Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.)

Römischer Redner, Politiker und philosophischer Schriftsteller, der zunächst als Anwalt in Rom, dann. 75 v.Chr. Quästor, 69 Ädil, 66 Prätor war. Als Konsul unterdrückte er 63 v. Chr. die Verschwörung des Catilina. 58 musste er ins Exil gehen. Zwar konnte er 57 zurückkehren, in den folgenden Jahren blieb er jedoch ohne politischen Einfluss. 51 v. Chr. wurde er Prokonsul von Kilikien. Im Bürgerkrieg entschied er sich für Pompeius, wurde aber nach dessen Niederlage von Caesar begnadigt. Nach Caesars Ermordung geriet er in scharfem Gegensatz zu Antonius, der ihn auf der Flucht ermorden und seinen Leichnam bestialisch verunstalten ließ. Durch seine Schriften ist Cicero der eigentliche Schöpfer der lateinischen Kunstprosa geworden. Seine Briefe sind unschätzbare historische Dokumente und autobiographische Zeugnisse. Seine philosophischen Schriften befassen sich mit den Themen Erkenntnistheorie, Ethik und philosophische Theologie. Bemerkenswert ist seine scharfsinnige und eingehende Auseinandersetzung mit der Philosophie Epikurs.

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Inhaltsverzeichnis
Über das Wesen der Götter (De natura deorum)
Das Wesen der frühgriechischen Götter

Gespräche in Tusculum
(Tusculanae disputationes)
Das Leben ist Vorbereitung auf den Tod
Cicero über die Philosophie Epikurs
Die Vorstellungen über glückselige u. unsterbliche Götter sind angeboren
Erscheinungsbild der Götter
Leugnung der Existenz der Götter
Wohnsitz der Götter
Verehrung der Götter?
Vernichtung der Religiosität durch Epikur
Unterteilung der Begierden nach Epikur
Zusammenhang von Lust und Schmerz nach Epikur
Der Tod als ewiger Zufluchtsort

Über das Wesen der frühgriechischen Götter
(25) Thales von Milet nun, der als erster Probleme dieser Art untersuchte, erklärte das Wasser zum Urstoff der Dinge, zur Gottheit aber den Geist, der aus dem Wasser alles erschaffe: gesetzt den Fall, Götter ohne Empfindungsvermögen seien denkbar. Und wieso hat er das Wasser mit dem Geist verbunden, wenn doch der Geist selbst körperlos existieren kann? Nach Anaximanders Meinung hingegen sind die Götter sterbliche Wesen, die in langen Zeitabständen auf- und untergehen, und so seien sie die unzähligen Weltkörper. Doch wie können wir uns eine Gottheit anders vorstellen als ewig?

(26) Später bezeichnete Anaxismenes die Luft als eine Gottheit; sie werde erzeugt, sei unermesslich, unbegrenzt und stets in Bewegung: so als könne die völlig gestaltlose Luft eine Gottheit sein, zumal ja doch ein Gott nicht nur ein beliebiges, sondern das schönste Erscheinungsbild haben sollte, oder als ob nicht alles Entstandene der Sterblichkeit anheim fiele. Hierauf behauptete als erster Anaxagoras, der Anaximenes‘ Lehre übernahm, dass die geordnete Struktur aller Dinge durch die Kraft und Vernunft eines unendlichen Geistes bestimmt und zustande gebracht werde. Dabei übersah er, dass es weder eine mit Empfindungsvermögen verbundene und mit dem Unendlichen zusammenhängende Bewegung geben kann noch überhaupt eine Empfindung, es sei denn, ein empfindungsfähiges Wesen wäre durch einen Anstoß von außen zu einer Empfindung gelangt. Außerdem: Wenn er diesen Geist da gewissermaßen als ein Lebewesen bezeichnete, dann wird es ein inneres Prinzip geben müssen, das dies Lebewesen als solches definiert. Was aber ist das innerste Prinzip, wenn nicht der Geist? Er dürfte also von einem äußeren Körper umgeben sein.

