Paul Deussen (1845 – 1919)

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Leben und Lehre Jesu
Quellen zur Geschichte Jesu , Leben und Wirken Jesu , Jesu Bewusstsein von Gott und von der Welt , Das Schicksal Jesu , Philosophische Elemente der Lehre Jesu

Quellen zur Geschichte Jesu
An der Geschichtlichkeit der Person Jesu kann nur ein Narr zweifeln. Der Tatbestand des neutestamentlichen Schriftstum ebenso wie die erste Genesis des Christentums bleiben völlig unerklärlich, wenn man nicht als Urheber der ganzen Bewegung einen historischen Jesus, von welcher Art er auch er gewesen sein mag, voraussetzt. Wer außerdem noch greifbare Beweise für die geschichtliche Existenz der Person Jesu verlangt, der wäre zu verweisen auf die bekannten Zeugnisse des Sueton und des Tacitus.

C. Suetonius Tranquillus berichtet im »Leben des Kaisers Claudius« von diesem cap. 25: Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit: »Er verbannte die Juden aus Rom, weil sie auf Anstiften eines gewissen Chrestus fortwährend Unruhen erregten.«

Der Verfasser, von welchem Sueton diese Notiz übernommen hat, war offenbar sehr wenig orientiert. Die Streitigkeiten zwischen den in Rom lebenden Juden mit der ebendaselbst neuentstandenen Christengemeinde hält er für eine Zänkerei der Juden unter einander, als deren Anstifter er einen gewissen Chrestus bezeichnet, den sich der Verfasser allem Anscheine nach als zur Zeit des Claudius in Rom lebend dachte. Der Verfasser war also über das, was er erzählt, sehr mangelhaft unterrichtet. Aber gerade diese Unkenntnis der nähern Verhältnisse bürgt uns dafür, dass hier keine Fälschung vorliegt, dass zwischen den Juden und der aus ihnen hervorgegangenen Partei der Christen Streitigkeiten bestanden, und dass dabei ein gewisser Christus, dessen Namen der Verfasser in das ihm geläufigere Chrestus verwandelte, die Hauptrolle spielte, dessen Autorität die eine Partei anerkannte, während die andere sie verwarf. Wir haben also hier das Zeugnis eines unparteiischen, der Sache sehr gleichgültig gegenüberstehenden Römers dafür, dass schon unter Claudius (41-54 p. C.) in Rom eine von den übrigen Juden sich absondernde Gemeinde bestand, welche Christus als ihr Haupt betrachtete.

Cornelius Tacitus erzählt in den Annalen 15,44, wie Nero nach dem Brande Roms, um den Verdacht von sich abzuwälzen, diejenigen beschuldigt und mit den ausgesuchtesten Strafen belegt habe, welche beim Volke wegen ihrer Schandtaten verhasst (per flagitia in visos) waren und den Namen Christen (Christiani) führten. Er fährt fort: Auctor nomini eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontitum Pilatum supplicio affectus erat; repressaque in praesens exi¬tiabilis superstitio rursum erumpebat, non modo per Iudeam originem eius mali, sed per urbem etiam, quo cuncta sundique atrocia aut pudenda confluunt celebranturque, »der Urheber dieses Namens, Christus, wurde während der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus mit dem Tode bestraft; aber der für den Augenblick unterdrückte, verderbliche Aberglaube brach wieder aus, nicht nur in Judäa, wo dieses Übel entsprungen war, sondern auch in Rom, wo, von überallher alles Scheußliche und Schamlose zusammenströmt und verherrlicht wird«. Für die Echtheit dieser Stelle bürgt nicht nur ihr in jedem Worte unverkennbares und fast unnachahmliches taciteisches Gepräge, sondern auch die einfache Überlegung, dass sie nicht, wie die bekannte Stelle des Josephus Antiq. 18,3,3, von Christen eingefälscht sein kann, da sie ja in hohem Grade christenfeindlich ist; wollte aber jemand sich zu der Behauptung versteigen, sie sei von den Gegnern des Christentums interpoliert worden, so würde die Stelle bei dieser übrigens sehr unwahrscheinlichen Annahme dieselbe Beweiskraft für die historische Existenz Jesu behalten.

Im übrigen sind wir für die Geschichte Jesu als Quelle fast ausschließlich auf die vier Evangelien des Matthäus, Marcus, Lucas und Johannes beschränkt.

Was zunächst das vierte Evangelium betrifft, so werden wir ihm weiter unten eine besondere Betrachtung widmen. Wir werden in ihm eine in ihrer Art wundervolle Exemplifikation der durch Jesus und Paulus geschaffenen Christusgestalt der Kirche an einem mit freier, genialer Konzeption entworfenen Leben Jesu erkennen, und begnügen uns hier mit der Bemerkung, dass jeder, welcher den Erzählungen und Reden dieses Evangeliums irgendwelchen historischen Wert einräumt, sich dadurch die Möglichkeit verschließt, über die vielleicht einzig in der ganzen Weltgeschichte dastehende Persönlichkeit Jesu ein authentisches Bild zu 'gewinnen, wozu uns die drei ersten Evangelien weit mehr urkundliches Material darbieten, als es vielen scheinen mag.

