Paul Deussen (1845 – 1919)
>>>Gott
Leben und
Lehre Jesu
Quellen zur Geschichte Jesu
, Leben und Wirken Jesu
, Jesu Bewusstsein von
Gott und von der Welt , Das Schicksal
Jesu , Philosophische
Elemente der Lehre Jesu
Quellen
zur Geschichte Jesu
An der Geschichtlichkeit der Person Jesu kann nur ein Narr zweifeln. Der Tatbestand
des neutestamentlichen Schriftstum ebenso wie die erste Genesis des Christentums
bleiben völlig unerklärlich, wenn man nicht als Urheber der ganzen
Bewegung einen historischen Jesus, von welcher Art er auch er gewesen sein mag,
voraussetzt. Wer außerdem noch greifbare Beweise für die geschichtliche
Existenz der Person Jesu verlangt, der wäre zu verweisen auf die bekannten
Zeugnisse des Sueton und des Tacitus.
C. Suetonius Tranquillus berichtet
im »Leben des Kaisers Claudius« von
diesem cap. 25: Iudaeos impulsore Chresto assidue
tumultuantis Roma expulit: »Er verbannte
die Juden aus Rom, weil sie auf Anstiften eines gewissen Chrestus fortwährend
Unruhen erregten.«
Der Verfasser, von welchem Sueton diese Notiz übernommen
hat, war offenbar sehr wenig orientiert. Die Streitigkeiten zwischen den in
Rom lebenden Juden mit der ebendaselbst neuentstandenen Christengemeinde hält
er für eine Zänkerei der Juden unter einander, als deren Anstifter
er einen gewissen Chrestus bezeichnet, den sich der Verfasser allem Anscheine
nach als zur Zeit des Claudius in Rom lebend dachte.
Der Verfasser war also über das, was er erzählt, sehr mangelhaft unterrichtet.
Aber gerade diese Unkenntnis der nähern Verhältnisse bürgt uns
dafür, dass hier keine Fälschung vorliegt, dass zwischen den Juden
und der aus ihnen hervorgegangenen Partei der Christen Streitigkeiten bestanden,
und dass dabei ein gewisser Christus, dessen Namen
der Verfasser in das ihm geläufigere Chrestus verwandelte, die Hauptrolle
spielte, dessen Autorität die eine Partei anerkannte, während die
andere sie verwarf. Wir haben also hier das Zeugnis eines unparteiischen, der
Sache sehr gleichgültig gegenüberstehenden Römers dafür,
dass schon unter Claudius (41-54
p. C.) in Rom eine von den übrigen Juden sich absondernde Gemeinde
bestand, welche Christus als ihr
Haupt betrachtete.
Cornelius Tacitus erzählt in den Annalen
15,44, wie Nero nach dem Brande Roms, um den Verdacht von sich abzuwälzen,
diejenigen beschuldigt und mit den ausgesuchtesten Strafen belegt habe, welche
beim Volke wegen ihrer Schandtaten verhasst (per flagitia
in visos) waren und den Namen Christen (Christiani)
führten. Er fährt fort: Auctor
nomini eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontitum Pilatum supplicio
affectus erat; repressaque in praesens exi¬tiabilis superstitio rursum erumpebat,
non modo per Iudeam originem eius mali, sed per urbem etiam, quo cuncta sundique
atrocia aut pudenda confluunt celebranturque, »der
Urheber dieses Namens, Christus, wurde während der Regierung des Tiberius
durch den Prokurator Pontius Pilatus mit dem Tode bestraft; aber der für
den Augenblick unterdrückte, verderbliche Aberglaube brach wieder aus,
nicht nur in Judäa, wo dieses Übel entsprungen war, sondern auch in
Rom, wo, von überallher alles Scheußliche und Schamlose zusammenströmt
und verherrlicht wird«. Für die
Echtheit dieser Stelle bürgt nicht nur ihr in jedem Worte unverkennbares
und fast unnachahmliches taciteisches Gepräge, sondern auch die einfache
Überlegung, dass sie nicht, wie die bekannte Stelle des
Josephus Antiq. 18,3,3, von Christen eingefälscht
sein kann, da sie ja in hohem Grade christenfeindlich ist; wollte aber jemand
sich zu der Behauptung versteigen, sie sei von den Gegnern des Christentums
interpoliert worden, so würde die Stelle bei dieser übrigens sehr
unwahrscheinlichen Annahme dieselbe Beweiskraft für
die historische Existenz Jesu behalten.
Im übrigen sind wir für die Geschichte Jesu als Quelle fast ausschließlich
auf die vier Evangelien des Matthäus, Marcus, Lucas und Johannes beschränkt. …
Was zunächst das vierte Evangelium betrifft, so werden wir ihm weiter unten
eine besondere Betrachtung widmen. Wir werden in ihm eine in ihrer Art wundervolle
Exemplifikation der durch Jesus und Paulus geschaffenen
Christusgestalt der Kirche an einem mit freier, genialer Konzeption entworfenen
Leben Jesu erkennen, und begnügen uns hier mit der Bemerkung, dass
jeder, welcher den Erzählungen und Reden dieses Evangeliums irgendwelchen
historischen Wert einräumt, sich dadurch die Möglichkeit verschließt,
über die vielleicht einzig in der ganzen Weltgeschichte dastehende Persönlichkeit
Jesu ein authentisches Bild zu 'gewinnen, wozu uns die drei ersten Evangelien
weit mehr urkundliches Material darbieten, als es vielen scheinen mag.
Allerdings ist nicht daran zu denken, Matthäus, Marcus und Lucas, wie sie uns vorliegen, ohne weiteres
als glaubwürdige Zeugen zu betrachten, aber die beiden erstgenannten sind
doch Fortbildungen zweier Urschriften, über welche uns nur das unsichere
Zeugnis des Papias erhalten ist.
Papias, Bischof von Hierapolis in Phrygien, gestorben
163 p. C. und angeblich noch ein Schüler des Apostels Johannes, berichtet
in dem bei Eusebius (Hist.
eccl. III, 40) erhaltenen Fragment einer verloren gegangenen Schrift
folgendes: »Matthäus also hat in hebräischer
(d. h. aramäischer) Sprache die Reden (des Herrn) verfasst; es erklärte
sie aber ein jeder, so gut er konnte.« »Marcus war ein Dolmetscher
des Petrus und hat genau aufgezeichnet alles, woran er sich erinnerte, jedoch
nicht in der Reihenfolge, wie es von Christus sei es gesagt oder getan worden
war; denn er hatte ja den Herrn weder gehört, noch war er ihm nachgefolgt,
sondern nur späterhin dem Petrus, welcher die Lehrvorträge je nach
dem Bedürfnis einrichtete, nicht aber in der Absicht, eine chronologische
Darstellung der Denkwürdigkeiten des Herrn zu veranstalten, so dass den
Marcus kein Vorwurf trifft, wenn er einiges in der Reihe aufschrieb, wie er
sich daran erinnerte. Denn nur auf Eines war er bedacht, daß er nichts
wegließ, was er gehört hatte, und nichts hinzuerfand.«
Zunächst ist klar, dass die beiden von Papias
erwähnten Urschriften, welche wir Urmatthäus
und Urmarcus nennen wollen, nicht identisch
mit unserm Matthäus und Marcus sein können,
da unser Matthäus nicht aus dem Aramäischen
übersetzt, sondern ursprünglich schon griechisch geschrieben worden
ist, wie er ja auch weit mehr enthält als die Reden des Herrn, vielleicht
begleitet von ihrem Anlass, von dem Papias berichtet;
ebensowenig deckt sich der Urmarcus, bei dem nach dem Zeugnisse des Papias die
chronologische Anordnung mangelte, mit unserm Marcus,
welcher von der Taufe durch Johannes anfangend
den Aufenthalt in Galiläa, die Flucht vor Herodes
in die Tetrarchie des Philippus und die Reise nach
Jerusalem nebst Leiden, Sterben und Auferstehung geschichtlich zusammenhängend
und im wesentlichen übereinstimmend mit Matthäus
und Lucas erzählt.
Bei dieser Lage der Sache lässt sich dem sehr unbequemen Dilemma nicht
entgehen, dass Papias entweder unsern Matthäus
und Marcus noch gar nicht gekannt hat, oder,
falls er sie kannte, in ihnen nicht den echten Matthäus
und Marcus, von denen er berichtet, anerkennen
konnte. Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir in Urmatthäus und Urmarcus
die ersten Keime zu unserm Matthäus und
Marcus zu sehen, nur dass zwischen den Evangelien des Papias
und den unserigen vieles liegen muss, was uns leider verloren ist, nicht
nur an mündlichen Traditionen, sondern auch an Schriftwerken. Die Berichte
bei Matthäus, Marcus und Lucas
stimmen vielfach bis aufs Wort dermaßen überein,
dass wir eine allen dreien gemeinsame, direkt oder indirekt von ihnen benutzte,
in griechischer Sprache geschriebene Quelle, wir wollen sie das Synoptikon
nennen, annehmen müssen, welche verloren gegangen ist, aber sich einigermaßen
aus Matthäus, Marcus und Lucas
herausschälen lässt und nur das allen dreien Gemeinsame enthielt,
nicht aber das, was bei einem von den dreien fehlt; denn es ist nicht anzunehmen,
dass spätere Bearbeiter irgend etwas von dem, was dieses von ihnen als
Autorität anerkannte und benutzte Synoptikon enthielt, fallen ließen,
es sei denn aus dogmatischen Gründen, wie denn der so anstößige
Ausruf Jesu am Kreuze: »Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen«, in welchem man eine Verzweiflung an seiner
ganzen Lebensaufgabe finden konnte, sicher echt und bei Matthäus
und Marcus aufbewahrt ist, während Lucas
ihn wegließ, weil er zu den von ihm aus andern
Quellen berichteten Worten am Kreuze nicht passte.
Unser Synoptikon ist weder mit dem Urmarcus,
von dem es sich schon in der Anordnung unterschieden haben muss, noch mit unserm
Marcus identisch, welcher viele, meist ausschmückende Zusätze
enthält, die bei Matthäus und
Lucas fehlen. Neben diesem Synoptikon muss es noch eine reiche
mündliche Tradition, wahrscheinlich auch noch andere schriftliche
Aufzeichnungen gegeben haben, aus deren Zusammenfassung und Verschmelzung mit
ihm nach und nach unsere drei synoptischen Evangelien
entstanden sind.
Der Prozess im einzelnen wird sich schwerlich in einer allgemein befriedigenden
Weise hypothetisch rekonstruieren lassen, und nur soviel lässt sich von
unsern drei Evangelien mit einiger Sicherheit behaupten, dass
Matthäus aus einer Verschmelzung des Synoptikon mit der von Papias
erwähnten Redenquelle hervorgegangen ist und dabei im allgemeinen nach
unserm Gefühl das Synoptikon treuer wiedergibt
als Marcus, da die diesem eigenen anschaulichen
Züge weit eher aus späterer Ausschmückung als aus Ursprünglichkeit
sich erklären, treuer auch als Lucas, welcher
gleichfalls Redenquelle und Synoptikon benutzt haben muss, aber die bei Matthäus
noch in großen Komplexen erhaltene Redenquelle zerstückelte
und sie den Begebenheiten, nicht immer mit Geschick, einflocht.
Eigentümlich sind dem Matthäus die geflissentlichen
Nachweisungen der Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen, wie schon
daraus ersichtlich, dass sie die Schriftstellen aus dem hebräischen Grundtext
übersetzen, während das Synoptihon und so auch Matthäus,
soweit er ihm folgt, nach der Septuaginta zitiert. Ein besonderer Vorzug des
Lucas sind die ihm allein eigenen schönen
Parabeln vom barmherzigen Samariter, verlorenen Sohn u. a., welche bei allem
ethischen Werte doch einen andern Charakter als die echten Gleichnisse Jesu
tragen, so daß sie wohl eher der im Sinne des Meisters dichtenden ersten
Christen¬gemeinde zuzuschreiben sein dürften.
Leben
und Wirken Jesu
Eine Marmorstatue, ein herrliches Götterbild, von
barbarischen Händen zertrümmert, viele wesentliche Teile verschleppt
und unwiederbringlich verloren, das Übrige ohne Zusammenhang, mit fremden
Bruchstücken, untermischt und ungeschickt verbunden, dazu das Ganze durch
erdartige Schichten verdeckt und überglast, - das etwa ist der Eindruck,
mit welchem wir den Überlieferungen vom Leben und Wirken Jesu gegenüberstehen.
Einem solchen Material gegenüber genügt es nicht, mit philologischer
Akribie die, Texte zu vergleichen und ihren Wert gegen einander abzuwägen,
vielmehr müssen wir auf einen Künstler hoffen, welcher imstande wäre,
mit kongenialem Blick das Verlorene zu ergänzen und
aus den Trümmern das Götterbild, aus dem noch Vorhandenen das ursprüngliche
Ganze wiederherzustellen.
Der schlimmste Feind der historischen Überlieferung war dabei das bald
nach Jesu Hinscheiden sich einstellende Bedürfnis, den
zum Himmel entrückten Sohn Gattes und Messias gläubig zu verehren
und alles, was die Propheten des Alten Bundes von ihm geweissagt hatten oder
geweissagt zu haben schienen, als in Erfüllung gegangen durch Jesum Christum
zu betrachten.
Wie sehr ein solches Herzensbedürfnis, so berechtigt es in seiner Art sein
mag, dem nicht weniger berechtigten Wunsche, das Geschehene mit historischer
Treue zu bewahren, zerstörend entgegensteht, kann man am besten in Palästina
beobachten, wo fast jede historische Kunde, soweit sie überhaupt noch vorhanden
sein mochte, verdunkelt und erstickt worden ist durch das Streben der Gläubigen,
die heiligen Orte, oder was man dafür hielt, in Stätten der Verehrung
umzuwandeln. In Jerusalem zeigt man uns noch heute alles, was wir wünschen
können, das Fenster der Burg, aus welchem König David die Bathseba
erblickte, die via dolorosa mit dem Ecce-homo-Bogen und allen übrigen Einzelheiten,
die Stelle, von wo der Hahn krähte, als Petrus seinen Herrn verleugnete,
ja wohl gar noch den Baum, an welchem Judas sich erhängt haben soll. Das
alles ist ja spätere Erfindung, und wo wir an einem Orte stehen, der Anspruch
darauf hat, der echte zu sein, da ist er durch jenes Bedürfnis der Verehrung
entstellt und seines ursprünglichen Charakters beraubt worden.
