haben wir auch nichts von den überlieferten Ideen des Menschengeschlechts in uns aufgenommen. Indessen gründet sich aber auf diesen Ideen das Leben der Völker; aus diesen Ideen entquillt ihre Zukunft, geht ihre moralische Entwicklung hervor. Wenn wir eine der Position anderer zivilisierter Völker ähnliche Stellung einnehmen wollen, müssen wir in gewisser Weise bei uns selber die ganze Erziehung des Menschengeschlechts wiederholen . . .

Die Völker leben nur von den gewaltigen Eindrücken, welche die verflossenen Jahrhunderte in ihrer Seele zurückließen, und von dem Verkehr mit anderen Völkern. Daher ist jeder einzelne Mensch durchdrungen von dem Bewusstsein seiner Verbindung mit der gesamten Menschheit.

Was ist das Leben des Menschen, sagt Cicero, wenn die Erinnerung an die vergangenen Ereignisse die Gegenwart mit der Vergangenheit nicht verbindet! Wir aber, gleich Bastarden auf die Welt gekommen, ohne Erbschaft, ohne Verbindung mit den Menschen, die vor uns auf der Erde gelebt haben, bewahren in unsren Herzen gar nichts von den Lehren, die unserer eigenen Existenz vorausgegangen sind. Jeder von uns muss selbst den abgerissenen Faden der Verwandtschaft wieder anknüpfen. Was sich bei anderen Völkern in Gewohnheit, in Instinkt verwandelt hat, müssen wir uns in das Gehirn einhämmern. Unsre Erinnerungen reichen nicht weiter als der gestrige Tag; wir sind uns, sozusagen, selbst fremd. Wir bewegen uns so sonderbar in der Zeit, dass mit jedem unsrer Schritte vorwärts der vergangene Augenblick für uns unwiderruflich verschwindet. Das ist das natürliche Ergebnis einer Kultur, die völlig auf Entlehnung und Nachahmung begründet ist.

Uns fehlt vollkommen die innere Entwicklung, der natürliche Fortschritt. Jede neue Idee verdrängt spurlos die alten, weil sie nicht aus ihnen hervorgeht, sondern bei uns, Gott weiß woher, auftaucht; da wir stets nur fertige Ideen empfangen, bilden sich in unserem Gestirn nicht jene unvertilgbaren Furchen, die eine folgerichtige Entwicklung in den Geistern zieht und die ihre Kraft ausmachen. Wir wachsen, aber reifen nicht; bewegen uns fort, aber in einer krummen Linie, d. h. in einer solchen, die nicht zum Ziele führt. Wir gleichen jenen Kindern, die man nicht zum selbständigen Denken erzogen hat: in der Reifeperiode zeigt sich bei ihnen nichts Eigenes, ihr ganzes Wissen liegt im äußeren Sein, ihre ganze Seele ist außer ihnen. Gerade so sind wir.


Die Völker sind in gleichem Maße sittliche Wesen wie auch die einzelnen Persönlichkeiten. Sie werden von den Jahrhunderten erzogen wie die einzelnen Menschen von den Jahren. Aber wir sind sozusagen in gewisser Hinsicht ein Ausnahme-Volk. Wir gehören zu der Gruppe jener Nationen, die scheinbar in den Bestand der Menschheit nicht eingehen, vielmehr nur dazu da sind, der Welt irgendeine wichtige Lehre zu geben. Die Belehrung, die wir berufen sind, vorzubringen, wird natürlich nicht verloren sein; aber wer kann sagen, wann wir uns inmitten der Menschheit entdecken werden, wie viel Unheil uns beschieden ist, bevor unsere Bestimmung in Erfüllung geht?