Allerdings ist nicht daran zu denken, Matthäus, Marcus und Lucas, wie sie uns vorliegen, ohne weiteres als glaubwürdige Zeugen zu betrachten, aber die beiden erstgenannten sind doch Fortbildungen zweier Urschriften, über welche uns nur das unsichere Zeugnis des Papias erhalten ist.


Papias, Bischof von Hierapolis in Phrygien, gestorben 163 p. C. und angeblich noch ein Schüler des Apostels Johannes, berichtet in dem bei Eusebius (Hist. eccl. III, 40) erhaltenen Fragment einer verloren gegangenen Schrift folgendes: »Matthäus also hat in hebräischer (d. h. aramäischer) Sprache die Reden (des Herrn) verfasst; es erklärte sie aber ein jeder, so gut er konnte.« »Marcus war ein Dolmetscher des Petrus und hat genau aufgezeichnet alles, woran er sich erinnerte, jedoch nicht in der Reihenfolge, wie es von Christus sei es gesagt oder getan worden war; denn er hatte ja den Herrn weder gehört, noch war er ihm nachgefolgt, sondern nur späterhin dem Petrus, welcher die Lehrvorträge je nach dem Bedürfnis einrichtete, nicht aber in der Absicht, eine chronologische Darstellung der Denkwürdigkeiten des Herrn zu veranstalten, so dass den Marcus kein Vorwurf trifft, wenn er einiges in der Reihe aufschrieb, wie er sich daran erinnerte. Denn nur auf Eines war er bedacht, daß er nichts wegließ, was er gehört hatte, und nichts hinzuerfand.«

Zunächst ist klar, dass die beiden von Papias erwähnten Urschriften, welche wir Urmatthäus und Urmarcus nennen wollen, nicht identisch mit unserm Matthäus und Marcus sein können, da unser Matthäus nicht aus dem Aramäischen übersetzt, sondern ursprünglich schon griechisch geschrieben worden ist, wie er ja auch weit mehr enthält als die Reden des Herrn, vielleicht begleitet von ihrem Anlass, von dem Papias berichtet; ebensowenig deckt sich der Urmarcus, bei dem nach dem Zeugnisse des Papias die chronologische Anordnung mangelte, mit unserm Marcus, welcher von der Taufe durch Johannes anfangend den Aufenthalt in Galiläa, die Flucht vor Herodes in die Tetrarchie des Philippus und die Reise nach Jerusalem nebst Leiden, Sterben und Auferstehung geschichtlich zusammenhängend und im wesentlichen übereinstimmend mit Matthäus und Lucas erzählt.

Bei dieser Lage der Sache lässt sich dem sehr unbequemen Dilemma nicht entgehen, dass Papias entweder unsern Matthäus und Marcus noch gar nicht gekannt hat, oder, falls er sie kannte, in ihnen nicht den echten Matthäus und Marcus, von denen er berichtet, anerkennen konnte. Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir in Urmatthäus und Urmarcus die ersten Keime zu unserm Matthäus und Marcus zu sehen, nur dass zwischen den Evangelien des Papias und den unserigen vieles liegen muss, was uns leider verloren ist, nicht nur an mündlichen Traditionen, sondern auch an Schriftwerken. Die Berichte bei Matthäus, Marcus und Lucas stimmen vielfach bis aufs Wort dermaßen überein, dass wir eine allen dreien gemeinsame, direkt oder indirekt von ihnen benutzte, in griechischer Sprache geschriebene Quelle, wir wollen sie das Synoptikon nennen, annehmen müssen, welche verloren gegangen ist, aber sich einigermaßen aus Matthäus, Marcus und Lucas herausschälen lässt und nur das allen dreien Gemeinsame enthielt, nicht aber das, was bei einem von den dreien fehlt; denn es ist nicht anzunehmen, dass spätere Bearbeiter irgend etwas von dem, was dieses von ihnen als Autorität anerkannte und benutzte Synoptikon enthielt, fallen ließen, es sei denn aus dogmatischen Gründen, wie denn der so anstößige Ausruf Jesu am Kreuze: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«, in welchem man eine Verzweiflung an seiner ganzen Lebensaufgabe finden konnte, sicher echt und bei Matthäus und Marcus aufbewahrt ist, während Lucas ihn wegließ, weil er zu den von ihm aus andern Quellen berichteten Worten am Kreuze nicht passte.

Unser Synoptikon ist weder mit dem Urmarcus, von dem es sich schon in der Anordnung unterschieden haben muss, noch mit unserm Marcus identisch, welcher viele, meist ausschmückende Zusätze enthält, die bei Matthäus und Lucas fehlen. Neben diesem Synoptikon muss es noch eine reiche mündliche Tradition, wahrscheinlich auch noch andere schriftliche Aufzeichnungen gegeben haben, aus deren Zusammenfassung und Verschmelzung mit ihm nach und nach unsere drei synoptischen Evangelien entstanden sind.