Wo wir im Kidrontale Gethsemane erwarten, da finden wir einen von den Franziskanern
umhegten und sorgsam gepflegten Blumengarten, während tiefer unten im wasserlosen
Kidrontale noch die uralten Ölbäume stehen, welche. uns eine Vorstellung
ermöglichen von der letzten Nacht, die der Herr mit seinen Jüngern
verbrachte; der Ölberg, von dem er auf Jerusalem herniederblickte, ist
durch einen Aussichtsturm und prunkvolle Kirchenbauten entstellt; und suchen
wir die Grabes¬kirche auf, welche in ihrem riesigen Umfang, sehr fraglich
ob mit Recht, die Stätte der Kreuzigung, der Salbung des Leichnams und
als Mittelpunkt das heilige Grab selbst umschließt, da finden wir statt
des letztern ein Tempelchen mit Bank und Fußboden aus Marmor, welche die
Möglichkeit geben, zu knien, zu beten, den Boden zu küssen, aber an
eine in die Felsen gehauene Grabkammer mit einer kleinen seitlichen Öffnung,
welche durch Vorwälzung eines mühlsteinartigen Blockes verschlossen
werden konnte - wie deren noch manche in der Umgegend von Jerusalem vorhanden
sind -., nicht entfernt mehr erinnern. Und kommt man nach Bethlehem, steigt
in die Krypta der großen Marienkirche herab und liest in der Geburtskapelle
auf dem Marmorboden um den silbernen Stern herum die große, welthistorische
Inschrift: Hic de virgine Maria Jesus Christus natus
est, so wird man auch dann von dem Eindruck mächtig ergriffen
werden, wenn man nicht in der Lage ist, Bethlehem als Geburtsort Jesu anerkennen
zu können.
Jesus stammte notorisch aus Nazareth, einem kleinen
Landstädtchen in Galiläa, 20 Kilometer westlich vom Südende des
Sees Genezareth, und ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch dort geboren. Aber
als der Messias musste er nach Micha 5,1 aus Bethlehem
Ephrata stammen, und die Legende schlägt zu diesem Ende in den beiden
Kindheitsberichten bei Matthäus und Lucas
verschiedene Wege ein. Nach Lucas wohnen
die Eltern ursprünglich in Nazareth und sollen bei Gelegenheit des nach
Verbannung des Archelaus vom syrischen Legaten P. Sulpicius
Quirinius im Jahre 7 p. C., wo Jesus schon mindestens sieben Jahre alt
war, veranstalteten Census infolge einer bei der geordneten römischen Verwaltung
ebenso undenkbaren wie unsinnigen Maßregel gezwungen worden sein, die
weite Reise von Nazareth nach Bethlehem zu machen, nur um dort, wo niemand sie
kannte, ihren Namen in die Schätzungsliste eintragen zu lassen, weil die
Vorfahren von Joseph tausend Jahre vorher dort gewohnt hatten.
Einen andern Weg schlägt die bei Matthäus
erhaltene Sage ein. Nach ihr wohnen die Eltern ursprünglich in Bethlehem,
wie daraus mit Sicherheit hervorgeht, dass nach ihrer Rückkehr aus Ägypten
ausdrücklich motiviert wird, warum sie nicht nach Bethlehem zurückkehren,
sondern »in eine Stadt, die da heißt Nazareth«
übersiedeln. Dass Herodes aus Furcht vor einem neugeborenen Knäblein
alle Kinder unter zwei Jahren in Bethlehem und Umgegend habe umbringen lassen,
ist trotz seines argwöhnischen und zu Grausamkeiten geneigten Charakters
nicht weniger widersinnig als die bei Lucas zugrundeliegende
Fiktion der Nötigung zu einer weiten Reise, nur um sich zensieren zu lassen.
Als Beweis der Abstammung Jesu von David führen die beiden genannten Berichte
zwei Stammbäume vor, von denen der bei Matthäus das Geschlecht Jesu
bis auf Abraham, der bei Lucas dasselbe sogar bis auf Adam zurückführt.
Ohne uns bei den willkürlichen Konstruktionen und Widersprüchen dieser
beiden Geschlechtsregister aufzuhalten, wollen wir nur daran erinnern, das sie
nicht in Maria, sondern in Joseph auslaufen, … Sollen diese durch mühsame
Konstruktionen gewonnenen Stammbäume nicht widersinnig sein, so müssen
sie, abgesehen von den erwähnten Zusätzen, aus einer Zeit herrühren,
wo man von einer über¬natürlichen Zeugung noch nichts wusste,
sondern Jesum einfach für einen Sohn des von David stammenden Joseph hielt.
Diese Anschauung liegt auch noch den Worten des Apostels Paulus zugrunde, wenn
er Röm. 1,3 sich als einen Diener Jesu bezeichnet,
»der geboren ist von dem Samen Davids, nach dem
Fleisch; und kräftiglich erwiesen ein Sohn Gottes, nach dem Geist, der
da heiliget, seit der Zeit er auferstanden ist von den Toten«.
Es geht für jeden, der sehen will, klar hervor, dass Paulus von der übernatürlichen
Zeugung noch nichts wusste. Sie ist die Frucht einer volkstümlichen Neigung;
geistige Verhältnisse ins Konkrete zu übersetzen und dadurch fasslicher
zu machen, ähnlich wie man in Indien dem Gotte Brahman,
weil es Rigveda 10,81,3 heißt:
»Allseitig Auge und allseitig Antlitz,
Allseitig Arme und allseitig Fuß«,
in späterer Zeit viele Gesichter und Arme andichtete. Es ist daher aus
der christlichen Legende durchaus kein Grund dafür zu entnehmen, dass Jesus
nicht das Kind seiner beiden Eltern, des Joseph und der Maria, gewesen sei.
Wer heutzutage Nazareth als den Ort, wo Jesus höchstwahrscheinlich geboren
wurde und wo er jedenfalls die Zeit seiner Jugend verbrachte, mit hochgespannten
Erwartungen besucht, der wird einen ähnlichen Eindruck empfangen wie die
Besucher von Stratford on Avon, als dem Geburts- und Heimatsorte Shakespeares,
nämlich den Eindruck der Verwunderung darüber, wie ein so großer,
in seiner Art weltbeherrschender Genius die erste, für die Entwicklung
einflussreichste Periode seines Lebens fern von dem Treiben der großen
Welt in einer kleinen Provinzialstadt verbringen konnte, welche sich durch nichts
vor hundert ähnlichen auszeichnet.
Dies scheint zu beweisen, dass der Genius zu dem, was er selbst mitbringt, keiner
besonders starken Anregungen von außen bedarf, und dass vielmehr das Treiben
einer Großstadt wegen der Überfülle der Eindrücke den jungen
Geist eher zur Oberflächlichkeit verleiten und daher auf seine Entwicklung
ungünstig einwirken kann. Und so fand denn auch Jesus in dem kleinen, dem
Alten Testament ganz unbekannten Nazareth alles, was er zum Aufbau seines geistigen
Lebens bedurfte, und was sich in seinen Reden so lebensvoll widerspiegelt, den
blauen Himmel und die schöne galiläische Landschaft mit ihren blühenden
Gärten, ihren Öl- und Feigenbäumen. Hier konnte er die Vögel
unter dem Himmel und die Lilien auf dem. Felde beobachten, freilich auch die
Menschenwelt mit ihren perversen Neigungen, und frühe schon mag er seine
pessimistischen Anschauungen über »die böse
und ehebrecherische Art, die Narren und Blinden« und die blinden
Leiter dieser Blinden, die Pharisäer und Schriftgelehrten, »die
Heuchler, die Schlangen, das Otterngezücht«, eingesogen haben.
Ob er vor seinem öffentlichen Auftreten im dreißigsten Jahre weit
über Nazareth hinaus, namentlich auch nach Jerusalem gekommen ist, muss
zweifelhaft bleiben. Die Apostel datieren ihre Kenntnis von Jesu und die Predigt
über ihn erst von der Taufe durch Johannes an
(vgl. die Anfangsworte des Marcus
und Apostelgesch. 1,21-22 und 10,37), und aus der Zeit vorher haben wir
nur die anmutige, nach Art des Lucas jedenfalls
stark ausgeschmückte Erzählung vom zwölfjährigen Jesu im
Tempel, welcher nicht nur das Bedenken entgegensteht, dass alle andern Berichterstatter
davon nichts wissen, sondern auch das Verhalten seiner Nazarether Mitbürger
und besonders auch das seiner eigenen Familie dem spätern Auftreten Jesu
gegenüber, welches schon hier zur Sprache kommen mag.
Wie Sokrates der Sohn eines Bildhauers oder richtiger wohl Steinmetzen, Kant
der eines Sattlermeisters, so war auch Jesus der Sohn
eines Handwerkers, eines einfachen Zimmermanns, und hat nach
Marc. 6,3 das Zimmermannshandwerk auch selbst betrieben.
Vom Vater ist, abgesehen von den Kindheitssagen, weiter nicht mehr die Rede,
vielleicht weil er frühzeitig verstorben war, die Mutter
Maria wird von den Synoptikern nur selten erwähnt und scheint sich
nicht über das gewöhnliche Niveau der einfachen Bürgerfrauen
ihres Landes und Zeitalters erhoben zu haben. Ihrer Ehe sind nach Jesu Geburt
noch vier Söhne, Jacobus,
Joses, Simon und Judas, sowie einige
Töchter entsprossen, und bei dieser zahlreichen Familie mochte ein
öfteres Reisen zum Feste nach Jerusalem schwierig und eine Lebensführung
in den einer einfachen Handwerkerfamilie gesteckten Grenzen geboten sein.
Sonach wird die Jugendbildung Jesu, abgesehen von dem Eindruck der ihn umgebenden
anschaulichen Welt und der großen Natur in seinem Innern, wesentlich auf
das Studium des Alten Testaments und den etwa daran anknüpfenden
rabbinischen Schulunterricht beschränkt geblieben sein, und eine
gewisse Enge seines Gesichtskreises lässt sich bei
aller Größe und Tiefe seiner Anschauungen nicht verkennen.
Die Geschichte der Welt mit Ausnahme dessen, was er aus dem Alten Testament
schöpfen konnte, scheint ihm fern geblieben zu sein. Seine so sinnreichen
Reden und Gleichnisse von den Reichen dieser Welt und ihrer Herrlichkeit, von
den Königen und den sie umgebenden Großen beweisen nur, dass ihm
diese Kreise des Lebens fremd geblieben sind, und während Johannes der
Täufer doch mit dem Hofleben des Herodes Antipas in Zusammenhang gebracht
wird, scheint Jesus dessen Hauptstadt Tiberias bei seinen zahlreichen Wanderungen
in Galiläa nie betreten zu haben. Von einem Interesse Jesu für bildende
Kunst, Poesie und Musik ist nirgendwo die Rede; als seine Jünger ihn auf
die Herrlichkeit des herodianischen Tempels bewundernd aufmerksam machten, hatte
er als Antwort nur düstere Zukunftsahnungen. Schon
früh scheint der Gedanke an seine große Mission, den Menschen die
Nähe des Himmelreichs zu verkünden, alle andern Interessen zurückgedrängt
zu haben, woraus auch das Verhalten gegenüber seiner Familie sich erklärt,
welche ebenso wie die Bürger seiner Heimatstadt für seine große
Aufgabe kein Verständnis hatte.
Ein Besuch, welchen er während der Periode seiner Wirksamkeit in den verschiedenen
Orten Galiläas seiner Heimatstadt Nazareth machte, endete daher mit einem
Misserfolg, Marc. 6,1-5: »Und
er ging aus von dannen und kam in seine Vaterstadt; und seine Jünger folgeten
ihm nach. Und da der Sabbat kam, hub er an zu lehren in ihrer Schule. Und viele,
die es höreten, verwunderten sich seiner Lehre und sprachen: >Woher
kommt Dem solches? und was Weisheit ists die ihm gegeben ist, und solche Taten,
die durch seine Hände geschehen? Ist er nicht der Zimmermann, Mariä
Sohn und der Bruder Jakobi, und Joses, und Judä, und Simonis? Sind nicht
auch seine Schwestern allhier bei uns?< Und sie ärgerten sich an ihm.
Jesus aber sprach zu ihnen: >Ein Prophet gilt nirgend weniger, denn im Vaterlande
und daheim bei den Seinen.< Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun;
ohne, wenigen Siechen legte er die Hände auf und heilete sie.« -
Von einem höchstwahrscheinlich spätern Vorgang, der sich zu Kapernaum
im Hause des Petrus abspielte, berichtet -Marc. 3,20-35:
»Und sie kamen nach Hause. Und da kam abermals
das Volk zusammen, also, dass sie nicht Raum hatten zu essen. Und da die Seinigen
es gehört, gingen sie aus, ihn zu ergreifen, denn sie sagten: Er ist von
Sinnen , (was Luther allzu wohlwollend übersetzt: Er wird von Sinnen kommen)
... Es kommen nun seine Brüder und seine Mutter und standen draußen,
schickten zu ihm und ließen ihn rufen, und das Volk saß um ihn.
Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen
fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und
meine Brüder? Und er sah ringsum auf die Jünger, die mit ihm im Kreise
saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder.
Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder, und meine Schwester, und meine
Mutter.«
Aus diesen spätern Vorgängen dürfen wir schließen, dass
Jesus seine Jugend in Nazareth zubrachte, ohne
dass seine Mitbürger oder auch seine eigene Familie ein Verständnis
hatten für die großen Gedanken, die ihn innerlich bewegten und an
dem Studium der Schriften des Alten Testaments allmählich zur Reife kamen.
