Houston Stewart Chamberlain (1855 – 1927)

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Inhaltsverzeichnis
Der Heiland
Der Mittler


In folgenden Texten kommt u. a. auch ganz klar die »antijüdische Tendenz« zum Ausdruck, von der sich Chamberlain eindeutig leiten ließ und die ihn wohl auch letztlich zu Hitlers Lieblingsphilosophen prädestinierte.

Der Heiland

Ein jedes Jahrhundert bringt seinen eigenen Wahnwitz hervor, geboren aus falschen Richtungen, in die sein Denken mit historisch bedingter Notwendigkeit hineingerät; späteren Zeiten offenbaren sich solche Wahnvorstellungen ohne weiteres als Irrtümer, ja, stechen ins Auge, doch solange ihre Herrschaft anhält, sind auch die gescheitesten Menschen — der Mehrzahl nach — wie von Blindheit geschlagen. Unter den zahlreichen hierher gehörigen Narreteien des neunzehnten Jahrhunderts wird künftigen Geschlechtern gewiß keine ärger dünken als die in verschiedenen Abarten immer wieder aufgetretene und mit Beifall aufgenommene Lehre, Jesus von Nazareth sei eine mythische Gestalt, also eine von Menschen erdichtete, keine wirkliche Persönlichkeit, die in Fleisch und Blut einstens auf Erden wandelte. Nach den Einen soll es überhaupt keinen Menschen dieses Namens gegeben haben (so z. B. nach J. M. Robertson: Christianity and Mythology, 1900); andere — ernster zu nehmende — Gelehrte leugneten nicht das Dasein Jesu, hielten ihn jedoch für einen mehr oder weniger obskuren galiläischen Religionsschwärmer und Volksaufwiegler, dergleichen aus der Geschichte eine Anzahl bekannt sind, erklärten aber die evangelischen Berichte im wesentlichen für freie Erfindungen, die Jesu zugeschriebenen Worte für unecht, kurz, die der europäischen Menschheit seit bald zwei Jahrtausenden vertraute Gestalt für ein erdichtetes Phantasiegebilde — erdichtet nämlich von Paulus, dem Rabbinenschüler, und einer kleinen Gruppe von Fanatikern, die sich bald erweiterte, indem der religiöse Wahnsinn um sich griff und von allen Seiten neuen mythischen Stoff herbeibrachte, so daß in kurzer Zeit ein vollständiges Lehrgebäude dastand, aus lauter Luftgebilden aufgezimmert. Diese Versuche, die Persönlichkeit des Heilandes alles Eigenlebens zu berauben, reichen von David Friedrich Strauß im Jahre 1835 bis zu Artur Drews im Jahre 1909. Es ist nicht meine Absicht, auf diese Literatur einzugehen; wer sich damit beschäftigen will, sei auf das vortreffliche Werk von Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, verwiesen. Ich, für mein Teil, beklage jede Stunde, die ich — von pedantischer Gewissenhaftigkeit getrieben — auf sie verwendete. S.75

Weltlich betrachtet ist die Fortdauer des Christentums über die zwei ersten Jahrhunderte hinaus — geschweige denn sein Sieg — gar nicht zu erklären; es handelt sich eben, wie schon gesagt, um einen Sieg rein geistiger Kräfte über alles, was den Menschen sonst aus Bedürfnis, Instinkt und Leidenschaft bestimmt. Man kennt das Wort Cecil Rhodes‘, wert, für alle Zeiten als das Bekenntnis des Antichristen angenagelt zu werden: »Jedermann ist zu kaufen; nur der Preis ist verschieden«; hier nun fanden sich viele tausend Männer, Frauen und auch Kinder bereit, alles, was das Leben ihnen bot und versprach, jeden Augenblick hinzuopfern und ohne Zagen in den qualvollsten Tod zu schreiten; was ihr Geist festhielt, galt ihnen als höchstes Gut: eine Umwandlung, eine Neugeburt mußte bei ihnen stattgefunden haben. Und was hatte sie bewirkt? Woher stammte diese neue, der damaligen Welt unbekannte Kraft? In ihre Seelen war der Glaube eingezogen. Und welcher Glaube? Der Glaube an Gott durch Jesum Christum. Die alte Empfindung von der Gegenwart eines »höchsten guten Wesens«, eines »Vaters im Himmel« , war nach und nach bei zunehmender Verwickelung der Zivilisation und steigender Verfeinerung der Kultur verloren gegangen; Jesus brachte die Kunde von diesem Gotte wieder, und zwar auf einer höheren Stufe des bewußten Erfassens, wodurch Mensch und Gott sich unmittelbar nahe traten. Dieser plötzlich aufblühende Glaube lebte aber zunächst nur im Herzen des einen Unvergleichlichen; erst von diesem Herzen aus strahlte er in die anderen Herzen hinein: der Weg zu Gott führte durch Jesum hindurch; kein anderer Weg führte hin. S.79