Der Prozess im einzelnen wird sich schwerlich in einer allgemein befriedigenden Weise hypothetisch rekonstruieren lassen, und nur soviel lässt sich von unsern drei Evangelien mit einiger Sicherheit behaupten, dass Matthäus aus einer Verschmelzung des Synoptikon mit der von Papias erwähnten Redenquelle hervorgegangen ist und dabei im allgemeinen nach unserm Gefühl das Synoptikon treuer wiedergibt als Marcus, da die diesem eigenen anschaulichen Züge weit eher aus späterer Ausschmückung als aus Ursprünglichkeit sich erklären, treuer auch als Lucas, welcher gleichfalls Redenquelle und Synoptikon benutzt haben muss, aber die bei Matthäus noch in großen Komplexen erhaltene Redenquelle zerstückelte und sie den Begebenheiten, nicht immer mit Geschick, einflocht.

Eigentümlich sind dem Matthäus die geflissentlichen Nachweisungen der Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen, wie schon daraus ersichtlich, dass sie die Schriftstellen aus dem hebräischen Grundtext übersetzen, während das Synoptihon und so auch Matthäus, soweit er ihm folgt, nach der Septuaginta zitiert. Ein besonderer Vorzug des Lucas sind die ihm allein eigenen schönen Parabeln vom barmherzigen Samariter, verlorenen Sohn u. a., welche bei allem ethischen Werte doch einen andern Charakter als die echten Gleichnisse Jesu tragen, so daß sie wohl eher der im Sinne des Meisters dichtenden ersten Christen¬gemeinde zuzuschreiben sein dürften.

Leben und Wirken Jesu
Eine Marmorstatue, ein herrliches Götterbild, von barbarischen Händen zertrümmert, viele wesentliche Teile verschleppt und unwiederbringlich verloren, das Übrige ohne Zusammenhang, mit fremden Bruchstücken, untermischt und ungeschickt verbunden, dazu das Ganze durch erdartige Schichten verdeckt und überglast, - das etwa ist der Eindruck, mit welchem wir den Überlieferungen vom Leben und Wirken Jesu gegenüberstehen. Einem solchen Material gegenüber genügt es nicht, mit philologischer Akribie die, Texte zu vergleichen und ihren Wert gegen einander abzuwägen, vielmehr müssen wir auf einen Künstler hoffen, welcher imstande wäre, mit kongenialem Blick das Verlorene zu ergänzen und aus den Trümmern das Götterbild, aus dem noch Vorhandenen das ursprüngliche Ganze wiederherzustellen.

Der schlimmste Feind der historischen Überlieferung war dabei das bald nach Jesu Hinscheiden sich einstellende Bedürfnis, den zum Himmel entrückten Sohn Gattes und Messias gläubig zu verehren und alles, was die Propheten des Alten Bundes von ihm geweissagt hatten oder geweissagt zu haben schienen, als in Erfüllung gegangen durch Jesum Christum zu betrachten.

Wie sehr ein solches Herzensbedürfnis, so berechtigt es in seiner Art sein mag, dem nicht weniger berechtigten Wunsche, das Geschehene mit historischer Treue zu bewahren, zerstörend entgegensteht, kann man am besten in Palästina beobachten, wo fast jede historische Kunde, soweit sie überhaupt noch vorhanden sein mochte, verdunkelt und erstickt worden ist durch das Streben der Gläubigen, die heiligen Orte, oder was man dafür hielt, in Stätten der Verehrung umzuwandeln. In Jerusalem zeigt man uns noch heute alles, was wir wünschen können, das Fenster der Burg, aus welchem König David die Bathseba erblickte, die via dolorosa mit dem Ecce-homo-Bogen und allen übrigen Einzelheiten, die Stelle, von wo der Hahn krähte, als Petrus seinen Herrn verleugnete, ja wohl gar noch den Baum, an welchem Judas sich erhängt haben soll. Das alles ist ja spätere Erfindung, und wo wir an einem Orte stehen, der Anspruch darauf hat, der echte zu sein, da ist er durch jenes Bedürfnis der Verehrung entstellt und seines ursprünglichen Charakters beraubt worden.