(27) Weil man dem aber nicht zustimmen kann, scheint der unverhüllte, einfache Geist, der mit nichts verbunden ist, was empfinden könnte, das Begriffsvermögen unseres Verstandes zu übersteigen. Alkmaion aus Kroton hingegen, welcher der Sonne, dem Mond, den übrigen Himmelskörpern und zusätzlich noch der Seele Göttlichkeit zuschrieb, merkte nicht, dass er damit sterblichen Dingen Unsterblichkeit verlieh. Pythagoras freilich, der an die Existenz einer das gesamte Weltall durchdringenden und durchströmenden Seele glaubte, von der unsere Seelen abgepflückt würden, übersah dabei, dass durch die Abtrennung der menschlichen Seelen die Gottheit selber zerpflückt und zerrissen würde und dass, wenn die Seelen unglücklich sind, was auf die meisten zutrifft, dann auch ein Teil der Gottheit unglücklich wäre — das allerdings kann nicht sein.


(28) Wieso aber sollte die Seele eines Menschen irgendetwas nicht wissen, wenn sie Gott wäre? Wie könnte ferner dieser Gott, wäre er nichts als Seele, mit der Welt verhaftet sein und sie durchfließen? Xenophanes dann, der in Verbindung mit dem Geist auch alles Unendliche zur Gottheit erklärte, wird man wegen seines Geist-Konzepts ebenso kritisieren müssen wie alle anderen, noch heftiger jedoch wegen seiner Vorstellung von der Unendlichkeit, in der es doch weder eine Empfindung noch eine Verbindung [mit etwas Äußerem] geben kann. Parmenides freilich dachte sich etwas ganz Abwegiges aus: Er erdichtet ein kranzförmiges Gebilde — er nennt es stepháne —‚ einen ununterbrochenen feurigen Lichterkreis, der den Himmel umspannt und den er als Gott bezeichnet; darin kann aber niemand eine göttliche Gestalt oder Empfindungsvermögen auch nur vermuten. Und er bringt noch viele andere Abstrusitäten vor; denn er führt Krieg, Zwietracht, Begierde und die übrigen ähnlichen Übel, die durch Krankheit, Schlaf, Vergessen oder Alter wieder vergehen, auf die Gottheit zurück. Und dasselbe behauptet er von den Gestirnen, was jedoch, da es schon bei einem anderen Philosophen gerügt wurde, bei ihm jetzt nicht weiter kommentiert werden soll.

(29) Empedokles indes, der sich auch sonst zahlreicher Irrtümer schuldig macht, verliert in ganz verwerflicher Weise bei seiner Theologie den Boden unter den Füßen. Er schreibt nämlich den vier Elementen, aus denen seiner Meinung nach alles besteht, göttlichen Charakter zu; dabei ist doch offensichtlich, dass diese entstehen und wieder untergehen und bar sind jeder Empfindung. Doch auch Protagoras, der bestreitet, irgendein gesichertes Wissen über die Götter zu haben — ob sie existieren, nicht existieren oder wie sie sind —‚scheint keine Vorstellung vom Wesen der Götter zu haben. Was ist mit Demokrit, der bald die uns umschwebenden Bilder zu den Göttern rechnet, mal jenes Wesen, das diese Bilder verströmt und aussendet, mal unser Denken und unsere Intelligenz — befindet er sich nicht gewaltig im Irrtum?

Und wenn derselbe Mann die Existenz von etwas Ewigem überhaupt bestreitet, weil nichts für immer in dem ihm eigenen Zustand verharre, beseitigt er dann nicht die Idee von Gott so radikal, dass keine Vorstellung mehr von ihm bleibt? Was ist mit der Luft, die Diogenes von Apollonia als Gottheit ansieht; welches Empfindungsvermögen könnte sie haben oder was für eine göttliche Gestalt?

(30) Nun würde es zu weit führen, über Platons Inkonsequenz zu reden. Im »Timaios« sagt et ein Vater dieser Welt könne nicht angegeben werden, in den Büchern über die »Gesetze« vertritt er hingegen den Standpunkt, was Gott eigentlich sei, dürfe überhaupt nicht untersucht werden. Wenn er aber die Gottheit ganz körperlos haben will — asómaton, wie die Griechen sagen —‚ lässt sich nicht begreifen, wie das zugehen soll: Notwendigerweise hat sie dann nämlich kein Empfindungsvermögen, besitzt keinen Verstand, kennt keine Lust; dies alles schließen wir jedoch in den Gottesbegriff mit ein. Derselbe Platon sagt sowohl im »Timaios« als auch in den »Gesetzen«, dass die Welt Gott sei, desgleichen der Himmel, die Sterne, die Erde, die Seelen und die Götter, welche wir mit den Bräuchen unserer Vorfahren übernommen haben. Diese Behauptungen sind offenkundig schon an sich falsch und miteinander völlig unvereinbar.