Alle Völker Europas haben eine gemeinsame Physiognomie, eine gewisse Familienähnlichkeit. Trotz ihrer allgemeinen Einteilung in die lateinische und teutonische Rasse, in Süd- und Nordländer, ist immerhin ein gemeinsames Band vorhanden, das sie zu einem Ganzen vereinigt und jedem sichtbar ist, der ein wenig tiefer in ihre gemeinsame Geschichte eindringt. Sie wissen, dass vor einer verhältnismäßig noch nicht so langen Zeit ganz Europa als christliche Welt bezeichnet wurde, und dieser Ausdruck wurde im öffentlichen Recht gebraucht. Außer dem allgemeinen Charakter hat jedes dieser Völker noch einen besonderen, aber beide sind durchweg aus Geschichte und Tradition gewoben. Sie bilden das überlieferte ideelle Erbe dieser Völker. Jeder einzelne Mensch verwertet dort seinen Anteil an diesem Erbe; ohne Mühe und übermäßige Anstrengungen sammelt er sich im Leben einen Vorrat dieser Kenntnisse und Gewöhnungen und zieht daraus seinen Nutzen.

Vergleichen Sie selbst und sagen Sie, ob wir in unserem alltäglichen Verkehr viele elementare Ideen finden, nach denen wir uns irgendwie im Leben richten könnten? Und beachten Sie, dass hier nicht vom Erwerb von Kenntnissen, nicht vom Lesen, nicht von etwas, was Literatur oder Wissenschaft betrifft, die Rede ist, sondern einfach von dem gemeinschaftlichen Umfang der Geister, von den Ideen, die sich des Kindes in der Wiege bemächtigen, es bei seinen kindlichen Spielen umschweben und ihm mit der Liebkosung der Mutter mitgeteilt werden, Ideen, die in Gestalt verschiedener Gefühle in das Mark seiner Knochen eindringen zugleich mit der Luft, die es atmet, und sein geistiges Wesen bilden, noch bevor es in die Welt und in die Gesellschaft eintritt. Wollen Sie wissen, was das für Ideen sind? Es sind die Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit, des Rechts und der Ordnung. Sie sind erwachsen aus den Ereignissen selbst, die dort die Gesellschaft gebildet haben, sie gehen als notwendiges Element in die soziale Struktur dieser Länder ein . . .

Infolgedessen werden Sie finden, dass uns allen eine gewisse Sicherheit, intellektuelle Methodik, Logik fehlt. Der westliche Syllogismus ist uns unbekannt. Unsere besten Geister leiden an etwas Wichtigerem als an einfacher Ungründlichkeit. Die besten Ideen ersterben in unserem Gehirn und verwandeln sich in unfruchtbare Phantome aus Mangel an Zusammenhang und Folgerichtigkeit. Es ist dem Menschen eigentümlich, den Kopf zu verlieren, wenn er kein Mittel findet, sich in Verbindung zu bringen mit dem, was ihm vorhergeht, und mit dem, was ihm nachfolgt. Er verliert dann jede Festigkeit, jede Zuversichtlichkeit. Von dem Gefühl der Stetigkeit nicht geleitet, sieht er sich verirrt in der Welt.


Solche konfus gewordenen Menschen kommen in allen Ländern vor; bei uns aber ist das ein allgemeiner Zug. Das ist gar nicht jener Leichtsinn, den man einst den Franzosen zum Vorwurf machte, und der eigentlich gar nichts anderes war als die Fähigkeit, sich die Dinge leicht anzueignen, die weder die Tiefe noch die Weite des Verstandes ausschloss und dem Umgang eine außerordentliche Anmut und Schönheit verlieh, — das ist die Sorglosigkeit eines Lebens, dem die Erfahrung und Voraussicht fehlt, die nichts in Betracht zieht, außer der schnell vorübereilenden Existenz der von der Gattung losgerissenen Person, eines Lebens, dem es weder um die Ehre noch um die Erfolge irgendeines Systems von Ideen und Interessen zu tun ist, ja nicht einmal um jenes gattungsmäßige Erbe und um jene zahllosen Vorschriften und Perspektiven, welche in den Bedingungen des auf die Erinnerung an das Vergangene und die Voraussicht des Zukünftigen gegründeten Daseins das gesellschaftliche und private Leben ausmachen.

In unseren Köpfen ist schlechterdings nichts Gemeinsames; alles darin ist individuell, alles schwankend und unvollständig. Es scheint mir sogar, dass unser Blick eine sonderbare Unbestimmtheit hat, etwas Kaltes und Unsicheres, das an die Physiognomie jener Völker erinnert, die auf den untersten Stufen der sozialen Leiter stehen. In fremden Ländern, besonders im Süden, wo die Gesichter so ausdrucksvoll und so lebendig sind, war ich oft, indem ich die Gesichter meiner Landsleute mit denjenigen der Einheimischen verglich, erstaunt über ihre Ausdruckslosigkeit...