Was ich glaube, steht in meinem Gemüte noch tiefer verankert als das, was ich zu wissen vermeine; es steht aber an anderem Orte, unter anderen Gesetzen, und es füllt mir infolgedessen schwer, mich in die Köpfe der Unbelehrten hineinzufinden, sowie ihnen Einblick in meinen Kopf zu gewähren, da die meisten über diese Unterscheidung keine klare Vorstellung besitzen. Ich weiß, daß die Sonne am Himmel steht; fester und gewisser und inhaltreicher ist aber mein Glaube an Jesum Christum als meinen Heiland. Was Christus uns gebracht hat, ist der Glaube an Gott: »Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater«(Joh. 8, 19). Die ältesten Christen haben das gut gewußt, und wir lesen z. B. in der Epistel an Diognet: »Denn wer unter allen Menschen hat, ehe Christus erschien, auch nur im geringsten gewußt, was Gott ist?« Gott der unwahrnehmbare, undenkbare wurde in Christo sichtbar und redete als Mensch uns vernehmbare Worte, deren überirdischer Klang uns heute ebenso in den Ohren tönt wie den Menschen vor zweitausend Jahren. Wie der Apostel Paulus von der Erscheinung Christi sagt: »Sie ließ es in unseren Herzen tagen zum strahlenden Aufgang der Erkenntnis und der Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitze Christi«(2. Kor. 4, 6).

Jesus die Offenbarung Gottes auf Erden: das ist der Inhalt der »Frohbotschaft«. Daß Gott dem Tode nicht stirbt, ist klar; der Tod kann ihn höchstens aus dem Drucke einer vorübergehend angenommenen Leiblichkeit erlösen: Jesus lebt von je auf je. Daher bezeichne ich, ohne Bedenken, das Wort ,,Auferstehung“ als Allegorie; stehen, erstehen, auferstehen sind Begriffe, welche eine räumliche Welt und eine zeitliche Bestimmung voraussetzen; ich erkläre mir aber den Gebrauch dieser Allegorie recht gut, schon aus der oben geschilderten jüdischen Denkart, sowie auch aus dem Bedürfnis der geschichtlichen Anknüpfung an das soeben abgeschlossene Leben. Sollten die Jünger den Sinn dieses Lebens, den Sinn ihres ungeheueren Erlebnisses endlich begreifen und dadurch erst zu ihrem weitgeschichtlichen Amte tauglich gemacht werden, so mußte Jesus ihnen erscheinen und zu ihnen reden: für diese Notwendigkeit besitzen wir den geschichtlichen Beweis; denn erst aus diesem mit nichts zu vergleichenden Ereignis entstand — wie wir bereits sahen — das Christentum. Über die Art jedoch, wie diese Erscheinungen verstandesmäßig zu deuten seien, bekenne ich meine Unwissenheit und bekenne, daß ich jede Erklärung von vornherein für unmöglich halte und jede dogmatische Entscheidung hierüber ablehne. Für diese meine Auffassung berufe ich mich nochmals auf Origenes: dieser schreibt an einer Stelle seines De Principiis (Buch 2, Kap. 6, Abschn. 2), wo er von der Fleischwerdung, dem Tode und der Auferstehung spricht: »Mit solchen Dingen sich an menschliche Ohren wenden und versuchen, sie in Worten auseinander zusetzen, das übersteigt weit die Fähigkeiten unseres Verstandes und unserer Sprache; ja, ich bin sogar der Meinung, daß es die Fähigkeiten der heiligen Apostel überstiegen habe; wahrscheinlich sind auch die himmlischen Wesen unfähig, diese Geheimnisse denkend zu erfassen.« S.88-89