Vor allem war es das Buch Daniel, welches er, dessen
historische Beziehung auf Antiochus Epiphanes verkennend, auf seine eigene,
unter der Herrschaft der Römer und Herodianer schmachtende Zeit bezog,
so dass er im Anschluss an die Weissagungen dieses Buches einen baldigen Ablauf
der vier Weltreiche und das ewige Messia¬nische Reich nebst dem Weltende
und der Auferstehung der Toten erwartete. Und als er hörte, dass in Judäa
am untern Laufe des Jordan ein Prophet aufgetreten sei, welcher unter großem
Zulauf die Nähe des von Daniel geweissagten Himmelreichs
verkündete, die Menschen aufforderte, Buße zu tun, und sie als Symbol
der Reinigung von ihren Sünden im Jordan taufte, da ließ es ihn nicht
länger in seiner Heimat, und er machte sich auf nach dem gleichfalls dem
Herodes gehörigen Peräa, um dort den neuen Propheten kennen zu lernen.
Das Auftreten Johannes des Täufers scheint
weder in näherem Zusammenhang zu stehen mit den Nasiräern, an welche
nur seine Kindheitslegende erinnert, noch auch mit den Essenern, mit deren Geheimhaltung
der Lehren, dreijährigem strengen Noviziat und Enthaltung von Fleischnahrung
vielmehr sein offenes Predigen zu allen, sofortiges Vornehmen der Taufe und
gelegentliches Essen von Heuschrecken in entschiedenem Widerspruch steht. Umsomehr
erinnert sein Gebaren an das der Propheten, namentlich der alten, noch nicht
schriftstellernden, eines Elias und Elisa:
wie sie trägt er einen härenen Mantel und ledernen Gürtel
und scheut sich nicht, mit Gefahr seines Lebens dem Volke wie den Fürsten
derbe Wahrheiten zu sagen; wie sie liebt er drastische Bilder von der Wurfschaufel
und der Axt, die den Bäumen an die Wurzel gelegt ist, und auch darin gleicht
er ihnen, dass er den Gedanken, welcher ihn bewegt, durch eine äußere
Manipulation, die Taufe, veranschaulicht.
Ob die Taufe der Proselyten schon in vorchristlicher Zeit von
den Juden geübt wurde, ist ja zweifelhaft, doch ist nicht eben wahrscheinlich,
dass sie diesen Ritus erst von den verhassten Christen übernommen haben
sollten. Wie dem auch sei, jedenfalls ist das Taufen durch Johannes in ähnlichem
Sinne zu verstehen wie die Proselytentaufe durch die Juden. Wie durch sie der
Proselyt aus dem Heidentum zum Judentum übertrat und gleichsam einen neuen
Menschen anzog, so wird bei Johannes die Taufe zum Symbol der Sinnesänderung,
welche er beim Herannahen des Himmelreiches durch seine Predigt fordert:
»tut Buße (wörtlich, ändert euren Sinn), denn das Himmelreich
ist nahe herbeigekommen«.
Der paradoxe Begriff eines himmlischen Messiasreiches weist unverkennbar zurück
auf das Buch Daniel als seinen Ursprung. Da das Messiasreich und mit ihm Auferstehung,
Weltgericht und Weltende auch nach den Zeiten des Antiochus Epiphanes immer
noch auf sich warten ließ, so lag es nahe, unter dem vierten Tier unhistorisch
das römische Weltreich zu verstehen, und mancher unter der Bedrückung
durch die Römer seufzende Jude wird Trost gefunden haben in den Worten
Daniel 7,13: »Ich sahe
in diesem Gesicht des nachts: und siehe, es kam Einer in des Himmels Wolken,
wie eines Menschen Sohn, bis zu dem Alten; und ward vor denselbigen gebracht.
Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker, Leute und Zungen
dienen sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet, und sein Königreich
hat kein Ende.« Das hier verheißene Himmelreich erscheint
doch zugleich als ein ewiges Reich auf Erden, und man kann zweifelhaft sein,
in welcher von beiden Formen Johannes der Täufer sich das Himmelreich vorstellte,
dessen Herannahen er verkündigte, und als dessen Vorläufer, als den
Jesaia 40,3 verkündigten Prediger in der Wüste
er sich selbst betrachtet haben mag.
Zu diesem Prediger in der Wüste kam also auch Jesus und ließ sich
von ihm taufen, ein Vorgang, den die Legende in ihrer Weise ausgeschmückt
hat. Über den Verkehr Jesu mit Johannes wissen wir nichts; nach dem glaubwürdigen
Zeugnisse bei Matth. 4,12, Marc. 1,14 blieb er
bei Johannes bis zu dessen Verhaftung, also möglicherweise
längere Zeit; die Austerität
[Strenge] in Fasten und Gebetsübungen
der Johannesjünger hinderte ihn, sich diesen anzuschließen, er kehrte
nach Galiläa zurück, um in freierm und tieferm Geiste das Werk des
gefangenen Propheten fortzusetzen; an ihn anknüpfend, aber ohne auf die
äußere Zeremonie der Taufe Wert zu legen, fing auch er an zu predigen:
»Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«
Über das Schicksal Johannes des Täufers
gibt es zwei Berichte, welche schwer in Einklang zu bringen sind. Nach Josephus
hätte Herodes ihn aus Furcht, dass er das Volk auf¬wiegeln könnte,
in der Festung Machärus (östlich vom Toten Meer) gefangen setzen und
hinrichten lassen. Sollte dieser Bericht des Josephus
für wahr gelten müssen, so würde die Glaubwürdigkeit
der evangelischen Erzählung über den Vorfall stark erschüttert
werden. Zwar könnten bei Gefangennahme und Hinrichtung beide Motive, die
Furcht vor einem Volksaufstande und der Hass der Herodias,
zusammengewirkt haben; aber als Ort, wo diese Vorgänge sich abspielten,
müssen wir nach den Evangelien, wenn sie ihn auch nicht nennen, jedenfalls
Galiläa, und so aller Wahrscheinlichkeit nach die
Hauptstadt Tiberias denken, nicht aber das ferne Machärus;
denn dass Herodes dort in Peräa seinen Geburtstag begangen hätte,
während Herodias und ihre Tochter in der Nähe und, falls Marc.
6,21 nicht eine spätere Einschiebung ist, »die
Obersten und Hauptleute und Vornehmsten in Galiläa« mit bei
Tische waren, ist sehr unwahrscheinlich, nicht zu reden davon, dass nach Marc.
6,20 Herodes gern den gefangenen Johannes gehört
und ihm in vielen Sachen gehorcht habe, und dass ein Verkehr des
Johannes im Gefängnisse mit seinen Jüngern und durch sie mit
Jesu in der Weise, wie es die Evangelien berichten, nicht denkbar gewesen wäre,
wenn Johannes in dem fernen, auch noch durch das Gebiet der Dekapolis getrennten
Machärus gefangen gehalten worden wäre.
Schwierigkeit macht auch die Rede Jesu über Johannes Matth.
11,7-13 (= Luc. 7,24-28), in welcher er denselben rühmt, dass er
nicht charakterlos wie ein vom Wind bewegtes Rohr, nicht weichlich wie die Vornehmen
in der Könige Häusern, sondern der größte aller Propheten
sei, eine Rede, welche Jesus nach dem Zusammenhang während der Gefangenschaft
Johannis gehalten haben soll, und deren Form doch das Wirken des Johannes in
Freiheit und den fortgesetzten Zulauf des Volkes zu ihm vorauszusetzen scheint.
Wenn endlich Marc. 6,14 (= Matth. 14,2) behauptet
wird, Herodes habe Jesum für den von den Toten auferstandenen Johannes
gehalten, so ist eine so absurde Annahme bei einem römisch gebildeten Herodianer
undenkbar. Er mag gesagt haben, da sei wieder ein solcher wie Johannes, und
dieser Ausspruch hat im Volksmunde die Form angenommen, in der er berichtet
wird.
Überaus lebendig und ist die Schilderung, welche die Evangelien von Jesu
geben, wie er nach Gefangennahme des Johannes vom Jordan nach Galiläa zurückkehrt,
Kapernaum zu seinem Lieblingsaufenthalte erwählt und von dort aus die Städte
und Märkte Galiläas und jenseits von dessen Grenzen durchzieht, um
die Nähe des Himmelreiches zu verkünden, bald in den Synagogen und
Häusern, bald am Meere von einem Kahn aus oder von einer Anhöhe lehrend,
immer umgeben von einer Volksmenge, die sich an ihn herandrängt, bis ihn
plötzlich das bei edeln Naturen so starke Bedürfnis
nach der Einsamkeit wegführt, seine Jünger ihn suchen und ihn endlich
wiederfinden in stiller Meditation über das Ewige, welche bei ihm, entsprechend
der semitischen Grundanschauung, die Form des Gebets zu seinem himmlischen Vater
anzunehmen pflegte.
Da Jesus offenbar kein eigenes Vermögen besaß,
auch nicht, wie der Apostel Paulus, ein Gewerbe
betrieb, so fragt es sich, auf welche Art er bei seinen Wanderungen durch die
Städte und Märkte von Galiläa und den umliegenden Landschaften
den Lebensunterhalt für sich, seine Jünger und das gelegentlich sich
anschließende Gefolge bestritten haben mag. Zur Beantwortung dieser Frage
haben wir einen Anhalt an den Ermahnungen, welche Jesus
seinen Jüngern bei ihrer Aussendung mit auf den Weg gab. Matth.
10,8-14 (vgl. Marc. 6,8-11, Luc. 9,3-5. 10,4-11): »Umsonst
habt ihrs empfangen, umsonst gebet es auch. Ihr sollt nicht Gold, noch Silber,
noch Erz in euren Gürteln haben; auch keine Taschen zur Wegfahrt, auch
nicht zween Röcke, noch [zwei Paar] Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein
Arbeiter ist seiner Speise wert. Wo ihr aber in eine Stadt oder Markt gehet,
da erkundiget euch, ob jemand drinnen sei, der es wert ist; und bei demselben
bleibet, bis ihr von dannen ziehet.... Und wo euch jemand nicht annehmen wird,
noch eure Rede hören, so gehet heraus aus demselbigen Hause oder Stadt,
und schüttelt den Staub von euren Füßen.« Wenn
Jesus Vers 25 hinzufügt: »Es
ist dem Jünger genug, dass er sei wie sein Meister«, so liegt
darin, dass die den Jüngern gegebenen Vorschriften dieselben waren, welche
auch der Meister befolgte. Zum Mittelpunkte seiner Wirksamkeit hatte er Kapernaum
erwählt, eine blühende Stadt mit regem See- und Landverkehr, an der
Handelsstrasse von Damaskus nach dem Mittelmeer, gelegen. Hier pflegte er wohl
im Hause des Simon Petrus, dessen Schwiegermutter
er vom Fieber befreit hatte, zu wohnen, hier erfolgte auch wohl die Berufung
des Zollbeamten Matthäus oder Levi
und das nachfolgende Gastmahl in dessen Hause, bei welchem Jesus
mitten unter den Zöllnern und Sündern saß, zum großen
Ärgernis der Gesetzesfrommen, denen er mit beißender Ironie die Antwort
gab: »Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht,
sondern die Kranken.«
Im Gegensatze zu der asketischen Strenge Johannis des
Täufers, zu dem er sich ähnlich verhielt wie die Stoiker zu
den Kynikern, war Jesus seiner festen Wurzelung im Ewigen,
semitisch ausgedrückt, seiner Einheit mit Gott, so sicher, dass
er ohne etwas zu verlieren, sich dem heitern Genusse der Gegenwart hin¬geben
konnte und gerade dadurch ein großes Vorbild für alle künftigen
Zeiten aufgestellt hat. Dem Befremden der Johannesjünger begegnet er mit
dem Scherzworte: »Wie können die Hochzeitleute
Leid tragen, so lange der Bräutigam bei ihnen ist?« und deutet
in den folgenden Worten in bildlicher Weise an, dass die jüdischen Satzungen
ein verbrauchtes, nicht mehr zu flickendes Kleid sind, ein alter Schlauch, welcher
den neuen Wein nicht mehr fassen kann (Matth. 9,15-17).
Schärfer tritt er den Anhängern der Pharisäer entgegen,
vergleicht sie (Matth. 11,16-19) launischen Kindern,
welche verlangen, dass man tanzen soll wie sie pfeifen, und fährt fort:
»Johannes ist gekommen, aß nicht und trank
nicht: so sagen sie, er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, isset
und trinket, so sagen sie: Siehe wie ist der Mensch ein Fresser, und ein Weinsäufer,
der Zöllner und der Sünder Geselle!« und »die
(pharisäische) Weisheit zeigt an dem Treiben ihrer eigenen Kinder: was
sie wert ist«.
Ähnlich wie Sokrates und aus demselben Grunde,
nur von einem ungleich höhern Standpunkte aus, war auch Jesus
den harmlosen und maßvollen Freuden des geselligen,
durch Reden gewürzten Mahles nicht feind; sogar das Himmelreich stellt
er sich vor unter dem Bilde eines festlichen Gelages (Matth.
5,11), und mit einer gewissen Wehmut nimmt er beim letzten Abendmahle
Abschied vom Gewächse des Weinstocks bis an den Tag, da er es neu trinken
werde mit seinen Jüngern in seines Vaters Haus (Matth.