Ich will natürlich nicht sagen, dass wir nur Laster besitzen, die europäischen Völker dagegen nur Tugenden; Gott bewahre! Aber ich behaupte, dass, um über die Völker richtig zu urteilen, man den allgemeinen Geist erforschen müsse, der ihr Lebensprinzip bildet, denn nur er, nicht dieser oder jener Charakterzug kann sie auf den Pfad der sittlichen Vervollkommnung und der unendlichen Entwicklung hinausführen...

Und nun frage ich Sie, wo sind unsere Weisen, unsere Denker? Wer hat jemals für uns gedacht, wer denkt jetzt für uns? Und doch, zwischen zwei Hauptteilen der Welt, dem Orient und dem Okzident stehend, uns mit dem einen Ellbogen auf China, mit dem anderen auf Deutschland stützend, sollten wir in uns die beiden großen Prinzipien der geistigen Natur verbinden: die Einbildungskraft und den Verstand und in unserer Zivilisation die Geschichte des ganzen Erdballs vereinigen. Aber nicht das ist die Rolle, die uns von der Vorsehung bestimmt wurde. Mehr als das: sie scheint um unser Schicksal durchaus nicht besorgt gewesen zu sein. Nachdem sie ins von ihrer wohltätigen Einwirkung auf die menschliche Vernunft ausgeschlossen hatte, überließ sie uns völlig uns selber, verzichtete darauf, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, hegte durchaus nicht den Wunsch, uns irgendwie zu unterweisen.

Die historische Erfahrung existiert für uns nicht; Generationen und Jahrhunderte sind ohne Nutzen für uns dahingegangen. Man könnte, auf uns blickend, sagen, dass das allgemeine Gesetz der Menschheit in Hinsicht auf uns aufgehoben sei. In der Welt vereinsamt, haben wir der Welt nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee in die Masse der menschlichen Ideen hineingetragen, durch nichts an dem Fortschritt der menschlichen Vernunft mitgewirkt, und alles, was uns von diesem Fortschritt zuteil wurde, haben wir entstellt. Von dem ersten Augenblick unseres gesellschaftlichen Daseins haben wir für das Gemeinwohl der Menschen nichts getan; kein nützlicher Gedanke ist dem unfruchtbaren Boden unserer Heimat entsprossen; keine große Wahrheit ist aus unserer Mitte hervorgegangen; wir haben uns nicht die Mühe gegeben, selbst etwas zu erdenken; von dem aber, was die anderen erdachten, übernahmen wir nur die trügerische Äußerlichkeit und die nutzlose Pracht.

Merkwürdig: sogar in der Welt der Wissenschaft, die alles umfasst, schließt sich unsere Geschichte an nichts an, verdeutlicht nichts, beweist nichts. Wenn die wilden Horden, die die Welt aufgerührt haben, nicht durch das Land gezogen wären, das wir bewohnen, bevor sie sich gen Westen stürzten, wäre uns kaum eine Seite in der Weltgeschichte zuerteilt worden. Wenn wir uns nicht von der Beringstraße bis zur Oder ausgebreitet hätten, so hätte man uns nicht einmal bemerkt. Einst hatte uns ein großer Mann (Peter der Große) aufklären wollen und, um in uns Geschmack an der Bildung zu erwecken, warf er uns den Mantel der Zivilisation hin; wir hoben den Mantel auf, ließen aber die Bildung unberührt . .
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In unserem Blut ist etwas, das jedem wahren Fortschritt feind ist. Und im Großen und Ganzen haben wir gelebt und fahren fort zu leben, nur um als Belehrung zu dienen für entfernte Generationen, die sie werden begreifen können; gegenwärtig sind wir aber jedenfalls eine Lücke in der moralischen Weltordnung. Ich kann mich nicht genug wundern über diese außergewöhnliche Leere und Isoliertheit unseres sozialen Daseins. Selbstverständlich ist daran zum Teil das unerforschliche Schicksal schuld, aber wie in allem, was in der moralischen Welt vor sich geht, teilweise auch der Mensch. Wir wollen uns noch einmal der Geschichte zuwenden: sie ist der Schlüssel zum Verständnis der Völker. Was taten wir zu jener Zeit, als im Kampf des energischen Barbarentums der nordischen Völker mit den hohen Gedanken des Christentums der Tempel der gegenwärtigen Zivilisation sich herausbildete? Unserem verhängnisvollen Schicksal uns fügend, wandten wir uns an das bedauernswerte, von diesen Völkern tief verachtete Byzanz nach jenem Moralkodex, der unserer Erziehung zugrunde gelegt werden sollte . . .