Des Heilandes Gotteslehre d. h. also die Lehre vom Vater — setzt sich aus zwei Elementen zusammen: kindlicher Einfalt und unergründlichem Tiefsinn. Das eine Element bedingt das andere: denn wer Gottes Wesen zu tief auffaßt, als daß er Mythos mit Wirklichkeit verwechsele, und zu wenig materialistisch, als daß er an der Vorstellung eines »Machers des Alls« Genüge finde, dem bleibt nichts übrig, als entweder mit dem indischen Weisen zu schweigen, oder aber aus kindlich reinem Gemüte wie von einem Traumgesichte zu reden; dieses Reden aber kann jedenfalls nur aus jenem Schweigen geboren werden. Wir haben schon im ersten Kapitel gesehen, daß über Gott nichts ausgesagt werden kann, was vor dem Verstande logisch-zwingende Geltung und Sinn besäße, weil — schon dem Begriffe nach — Gott der Welt der Erscheinung nicht angehört und somit alles, was von ihm und über ihn ausgesagt wird, nur uneigentlich zu verstehen ist. Ich erinnere an das Wort Luther‘s: »Ja, wer weiß was ist, das Gott heißt? Es ist über Leib, über Geist, über alles, was man sagen, hören und denken kann.«

Äußerst bezeichnend ist es darum, daß der Heiland niemals eine lehrhafte Auseinandersetzung über das Wesen Gottes unternimmt, daß er vielmehr uns durch hundert scheinbar leicht hingeworfene Bemerkungen nach und nach in sein eigenes Verhältnis zu »seinem und unserem Vater« einweiht, um daraus einen Jeden erraten oder allmählich nachempfinden oder ahnen oder wie durch plötz1iche Offenbarung begreifen zu lassen, was und wer dieser Vater ist, »um dessentwillen er lebt« (Joh. 6, 57), und dessen nie weichende Gegenwart ihn aus allen Sorgen des irdischen Daseins derartig vollkommen befreit, daß er schon innerhalb dieser Zeitlichkeit das außerzeitliche »Reich Gottes« als seine wahre Heimat bewohnt. Über einen also aufgefaßten Gott kann es keinen Zwangsglaubenssatz (Dogma) geben: er wird erlebt, oder er wird nicht erlebt; reden, lehren, in Kirchenkonzilien hin und her über ihn streiten — das alles ist ausgeschlossen. Wer diesen Gott unseres Heilandes — den Vater — erleben will, muß auf des Heilandes Stimme lauschen: kein anderer vermag hier zu vermitteln.

Darf sich auch keiner dessen vermessen, es wird doch nicht verwehrt sein, den noch Ungeübten zum Aufmerken hinzuleiten, indem man einige Hauptpunkte hervorhebt.

Auffallend ist z. B. der entschiedene Ton, in welchem Jesus selber seine Gleichstellung mit dem Vater wiederholt deutlich von sich weist; für die Echtheit solcher Stellen zeugt die Tatsache, daß sie der Kirche bald peinlich auffielen und wir in den Evangelien selber schon Versuchen, sie umzumodeln oder auszumerzen, begegnen. Die auffallendste dieser Stellen lautet: »und da er hinauskam auf die Straße, lief einer herzu und fiel vor ihm auf die Knie, und befragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, um ewiges Leben zu ererben? Jesus aber sagte zu ihm: Was nennst Du mich gut? Niemand ist gut, außer dem einen Gott« (Mark. 10, 17, 18). Dieses Wort bringt Lukas in genau der gleichen Fassung (18, 19) und, was sehr wichtig ist, Justin der Märtyrer — etwa um die Mitte des zweiten Jahrhunderts führt es an (Apol. 1,16, 7). Kein Mensch war fähig, ein solches Wort, welches den Vorstellungen der werdenden Kirche widersprach, zu erfinden; die kirchliche Bearbeitung des Matthäus-Evangeliums wandelte es dann später um in die verlegene Fassung: »Meister, was soll ich Gutes tun.. .?«, worauf die Antwort erfolgt: »Was fragst Du mich über das, was gut ist? Einer ist der Gute« (19, 16 fg.). Ein zweites hierher gehöriges Wort vernahmen wir schon vorhin (5. 102), wo der Heiland, befragt um den Zeitpunkt des Weltendes, erwidert, er wisse es nicht, das wisse »allein der Vater«: auch dieses Wort hat die Kirche das Mögliche getan, zu verwischen oder zu streichen; zum Glück hat es der Markustext uns rein erhalten. Wer genau darauf achtet, wird an vielen Stellen Ähnliches bemerken, doch ich übergehe sie, nicht bloß um nicht zu ermüden, sondern weil Matthäus, Markus und Lukas alle drei ein Wort bringen, welches die Unterscheidung zwischen dem Heiland und dem Vater bis in die innersten Regungen des Willens durchführt: ich meine das Gebet auf dem Ölberg, das mit den Worten schließt: »Doch nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe!« Deutlicher kann nicht zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeit unterschieden werden.