26,29). -
Aber bei den weiten Wanderungen, welche Jesus von Ort zu Ort unternahm, waren,
ungeachtet der im Orient üblichen Gastfreundschaft, doch nicht immer Häuser
vorhanden, um Jesum und sein großes Gefolge zu bewirten, und wenn auch,
wie Luc. 8,3 berichtet, Frauen befreundeter Häuser
in seinem Gefolge »Handreichung taten von ihrer
Habe«, so mochte es doch vorkommen, dass Jesus mit seinen Jüngern
auf dem Felde Ähren ausraufte, um den Hunger zu stillen, was nach
5. Mos. 23,25 gestattet war, aber, weil es an einem Sabbat geschah, von
den Pharisäern vermöge einer rigoristischen Auslegung von
2. Mos. 20,10 für Sabbatschändung erklärt wurde und dadurch
Anlass gab zu dem geistvollen Ausspruche Jesu: »Der
Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats
willen« (Marc. 2,27).
Wie sehr es an Geld gebrach, lehrt die Erzählung Matth:
17,24-27, wo Jesus und Petrus
nicht imstande sind, die jedem Juden obliegende jährliche Tempelsteuer
von zwei Drachmen aufzubringen. Jesus bemerkt zu ihm, dass die Kinder von dieser
ihrem himmlischen Vater zu zahlenden Steuer eigentlich befreit bleiben müssten,
weiset ihn aber dann an, als Fischer durch Fang und Verkauf eines größern
Fisches die kleine Summe zu beschaffen, wobei er scherzend gesagt haben mag,
der Fisch werde den Stater, das Silberstück von vier Drachmen im Munde
haben (wie wir sagen: Morgenstund hat Gold im Mund), was
dann von der Volkslegende buchstäblich verstanden wurde. Dass es bei weitern
Reisen in der Umgegend zuweilen auch sogar für Jesum an einem Unterkommen
fehlte, scheinen die Worte zu besagen: »Die Füchse
haben Gruben und die Vögel unter, dem Himmel haben Nester, aber des Menschen
Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege« (Matth.
8,20). Doch soll zum Schluss nicht unerwähnt bleiben, was nach
Luc. 22,35 in der letzten Stunde des Zusammenseins der Herr zu seinen
Jüngern sprach: »So oft ich euch gesandt habe
ohne Beutel, ohne Tasche; und ohne Schuhe, habt ihr auch je Mangel gehabt? Sie
sprachen: Nie keinen!« -
Dass Jesus »gewaltig
predigte und nicht wie die Schriftgelehrten«, würden wir auch
dann glauben; wenn es nicht ausdrücklich überliefert wäre. Die
meisten der Sprüche und Reden, welche wir der Sammlung eines Augenzeugen,
des Matthäus (oben S.
191), verdanken, erweisen sich als echt schon durch den Umstand, dass
kein anderer in der Zeit und .Umgebung Jesu sich denken lässt, von dem
so geistvolle, so frei über die Vorurteile des Zeitalters sich erhebende
Gedanken hätten ausgehen können. Und auch die Worte, in welche gekleidet
diese Gedanken erscheinen, zeugen für die Treue der Überlieferung
durch ihr Gepräge, durch einen eigen¬tümlichen Glanz, welcher
ihnen anhaftet und auch im Laufe aller kommenden Jahrhunderte nicht verblichen
ist. Mitunter, wenn auch nicht eben häufig, begegnet uns ein sinnreiches
Scherzwort, wie er denn z. B. den Petrus und Andreas von ihrem Fischergewerbe
abruft, indem er verspricht, sie zu Menschenfischern zu machen. Oft haben diese
Scherzworte einen sarkastischen Beigeschmack, wie das schon oben erwähnte:
»Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern
die Kranken«, oder die Antwort, die dem Jünger zuteil wurde,
welcher, ehe er sich an Jesus anschloss, noch seinen verstorbenen Vater begraben
wollte: »Folge du mir und lass die Toten ihre Toten
begraben« (Matth. 8,22). Viele dieser
Aussprüche erinnern in ihrer scharfen Pointierung an die Art des Heraklit,
während der überströmende Reichtum an Bildern in Jesu Sprache
nur von einem Shakespeare überboten wird.
Wundervoll ist auch die Geistesgegenwart, mit welcher er die verfänglichen
Fragen der Pharisäer zu beantworten weiß. So, wenn sie ihm eine Frage
vorlegen, deren Beantwortung entweder die Römer oder das Volk gegen ihn
aufbringen musste, ob es recht sei, dem Kaiser den Zins zu geben, und er antwortet:
»So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott,
was Gottes ist« (Matth. 22,21). Ganz
ähnlich liegt der Fall bei einem versprengten Stück synoptischer Überlieferung,
welches sich bei Joh. 8,3-11 findet; hier bringen
die Pharisäer Jesum in Konflikt zwischen dem mosaischen Gesetz und den
Forderungen der Menschlichkeit, indem sie ihm eine Ehebrecherin vorführen,
welche nach 3. Mos. 20,10 getötet werden musste.
Jesus bückt sich und schreibt in den Sand,
nichts anderes, wie wir glauben und schon in unserer Schrift über
Jakob Böhme (2. Aufl., S. 3) gesagt haben, als die Worte des Gesetzes:
»Sie soll des Todes sterben«, wodurch er in drastischer Weise
dem Gesetz die gebührende Anerkennung zollte und zugleich dasselbe als
toten Buchstaben behandelte, in Gedanken das paulinischo Wort antizipierend:
»Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2.
Kor. 3,6).
Die Neigung Jesu für bildliche Ausdrucksweise findet ihren Höhepunkt
in seiner Gewohnheit, abstrakte Gedanken in Parabeln zu kleiden, von denen das
Gleichnis vom Säemann, von den törichten und klugen Jungfrauen, vielleicht
auch, wiewohl sie nur bei Lucas stehen, vom barmherzigen
Samariter und vom verlornen Sohne herrliche Beispiele geben. Viele derselben
sind durch die Überlieferung entstellt und verdorben worden; wie namentlich
das Gleichnis Matth. 22,2-14 (vgl. Luc. 14,16-24),
nach welchem ein König seine Großen zur Hochzeit
ladet, und als sie sich entschuldigen, seine Gäste auf der Landstrasse
auflesen lässt, dann aber einen bemerkt, der kein hochzeitliches Kleid
anhat und denselben zur Verdammnis überliefert. Hier haben sich
offenbar zwei Parabeln wie zwei Kristalle störend durchdrungen, deren eine
die Armen und Geringen ins Himmelreich lud, während die andere die Unwürdigen
von demselben ausschloss. Der letztere Zug fehlt bei Lucas,
der somit, abgesehen von den bei ihm üblichen Ausschmückungen, die
Überlieferung reiner bewahrt zu haben scheint.
Auf die Frage, warum Jesus in Parabeln lehre, erhalten wir aus Jesu eigenem
Munde nach Marc: 4,11-12 (vgl. Matth. 13,13-14)
die seltsame Antwort: »Euch ist es gegeben, das
Geheimnis des Reichs Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfährt
es alles durch Gleichnisse. Auf dass sie es mit sehenden Augen sehen, und doch
nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören, und doch nicht verstehen;
auf dass sie sich nicht dermaleinst bekehren, und ihre Sünden ihnen vergeben
werden.« Wenn diese augenscheinlich an Jesaia
6,8-10 anknüpfenden Worte wirklich von Jesu gesprochen worden sein
sollten, so würden wir schon bei ihm die Keime der
Prädestinationslehre vor uns haben, welche allerdings, wie später
zu zeigen sein wird, da wo der Determinismus sich mit dem Theismus verbindet,
die notwendige Konsequenz ist, nur dass es fraglich bleiben muss, ob Jesus diese
Konsequenz schon gezogen hat.
Bei Beurteilung Jesu soll man nie außer Augen
lassen, dass wir ihn nur als einen jungen Mann kennen,
welcher nach dem, trotz allen neuern Hypothesen immer noch am wenigsten unwahrscheinlichen
Berichte des Lucas erst dreißig Jahre alt
war, als er seine kurze öffentliche Laufbahn antrat. So erscheint er als
ein junger, feuriger, noch nicht völlig mit sich fertiger Geist, wie dies
namentlich bei seiner heftigen Polemik gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer
Matth. 23 hervortritt, welche, einzelne Beobachtungen
verallgemeinernd, gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit eine ganze Menschenklasse,
unter der sich doch auch Männer wie Gamaliel
und Paulus befanden, in leidenschaftlicher
Rede verurteilt.
Die Jugendlichkeit Jesu macht sich besonders bemerkbar
in einer gewissen Exzentrizität seines ganzen,
eben dadurch so liebenswürdigen und die Herzen gewinnenden Wesens. Alle
seine Reden zeigen eine Vorliebe für groteske, das Maß überschreitende
Ausdrücke; so erklärt er es Matth. 19,24 für
leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher
ins Reich Gottes komme. Man hat diesen Vergleich zu stark gefunden und
der Sache abzuhelfen gesucht, indem man entweder das Kamel zu einem Tau verkleinerte
oder das Nadelöhr zu einer Zeltöffnung vergrößerte. Aber
eine ganze Reihe ähnlicher Ausdrücke beweisen die Vorliebe des
jugendlichen Feuergeistes für derartige übertriebene Wendungen:
Er wirft den Pharisäern vor, dass sie Mücken
seihen und Kamele verschlucken (Matth. 23,24);
er ermahnt, das Licht nicht unter den Scheffel zu stellen
(Matth. 5,15), die
Perlen nicht vor die Säue zu werfen (Matth.
7,6), beim Almosengeben die linke Hand nicht wissen
zu lassen, was die rechte tut (Matth. 6,3);
tadelt es, dass man den Splitter im Auge des Nächsten
und nicht den Balken im eigenen Auge sehe (Matth.
7,3) ; erklärt: »Wer aber ärgert
dieser geringsten Einen, die an mich glauben, dem wäre besser, dass ein
Mühlstein an seinen Hals gehänget, und er ersäufet würde
im Meer, da es am tiefsten ist« (Matth. 18,6);
erwidert bei seinem Einzuge in Jerusalem den an dem Jubel des Volkes Anstoß
nehmenden Pharisäern: »Wo diese werden schweigen,
so werden die Steine schreien« (Luc. 19,40);
spricht auf dem Ölberg zu seinen Jüngern: »So
ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein solches mit
dem Feigenbaum tun; sondern so werdet ihr sagen zu dem Berge: Hebe dich auf
und wirf dich ins Meer! so wird es geschehen«(Matth.
21,21); und sagt bei der Gefangennahme zu Petrus: »Oder
meinest du, dass ich nicht könnte meinen Vater bitten, dass er mir zuschickte
mehr denn zwölf Legionen Engel?« (Matth.
26,53).
Exorbitant wie diese Aussprüche sind auch die ethischen Forderungen Jesu,
wenn er verlangt, dem, der uns auf den rechten Backen
schlage, auch den linken darzubieten (Matth. 5,39),
dem, der den Rock nehme, auch den Mantel
(das wertvollere Stück) zu geben (Matth.
5,40, anders Luc. 6,29), nicht für den andern
Morgen zu sorgen (Matth. 6,34), wenn er
zu dem reichen Jüngling sagt: »Willst du vollkommen
sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen«
(Matth. 19,21), ja, noch weit über alles dieses
hinaus geht (Matth. 19,12; vgl. Matth. 5,27-30).
Derartige Vorschriften scheinen nicht ganz ernst gemeint zu sein, sondern, durch
Aufstellung eines unerreichbaren und nicht einmal wünschenswerten
Ideals nur die Richtung an deuten zu wollen, in welcher unser Handeln
sich zu bewegen hat, um des Himmelreiches würdig zu werden.
Als die beiden Grundzüge des Charakters Jesu lassen sich bezeichnen einerseits
ein leidenschaftlicher und rückhaltlos sich äußernder
Zorn über alles, was verwerflich war oder ihm zu sein schien, und
andererseits ein grenzenloses Mitgefühl mit allen
Leidenden, Elenden und Unterdrückten: »Kommet
her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.«
Ein besonders rührender und sympathischer Zug ist seine Liebe zu
den Kindern: »Lasset die Kindlein zu mir kommen,
und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes« (Marc.
10,14). Musste er sich nicht sagen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten,
welche er bekämpfte, auch einst solche Kinder gewesen seien, und dass die
Kindlein, welche er herzte und segnete, auch dereinst Männer werden würden
wie die, über welche er so oft die Schale seines Zornes ausgegossen hat?
Oder glaubte er Weltende und Himmelreich so nahe, dass es den Kindern, die er
in seinen Armen hielt, erspart bleiben würde, in den Kampf des Lebens und
seine Versuchungen einzutreten, dass die Vollendung des Himmelreichs hereinbrechen
werde, ehe Begierde, Sünde und Laster den unschuldigen Kindergesichtern
ihre Züge eingraben würden?
Jenes Mitgefühl mit allen Leidenden und der Wille Jesu, ihnen nach Kräften
zu helfen, ist die eigentliche Wurzel gewesen, aus der die zahlreichen Wundergeschichten
erwachsen sind, welche die Kunde von Jesu Wirken so sehr überwuchert und
verdunkelt haben. Es wird nicht zu umgehen sein, uns über diesen Punkt
mit rückhaltloser Deutlichkeit auszusprechen.
Unter einem Wunder verstehen wir nicht etwa ein Ereignis, dessen Möglichkeit
wir zurzeit einzusehen noch nicht imstande sind, sondern ein Wunder
im vollen und wahren Sinne des Wortes ist eine Begebenheit, welche nach der
uns bekannten Naturordnung unmöglich und doch wirklich ist. Es gibt
ein solches Wunder, und es begibt sich täglich und stündlich vor unsern
Augen. Es ist die unleugbare Tatsache, dass wir, obgleich
die Naturordnung unsere Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden, auf unser
eigenes Selbst und was zu ihm gehört, beschränkt, imstande sind, diese
durch die räumliche Trennung der Individuen gesetzte Naturordnung zu durchbrechen,
und das Unmögliche wirklich zu machen, indem wir das Leiden anderer fühlen,
als wäre es unser eigenes, und Opfer an unserm persönlichen Wohlsein
bringen, um die Not unserer Mitgeschöpfe zu lindern.
