Aleksej Stepanowitsch Chomjakow (1804 – 1860)

Russischer Laientheologe und Geschichtsphilosoph, der eine vom »individualistischen« Westen gesonderte Kulturentwicklung Russlands vertrat. Chomjakow gilt führender Denker der Slawophilen. Seine Lehre von der »Sobornostj« wirkt unter den russischen Geschichts- und Religionsphilosophen bis in unsere Tage weiter. In ihrer Nachfolge bekannte sich vor allem Nikolaj Berdjaev zu diesem »religiösen Anarchisten«, wie er ihren Künder nannte. Chomjakows Lehre von der »Sobornostj«, die tief in der Eigenart der Ostkirche wurzelt, hat jedoch gerade heute keineswegs nur theoretische, philosophische Bedeutung. Mit ihr wird der Gegensatz zwischen der orthodoxen Kirche und den Kirchen des Abendlandes wesentlich verschärft und wird denjenigen, die eine Wiedervereinigung der Kirchen erhoffen, ein Hindernis von außerordentlicher Kraft entgegengestellt.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Unfehlbarkeit
... Die Autorität des Papstes, die den Platz der Unfehlbarkeit der gesamten Kirche eingenommen hatte, war eine äußerliche Autorität. Der Christ, einst Mitglied der Kirche, einst verantwortlicher Teilnehmer an ihren Entscheidungen, wurde zum Untertan der Kirche. Sie und er hörten auf, eins zu sein: er war außerhalb von ihr, obwohl er in ihrem Schoß blieb. Die dem Papst zuerkannte Gabe der Unfehlbarkeit wurde außerhalb jeglichen Einflusses moralischer Bedingungen gestellt, so daß weder die Verderbtheit des gesamten christlichen Milieus, noch sogar die persönliche Verderbtheit eines Papstes selbst auf die Unfehlbarkeit irgendeinen Einfluß haben konnten. Der Papst wurde zu einem Orakel, das jeglicher Freiheit beraubt war, zu einem Götzenbild aus Knochen und Fleisch, das durch verborgene Federn in Bewegung gesetzt wurde. Für den Christen stürzte dieses Orakel in die Ordnung der materiellen Dinge hinab, derjenigen Erscheinungen, deren Gesetze den Untersuchungen des Verstandes allein unterliegen können und müssen; denn das innere Band zwischen dem Menschen und der Kirche war zerrissen. Ein rein äußerliches und folglich rationales Gesetz war an die Stelle des moralischen und lebenden Gesetzes getreten, das allein den Rationalismus nicht fürchtet, weil es nicht nur den Verstand des Menschen, sondern sein gesamtes Wesen umfaßt. S.209-210

Über die Kirche
Mein einziges Ziel besteht darin, den Charakter der beiden Hälften der westlichen Welt in den Augen der Kirche zu bestimmen und dadurch dem Leser die Möglichkeit zu geben, den Geist der Rechtgläubigkeit zu verstehen.

Ich glaube, bewiesen zu haben, daß der Protestantismus bei uns unmöglich ist und dass wir mit der Reformation nichts gemein haben können, weil wir auf einem vollkommen anderen Boden stehen; um diesen Schluß aber augenscheinlich zu machen, werde ich noch eine mehr positive Erklärung geben. Der Geist Gottes, der in den heiligen Schriften spricht, der durch die heilige Tradition der allgemeinen Kirche belehrt und erleuchtet, kann durch den Verstand allein nicht begriffen werden. Er ist nur der Vollkommenheit des menschlichen Geistes unter der Erleuchtung der Gnade zugänglich. Der Versuch, in das Gebiet des Glaubens und seiner Sakramente allein mit dem Licht des Verstandes eindringen zu wollen, ist in den Augen des Christen nicht nur eine verbrecherische, sondern zugleich eine törichte Vermessenheit. Nur das Licht, das vom Himmel herabkommt und die ganze Seele des Menschen durchdringt, vermag ihm den Weg zu weisen, nur die Kraft, die durch den Geist Gottes gegeben ist, vermag ihn zu den unnahbaren Höhen zu erheben, wo die Gottheit erscheint. Nur derjenige vermag den Propheten zu verstehen, der selbst Prophet ist, sagt der heilige Gregor, der Wundertäter. Nur die Gottheit selbst vermag Gott und die Unendlichkeit seiner Allweisheit zu begreifen. Nur derjenige, der den lebenden Christus in sich trägt, vermag sich seinem Thron zu nähern, ohne vor dieser Herrlichkeit vernichtet zu werden, vor der die allerreinsten geistigen Kräfte in freudigem Zittern niederstürzen. Nur die heilige und unsterbliche Kirche, der lebende Schrein des Geistes Gottes, der in sich Christus, ihren Erlöser und Herrn trägt, nur sie allein, die ihm in innerer und enger Einigung verbunden ist, die der menschliche Sinn nicht zu begreifen, das menschliche Wort nicht auszudrücken vermag, hat das Recht und die Macht, die himmlische Größe anzuschauen und in ihre Geheimnisse einzudringen. Ich sage das von der Kirche in ihrer Ganzheit, von derjenigen Kirche, in Beziehung zu der die irdische Kirche einen von ihr untrennbaren Teil bildet; denn was wir die sichtbare Kirche und die unsichtbare Kirche nennen, das sind nicht zwei Kirchen, sondern eine einzige, unter zwei verschiedenen Formen. Die Kirche in ihrer Vollständigkeit, als geistiger Organismus, ist weder ein zusammengesetztes Wesen noch ein abstraktes Wesen; sie ist der Geist Gottes, der sich selbst kennt und sich nicht zu kennen nicht vermag. Die Kirche, in diesem Sinn verstanden, das ist die ganze Kirche, oder die Kirche in ihrer Ganzheit, welche die heiligen Schriften entwarf, sie gibt ihnen Leben in der Tradition, mit anderen Worten und genauer gesagt: Schrift und Überlieferung, diese beiden Offenbarungen ein und desselben Geistes, bilden nur eine Offenbarung; denn die Schrift ist nichts anderes, als die entworfene Tradition, die Tradition aber nichts anderes, als die lebende Schrift. Solches ist das Geheimnis dieser harmonischen Einheit; sie bildet die Verschmelzung der reinsten Heiligkeit mit dem höchsten Verstand und nur durch diese Verschmelzung erwirbt der Verstand die Fähigkeit, die Gegenstände auf dem Gebiet zu begreifen, auf dem der Verstand allein, von der Heiligkeit geschieden, blind wie die Materie selbst wäre...