Einen zweiten Hauptpunkt in Jesu Gotteslehre haben wir darin erblicken, daß er das Bild der Sohnschaft nicht für sich allein beansprucht, vielmehr immer von neuem auf alle Menschen anwendet, die an den Vater glauben: wer Gott als Vater empfindet, kann nicht anders denn sich als Sohn erkennen. »Niemand auf der Erde sollt ihr euren Vater nennen; denn Einer ist euer Vater, der himmlische« (Matth. 23, 9). Diese Vorstellung eines Verhältnisses des Menschen zu Gott als das des Kindes zu seinem Vater war durch den Heiland unter seinen Jüngern so fest eingebürgert, daß sie, als die neue Gotteslehre der jungen Kirche aufkam, weiterlebte und noch Paulus schreiben kann: »Denn die durch Gottes Geist getrieben werden, das sind Gottes Söhne« (Röm. 8, 14). Wichtiger aber als alles andere ist die Zeugenschaft des Johannes, der zwar spät schreibt, jedoch gerade in diesen Fragen seinen Meister inniger gekannt und besser verstanden hatte als irgend ein anderer Mensch, und er ist es, der uns die ewig denkwürdigen Worte überliefert: »Ich steige auf zu meinem und eurem Vater, zu meinem und eurem Gott«(Joh. 20, 17).

Kaum minder bemerkenswert — namentlich dem noch heute allgemein herrschenden Vorurteile gegenüber — ist ein dritter Punkt in der Gotteslehre des Heilandes: die Tatsache nämlich, daß der Gott, den er als ,,Vater“ bezeichnet, niemals mit dem Judengott verwechselt wird, eben sowenig wie Jahve‘s auserwähltes Volk der Juden von ihm bevorzugt erscheint.

Ungern unterbreche ich unsere Betrachtung über die Religion des Reiches Gottes, doch ist es unbedingt notwendig — gerade um die Lehre des Heilandes zu verstehen — sein Verhältnis zum jüdischen Glauben zu kennen und richtig zu beurteilen. Man gestatte darum eine kurze Abschweifung über diesen Gegenstand.

Zunächst muß der Ton auffallen, in welchem der Heiland über die Juden zu reden pflegt. Einmal über das andere werden sie von ihm mit vernichtender Ironie abgeführt. Bei Gelegenheit der Begegnung mit dem römischen Hauptmann spricht Jesus: »Wahrlich, ich sage euch, bei niemand in Israel habe ich solchen Glauben gefunden und sie werden kommen von Morgen und Abend und Mitternacht und Mittag und werden zu Tische sitzen im Reiche Gottes... die Söhne des Reiches aber (d. i. die Juden) werden hinausgeworfen werden in die Finsternis draußen....« (Matth. 8, 10 fg., Luk. 13, 29). Noch bestimmter heißt es an anderer Stelle: »Das Reich Gottes wird von Euch genommen und einem Volke gegeben werden, welches Früchte bringt« (Matth. 21, 43).Tiefen Eindruck macht ein Ausdruck, der in den meisten Handschriften — wohl wegen seiner erschreckenden Wahrhaftigkeit — um ein Weniges abgemildert wurde, den aber der Syrsin, der Kodei Bezae und andere gute Handschriften uns unverändert übermittelt haben: da lesen wir Markus 3, 5, der Heiland sei »über die Erstorbenheit (nekrosis) der Herzen der Juden betrübt — oder (nach einigen Quellen) erzürnt«. Vielleicht hat kein Gegner der Juden jemals ein so bitteres Urteil gefällt: erstorbene Herzen! Und noch ein entscheidendes Wort besitzen wir, durch welches er die Juden von seiner Botschaft ausschließt, indem er zu ihnen spricht: »Wenn ich Wahrheit rede, warum glaubt Ihr mir nicht? Der aus Gott ist, hört die Worte Gottes. Darum hört Ihr es nicht, weil Ihr nicht aus Gott seid« (Joh. 8, 48 f).