Diese wunderbare Tatsache ist aus den Gesetzen der empirischen Realität
nicht zu erklären, weist über dieselbe hinaus und enthält ein
ganzes und sicheres Evangelium dafür, dass diese aus
dem Egoismus entsprungene Weltordnung nicht das letzte Wort der Natur,
dass unsere wahre Bestimmung nicht diesseits, sondern
jenseits des Grabes zu suchen ist. An diesem einen, durch die sicherste
Erfahrung immer wieder aufs neue bezeugten Wunder müssen und können
wir uns genügen lassen, wenn wir sehen, wie zwar die mythische Vorgeschichte
aller Völker, und nicht sie allein, voll ist von Wundererzählungen,
wie aber keine einzige dieser Erzählungen; mögen sie innerhalb oder
außerhalb des biblischen Gebietes liegen, auch nur entfernt derartig bezeugt
und beglaubigt ist, dass wir in ihr eine Durchbrechung der uns bekannten, durch
den Verlauf unseres ganzen Lebens bestätigten Naturordnung und nicht vielmehr
eine aus der Neigung der Menschen, natürliche Vorgänge zu vergrößern
und ins Wunderbare zu steigern, entsprungene Erdichtung anerkennen müssten.
Von dem Bericht über die Auferstehung Jesu werden wir weiter unten zu handeln
haben. Was die Wundererzählungen aus seinem Leben betrifft, so hindert
uns nichts, anzuerkennen, dass diesem außerordentlichen
Menschen auch außerordentliche, vielleicht uns noch unbekannte Kräfte
gegeben waren, dass er durch den Eindruck seiner mächtigen Persönlichkeit
in neurasthenischen, der damaligen Zeit unerklärlichen und daher für
ein Besessensein von Teufeln gehaltenen Zuständen, vielleicht auch in andern
Krankheiten, durch physische oder rein geistige Mittel eine vorübergehende,
möglicherweise auch eine dauernde Heilung zu erzielen vermochte. Solche
Erfolge, von Mund zu Mund weitergetragen, führten dann schließlich
dazu, bei dem wunderbaren Manne nichts für unmöglich zu halten, und
auf Anlässe hin, die wir nicht mehr kennen, eine Erweckung wirklich Verstorbener,
eine Speisung von fünftausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen,
ein Wandeln auf dem Meere und dergleichen von ihm zu berichten.
Über eine Fortentwicklung Jesu, soweit von einer solchen während der
kurzen Zeit seines öffentlichen Wirkens die Rede sein kann, sind wir auf
Vermutungen angewiesen, da die Synoptiker in dieser Hinsicht vom Synoptikon,
dieses aber wiederum vom Urmarkus abhängen,
welcher nach dem Bericht des Papias ohne chronologische Ordnung war
(oben S. 191). Wir dürfen aber annehmen, dass Jesus im allgemeinen
vom Partikularismus zum Universalismus und von der Ankündigung des nahen
Messiasreiches zur Verwirklichung desselben als der Messias fortgeschritten
ist.
Dass Jesus zu Anfang seiner Lehrtätigkeit partikularistisch dachte und
seine Mission auf das Judenvolk beschränkte, spricht er mit Bestimmtheit
aus, Matth. 15,24: »Ich
bin nicht gesandt, denn nur zu den verlornen Schafen von dem Hause Israel.«
Beweisend hierfür ist auch, dass er zwölf Jünger erwählte,
offenbar entsprechend den wenigstens in der Theorie noch fortbestehenden zwölf
Stämmen Israels, sei es, dass Levi mitgezählt oder Joseph als Ephraim
und Manasse doppelt gezählt wurde; ausdrücklich befiehlt er seinen
Jüngern bei deren Aussendung, Matth. 10,5:
»Gehet nicht auf der Heiden Strasse, und ziehet
nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlornen Schafen
aus dem Hause Israel.« Aber die Erfahrungen, welche er an seinen
eigenen Landsleuten und im Gegensatze dazu an Nichtjuden, wie dem kananäischen
Weibe (Matth. 15) und dem Hauptmann von Kapernaum
(Matth. 8) machte, erweiterten seinen Blick, so dass er bei Gelegenheit des
letztern Vorganges erklärte, Matth. 8,11-12:
»Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend, und
mit Abraham und Isaak im Himmelreich zu Tische sitzen, aber die Kinder des Reichs
werden ausgestoßen in die äußerste Finsternis hinaus, da wird
sein Heulen und Zähnklappen.«
Diese universalistische Auffassung seiner Aufgabe musste vorhergehen oder gleichzeitig
erfolgen, wenn Jesus in sich den von Daniel 7,13-14 verkündigten
Weltheiland erblicken sollte,
,»welchem alle Völker, Leute und Zungen dienen
sollten«. Was Jesum veranlasste zu dem großen Schritt, sich
nicht mehr als den Verkündiger des Messiasreiches, sondern als den erwarteten
Messias selbst zu betrachten, können wir nur vermutungsweise ermitteln.
Ursprünglich war seine Predigt dieselbe wie die Johannes des Täufers:
»Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«
(Matth. 4,17), und eben diese Predigt trug er auch seinen Jüngern
bei ihrer Aussendung auf (Matth. 10,7). Dass das
von messianischen Hoffnungen erfüllte Volk geneigt war, in ihm den Messias
zu sehen, dass Besessene und andere Kranke ihn dafür erklärten, konnte
wenig Eindruck auf ihn machen; er gebot ihnen zu schweigen. Eine stärkere
Anregung empfing er schon, als der von ihm so hochgeschätzte Johannes
aus dem Gefängnisse ihn fragen ließ, Matth.
11,3: »Bist du, der da kommen soll, oder
sollen wir eines andern warten?« Die Antwort, welche Jesus erteilt,
und welche seine Messianität voraussetzt, muss wohl auf späterer Redaktion
beruhen. Denn wenn nicht alles täuscht, liegt die entscheidende Wendung
für das Bewusstsein Jesu erst in dem bekannten Bekenntnisse des Petrus,
Matth. 16,13-17: »Da
kam Jesus in die Gegend der Stadt Cäsarea Philippi, und fragte seine Jünger,
und sprach: Wer sagen die Leute, dass des Menschen Sohn sei? Sie sprachen: Etliche
sagen, du seiest Johannes der Täufer; die andern, du seiest Elias; etliche..,
du seiest Jeremias, oder der Propheten einer. Er sprach zu ihnen: Wer sagt denn
ihr, dass ich sei? Da antwortete Simon Petrus, und sprach: Du bist Christus,
des lebendigen Gottes Sohn. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist
du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbaret,
sondern mein Vater im Himmel.« Diese Worte beweisen, dass Jesus
in der spontanen Äußerung des Petrus, er sei Christus, d. h. der
Messias, nicht eine individuelle Anschauung des Petrus, sondern eine Eingebung
von oben erkannte, welche als solche vollkommen ausreichte, um in ihm jeden
Zweifel an seinem Berufe zum Messias und Sohn Gottes zu beseitigen.
Jesu
Bewusstsein von Gott und von der Welt
Zunächst kann es keinem Zweifel unterliegen, dass Jesus
sich selbst für den Messias und den Sohn Gottes, nicht in dem Sinne,
in welchem alle Menschen Kinder Gottes heißen, sondern im
eminenten und ausschließlichen Sinne des Wortes gehalten und erklärt
hat. Wer hieran noch zweifeln und die eben mitgeteilte Erzählung vom Bekenntnis
des Petrus, wie so vieles in den Evangelien, für eine spätere Legende
halten wollte, der wäre zu verweisen auf die Erklärung, welche Jesus
selbst vor dem Hohen Rate abgegeben hat. Mag auch noch so viel auf späterer
Erfindung beruhen, die Vorgänge bei einem gerichtlichen Verhör, von
dem die Entscheidung über Leben und Tod des Angeschuldigten abhing, mussten
auf die zahlreichen Zeugen dieses Verhörs einen tiefen Eindruck machen
und, wenn irgend etwas, treu in der Erinnerung erhalten werden. Matth.
26,63-65 (vgl. Marc.14,61-64; Luc.22,68-71) heißt es:
»Und der Hohepriester antwortete, und sprach zu ihm: Ich beschwöre
dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagest, ob du seiest Christus, der
Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: Du sagest es (d. h. Ich bin's, wie bei Marcus
steht). Doch sage ich euch: Von nun an wird es geschehen, dafs ihr sehen werdet
des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des
Himmels. Da zerriss der Hohepriester seine Kleider, und sprach: Er hat Gott
gelästert; was bedürfen wir weiter Zeugnis? Siehe, jetzt habt ihr
seine Gotteslästerung gehört.« Hier erklärt sich
Jesus mit ausdrücklicher Beziehung auf Daniel 7,13-14
unumwunden für den Messias und Sohn Gottes.
Eine solche Erklärung mag vielen anstößig erscheinen,
aber wenn man sich klar macht, was unter Gott und einem Sohne Gottes vernünftigerweise
verstanden werden muss, so wird man finden, dass Jesus mit seiner Erklärung
vollkommen im Rechte war.
Wir wissen es, und alle tiefern Geister der Menschheit
haben es erkannt und ausgesprochen, dass die wahre und ewige Realität,
dass der Urgrund des Seins und das höchste Ziel unseres Strebens nicht
in dieser Erscheinungswelt, sondern in dem zu, suchen ist, was uns erst zugänglich
wird, sofern und in dem Maße wie wir diese ganze in Raum und Zeit ausgebreitete
Welt von uns abgeschüttelt und überwunden haben. Wir haben
aber nach dem ganzen Eindruck der Überlieferung Jesum zu denken als einen
Menschen, welcher ohne nennenswerte Kämpfe (denn
die Versuchungsfabeln beweisen gar nichts) infolge einer überaus
glücklichen Naturanlage über diese Welt hinausging und zum Bewusstsein
der festen Wurzelung in jenem ewigen Urgrunde und der völligen Einheit
mit ihm gelangt ist. Nun erschien ihm jenes ewige, über die Erscheinungswelt
hinausliegende Reich, entsprechend der semitischen Anschauung, die wir oben
(S. 114-116) charakterisierten und als relativ berechtigt anerkannten, als Jahve,
als persönlicher Gott, und indem Jesus in der Natur nach einem Bilde suchte,
um die Gottesgemeinschaft, welche ihn beseelte, zum fasslichen
Ausdruck zu bringen, konnte er kein glücklicheres Bild finden, als das
Verhältnis des Sohnes zum Vater, bezeichnete Gott als seinen Vater und
sich selbst als den Sohn Gottes. Das vierte Evangelium, welches als historische
Quelle nicht verwendbar ist; aber oft mit tiefer poetischer Wahrheit die historischen
Vorgänge interpretiert, hat für dieses Bewusstsein Jesu von seinem
Verhältnis zu Gott das kurze und treffende Wort: »Ich
und der Vater sind eins« (Joh. 10,30).
Aus diesem Verhältnis zu Gott ergibt sich von selbst das Verhältnis
Jesu zur Welt, und auch dieses wird durch ein großes Wort des vierten
Evangeliums, welches in der Kürze alles befasst, gleichsam blitzartig erleuchtet,
wenn Jesus Joh. 16,33 sagt: »Ich
habe die Welt überwunden.« Diese Weltüberwindung zeigt
sich in allem, was von Jesu glaubhaft überliefert ist, und lässt sich
nach drei Richtungen hin verfolgen, sofern er
erstlich die Welt und ihre Ordnung verachtete,
zweitens dieser Ordnung fremd blieb, weil er es
nicht für der Mühe wert hielt, sie näher
kennen zu lernen, und
drittens von der ethischen Höhe seiner das Land wie die Zeit weit überragenden
Anschauungen aus die engen, veralteten, das geistige und sittliche Leben niederhaltenden
Formen, in denen sich das Leben des Volkes und seiner Führer bewegte, schroff
und trotzig bekämpfte, wodurch er kurze Zeit nach seinem öffentlichen
Auftreten seinen Untergang herbeiführte.
Diese dreifache Stellung Jesu zur Welt erfordert eine nähere Beleuchtung.
1. Jesu Weltverachtung.
Wir haben oben (S. 210) eine Reihe von Forderungen Jesu zusammengestellt, deren
buchstäbliche Befolgung das staatliche und bürgerliche Leben völlig
auflösen und unmöglich machen würde. Wollten wir allem gewalttätigen
und raublustigen Gesindel erlauben, uns nach Belieben zu misshandeln und zu
plündern, wollten wir aufhören, am heutigen Tage für den morgenden
zu sorgen, und alle unsere Habe verschenken, um selbst als Bettler unsern Mitmenschen
zur Last zu fallen, so würden daraus soziale Zustände entstehen, welche
keinem Wohlgesinnten als wünschenswert erscheinen können. Wir haben
daher oben der Meinung Ausdruck gegeben, dass diese Vorschriften nur die Richtung
bezeichnen sollen, in der sich unser Handeln zu bewegen hat, somit nicht völlig
ernst zu nehmen sind. Sofern sie aber von Jesu wirklich ernst gemeint sein sollten,
würden sie sich wohl nur aus der Überzeugung
erklären, welche von Jesu wiederholt und unmissverständlich ausgesprochen
wird, dass das Weltende ganz nahe bevorstehe und die gegenwärtige Generation
es noch erleben werde. Matth. 16,27-28 (vgl. Marc.