Aber woher, so fragt man uns, soll die Kraft für den Schutz dieser so reinen und so erhabenen Lehre genommen werden? Woher soll die Waffe zu ihrer Verteidigung genommen werden? Die Kraft wird in gegenseitiger Liebe, die Waffe in der Gemeinschaft des Gebets gefunden; der Liebe und dem Gebet aber kann die Hilfe Gottes nicht untreu werden, denn Gott selbst flößt Liebe und Gebet ein.

In was aber soll man Garantien gegen Irrtum in der Zukunft suchen? Darauf gibt es nur eine Antwort: wer außer Hoffnung und Glauben irgendwelche andere Garantien für den Geist der Liebe sucht, der ist schon Rationalist. Für ihn ist auch die Kirche unvorstellbar, denn er ist schon mit der ganzen Seele in Zweifel versunken.

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, meinen Gedanken so zu erklären, daß die Leser den Unterschied zwischen den Grundprinzipien der Kirche und allen westlichen Glaubensbekenntnissen verstehen können. Dieser Unterschied ist so groß, daß man kaum einen Grundsatz finden kann, in dem sie übereinstimmen würden; gewöhnlich sogar ist der Unterschied ihrer innerlichen Bedeutung um so wesentlicher, je ähnlicher Ausdrücke und äußere Formen zu sein scheinen.

So findet ein großer Teil der Fragen, über die man sich schon seit so vielen Jahrhunderten in der religiösen Polemik Europas streitet, in der Kirche eine leichte Lösung; genauer gesagt, sie bestehen für sie überhaupt nicht als Fragen. Indem sie so von dem Grundsatz ausgeht, daß das Leben der geistigen Welt nichts anderes als Liebe und Gemeinschaft im Gebet ist, betet sie für die Verstorbenen, obwohl sie die vom Rationalismus erfundene Fabel vom Fegefeuer verwirft; sie erbittet die Fürsprache der Heiligen, allein, ohne ihnen Verdienste, welche die utilitaristische Schule ausgedacht hat, zuzuschreiben und ohne eine andere Fürsprache anzuerkennen außer der Fürsprache des göttlichen Fürsprechers. Indem sie so in sich selbst die lebende Einheit fühlt, vermag sie nicht einmal die Frage zu verstehen, worin die Rettung liegt: ob allein im Glauben oder im Glauben und in den Werken gemeinsam? Denn in ihren Augen sind Leben und Wahrheit eins, und die Werke sind nichts anderes als eine Erscheinung des Glaubens, der ohne diese Erscheinung nicht Glauben, sondern logisches Wissen wäre. Indem sie so ihre innere Einheit mit dem heiligen Geist fühlt, bringt sie den Dank für alles Gute dem einzig Gütigen dar, schreibt sich nichts zu, schreibt auch dem Menschen nichts zu, außer dem Bösen, das in ihm dem Werk Gottes widerstrebt: denn der Mensch soll schwach sein, damit die Kraft Gottes sich in seiner Seele vollende. Zu weit würde uns die Aufzählung aller der Fragen führen, in denen die entscheidende und bisher nicht völlig erkannte Verschiedenheit zwischen dem Geist der Kirche und dem Geist der rationalistischen Sekten sich offenbart; das würde die Durchsicht aller Dogmen, Riten und Moralprinzipien des Christentums erfordern...
S.213-216
Aus: Slavische Geisteswelt 1 - Russland, herausgegeben von Martin Winkler (S.209-210, 213-216)
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