(31) Nun begeht auch Xenophon, wenn auch mit weniger Worten, fast dieselben Irrtümer. Er lässt nämlich in den Schriften, in denen er Sokrates‘ Aussprüche aufgeschrieben hat, Sokrates darlegen, dass man nach der Gestalt der Gottheit nicht fragen dürfe, und lässt ihn außerdem sagen, die Sonne und die Seele seien Gottheiten, und mal soll es einen einzigen Gott geben, dann wiederum mehrere. Diese Äußerungen enthalten fast dieselben Denkfehler, wie wir sie bei Platon feststellen.

(32) Und auch Antisthenes behauptet in seiner Schrift mit dem Titel »Physikos«, es gebe viele Volksgötter, aber bloß einen wirklichen, und nimmt damit den Göttern ihre Bedeutung und Eigenart. Nicht viel anders versucht Speusippos, der Nachfolger seines Onkels Platon, dadurch
dass er von einer bestimmten Kraft spricht, die alles lenke und beseelt sei, die Gotteserkenntnis aus den Herzen der Menschen herauszureißen.

(33) Aristoteles stiftet im dritten Buch seiner »Philosophie« viel Verwirrung, da er von seinem Lehrer Platon abweichende Ansichten vertritt. Bald nämlich schreibt er dem Geist jede Art Göttlichkeit zu, bald betont er, die Welt selbst sei Gott, dann wieder lässt er die Welt von jemand anderem leiten und weist ihm die Aufgabe zu, durch eine Form der Rückbewegung den Lauf der Welt zu bestimmen und zu erhalten, bald bezeichnet er das Himmelsfeuer als Gott, ohne zu sehen, dass der Himmel ein Teil der Welt ist, die er selbst andernorts zur Gottheit erklärt hat. Wie aber kann sich jenes Gefühl des Himmels, göttlich zu sein, bei so großer Geschwindigkeit erhalten? Wo bleiben dann die so zahlreichen Götter, wenn wir auch den Himmel als Gott bezeichnen? Wenn jedoch derselbe Aristoteles Gott körperlos begreifen will, spricht er ihm jegliches Empfindungsvermögen ab, sogar die Vernunft. Wie wäre ferner ein Gott ohne Körper in der Lage, sich zu bewegen, oder, wenn er sich ständig bewegt, imstande, ruhig und glückselig zu sein?

(34) Doch auch sein Mitschüler Xenokrates ist in dieser Beziehung nicht klüger; in seinen Büchern »Über das Wesen der Götter« findet sich keine Beschreibung des göttlichen Erscheinungsbildes; seiner Behauptung nach gibt es ja acht Götter, davon fünf, die zu den Planeten zählen, dann einen, der aus sämtlichen Fixsternen gebildet ist und den man sich als einen sozusagen aus verstreuten Gliedmaßen bestehenden, jedoch einfachen Gott vorstellen muss; als siebten fügt er die Sonne hinzu und als achten den Mond. Aufgrund welchen Wahrnehmungsvermögens diese Götter glückselig sein können, ist unverständlich. Herakleides von Pontos, ebenfalls aus der Schule Platons, hat seine Bücher mit Ammenmärchen voll gestopft, und doch hält er mal die Welt, mal den Geist für göttlich, schreibt auch den Planeten Göttlichkeit zu, enthebt die Gottheit ihres Empfindungsvermögens, geht von ihrer veränderlichen Gestalt aus, und in demselben Buch rechnet er dann wieder die Erde und den Himmel zu Göttern.

(35) Doch auch Theophrasts Inkonsequenz ist unerträglich; denn bald räumt er dem Geist die göttliche Vormacht ein, bald dem Himmel, dann jedoch den Sternzeichen und Gestirnen. Ebensowenig verdient sein Schüler Straton mit dem Beinamen »der Physiker« Gehör: denn nach seiner Meinung liegt alle göttliche Macht in der Natur, welche zwar die Ursachen für Geburt, Wachstum und Verfall in sich trage, aber keinerlei Empfindungsvermögen und keine Gestalt besitze.