8,38-9,1, Luc. 9,26-27): »Denn es wird je
geschehen, dass des Menschen Sohn komme in der Herrlichkeit seines Vaters, mit
seinen Engeln; und als¬dann wird er einem jeglichen vergelten nach seinen
Werken. Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken
werden den Tod, bis dass sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich«;
Matth. 24,34 (vgl. Marc. 13,30, Luc. 21,32): »Wahrlich
ich sage euch: Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis dass dieses alles geschehe.«
2. Jesu Weltfremdheit.
Jesus war der Sohn eines Handwerkers und stammte aus einer kleinen Provinzialstadt;
seine Jünger waren, soweit wir deren Vorleben kennen, Fischer und Zöllner;
er selbst verkehrte vorwiegend mit den niedrigsten Schichten des Volkes, und
es ist fraglich, ob und inwieweit er überhaupt Gelegenheit gehabt hat,
den höhern Kreisen der menschlichen Gesellschaft näherzutreten; Tiberias,
die Hauptstadt Galiläas, hat er, wie es scheint, nie besucht, und seine
Parabeln von Königen, Vornehmen und Großen beweisen, dass er deren
Leben nie näher kennen gelernt hat; auch dürfte er bei seinem Leben
in und mit Gott, bei seiner Geringschätzung aller irdischen Herrlichkeit
und der Erwartung ihres nahen Unterganges wohl kaum Wert darauf gelegt haben,
diesen Dingen näherzutreten. Dass er für das Wesen des Menschen, für
die Schwäche, Sündhaftigkeit und Bedürftigkeit des menschlichen
Herzens ein tiefes psychologisches Verständnis besaß, geht aus allen
seinen Reden hervor; aber eine andere Frage ist, ob sein Blick nicht zu sehr
auf das Ganze und in die Ferne gerichtet war, um das einzelne Indi¬viduum
mit seinen kleinlichen Interessen und Bestrebungen richtig einzuschätzen.
Platon sagt vom Philosophen (Theaetet p. 174B):
»Er weiß nichts von seinem Nächsten und
Nachbar, nicht nur nicht was er betreibt, sondern kaum ob er ein Mensch ist
oder irgendein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch an sich sein mag,
und was einer solchen Natur ziemt anders als andern zu tun und zu leiden, das
untersucht er, und lässt es sich Mühe kosten, es zu erforschen.«
Was Platon vom Philosophen sagt, das gilt ebensosehr von einem religiösen
Genius. Auch Jesu Kopf und Herz war zu sehr mit der Sorge für den Menschen
als solchen beschäftigt, als dass er den einzelnen Menschen genauer zu
sondieren und abzuschätzen vermocht oder auch nur gewünscht hätte.
So ist es zunächst kaum zu verstehen, wie Jesus unter den zwölf Jüngern,
die er erwählt hatte, einen Schurken, wie den Judas,
dulden und mit den elf übrigen vertrauensvoll aussenden konnte, um die
Nähe des Himmelreichs zu verkündigen. Man hat es versucht,
den Judas weißzuwaschen; er habe, so meint man, durch seinen Verrat nur
Jesum zwingen wollen, sich für den Messias zu erklären und die Macht
an sich zu reißen; aber derartige Versuche scheitern an der Tatsache,
dass er Geld dafür nahm, seinen Verrat, und noch dazu in so schamloser
Weise, auszuführen; daher er noch um eine Stufe tiefer steht als der Verräter
Brutus, mit welchem zusammen er von Dante in den untersten Höllenpfuhl
versetzt wird.
Aber auch an seinen andern Jüngern hat der Meister nicht viel Freude erlebt.
Oft genug schilt er ihren Unverstand und ihre Kleinmütigkeit. Er erzählt
ihnen das Gleichnis vom Säemann, dessen Bedeutung so durchsichtig ist;
sie aber verstehen es nicht, kommen und bitten Jesum, es ihnen zu erklären,
worauf er erwidert: »Versteht ihr dieses Gleichnis
nicht, wie wollt ihr denn die andern alle verstehen?« (Marc.
4,13). Er spricht zu ihnen das geistvolle Wort:
»Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer«, sie
aber verstehen ihn so wenig, dass sie unter sich sagen: »Das
wird es sein, dass wir nicht Brot mit uns genommen«
(Matth. 16,7).
Während Jesus in Gethsemane in der größten Seelennot
ist, kämpfen sie mit dem Schlafe, und als der Verräter mit den Schergen
herankommt, ihren Herrn gefangen zu nehmen, »da
verließen ihn alle Jünger und flohen«
(Matth.26,56. Marc. 14,50). Wir brauchen
nicht eben hoch von uns zu denken, um zu glauben, und tausende in jeder der
seit Jesu vergangenen Generationen werden diesen Glauben geteilt haben, dass
sie sich stark genug fühlten, mit einem solchen Herrn und Meister lieber
das Äußerste zu erdulden, als ihn im Augenblick der größten
Not schmählich im Stiche zu lassen. War die Gesinnung der Jünger wirklich
eine so niedrige, oder war der Eindruck der Persönlichkeit Jesu in der
Gegenwart nicht so mächtig, wie er auf uns in der Ferne wirkt? Diese Frage
ist um so schwerer zu entscheiden, als möglicherweise keine einzige Schrift
des Neuen Testaments von einem Augenzeugen des Wirkens Jesu herrührt. Am
meisten kann noch die Offenbarung Johannis darauf Anspruch machen, ein Werk
des Jüngers Johannes zu sein, des Donnersohnes,
wie ihn Jesus nannte (Marc. 3,11; vgl. Luc. 9,54),
ein Buch, dessen wilde Poesie wir mit der Bemerkung auf sich beruhen lassen
können, dass der Verfasser jedenfalls von dem wirklichen Entwicklungsgang,
den die christliche Kirche genommen hat, keine Ahnung hatte.
Von dem spätern Wirken der meisten Apostel haben wir, abgesehen von dem,
was in den Briefen des Apostels Paulus steht, keine
sichere Kunde, dieser aber scheint ihre Verdienste nicht allzuhoch anzuschlagen,
… und wenn er, gewiss mit Recht, erklärt: »Ich
habe viel mehr gearbeitet als sie alle« (1.
Kor. 15,10; vgl. 2. Kor. 11,23). Jesus selbst scheint unter seinen Jüngern
die größte Hoffnung auf Petrus gesetzt
zu haben, zu welchem er nach dessen oben erwähntem Bekenntnis die Worte
spricht: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen
will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Höllen sollen sie nicht
überwältigen« (Matth. 16,18).
Mit diesem Urteil muss man vergleichen, was über Petrus berichtet wird,
dass er in der Nacht der Gefangennahme, ehe der Hahn krähte, d. h. ehe
der Morgen nahte, seinen Herrn dreimal hinter einander verleugnet haben soll,
und dass er, wie Paulus Gal.
2 erzählt, bei einem Besuch in Antiochien sich dazu bestimmen ließ,
mit den Heidenchristen zu Tische zu sitzen, dann aber, als einige Judenchristen
von der durch Jakobus in Jerusalem vertretenen Richtung angereist kamen, für
seine Reputation in Jerusalem fürchtete und sich von den Heidenchristen
zurückzog, worauf ihm Paulus vor aller Augen
die bekannte derbe Zurechtweisung erteilte (Gal. 2,14).
Die Hochschätzung, welche gerade Petrus im
katholischen Mittelalter genoss, erklärt sich zum Teil wohl daraus, dass
er, im Gegensatze zu Paulus als dem Apostel der Gebildeten und Denkenden, ein
typischer Vertreter der Volksseele war, welche sich leicht
zur Begeisterung für das Hohe und Edle entflammen lässt, aber bald
darauf wankelmütig ins Gegenteil umschlägt.
3. Jesu Welttrotz.
Es ist sehr begreiflich, dass ein Genius, welcher berufen
ist, das geistige Leben der Menschheit in ganz neue Bahnen zu leiten,
den brennenden Wunsch und die Hoffnung hegt, schon die Zeitgenossen für
seine Ideale zu gewinnen, - es ist aber auch sehr begreiflich, dass ein beträchtlicher,
und nicht immer der schlechteste, Teil der Zeitgenossen jeder gewagten Neuerung,
deren Konsequenzen er nicht zu übersehen vermag, misstrauisch gegenübersteht
und mit Zähigkeit an dem von den Vätern überkommenen, durch die
Zeit bewährten und gleichsam geheiligten Alten festhält, wie denn
selbst eine so edle Natur wie die des Apostels Paulus
vor seiner Bekehrung »über die Maße
um das väterliche Gesetz eiferte« (Gal.
1,14). Auch auf geistigem Gebiete gilt das Gesetz, dass natura non facit
saltus, dass eine gesunde Entwicklung nicht in Sprüngen vor sich geht,
sondern nur stetig und allmählich von weniger Gutem zum Bessern fortschreitet.
Wer dies außer acht lässt und mit Ungestüm das Alte einreißt,
um Neues und Besseres an seine Stelle zu setzen, der läuft Gefahr, sich
selbst zum Märtyrer seiner Überzeugung zu machen, und dies ist, wie
bei so vielen großen Erscheinungen in der Weltgeschichte, auch bei Jesu
der Fall gewesen. Sein feuriges Temperament erlaubte ihm kein geduldiges Abwarten,
und er ist sich des Gewaltsamen seines Auftretens selbst deutlich bewusst, wenn
er sagt: »Von den Tagen Johannis des Täufers,
bis hieher, leidet das Himmelreich Gewalt; und die Gewalt tun, reißen
es an sich« (Matth. 11,12). Schroff
und rücksichtslos stellt er seine hohen ethischen Anschauungen dem in Buchstabenkultus
und Werkheiligkeit erstarrten Judentum entgegen; er vernachlässigt die
jüdischen Speisegesetze: »Was zum Munde eingehet,
das verunreinigt den Menschen nicht, sondern was zum Munde ausgehet, das verunreiniget
den Menschen« (Matth: 15,11), er sitzt
zu Tische mit Zöllnern und Sündern, verlangt von seinen Jüngern
nicht, dass sie fasten, dass sie die Hände vor dem Essen waschen, und behandelt
die Kranken auch am Sabbat. Hierzu kommen seine heftigen Ausfälle gegen
das Treiben der Pharisäer und Schriftgelehrten, von denen uns Matth.
23 eine Probe erhalten ist. Er tadelt ihre Scheinheiligkeit
und Habgier, ihr kleinliches Kleben am Buchstaben des Gesetzes und ihre
Bedrückung des Volkes durch Vorschriften, welche sie selber zu halten nicht
gesonnen sind; immer kühner wird sein Auftreten; er lässt es sich
gefallen, dass das Volk ihn bei seinem Einzuge in Jerusalem als Messias feiert,
und treibt mit eigener Hand Krämer und Wechsler aus dem Vorhofe des Tempels
weg, zum Entsetzen der Pharisäer und Schriftgelehrten, welche nicht wagten,
gegen ihn einzuschreiten, so lange er von einer ihm zujubelnden Volksmenge umgeben
und geschützt war, und erst als diese sich verlaufen hatte, Mittel und
Wege fanden, ihn zu verderben.
Das
Schicksal Jesu
Nicht immer scheint Jesus den Vorurteilen seines Zeitalters
so kühn entgegengetreten zu sein, wie in Jerusalem während der letzten
Woche seines Lebens. In der ersten Periode seiner Wirksamkeit, welche
sich von der Gefangen¬nahme Johannes des Täufers bis über dessen
Hinrichtung hinaus erstreckt, und in der sich Jesu. Wirken auf Galiläa
und dessen Umgebung beschränkte, lassen sich Anzeichen einer gewissen Behutsamkeit
erkennen, welche in dem nach Heilerfolgen so häufigen Verbote; dieselben
kundzumachen, zum Ausdruck kommen und vermuten lassen, dass auch die Schärfe
in der Verurteilung des Pharisäerwesens von dem mildern, in der Bergpredigt
angeschlagenen Ton bis zu der großen Strafpredigt in Jerusalem (Matth.23)
stetig zugenommen hat. Als nach der Enthauptung des Johannes die Aufmerksamkeit
des Herodes auch auf Jesum gelenkt wurde, fand dieser es geraten, der Gefahr
aus dem Wege zu gehen (Matth.14,13); wir finden ihn bald in der Wüste (Speisung
der Fünftausend) oder auf einem entlegenen Berge
(Speisung der Viertausend), bald in der Gegend von Tyrus und Sidon, bis
er schließlich seinen Aufenthalt in der Umgebung von Cäsarea Philippi,
im Tetrarchat des milde und gerecht regierenden Philippus, wählte, wo er
vor den Nachstellungen des Herodes (Luc. 13,31)
in Sicherheit war. Hier erfolgte das Bekenntnis des Petrus
(oben S. 214) und der Entschluss Jesu, als Messias
den Gefahren Trotz zu bieten und seine Gegner in der Hochburg des Judentums,
in Jerusalem selbst, aufzusuchen. Wohl mag er auf dieser letzten Reise von düstern
Ahnungen erfüllt gewesen sein, mag auch wohl schon neben dem ihm aus
Daniel vorschwebenden Bilde des triumphierenden Messias Andeutungen eines
leidenden Messias in Stellen wie Jes. 53 und Ps. 22 als
erster gefunden haben, dass er aber den Jüngern sein Leiden und Sterben
und wohl gar seine Auferstehung, wie die Evangelien erzählen, mit Bestimmtheit
vorausgesagt habe, ist gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit und steht
auch im Widerspruch damit, dass Jesus noch in Gethsemane
an die Möglichkeit glaubte, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen
könne.
Wie sich Jesus den weitern Gang vorstellte, den die Ereignisse nehmen würden,
ist allerdings schwer zu sagen. Er wusste sich als den
Messias, der bestimmt sei, noch vor Ablauf der jetzt lebenden Generation das
Weltende und Weltgericht herbeizuführen. Er wusste Elias als seinen
Vorläufer und hat sicher an dessen Himmelfahrt fest geglaubt. Durfte er
nicht annehmen, dass auch ihn sein himmlischer Vater in Not und Gefahr nicht
im Stiche lassen werde, dass er durch ein Wunder gerettet, etwa wie Elias auf
feurigem Wagen emporgehoben werden könnte bis zu dem Throne des Alten,
wie ihn Daniel nennt, um von
dort in den Wolken des Himmels als Weltrichter zurückzukehren? Wie
dem auch sei, jedenfalls war es die Überzeugung, dass Gott ihn nicht verlassen
werde, welche ihm den Mut eingab, in Jerusalem so aufzutreten, wie wir es gesehen
haben. Inzwischen zogen sich die Wolken über ihm zusammen; im Kreise der
eigenen Jünger fühlte er sich vor Verrat nicht mehr sicher; immer
deutlicher mochte er ahnen, dass schlimme Dinge bevorstünden.