Wo wir im Kidrontale Gethsemane erwarten, da finden wir einen von den Franziskanern umhegten und sorgsam gepflegten Blumengarten, während tiefer unten im wasserlosen Kidrontale noch die uralten Ölbäume stehen, welche. uns eine Vorstellung ermöglichen von der letzten Nacht, die der Herr mit seinen Jüngern verbrachte; der Ölberg, von dem er auf Jerusalem herniederblickte, ist durch einen Aussichtsturm und prunkvolle Kirchenbauten entstellt; und suchen wir die Grabes¬kirche auf, welche in ihrem riesigen Umfang, sehr fraglich ob mit Recht, die Stätte der Kreuzigung, der Salbung des Leichnams und als Mittelpunkt das heilige Grab selbst umschließt, da finden wir statt des letztern ein Tempelchen mit Bank und Fußboden aus Marmor, welche die Möglichkeit geben, zu knien, zu beten, den Boden zu küssen, aber an eine in die Felsen gehauene Grabkammer mit einer kleinen seitlichen Öffnung, welche durch Vorwälzung eines mühlsteinartigen Blockes verschlossen werden konnte - wie deren noch manche in der Umgegend von Jerusalem vorhanden sind -., nicht entfernt mehr erinnern. Und kommt man nach Bethlehem, steigt in die Krypta der großen Marienkirche herab und liest in der Geburtskapelle auf dem Marmorboden um den silbernen Stern herum die große, welthistorische Inschrift: Hic de virgine Maria Jesus Christus natus est, so wird man auch dann von dem Eindruck mächtig ergriffen werden, wenn man nicht in der Lage ist, Bethlehem als Geburtsort Jesu anerkennen zu können.

Jesus stammte notorisch aus Nazareth, einem kleinen Landstädtchen in Galiläa, 20 Kilometer westlich vom Südende des Sees Genezareth, und ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch dort geboren. Aber als der Messias musste er nach Micha 5,1 aus Bethlehem Ephrata stammen, und die Legende schlägt zu diesem Ende in den beiden Kindheitsberichten bei Matthäus und Lucas verschiedene Wege ein. Nach Lucas wohnen die Eltern ursprünglich in Nazareth und sollen bei Gelegenheit des nach Verbannung des Archelaus vom syrischen Legaten P. Sulpicius Quirinius im Jahre 7 p. C., wo Jesus schon mindestens sieben Jahre alt war, veranstalteten Census infolge einer bei der geordneten römischen Verwaltung ebenso undenkbaren wie unsinnigen Maßregel gezwungen worden sein, die weite Reise von Nazareth nach Bethlehem zu machen, nur um dort, wo niemand sie kannte, ihren Namen in die Schätzungsliste eintragen zu lassen, weil die Vorfahren von Joseph tausend Jahre vorher dort gewohnt hatten.

Einen andern Weg schlägt die bei Matthäus erhaltene Sage ein. Nach ihr wohnen die Eltern ursprünglich in Bethlehem, wie daraus mit Sicherheit hervorgeht, dass nach ihrer Rückkehr aus Ägypten ausdrücklich motiviert wird, warum sie nicht nach Bethlehem zurückkehren, sondern »in eine Stadt, die da heißt Nazareth« übersiedeln. Dass Herodes aus Furcht vor einem neugeborenen Knäblein alle Kinder unter zwei Jahren in Bethlehem und Umgegend habe umbringen lassen, ist trotz seines argwöhnischen und zu Grausamkeiten geneigten Charakters nicht weniger widersinnig als die bei Lucas zugrundeliegende Fiktion der Nötigung zu einer weiten Reise, nur um sich zensieren zu lassen.

Als Beweis der Abstammung Jesu von David führen die beiden genannten Berichte zwei Stammbäume vor, von denen der bei Matthäus das Geschlecht Jesu bis auf Abraham, der bei Lucas dasselbe sogar bis auf Adam zurückführt. Ohne uns bei den willkürlichen Konstruktionen und Widersprüchen dieser beiden Geschlechtsregister aufzuhalten, wollen wir nur daran erinnern, das sie nicht in Maria, sondern in Joseph auslaufen, … Sollen diese durch mühsame Konstruktionen gewonnenen Stammbäume nicht widersinnig sein, so müssen sie, abgesehen von den erwähnten Zusätzen, aus einer Zeit herrühren, wo man von einer über¬natürlichen Zeugung noch nichts wusste, sondern Jesum einfach für einen Sohn des von David stammenden Joseph hielt. Diese Anschauung liegt auch noch den Worten des Apostels Paulus zugrunde, wenn er Röm. 1,3 sich als einen Diener Jesu bezeichnet, »der geboren ist von dem Samen Davids, nach dem Fleisch; und kräftiglich erwiesen ein Sohn Gottes, nach dem Geist, der da heiliget, seit der Zeit er auferstanden ist von den Toten«. Es geht für jeden, der sehen will, klar hervor, dass Paulus von der übernatürlichen Zeugung noch nichts wusste. Sie ist die Frucht einer volkstümlichen Neigung; geistige Verhältnisse ins Konkrete zu übersetzen und dadurch fasslicher zu machen, ähnlich wie man in Indien dem Gotte Brahman, weil es Rigveda 10,81,3 heißt:

»Allseitig Auge und allseitig Antlitz,
Allseitig Arme und allseitig Fuß«,


in späterer Zeit viele Gesichter und Arme andichtete. Es ist daher aus der christlichen Legende durchaus kein Grund dafür zu entnehmen, dass Jesus nicht das Kind seiner beiden Eltern, des Joseph und der Maria, gewesen sei.