Zu jener Zeit, als die christliche Welt majestätisch auf dem ihr von ihrem göttlichen Begründer vorgezeichneten Wege dahinschritt, Generationen mit sich fortreißend — bewegten wir uns, obwohl wir den Namen Christen trugen, nicht vom Fleck. Die ganze Welt wurde von neuem umgebaut, bei uns aber wurde gar nichts geschaffen; wir vegetierten wie früher, indem wir uns in unsere aus Balken und Stroh zusammengezimmerten Hütten verkrochen. Mit einem Wort, die neuen Schicksale des Menschengeschlechts vollzogen sich ohne unsere Beteiligung und unser Wissen. Obwohl wir uns Christen nannten, wurde die Frucht des Christentums für uns nicht reif.

Ich frage Sie, ist es nicht naiv, anzunehmen, wie es bei uns gewöhnlich geschieht, dass wir diesen Fortschritt der europäischen Völker, der sich so langsam und unter direkter und augenscheinlicher Einwirkung einer einheitlichen moralischen Kraft vollzog, uns auf einmal aneignen können, ohne uns sogar die Mühe zu geben, zu erfahren, wie er verwirklicht wurde?


Derjenige begreift das Christentum ganz und gar nicht, der nicht sieht, dass es eine rein historische Seite hat, die als eines der wesentlichsten Elemente des Dogmas erscheint und in sich sozusagen die ganze Philosophie des Christentums einschließt, weil sie zeigt, was es den Menschen gab und was es ihnen in Zukunft geben wird. Von diesem Standpunkt aus erscheint die christliche Religion nicht nur als moralisches System eingeschlossen in die vergänglichen Formen des menschlichen Verstandes, sondern als ewige göttliche Kraft von universaler Wirksamkeit in der geistigen Welt, deren deutliche Manifestation uns zu dauernder Anweisung dienen soll. Eben das ist der authentische Sinn des Dogmas vom Glauben an die eine Kirche, das in dem Glaubenssymbol enthalten ist. In der christlichen Welt muss alles notwendig das Zustandekommen einer vollkommenen Ordnung auf Erden fördern und fördert es auch wirklich; anders wäre das Wort des Herrn, dass er in der Kirche verbleiben werde bis ans Ende der Welt, nicht in Erfüllung gegangen. Dann wäre die neue Ordnung — das Reich Gottes — das als Frucht der Erlösung erscheinen soll, von der alten Ordnung — dem Reich des Bösen — das durch die Erlösung vernichtet werden soll, in gar nichts verschieden, und uns würde wiederum nur jener gespensterhafte Traum von einer Vollkommenheit bleiben, den die Philosophen hegen, und den jede Seite in der Geschichte widerlegt — ein leeres Spiel des Verstandes, das nur die materiellen Bedürfnisse des Menschen befriedigen kann und das ihn nur zu dem Zweck auf eine gewisse Höhe erhebt, um ihn sofort in noch tiefere Abgründe niederzustoßen...