In dieser Stimmung feierte er mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl.
Hierüber haben wir den urkundlichen Bericht des Apostels
Paulus, der ihn ohne Zweifel von Augenzeugen erhalten hat,
1. Kor. 11,23-26: »Denn der Herr Jesus in
der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach es und sprach:
Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird; solches
tut zu meinem Gedächtnis. Desselbigen gleichen auch den Kelch nach dem
Abendmahl und sprach: Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut; solches
tut, so oft ihr es trinket, zu meinem Gedächtnis. Denn so oft ihr von diesem
Brot esset, und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen,
bis dass er kommt.« Ohne uns hier bei dem Wörtchen »ist«
aufzuhalten, welches so viel unnötigen Staub aufgewirbelt hat, müssen
wir doch aus dieser Stelle zweierlei entnehmen,
erstens, dass Jesus
nach der Wendung, welche die Dinge genommen hatten, seinen
Tod mit Bestimmtheit voraussah, und
zweitens, dass er das Bewusstsein hatte, für
seine Anhänger in den Tod zu gehen.
Das erstere steht allerdings in Widerspruch damit, dass
Jesus, wie schon oben bemerkt, noch in Gethsemane eine Rettung, ein Vorübergehen
des Kelches für möglich hielt, und wir werden annehmen dürfen,
dass, je nach der Stimmung, beide Möglichkeiten abwechselnd sein Gemüt
beherrschten; das letztere aber erklärt sich wohl daraus, dass Jesus in
dem Maße, wie die Schwierigkeit der Lage einen andern Ausweg immer unwahrscheinlicher
machte, anfing, sich mit dem Knecht Gottes Jes. 53 zu
identifizieren und auf sich die Worte zu beziehen: »Die
Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden
sind wir geheilet.«
Furchtbar ist das Schicksal, welches dem geistig wie sittlich so hoch über
seinem Zeitalter stehenden Manne von seinen Gegnern, und nicht nur von diesen
allein, bereitet wurde. Empörend sind die Beschuldigungen im Verhör
Jesu vor dem Hohen Rate, denen er nur ein erhabenes Schweigen entgegensetzte.
Entsetzlich sind die Misshandlungen und Verhöhnungen durch rohe Kriegsknechte,
aber das Schwerste von allem war doch, dass keiner der Jünger, die er erwählt,
belehrt und geliebt hatte, ihm Beistand leistete, dass sie sämtlich in
der Stunde der größten Not ihren Meister schmählich verlassen
hatten. Doch wie alles Erdenleid nahm auch dieses, nahm auch die Qual des langsamen
Verschmachtens am Kreuze ein Ende. Das dritte und vierte Evangelium legen Jesu
am Kreuze sechs schöne und würdige Aussprüche in den Mund, welche,
wenn sie historisch wären; bei Matthäus
und Marcus sicherlich nicht fehlen würden.
Der treueste Bericht ist bei Matthäus (in
allem Wesentlichen mit Marcus übereinstimmend) erhalten: Kap.
27,46-50: »Und um die neunte Stunde schrie
Jesus laut, und sprach: Eli, Eli, lama asabthani?
das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen? Etliche aber, die da standen, da sie das höreten sprachen
sie: Er ruft den Elias. Und bald lief Einer unter ihnen, nahm einen Schwamm,
und füllete ihn mit Essig, und steckte ihn auf ein Rohr, und tränkte
ihn. Die Andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elias komme, und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermal laut, und verschied.« Wie der letzte
Ausruf Jesu zu verstehen sei, ob er einen Trost darin suchte, dass er sich selbst
als den leidenden Messias in den Worten des Psalms (22,2)
wiedererkannte, - oder ob er, von physischer und
geistiger Schwäche übermannt, einen Augenblick an seiner ganzen Lebensaufgabe
irre wurde und verzweifelte -, muss dahingestellt bleiben. Die Bedeutung
seines Werkes wird durch diese Frage nicht berührt.
Die Geschichte des Todes Jesu bildet eines der schwärzesten Blätter
in den Annalen der Menschheit. Hier scheint das Wort:
tout comprendre c'est tout pardonner eine Ausnahme erleiden zu müssen.
Verziehen werden kann diese Untat nimmermehr, und sie ist nicht verziehen worden,
denn fürchterlich hat sich durch alle kommenden Jahrhunderte an dem unglücklichen
Volke der .Juden das (schwerlich historische) Wort
erfüllt: »Sein Blut komme über uns und
unsere Kinder!« (Matth: 27,25). -
Aber verstehen, d. h. als notwendige Folge vorhergehender Ursachen begreifen
lassen, wird sich, wie alles in der Welt, so auch dieses Unerhörte, dass
die Juden den edelsten Mann, den ihre Nation je hervorgebracht hat, so schmählich
hingemordet haben. Der Hauptgrund dafür ist sicherlich darin zu
suchen, dass Jesus, aufschießend wie ein Palmbaum unter niedrigem Gestrüpp,
zu hoch über seinem Zeitalter und Volke stand, um von ihm verstanden zu
werden; verstanden ihn doch seine eigenen Jünger nicht.
Wie kann man von einem römischen Verwaltungsbeamten gewöhnlichen Schlages,
wie es Pilatus war, erwarten, dass er einen Jesus
habe würdigen können? Er hatte die schwere Aufgabe,
ein unbändiges, verkommenes Volk im Zaume zu halten, und um vor
ihm Ruhe zu haben, hat er nach einigem Widerstreben Jesum geopfert Aber nicht
das Volk, sondern seine Leiter, die Pharisäer und
Schriftgelehrten; sind für die Ermordung Jesu verantwortlich zu machen,
und auch diese, die blinden Leiter der Blinden, wie sie Jesus nennt, haben sich
nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissenheit an ihm versündigt, sie wussten
nicht, was sie taten, als sie ihn ans Kreuz schlagen ließen, und konnten
es nicht wissen.
Eingerostet in den ererbten Vorurteilen ihres Zeremonialgesetzes
und unfähig zu verstehen oder auch nur ernstlich zu prüfen, was diesem
zuwider war, mussten sie in Jesu einen verwegenen Neuerer sehen, der um so gefährlicher
war, je heftiger und rücksichtsloser er gegen sie auftrat. Die weltliche
Herrschaft war an die Römer verloren gegangen; nur die geistige Leitung
des Volkes war dem Hohenpriester und den Schriftgelehrten verblieben. Was
Jesus wollte, war ihnen nicht klar, und nur eines war ihnen klar, dass der letzte
Rest ihres Einflusses auf die Volksmassen verloren ging, wenn dieselben Jesu
zufielen, wozu nach den Vorgängen bei seinem Einzuge in Jerusalem alle
Aussicht war. Sie kämpften um ihre Existenz: entweder sie mussten fallen
oder er; sie wählten das letztere, denn omnis
natura vult esse conservatrix sui. Ein zufälliges Zusammentreffen
von Umständen, vor allem die Arglosigkeit Jesu, vermöge deren er,
statt wie sonst nach Bethanien zurückzukehren, die verhängnisvolle
Nacht in Gethsemane zubrachte, begünstigte ihren Anschlag. Wir wissen nicht,
welche Agitation sie betrieben haben, um die Menge umzustimmen und die schon
halb verlorene Volksgunst wiederzugewinnen; wäre es ihnen nicht gelungen,
so hätte der Ausgang leicht ein anderer sein können, und die Entwicklung
der Weltgeschichte würde einen andern Gang genommen haben.
Der Glaube an die Auferstehung Jesu ist der Grund für
die Entstehung der christlichen Kirche geworden. Wie dieser Glaube unter
den entmutigten und den Verlust ihres Meisters betrauernden Jüngern habe
entstehen können, lässt sich bei den Widersprüchen und der teilweisen
Verworrenheit der evangelischen Überlieferung nur vermutungsweise ermitteln.
Wollen wir aber nicht so weit gehen, den Berichten der Evangelien alle Glaubwürdigkeit
abzusprechen, wollen wir nicht annehmen, dass das alles erst später, als
niemand mehr in der Lage war, die Gerüchte an dem Tatbestande zu kontrollieren,
willkürlich erdichtet worden sei, so scheinen sich doch zwei Tatsachen
aus der Mitte der sie umrahmenden Legenden als historisch gesichert zu ergeben:
erstens, dass Jesus am Kreuze
wirklich gestorben ist, denn unmöglich konnte der Glaube seiner siegreichen
und glorreichen Auferstehung an das Fortleben einer siechen, durch Martern aller
Art geschwächten Persönlichkeit anknüpfen; und
zweitens, dass die Frauen, welche
am Morgen nach dem Sabbat kamen, um den Leichnam zu salben, das Grab, in welchem
sie denselben vermuteten, leer fanden, eine Tatsache, welche den Glauben, der
Herr sei neubelebt aus dem Grabe hervorgegangen, und weiterhin das Gerücht,
man habe ihn hier und da gesehen, veranlasste.
Wie aber jene Tatsache zu erklären ist, auf welchem seltsamen Zufalle oder,
wenn man will, auf welcher Fügung es beruhte, dass die Frauen das Grab
leer fanden, darüber lassen sich nur Vermutungen äußern. Dass
die Jünger ihn heimlich aus dem Grabe entwendet und
daraufhin die Predigt von seiner Auferstehung gegründet hätten, widerspricht
so sehr ihrem weitern ethischen Verhalten, dass eine solche, schon Matth.
27,64 erwähnte, Möglichkeit schlechterdings von der Hand zu
weisen ist. Aber an einer kleinen pia fraus
ist, scheint es, doch nicht vorbeizukommen. Denn als das Gerücht aufkam,
der Herr sei auferstanden, da waren einige oder mindestens
einer, welcher wusste, wie die Sache lag, derjenige nämlich, welcher den
Leichnam entweder von vornherein anderswo untergebracht oder, wenn die
Frauen wirklich bei der Grablegung zugegen gewesen sein sollten, ihn von dort,
wir wissen nicht, ob auf Anordnung des Joseph von Arimathia oder aus andern
Gründen, wieder weggenommen und an einem andern Orte bestattet hatte. Einer
also musste wissen, wo der Leichnam zu finden gewesen wäre, weil er ihn
selbst hingebracht hatte, dieser eine aber, als das Gerücht der Auferstehung
aufkam, hat geschwiegen, und dass er schwieg, das ist die kleine pia
fraus, an welcher, wie es scheint, nicht vorbeizukommen ist.
Freilich haben wir über die Erscheinungen des Auferstandenen nicht nur
die phantasievollen und unvereinbaren Berichte der Evangelien, sondern, was
schwerer wiegt als sie alle, das Zeugnis des Apostels Paulus,
an dessen Redlichkeit als einer anima candida
nicht zu zweifeln ist, und der sich 1. Kor. 15,3-5 also
vernehmen lässt:
»Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches
ich auch empfangen habe: dass Christus gestorben sei für unsre Sünden
nach der Schrift; und dass er begraben sei, und dass er auferstanden sei am
dritten Tage, nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, darnach
von den zwölfen. Darnach ist er gesehen worden von mehr denn fünfhundert
Brüdern auf einmal: derer noch viele leben, etliche aber sind entschlafen.
Darnach ist er gesehen worden von Jakobo, darnach von allen Aposteln. Am letzten
nach allen ist er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden.«
Die letzte der sechs von Paulus erwähnten
Christuserscheinungen, welche ihm selbst zuteil geworden ist, liefert uns den
Schlüssel zu allen übrigen. Bei der zu ekstatischen Zuständen
neigenden Natur des Apostels Paulus ist es begreiflich, wie seinem, durch
gewaltige innere Kämpfe und Wandlungen erschütterten Gemüte eine
subjektive Vision sich als objektive Begebenheit darstellen
konnte, wie er den Herrn, dessen Anhänger er so eifrig verfolgt
hatte, und dem er in plötzlicher innerer Umwandlung mit der ganzen Glut
seines feurigen Temperaments sich hingab, leibhaftig als eine objektive Erscheinung
gesehen zu haben glaubte. Von dieser Art werden auch jene frühern Erscheinungen
gewesen sein, nicht nur die, welche dem Petrus
und Jacobus, sondern auch die, welche allen zwölf
Jüngern, ja auch den fünfhundert Brüdern zuteil wurden, denn
dass bei einer gleichgesinnten und religiös aufgeregten Versammlung die
dem einen oder andern sich darstellenden Visionen eine gewisse Ansteckungskraft
üben und allen Anwesenden sich mitteilen können, ist eine
psychologische, durch Beispiele aus allen Ländern und Zeiten belegte Tatsache.
Philosophische Elemente der Lehre Jesu.
Bei jedem Denker auf philosophischem wie auf religiösem Gebiete haben wir,
wie zu Eingang dieses Werkes auseinandergesetzt wurde, zwei Elemente in seinen
Gedanken zu unterscheiden, das traditionelle Element, welches alles befasst,
was er aus der Tradition, von seinen Vorgängern wie aus dem Ideenkreise
seines Zeitalters und Volkes übernommen hat, und das originelle Element,
worunter wir nur das verstehen, was der philosophische
oder religiöse Genius unmittelbar aus der Natur, aus der ihn umgebenden
Außenwelt wie aus den psychologischen Erlebnissen seines eigenen Innern
schöpfte. An das traditionelle Element knüpfen sich alle die
Missverständnisse und Verirrungen, an denen das geistige Leben der Menschheit
in philosophischer wie in religiöser Hinsicht so reich ist; was hingegen
ein Denker an originellen Gedanken unmittelbar aus dem Eindruck der äußern
und innern Wirklichkeit geschöpft hat, das kann wohl einseitig, nicht aber
eigentlich falsch sein, so wenig die Natur selbst es ist.
Diese Unterscheidung des traditionellen Elements als der bloßen Schale
und des originellen Elements als des eigentlich wertvollen und für alle
Zeiten gültigen Kerns eines Gedankenzusammenhanges erweist sich, wie überall,
so auch bei Jesu, und bei diesem in besonders hohem Grade, geboten und fruchtbar.