Wer heutzutage Nazareth als den Ort, wo Jesus höchstwahrscheinlich geboren wurde und wo er jedenfalls die Zeit seiner Jugend verbrachte, mit hochgespannten Erwartungen besucht, der wird einen ähnlichen Eindruck empfangen wie die Besucher von Stratford on Avon, als dem Geburts- und Heimatsorte Shakespeares, nämlich den Eindruck der Verwunderung darüber, wie ein so großer, in seiner Art weltbeherrschender Genius die erste, für die Entwicklung einflussreichste Periode seines Lebens fern von dem Treiben der großen Welt in einer kleinen Provinzialstadt verbringen konnte, welche sich durch nichts vor hundert ähnlichen auszeichnet.

Dies scheint zu beweisen, dass der Genius zu dem, was er selbst mitbringt, keiner besonders starken Anregungen von außen bedarf, und dass vielmehr das Treiben einer Großstadt wegen der Überfülle der Eindrücke den jungen Geist eher zur Oberflächlichkeit verleiten und daher auf seine Entwicklung ungünstig einwirken kann. Und so fand denn auch Jesus in dem kleinen, dem Alten Testament ganz unbekannten Nazareth alles, was er zum Aufbau seines geistigen Lebens bedurfte, und was sich in seinen Reden so lebensvoll widerspiegelt, den blauen Himmel und die schöne galiläische Landschaft mit ihren blühenden Gärten, ihren Öl- und Feigenbäumen. Hier konnte er die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem. Felde beobachten, freilich auch die Menschenwelt mit ihren perversen Neigungen, und frühe schon mag er seine pessimistischen Anschauungen über »die böse und ehebrecherische Art, die Narren und Blinden« und die blinden Leiter dieser Blinden, die Pharisäer und Schriftgelehrten, »die Heuchler, die Schlangen, das Otterngezücht«, eingesogen haben. Ob er vor seinem öffentlichen Auftreten im dreißigsten Jahre weit über Nazareth hinaus, namentlich auch nach Jerusalem gekommen ist, muss zweifelhaft bleiben. Die Apostel datieren ihre Kenntnis von Jesu und die Predigt über ihn erst von der Taufe durch Johannes an (vgl. die Anfangsworte des Marcus und Apostelgesch. 1,21-22 und 10,37), und aus der Zeit vorher haben wir nur die anmutige, nach Art des Lucas jedenfalls stark ausgeschmückte Erzählung vom zwölfjährigen Jesu im Tempel, welcher nicht nur das Bedenken entgegensteht, dass alle andern Berichterstatter davon nichts wissen, sondern auch das Verhalten seiner Nazarether Mitbürger und besonders auch das seiner eigenen Familie dem spätern Auftreten Jesu gegenüber, welches schon hier zur Sprache kommen mag.

Wie Sokrates der Sohn eines Bildhauers oder richtiger wohl Steinmetzen, Kant der eines Sattlermeisters, so war auch Jesus der Sohn eines Handwerkers, eines einfachen Zimmermanns, und hat nach Marc. 6,3 das Zimmermannshandwerk auch selbst betrieben. Vom Vater ist, abgesehen von den Kindheitssagen, weiter nicht mehr die Rede, vielleicht weil er frühzeitig verstorben war, die Mutter Maria wird von den Synoptikern nur selten erwähnt und scheint sich nicht über das gewöhnliche Niveau der einfachen Bürgerfrauen ihres Landes und Zeitalters erhoben zu haben. Ihrer Ehe sind nach Jesu Geburt noch vier Söhne, Jacobus, Joses, Simon und Judas, sowie einige Töchter entsprossen, und bei dieser zahlreichen Familie mochte ein öfteres Reisen zum Feste nach Jerusalem schwierig und eine Lebensführung in den einer einfachen Handwerkerfamilie gesteckten Grenzen geboten sein.

Sonach wird die Jugendbildung Jesu, abgesehen von dem Eindruck der ihn umgebenden anschaulichen Welt und der großen Natur in seinem Innern, wesentlich auf das Studium des Alten Testaments und den etwa daran anknüpfenden rabbinischen Schulunterricht beschränkt geblieben sein, und eine gewisse Enge seines Gesichtskreises lässt sich bei aller Größe und Tiefe seiner Anschauungen nicht verkennen. Die Geschichte der Welt mit Ausnahme dessen, was er aus dem Alten Testament schöpfen konnte, scheint ihm fern geblieben zu sein. Seine so sinnreichen Reden und Gleichnisse von den Reichen dieser Welt und ihrer Herrlichkeit, von den Königen und den sie umgebenden Großen beweisen nur, dass ihm diese Kreise des Lebens fremd geblieben sind, und während Johannes der Täufer doch mit dem Hofleben des Herodes Antipas in Zusammenhang gebracht wird, scheint Jesus dessen Hauptstadt Tiberias bei seinen zahlreichen Wanderungen in Galiläa nie betreten zu haben. Von einem Interesse Jesu für bildende Kunst, Poesie und Musik ist nirgendwo die Rede; als seine Jünger ihn auf die Herrlichkeit des herodianischen Tempels bewundernd aufmerksam machten, hatte er als Antwort nur düstere Zukunftsahnungen. Schon früh scheint der Gedanke an seine große Mission, den Menschen die Nähe des Himmelreichs zu verkünden, alle andern Interessen zurückgedrängt zu haben, woraus auch das Verhalten gegenüber seiner Familie sich erklärt, welche ebenso wie die Bürger seiner Heimatstadt für seine große Aufgabe kein Verständnis hatte.