(36) Zenon indes, um jetzt zu euren Vertretern, mein Balbus, zu kommen, glaubt, das Naturgesetz sei göttlich und übe diese seine Macht aus, indem es das Richtige befehle und das Gegenteil verhindere. Wie er dies Gesetz zu einem beseelten Wesen machen kann, entzieht sich meinem Verständnis. Dabei wollen wir doch gewiss, dass eine Gottheit beseelt sei. Und dieser selbe Zenon bezeichnet an anderer Stelle den Äther als Gott: falls man sich einen völlig fühllosen Gott vorstellen kann, der sich uns niemals zeigt, weder bei Gebeten noch bei Wünschen, noch bei Gelübden. In anderen Schriften wiederum vertritt er die Ansicht, eine bestimmte Form der Vernunft durchziehe alles Seiende und verfüge über göttliche Kraft. Derselbe Mann schreibt eben diese Eigenschaft auch den Sternen, dann den Jahren, Monaten und Jahreszeiten zu. Wenn er hingegen Hesiods »Theogonie«, das heißt den Ursprung der Götter, interpretiert, zerstört er radikal die üblichen und bekannten Gottesvorstellungen; er zählt nämlich weder Juppiter noch Juno, noch Vesta, noch irgendein anderes Wesen, das man göttlich nennt, zu den Göttern, sondern lehrt, dass leblose, stumme Dinge durch eine Art allegorischer Deutung diese Bezeichnungen erhalten haben.

(37) Die Ansicht seines Schülers Ariston ist gleichfalls ganz irrig, da er meint, die Gestalt eines Gottes sei nicht vorstellbar, den Göttern das Empfindungsvermögen abspricht und überhaupt zweifelt, ob ein Gott beseelt sei oder nicht. Kleanthes hingegen, der gemeinsam mit dem gerade Genannten Zenons Vorlesungen hörte, sagt einmal, die Welt selbst sei Gott, ein andermal erteilt er diesen Namen dem Geist und der Seele der gesamten Natur, und ein weiteres Mal behauptet er, mit größter Sicherheit lasse sich Gott als der feurige Stoff bestimmen, welcher das All am äußersten Rand umfließe und als letzter alles umhülle und umfasse, der sogenannte Äther. Und in seinen Büchern gegen die Lust denkt sich derselbe Kleanthes, gleichsam wie im Wahn, einmal eine bestimmte Gestalt und ein bestimmtes Äußeres der Götter aus, bald schreibt er den Sternen alle Göttlichkeit zu, dann wieder meint er, es gebe nichts Göttlicheres als die Vernunft. Das Ergebnis davon ist, dass der Gott, den wir mit unserem Verstand erkennen und der zu unserer geistigen Vorstellung wie angegossen passt, nirgends mehr sichtbar wird.

(38) Persaios hingegen, ein anderer Schüler desselben Zenon, vertritt den Standpunkt, man habe die Personen, die irgend etwas sehr Nützliches für das Leben der Menschen erfunden hätten, für Götter gehalten und eben die nutzbringenden und vorteilhaften Dinge mit Götternamen bezeichnet; damit sagt er also nicht einmal, dass jene Erfindungen auf die Götter zurückgehen, sondern lässt sie selbst Gottheiten sein. Was aber ist unsinniger, als verächtlichen und häßlichen Dingen göttliche Ehre zu erweisen oder bereits vom Tode ausgelöschte Menschen in den Rang von Göttern zu erheben, deren ganze Verehrung doch nur in Trauer bestehen könnte?