Bei der falschen Stellung unserer Kirchen zum Judentum pflegt unsere Geistlichkeit derartige Worte entweder zu verschweigen, oder sie eilt möglichst leichten Fußes darüber hinweg; man kennt Kant’s Spott über die Beschaffenheit unseres Religionsunterrichts: »Man sollte glauben, ein jeder Christ müßte ein Jude sein« (Religion, S. 185). Und so wird uns denn von unseren Theologen bei jeder Gelegenheit der kleine Satzteil vorgehalten, der auf unerklärlichen Schleichwegen in das Gespräch mit der Samariterin eingeschmuggelt worden ist: »weil das Heil von den Juden ist« (Joh. 4, 22) — Worte, die Kreyenbühl mit Recht bezeichnet hat, »als eine der abgeschmacktesten und unmöglichsten Glossen, die jemals einen echten Text nicht nur entstellt, sondern in sein gerades Gegenteil verkehrt haben“ (nach Merx). Der selbe Mann, der den Heiland zu den Juden die Worte sprechen läßt: »Ihr seid nicht aus Gott«, sollte ihm ein anderes Mal den Ausspruch zuschreiben: »das Heil kommt von den Juden«! Und gar in dem Zusammenhang dieses Gespräches mit der Samariterin, dessen Inhalt in der Verkündigung besteht, der ,,Vater“ werde nicht mehr in Jerusalem angebetet, vielmehr sei Gott — im Gegensatz zu Jahve —,,Geist“, und »er verlange solche Anbeter, die in Geist und Wahrheit anbeten“, — ein Gespräch, das den jüdischen Messias-Begriff über den Haufen wirft und mit der Erklärung endet, Jesus sei ,,der Heiland der Welt“ (soter tou kosniou)! In seiner Offenbarung nennt Johannes die Juden »eine Synagoge des Satans« (2, 9): man glaubt ein Mitglied dieser Synagoge zu erblicken, wie es in einen der befreiendsten Texte des Evangeliums solche, den ganzen Zusammenhang fälschende Lüge hineinschwärzt. Für des Heilandes eigene Stimmung den »Prophetenmördern« gegenüber (Matth. 23, 32) zeugen — abgesehen von den vielen eigenen Aussprüchen — die harten Worte des Paulus, dessen Herz doch immer wieder für die jüdischen Stammesgenossen schlägt, so daß, wenn er sie verurteilt, wir einen Erfolg der Belehrung durch Jesum zu sehen haben; er sagt nun von den Juden: »Sie gefallen nicht Gott und sind allen Menschen zuwider« (1. Thess. 2, 15) und an anderer Stelle — wo er die Tätigkeit angeblich bekehrter Juden innerhalb der christlichen Gemeinde im Sinne hat — ruft er die Warnung aus, wert, durch alle Jahrhunderte hindurch gehört zu werden: »Habt acht auf die Hunde, auf die bösen Arbeiter, habt acht auf die Zerschneidung!« (Phil. 3, 2).