Ein Besuch, welchen er während der Periode seiner Wirksamkeit in den verschiedenen Orten Galiläas seiner Heimatstadt Nazareth machte, endete daher mit einem Misserfolg, Marc. 6,1-5: »Und er ging aus von dannen und kam in seine Vaterstadt; und seine Jünger folgeten ihm nach. Und da der Sabbat kam, hub er an zu lehren in ihrer Schule. Und viele, die es höreten, verwunderten sich seiner Lehre und sprachen: >Woher kommt Dem solches? und was Weisheit ists die ihm gegeben ist, und solche Taten, die durch seine Hände geschehen? Ist er nicht der Zimmermann, Mariä Sohn und der Bruder Jakobi, und Joses, und Judä, und Simonis? Sind nicht auch seine Schwestern allhier bei uns?< Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: >Ein Prophet gilt nirgend weniger, denn im Vaterlande und daheim bei den Seinen.< Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun; ohne, wenigen Siechen legte er die Hände auf und heilete sie.« -

Von einem höchstwahrscheinlich spätern Vorgang, der sich zu Kapernaum im Hause des Petrus abspielte, berichtet -Marc. 3,20-35: »Und sie kamen nach Hause. Und da kam abermals das Volk zusammen, also, dass sie nicht Raum hatten zu essen. Und da die Seinigen es gehört, gingen sie aus, ihn zu ergreifen, denn sie sagten: Er ist von Sinnen , (was Luther allzu wohlwollend übersetzt: Er wird von Sinnen kommen) ... Es kommen nun seine Brüder und seine Mutter und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen, und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die Jünger, die mit ihm im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder. Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder, und meine Schwester, und meine Mutter.«

Aus diesen spätern Vorgängen dürfen wir schließen, dass Jesus seine Jugend in Nazareth zubrachte, ohne dass seine Mitbürger oder auch seine eigene Familie ein Verständnis hatten für die großen Gedanken, die ihn innerlich bewegten und an dem Studium der Schriften des Alten Testaments allmählich zur Reife kamen. Vor allem war es das Buch Daniel, welches er, dessen historische Beziehung auf Antiochus Epiphanes verkennend, auf seine eigene, unter der Herrschaft der Römer und Herodianer schmachtende Zeit bezog, so dass er im Anschluss an die Weissagungen dieses Buches einen baldigen Ablauf der vier Weltreiche und das ewige Messia¬nische Reich nebst dem Weltende und der Auferstehung der Toten erwartete. Und als er hörte, dass in Judäa am untern Laufe des Jordan ein Prophet aufgetreten sei, welcher unter großem Zulauf die Nähe des von Daniel geweissagten Himmelreichs verkündete, die Menschen aufforderte, Buße zu tun, und sie als Symbol der Reinigung von ihren Sünden im Jordan taufte, da ließ es ihn nicht länger in seiner Heimat, und er machte sich auf nach dem gleichfalls dem Herodes gehörigen Peräa, um dort den neuen Propheten kennen zu lernen.

Das Auftreten Johannes des Täufers scheint weder in näherem Zusammenhang zu stehen mit den Nasiräern, an welche nur seine Kindheitslegende erinnert, noch auch mit den Essenern, mit deren Geheimhaltung der Lehren, dreijährigem strengen Noviziat und Enthaltung von Fleischnahrung vielmehr sein offenes Predigen zu allen, sofortiges Vornehmen der Taufe und gelegentliches Essen von Heuschrecken in entschiedenem Widerspruch steht. Umsomehr erinnert sein Gebaren an das der Propheten, namentlich der alten, noch nicht schriftstellernden, eines Elias und Elisa: wie sie trägt er einen härenen Mantel und ledernen Gürtel und scheut sich nicht, mit Gefahr seines Lebens dem Volke wie den Fürsten derbe Wahrheiten zu sagen; wie sie liebt er drastische Bilder von der Wurfschaufel und der Axt, die den Bäumen an die Wurzel gelegt ist, und auch darin gleicht er ihnen, dass er den Gedanken, welcher ihn bewegt, durch eine äußere Manipulation, die Taufe, veranschaulicht.

Ob die Taufe der Proselyten schon in vorchristlicher Zeit von den Juden geübt wurde, ist ja zweifelhaft, doch ist nicht eben wahrscheinlich, dass sie diesen Ritus erst von den verhassten Christen übernommen haben sollten. Wie dem auch sei, jedenfalls ist das Taufen durch Johannes in ähnlichem Sinne zu verstehen wie die Proselytentaufe durch die Juden. Wie durch sie der Proselyt aus dem Heidentum zum Judentum übertrat und gleichsam einen neuen Menschen anzog, so wird bei Johannes die Taufe zum Symbol der Sinnesänderung, welche er beim Herannahen des Himmelreiches durch seine Predigt fordert: »tut Buße (wörtlich, ändert euren Sinn), denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«.