Wie jeder Mensch, so stand auch Jesus zunächst
unter dem Einflusse der Traditionen seines Zeitalters, und in dieser Hinsicht
ist er ein bewusster Schüler des Mose
und ein unbewusster Schüler des Zarathustra.
Viele seiner Gedanken sind nur eine lebendige Reproduktion
des von diesen beiden Meistern Überkommenen.
Auf dem Mosaismus beruhen Jesu Theismus sowie die Grundzüge seiner Weltanschauung
im allgemeinen, während er von den Propheten die überall hervortretende
Geringschätzung der äußerlichen Kultusbräuche und das Dringen
auf Reinheit des Herzens, auf Gerechtigkeit und Mitleid übernommen
hat, wie sich dies am kürzesten und schönsten in dem wiederholt von
ihm zitierten Ausspruch des Hosea (6,6) zusammenfassen
lässt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit,
und nicht am Opfer« (Matth. 9,13 und 12,7).
Hingegen hat Jesus aus der iranischen Weltanschauung,
nicht direkt, sondern durch Vermittlung des zu Jesu Zeit von diesen Vorstellungen
durchdrungenen Judentums, wie oben gezeigt wurde, seine ausgebildete
Dämonenlehre, wie auch seinen Unsterblichkeitsglauben
in der realistischen Form einer Auferstehung von den Toten übernommen.
Aber auch die jüdische Messiasidee hat Jesus
in der durch iranischen Einfluss modifizierten Form, wie sie im
Buche Daniel vorliegt, sich zu eigen gemacht, und nachdem er durch göttliche
Eingebung, wie sie dem Petrus geworden war, den
erwarteten Messias in sich selbst erkannt hatte,
war es eine einfache Konsequenz dieser Anschauungen, dass er sich für berufen
hielt, noch bei Lebzeiten der gegenwärtigen Generation Weltende und Weltgericht
herbeizuführen, wobei natürlich in dem allgemeinen Untergang auch
der Jerusalems und des Tempels einbegriffen war, um dem neuen Messianischen
Reiche Platz zu machen. So würde sich seine Weissagung erklären, dass
kein Stein des Tempels auf dem andern bleiben werde, so auch, wenn sie historisch
sein sollte, die ihm von seinen Gegnern schuldgegebene Behauptung, dass er den
Tempel abbrechen und in drei Tagen wieder aufbauen werde. Diese Weissagungen
Jesu lebten in mündlicher, vielleicht auch schon schriftlich fixierter
Erinnerung fort, als der jüdische Krieg ausbrach und in seinem Gefolge
im Jahre 70 p. C. die Zerstörung Jerusalems
und des Tempels sich verwirklichte, während der Untergang der Welt noch
auf sich warten ließ.
Jetzt war die Tradition genötigt, die beiden von Jesu als Einheit gedachten
und noch vor Ablauf der lebenden Generation erwarteten Katastrophen, die Zerstörung
Jerusalems und den Untergang der Welt, von einander zu trennen, wobei die bald
nach 70 p. C. verfasste Schilderung dieser Vorgänge, bei Matthäus,
wie die Worte Matth. 24,29 »bald
aber nach dem Trübsal derselbigen Zeit« beweisen, in jener
Zeit der höchsten Not und Verwirrung das Weltende als nahe bevorstehend
dachte, während dasselbe von den später verfassten Berichten des Marcus
(vgl. 13,24) und Lucas
(vgl. 21,24 fg.) weiter und weiter hinausgeschoben
wird. Aber auch in dieser modifizierten Form zeigen die eschatologischen Reden
Jesu eine starke Abhängigkeit von iranischen Vorstellungen. Wie dort der
aus dem Samen des Zarathustra stammende Caoshyanc
(»der da retten wird«, »der Heiland«),
so bewirkt hier der aus dem Samen Davids stammende Messias
die Auferstehung der Toten und das Weltgericht.
Wie Caoshyanc dabei von fünfzehn
männlichen und fünfzehn weiblichen Gehilfen unterstützt
wird, so verheißt Jesus seinen Jüngern, dass sie auf zwölf
Stühlen sitzen werden und richten die zwölf Geschlechter Israels
(Matth. 19,28), wie der Weltrichter dort die schwarzen
von den weißen Schafen, so scheidet er hier, weniger treffend, die Schafe
von den Böcken (Matth. 25,32). Diese Züge
werden genügen, um. zu zeigen, dass hier nicht eine zufällige Analogie,
sondern eine direkte Abhängigkeit vorliegt, und fragen wir, auf wessen
Seite die Priorität zu suchen ist, so kann es nach dem, was oben
(S. 133) über das Alter der iranischen Vorstellungen beigebracht
wurde, sowie nach den zahlreichen Spuren persischer Einflüsse auf das Judentum,
denen wir im weitern Verlaufe begegnet sind, wohl keinem Zweifel unterliegen,
dass mit so vielem andern auch die eschatologischen Vorstellungen von Iran nach
Palästina gedrungen und dort von Jesu übernommen worden sind.
Wenden wir uns von diesen auf Tradition beruhenden Vorstellungen zu der Frage,
worin denn eigentlich das originelle Element der Lehre Jesu zu suchen ist, so
kann es sich dabei nicht sowohl um Gedanken handeln, welche nie vorher ausgesprochen
worden wären, als vielmehr um solche welche von Jesus aus dem unmittelbaren
Eindrucke der äußern und innern Natur geschöpft wurden
und in der Folge zu den tragenden Grundpfeilern der christlichen
Weltanschauung ge¬worden sind. Was ist unter der reichen Fülle
der in Jesu Reden ausgestreuten Keime das eigentlich Wesentliche, das Senfkorn,
aus dem nachmals der Baum des Christentums erwachsen ist? - Um in Beantwortung
dieser Frage einen methodisch sichern Weg einzuschlagen, müssen wir davon
ausgehen, dass das Zentraldogma des Christentums, dass die spezifische Lehre,
welche das Christentum vor allen andern Religionen auszeichnet, besteht in dem
von Paulus ausgebildeten und vom vierten Evangelium fertig
übernommenen Dogma der Wiedergeburt, nach welchem das Heil nicht
von einem Tun und Lassen im einzelnen, sondern von einer völligen
Umschaffung unseres natürlichen Wesens, wie sich der Apostel
Paulus ausdrückt, zu suchen ist. Diese Lehre findet sich, von unsichern
Anklängen abgesehen, beim historischen Jesus noch
nicht, wohl aber lassen sich bei ihm die Keime nachweisen, aus welchen sie entsprungen
ist, und diese Keime bestehen in zwei Gedanken, welche scheinbar in Widerspruch
mit einander stehen, in einer Art Antinomie,
aus welcher, wie aus Stahl und Stein der lebendige Feuerfunke, jene Grundlehre
des Christentums von der Wiedergeburt hervorgegangen
ist. Mit modernen Ausdrücken können wir jene beiden sich widerstreitenden
Gedanken Jesu als seinen Determinismus
und seinen kategorischen Imperativ bezeichnen.
1. Jesu Determinismus.
Zunächst kann es keinem Zweifel unterliegen, dass
Jesus überzeugt war von der empirischen Unfreiheit
des Willens, der zufolge jeder so handeln muss und nicht anders handeln kann,
als es seiner Natur gemäß ist. Wie der
Baum, so seine Früchte; wie der Mensch, so seine Taten. In der Bergpredigt
heißt es Matth. 7,16-18:
»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen:
Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln? Also
ein jeglicher guter Baum bringet gute Früchte: aber ein fauler Baum bringet
arge Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen und ein
fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.«
Wie dieses Gleichnis zu verstehen sei, lehrt unmissverständlich
der Zusammenhang Matth. 12, wo die Pharisäer
einen besonders auffallenden Beweis ihrer Verstocktheit geben, indem sie behaupten,
Jesus treibe die Teufel aus durch der Teufel Obersten, worauf Jesus erwidert,
Matth. 12,33-35:
»Setzet entweder einen guten Baum, so wird
die Frucht gut: oder setzet einen faulen Baum, so wird die Frucht faul. Denn
an der Frucht erkennet man den Baum. Ihr Otterngezüchte, wie könnet
ihr Gutes reden, dieweil ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des gehet
der Mund über. Ein guter Mensch bringet Gutes hervor aus seinem guten Schatz
des Herzens; und ein böser Mensch bringet Böses hervor aus seinem
bösen Schatz.«
Das originelle und drastische Bild von dem Baum und den Früchten deutet
darauf hin, dass Jesus die Überzeugung von der Unfreiheit
des Willens, so oft sie auch schon vor ihm ausgesprochen sein mag, doch
nicht von andern übernommen, sondern unmittelbar
aus der Beobachtung des Treibens der Menschen um ihn her geschöpft
hat. Zugleich aber fühlte er in sich die Gewissheit, welche jeder von uns
in seinem Innern fühlt, dass unser Wille frei ist,
nicht nur sofern wir tun können, was wir wollen, sondern sofern es nur
auf uns ankommt, anders zu wollen, als wir wollen, ja sogar anders zu sein,
als wir sind, und nur auf dieser in unserm tiefsten Innern lebenden Gewissheit
kann es beruhen, dass Jesus in allen seinen Reden von den Menschen fordert,
das Gute zu tun und das Böse zu meiden, wie wir sogleich weiter auszuführen
haben.
2. Jesu kategorischer Imperativ.
Alle Forderungen, welche Jesus an den Menschen stellt, lassen sich zusammenfassen
in dem einen großen Imperativ, Matth.
5,48:
»Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer
Vater im Himmel vollkommen ist!«
Dieser Imperativ ist ein kategorischer, kein hypothetischer,
denn so oft auch Jesus verheißt: es wird euch im Himmel wohl belohnt werden,
so sind derartige Verheißungen bei ihm, ähnlich wie die Postulate
bei Kant, doch nur eine Folge, nicht aber der Grund des sittlichen Wohlverhaltens;
er sagt nicht: um dafür himmlischen Lohn zu erhalten, sondern weil es uns
eine innere Stimme gebietet, sollen wir das Gute tun, und haben wir es getan,
dann sollen wir sagen: »Wir sind unnütze Knechte;
wir haben getan, was wir zu tun schuldig sind« (Luc.
17,10). Entkleiden wir dieses Wort der semitischen Hülle, in welcher
es auftritt, so besagt es: Nicht aus Hoffnung auf Lohn
sollen wir das Gute tun, sondern nur darum, weil unser Gewissen es uns gebietet.
Der Widerspruch zwischen diesen kategorischen Forderungen
Jesu und dem gleichzeitig von ihm vertretenen Determinismus verschärft
sich noch, wenn wir andere Aussprüche Jesu ins Auge fassen. Zu den Alten
ist gesagt: Du sollst nicht töten, sollst nicht ehebrechen, Jesus verbietet,
den Bruder zu hassen, ein Weib anzusehen ihrer zu begehren; die Alten verbieten
die böse Tat, Jesus auch die Gesinnung, aus der sie entspringt; die Alten
verlangen: Du sollst anders handeln als du handelst; Jesus
verlangt: Du sollst anders sein als du bist; dies aber ist nach der empirischen
Naturordnung unmöglich, ebenso wie es unmöglich ist, unsere Feinde
zu lieben, denjenigen zu helfen, welche uns schädigen, und somit indirekt
unsere eigene Schädigung zu fördern. Ihren Höhepunkt erreichen
diese Forderungen Jesu in dem großen Worte, dem größten, welches
überhaupt von ihm gesprochen worden ist:
»Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst« (Matth.
16,24).
Man kann alles verleugnen, sich von allem lossagen, nur nicht von sich selbst,
wie ein Messer alles schneiden kann, nur nicht sich selbst. Erfüllbar wird
die Forderung nur, wenn in dem Satze: »er verleugne
sich selbst« Subjekt und Objekt verschieden sind, wenn derjenige,
welcher sich lossagt, ein anderer ist als der, von welchem er sich lossagt;
der letztere ist, mit dem Apostel Paulus zu reden, der alte Mensch, der alte
Adam in uns, der erstere der neue Mensch, der Christus, welcher in uns Gestalt
gewinnen soll; es ist der Mensch als Gott, welcher den Menschen als Menschen
überwindet, es ist, wie Kant sagt, der
Mensch als Ding an sich, welcher dem Menschen als Erscheinung das Gesetz gibt.
Wie dies möglich sei, darüber finden sich in Jesu Worten nur Andeutungen,
wenn er Matth. 19,28 sagt: »Bei
den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich«
oder Matth. 15,13: »Alle
Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzet, die werden ausgereutet.«
Das Zusammenbestehen der empirischen Unfreiheit mit der
metaphysischen Freiheit unseres Wesens ist das letzte und höchste Resultat
der Philosophie Kants, bei welchem es sich
als notwendige Konsequenz seiner ganzen Weltanschauung ergibt. Jesus hat dieses
Resultat vorweggenommen, indem er einerseits die äußere Notwendigkeit
alles Geschehens erkannte, andererseits die innere Freiheit
in der Selbstbestimmung unseres Wollens empfand und mit naiver Unbefangenheit
aussprach. Wie diese Gegensätze zu versöhnen seien, darüber finden
sich in Jesu Worten nur Andeutungen wie die erwähnten, deren weitere Entwicklung
dem Apostel Paulus zufiel. Eine Verfolgung der
von Jesu aufgedeckten Antinomie zwischen der Unfreiheit
unseres dem Gesetze der Kausalität unterworfenen Handelns und der Freiheit
des Willens als unserer ansichseienden, kausalitätlosen Wesenheit
würde zu allen wesentlichen Grundanschauungen der Kantischen Philosophie
geführt haben. S.189ff.
Aus: Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung
der Religionen, Zweiter Band, Zweite Abteilung: Die Biblisch-Mittelalterliche
Philosophie, Leipzig: F. A. Brockhaus. 1919