Aus diesem Verhältnis Jesu zu den Juden findet man sich von vorneherein geneigt, eine nicht sehr tiefgehende und bindende Beziehung zu ihrem Glaubensgebäude vorauszusetzen; und zwar mit Recht; denn die allgemein verbreitete Vorstellung, unser Heiland sei ein frommer Jude gewesen, gehört zu den fables convenues unserer Theologen. Besäßen wir k, Geine weiteren Beweise, die e i n e Erwägung würde schon zu unserer Aufklärung genügen: wie sollte Derjenige, dessen ganzes Wesen lauter Religion warenüge bei einem Glauben gefunden haben, der sich durch ein Mindestmaß an »Religion« unter allen auszeichnet. Moses Mendelssohn — der kundige Jude — schreibt in seiner »Rettung der Juden«, erschienen 1782: »Das Judentum ist nicht geoffenbarte Religion, sondern geoffenbarte Gesetzgebung«; und Immanuel Kant — der Gerechte — belehrt uns: »Das Judentum, als ein solches, enthält, in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben«; Worte, die durch folgende Erläuterung ergänzt werden: »Das Judentum ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinsamen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten... Daß der Name von Gott verehrt wird, macht diese Staatsverfassung nicht zu einer Religionsverfassung« (Religion S. 186 f). Im besonderen über Jahve und die zehn Gebote heißt es dann an der selben Stelle weiter: »Ein Gott, der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische Gesinnung erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nötig haben.« S.107-112

Der Mittler
Das bisherige Ideal oder Prototyp (Urbild) desjenigen Wesens, das Mensch geheißen werden kann, war der Adam der Schöpfungserzählung; mit Christo tritt eine neue Gedankengestalt »Mensch« in die Erscheinung; weswegen Paulus ihn den ,»zweiten Adam« nennt: der erste Idealmensch war »lebendige Seele«, der zweite ist »lebendigmachender Geist«: »Der Erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der Zweite Mensch ist vom Himmel. Welcherlei der irdische ist, solcherlei sind auch die irdischen, und welcherlei der himmlische ist, solcherlei sind auch die himmlischen. Und wie wir (Menschen) getragen haben das Bild des irdischen‘ also werden wir auch tragen das Bild des himmlischen« (1. Kor. 15, 45—49). Aus dieser Darstellung treten zwei Dinge unmißverständlich hervor: erstens die auch uns erreichbare Steigerung unseres Menschenwesens in die Richtung, die der Heiland gewiesen hat, und zweitens die Tatsache, daß er dies als Mensch bewirkte. Es fällt nämlich auf, daß an derartig entscheidenden Stellen Jesus Christus von dem Apostel stets ausdrücklich als »Mensch« bezeichnet, d. h. also sein Menschtum betont wird. So z. B. lesen wir in den allbekannten Ausführungen des Briefes an die Römer (5, 12—2 1), in denen wiederum Christus als zweiter Adam dem ersten entgegengestellt wird (beide als »Urbilder« ausdrücklich bezeichnet): »... wenn dort durch den Fall des Einen die Unzähligen dem Tode erlegen sind, so hat sich um Vieles gewisser die Gnade Gottes und das Gnadengeschenk des Einen Menschen Jesus Christus für Unzählige verschwenderisch reich erwiesen.« Auch verweise ich noch einmal auf den Satz in dem Brief an Timotheus (1.Tim. 2, 5f): »Denn es ist Ein Gott, ebenso Ein Mittler Gottes und der Menschen, der Mensch Christus Jesus.« Die Vorstellung von der Möglichkeit der Steigerung des Menschen aus einem zwar »seelenbegabten« doch tierischen Wesen zu einem »geistbegabten« gottverwandten Wesen fordert durchaus, daß Jesus Christus Mensch gewesen sei, sonst büßt sein Beispiel jegliche Bedeutung für uns ein. Dem Apostel liegt nun alles daran, von dieser Steigerungsfähigkeit zu überzeugen; denn dieser Glaube bildet seine ganze Religion — wie er gleichfalls das Geheimnis der ungeheuren Kraftwirkung ausmacht, die er auf die Menschheit ausgeübt hat; blieb auch gerade diese Hauptlehre meist — als solche — anerkannt, sie wirkte trotzdem mit unwiderstehlicher Gewalt.