Alle europäischen Völker schritten in den Jahrhunderten vorwärts Hand in Hand; und wie immer sie sich jetzt anstrengen mögen, jedes seinen Weg zu gehen stets treffen sie auf demselben Weg zusammen. Um sich davon zu überzeugen, wie verwandt die Entwicklung dieser Völker ist, hat man nicht nötig, Geschichte zu studieren; lesen Sie nur den Tasso, und Sie werden sie alle vor den Mauern Jerusalems auf dem Antlitz liegend finden. Erinnern Sie sich dessen, dass sie fünfzehn Jahrhunderte jedes Jahr, an demselben Tag, zu derselben Stunde, in denselben Worten ihre Stimme zum höchsten Wesen erhoben, um es für die größte seiner Wohltaten zu preisen. Ein wunderbarer Zusammenklang, tausendmal großartiger als sämtliche Harmonien der physischen Welt! Wenn also diese Sphäre, in der die Europäer leben und in der allein das Menschengeschlecht seine Endbestimmung erfüllen kann, ein Resultat der Religion ist, und wenn andererseits die Schwäche unseres Glaubens und die Unvollkommenheit unserer Dogmen uns bis jetzt abseits von dieser allgemeinen Bewegung, in der die Gesellschaftsidee des Christentums sich entwickelte und formulierte, gehalten und uns zu der Schar der Völker hinabgeführt haben, denen es beschieden ist, nur indirekt und spät sich alle Früchte des Christentums zunutze zu machen — so ist es klar, dass es uns vor allem obliegt, unseren Glauben mit allen möglichen Mitteln zu beleben und uns einen echt christlichen Anstoß zu geben, da im Westen alles vom Christentum geschaffen ist. Das hatte ich im Sinne, als ich sagte, dass wir die ganze Erziehung des Menschengeschlechts an uns von Anfang an wiederholen müssten...

Noch erstaunlicher aber ist der Einfluss des Christentums auf die Gesellschaft als Ganzes. Rollen Sie das Bild der Evolution der modernen Gesellschaft ganz auf, und Sie werden sehen, wie das Christentum alle Interessen der Menschen in seine eigenen umgestaltet, überall das materielle Bedürfnis durch das moralische ersetzend und in der Sphäre des Gedankens jene großen Kontroversen erregend, die früher kein Zeitalter, keine Gesellschaft gekannt hat, jenes furchtbare Aufeinanderprallen der Meinungen, da das ganze Leben der Völker sich in eine große Idee, ein grenzenloses Gefühl verwandelte; Sie werden sehen, dass alles in ihm aufgeht und nur in ihm — das private und gesellschaftliche Leben, die Familie und die Heimat, die Wissenschaft und die Poesie, die Vernunft und die Phantasie, die Erinnerungen und die Hoffnungen, die Freude und die Trauer. Glücklich sind diejenigen, welche in ihrem Herzen das deutliche Bewusstsein tragen von dem Anteil, den sie an dieser großen Bewegung, die Gott selbst der Welt erteilt hat, haben. Aber nicht alle sind tätige Werkzeuge, nicht alle arbeiten bewusst. Die unvermeidlichen Massen bewegen sich blind, ohne die Kräfte zu kennen, die sie treiben und ohne das Ziel zu sehen, zu dem sie gezogen werden — seelenlose Atome, träge Haufen.


Doch es ist Zeit zu Ihnen zurückzukehren, gnädigste Frau. Ich gestehe, es fällt mir schwer, mich von diesen weiten Perspektiven loszureißen. In dem Bilde, das sich meinen Blicken von dieser Höhe darbietet, liegt mein ganzer Trost, und allein der süße Glaube an das zukünftige Glück der Menschheit dient mir als Zuflucht, wenn ich von der kläglichen Wirklichkeit, die mich umgibt, bedrückt, das Bedürfnis fühle, reinere Luft zu atmen, einen klareren Himmel zu betrachten. Doch glaube ich nicht, dass ich Ihre Zeit missbraucht habe. Ich musste Ihnen den Standpunkt darlegen, von dem aus die christliche Welt und unsere Rolle in derselben zu betrachten ist. Das, was ich Ihnen von unserem Lande sagte, könnte Ihnen von Bitterkeit erfüllt erscheinen; indessen habe ich nur die Wahrheit ausgesprochen und nicht einmal die ganze. Überdies duldet das christliche Bewusstsein keine Blindheit, als deren schlimmste Art aber das nationale Vorurteil erscheint, da es die Menschen am meisten veruneinigt . . .
Nekropolis, 1. Dezember 1829 S. 187ff.
Aus: Slavische Geisteswelt 1 - Russland, herausgegeben von Martin Winkler, Holle Verlag