Der paradoxe Begriff eines himmlischen Messiasreiches weist unverkennbar zurück auf das Buch Daniel als seinen Ursprung. Da das Messiasreich und mit ihm Auferstehung, Weltgericht und Weltende auch nach den Zeiten des Antiochus Epiphanes immer noch auf sich warten ließ, so lag es nahe, unter dem vierten Tier unhistorisch das römische Weltreich zu verstehen, und mancher unter der Bedrückung durch die Römer seufzende Jude wird Trost gefunden haben in den Worten Daniel 7,13: »Ich sahe in diesem Gesicht des nachts: und siehe, es kam Einer in des Himmels Wolken, wie eines Menschen Sohn, bis zu dem Alten; und ward vor denselbigen gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet, und sein Königreich hat kein Ende.« Das hier verheißene Himmelreich erscheint doch zugleich als ein ewiges Reich auf Erden, und man kann zweifelhaft sein, in welcher von beiden Formen Johannes der Täufer sich das Himmelreich vorstellte, dessen Herannahen er verkündigte, und als dessen Vorläufer, als den Jesaia 40,3 verkündigten Prediger in der Wüste er sich selbst betrachtet haben mag.

Zu diesem Prediger in der Wüste kam also auch Jesus und ließ sich von ihm taufen, ein Vorgang, den die Legende in ihrer Weise ausgeschmückt hat. Über den Verkehr Jesu mit Johannes wissen wir nichts; nach dem glaubwürdigen Zeugnisse bei Matth. 4,12, Marc. 1,14 blieb er bei Johannes bis zu dessen Verhaftung, also möglicherweise längere Zeit; die Austerität [Strenge] in Fasten und Gebetsübungen der Johannesjünger hinderte ihn, sich diesen anzuschließen, er kehrte nach Galiläa zurück, um in freierm und tieferm Geiste das Werk des gefangenen Propheten fortzusetzen; an ihn anknüpfend, aber ohne auf die äußere Zeremonie der Taufe Wert zu legen, fing auch er an zu predigen: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«

Über das Schicksal Johannes des Täufers gibt es zwei Berichte, welche schwer in Einklang zu bringen sind. Nach Josephus hätte Herodes ihn aus Furcht, dass er das Volk auf¬wiegeln könnte, in der Festung Machärus (östlich vom Toten Meer) gefangen setzen und hinrichten lassen. Sollte dieser Bericht des Josephus für wahr gelten müssen, so würde die Glaubwürdigkeit der evangelischen Erzählung über den Vorfall stark erschüttert werden. Zwar könnten bei Gefangennahme und Hinrichtung beide Motive, die Furcht vor einem Volksaufstande und der Hass der Herodias, zusammengewirkt haben; aber als Ort, wo diese Vorgänge sich abspielten, müssen wir nach den Evangelien, wenn sie ihn auch nicht nennen, jedenfalls Galiläa, und so aller Wahrscheinlichkeit nach die Hauptstadt Tiberias denken, nicht aber das ferne Machärus; denn dass Herodes dort in Peräa seinen Geburtstag begangen hätte, während Herodias und ihre Tochter in der Nähe und, falls Marc. 6,21 nicht eine spätere Einschiebung ist, »die Obersten und Hauptleute und Vornehmsten in Galiläa« mit bei Tische waren, ist sehr unwahrscheinlich, nicht zu reden davon, dass nach Marc. 6,20 Herodes gern den gefangenen Johannes gehört und ihm in vielen Sachen gehorcht habe, und dass ein Verkehr des Johannes im Gefängnisse mit seinen Jüngern und durch sie mit Jesu in der Weise, wie es die Evangelien berichten, nicht denkbar gewesen wäre, wenn Johannes in dem fernen, auch noch durch das Gebiet der Dekapolis getrennten Machärus gefangen gehalten worden wäre.

Schwierigkeit macht auch die Rede Jesu über Johannes Matth. 11,7-13 (= Luc. 7,24-28), in welcher er denselben rühmt, dass er nicht charakterlos wie ein vom Wind bewegtes Rohr, nicht weichlich wie die Vornehmen in der Könige Häusern, sondern der größte aller Propheten sei, eine Rede, welche Jesus nach dem Zusammenhang während der Gefangenschaft Johannis gehalten haben soll, und deren Form doch das Wirken des Johannes in Freiheit und den fortgesetzten Zulauf des Volkes zu ihm vorauszusetzen scheint.

Wenn endlich Marc. 6,14 (= Matth. 14,2) behauptet wird, Herodes habe Jesum für den von den Toten auferstandenen Johannes gehalten, so ist eine so absurde Annahme bei einem römisch gebildeten Herodianer undenkbar. Er mag gesagt haben, da sei wieder ein solcher wie Johannes, und dieser Ausspruch hat im Volksmunde die Form angenommen, in der er berichtet wird.