Manche Schwierigkeit entsteht aus dem halbverborgen bleibenden Gegensatz zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen gegenwärtiger Erlösung und zukünftiger Erlösung. Weit gefehlt wäre die Annahme, Paulus habe einzig ein künftiges Leben im Sinne; freilich faßt er das irdische Dasein nur als Vorhof zu dem jenseitigen auf: »Wissen wir doch, daß wir, wenn unsere irdische Zeltwohnung aufgelöst wird, einen Bau von Gott haben, ein Haus nicht mit Händen gemacht, ewig im Himmel« (2. Kor. 5, 1); jedoch der Anfang muß hier auf Erden gemacht werden, hier und heute: das ist Gebot — sonst erben wir die Unsterblichkeit nicht. Möglich ist es, dank dem Leben, dem Lehren und dem Sterben und dem Auferstehen unseres Heilandes: »einen anderen Grund kann keiner legen als der da liegt, nämlich Jesus Christus« (1. Kor. 8, 11). Paulus ist dermaßen von der Gewißheit durchdrungen, der Mittler, der unter uns »in der Gestalt des sündigen Fleisches« geweilt hat (Röm. 8, 3), sei — sobald wir nur an ihn glauben, und d. h. ihm diese Macht zutrauen — fähig, eine vollkommene innere Umwandlung auch in uns zu bewirken, daß er kühn schreibt: »da wir noch im Fleische waren« (Röm. 7, 5) — womit er deutlich erklärt, der christusgläubige Mensch habe schon jetzt die »Fleischesgestalt« gegen die »Geistesgestalt«, welche der neuen Menschheit eignet, umgetauscht. Dergleichen Versicherungen begegnen wir bei Paulus nicht selten. Ich erinnere z. B. an folgende: »Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in der Sünde leben?«»Durch die Taufe auf den Tod Christi sind wir mit ihm begraben worden.« »Ihr wurdet von der Sünde befreit und zu Knechten der Gerechtigkeit gemacht« (Röm. 6, 2, 4, 18). »Ihr seid gestorben und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott« (Kol. 3, 3) .... Schließlich rufe ich das entscheidende Wort ins Gedächtnis: »Ihr seid alle Söhne Gottes durch euren Glauben an Christum Jesum« (Gal. 3, 26). Man wähne nicht, der Apostel gebe sich der Täuschung hin, die Mitglieder seiner Kirchen hätten als eine Folge ihrer Bekehrung und Taufe zu sündigen aufgehört. Dutzende von Stellen könnte man zum Beweise des Gegenteils anführen; immer wieder mahnt er: ,,Bietet nicht eure Glieder der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit!“ (Röm. 6, 13) — und ähnlich. Nichtsdestoweniger hält Paulus daran fest, daß wir — sobald wir zu Jesu Christo gehören — bereits hier auf Erden »im neuen Stande des Lebens wandeln«. Religion ist eben für ihn — wie sie es für Jesum war — unmittelbare, pulsierende, flammende Gegenwart. Nichts ist irriger als die Behauptung einiger Theologen, die Religion Pauli sei — im Gegensatz zu derjenigen des Heilandes — eine Religion der Zukunft, auf Hoffnungen aufgebaut; vielmehr gibt es nach Paulus gar keine Zukunft für diejenigen Menschen, die sich nicht hier und heute zu Christo bekennen. Glauben ist für ihn die tätigste aller Taten; durch Glauben beginnt der Mensch Schöpfer zu werden, und zwar zunächst an sich selber — weil nämlich Glauben nichts anderes heißt als unsere Seele der Gottheit öffnen und ihr dadurch Einlaß geben.

Über den scheinbaren Widerspruch, den wir soeben beim Apostel aufgedeckt haben — insofern er noch sündige Menschen als heilige Tempel Gottes rühmte —, über diesen scheinbaren Widerspruch klärt uns unser herrlicher Schiller auf, indem er uns belehrt: »Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist« (Aesth. Erz., Bf. 9). Dieses unsterbliche Wort Schiller‘s ist wie auf Paulus gemünzt, dessen Leben aus lauter verzehrender Gegenwart bestand — einer rastlos Zukunft schaffenden Gegenwart: »Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich‘s ergriffen habe; Eines aber sage ich: ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was da vorne ist und jage nach dem vorgesteckten Ziel!« (Phil. 3, 13). S.204-207
Aus: Houston Chamberlain: Mensch und Gott, Betrachtungen über Religion und Christentum Verlag von F. Bruckmann, München