(39) Chrysipp allerdings, der als raffiniertester Deuter stoischer Traumgespinste gilt, bietet eine große Zahl unbekannter Gottheiten auf, die so unbekannt sind, dass wir uns von ihnen nicht einmal eine mutmaßliche Vorstellung machen können, obwohl doch unser Verstand dank seiner Phantasie in der Lage zu sein scheint, sich von allem möglichen ein Bild zu machen. Er behauptet nämlich, die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter die Welt selbst und die alles durchdringende Weltseele sei Gott, dann die Urkraft dieser Welt, die sich in Verstand und Vernunft zeige, und die gemeinsame und alles umfassende Natur der Dinge, dann wieder die Macht des Fatums und die Notwendigkeit der Zukunft, außerdem das Feuer und der eben erwähnte Äther, ein andermal das von Natur aus Fließende und Strömende, wie Wasser, Erde, Luft, zu dem Sonne, Mond, Sterne und das alles umschließende Weltall und schließlich sogar die Menschen, denen Unsterblichkeit zuteil geworden sei.

(40) Und derselbe Chrysipp trägt vor, der Äther sei das, was die Menschen Juppiter nennen, die Luft, die über die Meere streiche, Neptun, die Erde das, was als Ceres bezeichnet werde, und in ähnlicher Weise geht er die Namen der übrigen Gottheiten durch. Derselbe Mann setzt auch die Macht des ständigen und ewigen Gesetzes, welches gewissermaßen Führer des Lebens und Lehrer der Pflichten sei, mit Juppiter gleich, bezeichnet ebendies Gesetz als die vom Fatum verhängte Notwendigkeit und als ewige Wahrheit der Zukunft. Nichts davon ist aber so, dass ihm göttliche Macht innezuwohnen scheint.

(41) Und all das steht im ersten Buch seiner Schrift »Über das Wesen der Götter« im zweiten nun beabsichtigt er, die Märchen des Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer mit dem in Einklang zu bringen, was er selbst im ersten Buch über die unsterblichen Götter gesagt hat, so dass es so wirkt, als seien sogar die ältesten Dichter, die von der Stoa noch nicht einmal etwas ahnen konnten, Stoiker gewesen. Ihm schließt sich Diogenes von Babylon in seiner Schrift »Minerva« an, indem er Juppiters Vaterschaft und die Geburt der jungfräulichen Göttin auf die Naturphilosophie überträgt und so aus dem Mythos herauslöst.
S.29-55
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 25-41
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Das Leben ist Vorbereitung auf den Tod
(74)
Denn der in uns herrschende Gott verbietet es uns, von hier ohne seinen Befehl wegzugehen; wenn aber der Gott selbst einen triftigen Grund gegeben hat, wie damals dem Sokrates, jetzt dem Cato und häufig vielen anderen, dann wird, bei Gott, der Weise freudig aus dieser Dunkelheit in jenes Licht hinaustreten; er wird aber nicht die Fesseln des Körpers von sich aus brechen — denn das verbieten die Gesetze —‚ sondern er wird gehen, weil er von Gott gleichsam wie von einer Behörde oder irgendeiner gesetzlichen Macht abberufen und hinausgeschickt wurde.

(75) Denn das ganze Leben der Philosophen ist, wie derselbe Sokrates sagt, Vorbereitung auf den Tod. Denn was tun wir anderes, wenn wir unsere Seele von der Lust, also vom Körper; wenn wir sie vom Besitz, der der Diener und Gehilfe des Körpers ist, wenn wir sie vom Staat, wenn wir sie von jeglicher Beschäftigung wegrufen, was, sage ich, tun wir anderes, als die Seele zu sich selbst zu rufen, sie zu zwingen, sich allein anzugehören, und sie möglichst weit vom Körper wegzuführen? Die Seele aber vom Körper zu trennen, das eben heißt sterben lernen. Deshalb wollen wir uns darauf vorbereiten, glaube mir, und uns von unseren Körpern lösen, das heißt, wir wollen uns daran gewöhnen zu sterben. Das wird, solange wir uns auf Erden aufhalten, jenem Leben im Himmel ähnlich sein, und wenn wir dann, von den Fesseln hier befreit, dorthin entschweben, wird der Flug der Seelen weniger verzögert werden. Denn diejenigen, die immer in den Fesseln des Körpers gesteckt haben, gehen auch dann langsamer einher, wenn sie gelöst sind, sowie die, die viele Jahre in Eisenketten gelegen haben. Wenn wir dorthin gekommen sind, dann werden wir endlich leben; denn das Leben hier ist in Wahrheit Tod …
S. 103-105
Aus: M. Tullius Cicero: Tusculanae disputationes, Gespräche in Tusculum, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, Erstes Buch, 74-75
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