Überaus lebendig und ist die Schilderung, welche die Evangelien von Jesu geben, wie er nach Gefangennahme des Johannes vom Jordan nach Galiläa zurückkehrt, Kapernaum zu seinem Lieblingsaufenthalte erwählt und von dort aus die Städte und Märkte Galiläas und jenseits von dessen Grenzen durchzieht, um die Nähe des Himmelreiches zu verkünden, bald in den Synagogen und Häusern, bald am Meere von einem Kahn aus oder von einer Anhöhe lehrend, immer umgeben von einer Volksmenge, die sich an ihn herandrängt, bis ihn plötzlich das bei edeln Naturen so starke Bedürfnis nach der Einsamkeit wegführt, seine Jünger ihn suchen und ihn endlich wiederfinden in stiller Meditation über das Ewige, welche bei ihm, entsprechend der semitischen Grundanschauung, die Form des Gebets zu seinem himmlischen Vater anzunehmen pflegte.

Da Jesus offenbar kein eigenes Vermögen besaß, auch nicht, wie der Apostel Paulus, ein Gewerbe betrieb, so fragt es sich, auf welche Art er bei seinen Wanderungen durch die Städte und Märkte von Galiläa und den umliegenden Landschaften den Lebensunterhalt für sich, seine Jünger und das gelegentlich sich anschließende Gefolge bestritten haben mag. Zur Beantwortung dieser Frage haben wir einen Anhalt an den Ermahnungen, welche Jesus seinen Jüngern bei ihrer Aussendung mit auf den Weg gab. Matth. 10,8-14 (vgl. Marc. 6,8-11, Luc. 9,3-5. 10,4-11): »Umsonst habt ihrs empfangen, umsonst gebet es auch. Ihr sollt nicht Gold, noch Silber, noch Erz in euren Gürteln haben; auch keine Taschen zur Wegfahrt, auch nicht zween Röcke, noch [zwei Paar] Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert. Wo ihr aber in eine Stadt oder Markt gehet, da erkundiget euch, ob jemand drinnen sei, der es wert ist; und bei demselben bleibet, bis ihr von dannen ziehet.... Und wo euch jemand nicht annehmen wird, noch eure Rede hören, so gehet heraus aus demselbigen Hause oder Stadt, und schüttelt den Staub von euren Füßen.« Wenn Jesus Vers 25 hinzufügt: »Es ist dem Jünger genug, dass er sei wie sein Meister«, so liegt darin, dass die den Jüngern gegebenen Vorschriften dieselben waren, welche auch der Meister befolgte. Zum Mittelpunkte seiner Wirksamkeit hatte er Kapernaum erwählt, eine blühende Stadt mit regem See- und Landverkehr, an der Handelsstrasse von Damaskus nach dem Mittelmeer, gelegen. Hier pflegte er wohl im Hause des Simon Petrus, dessen Schwiegermutter er vom Fieber befreit hatte, zu wohnen, hier erfolgte auch wohl die Berufung des Zollbeamten Matthäus oder Levi und das nachfolgende Gastmahl in dessen Hause, bei welchem Jesus mitten unter den Zöllnern und Sündern saß, zum großen Ärgernis der Gesetzesfrommen, denen er mit beißender Ironie die Antwort gab: »Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.«

Im Gegensatze zu der asketischen Strenge Johannis des Täufers, zu dem er sich ähnlich verhielt wie die Stoiker zu den Kynikern, war Jesus seiner festen Wurzelung im Ewigen, semitisch ausgedrückt, seiner Einheit mit Gott, so sicher, dass er ohne etwas zu verlieren, sich dem heitern Genusse der Gegenwart hin¬geben konnte und gerade dadurch ein großes Vorbild für alle künftigen Zeiten aufgestellt hat. Dem Befremden der Johannesjünger begegnet er mit dem Scherzworte: »Wie können die Hochzeitleute Leid tragen, so lange der Bräutigam bei ihnen ist?« und deutet in den folgenden Worten in bildlicher Weise an, dass die jüdischen Satzungen ein verbrauchtes, nicht mehr zu flickendes Kleid sind, ein alter Schlauch, welcher den neuen Wein nicht mehr fassen kann (Matth. 9,15-17). Schärfer tritt er den Anhängern der Pharisäer entgegen, vergleicht sie (Matth. 11,16-19) launischen Kindern, welche verlangen, dass man tanzen soll wie sie pfeifen, und fährt fort: »Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht: so sagen sie, er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, isset und trinket, so sagen sie: Siehe wie ist der Mensch ein Fresser, und ein Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle!« und »die (pharisäische) Weisheit zeigt an dem Treiben ihrer eigenen Kinder: was sie wert ist«.

Ähnlich wie Sokrates und aus demselben Grunde, nur von einem ungleich höhern Standpunkte aus, war auch Jesus den harmlosen und maßvollen Freuden des geselligen, durch Reden gewürzten Mahles nicht feind; sogar das Himmelreich stellt er sich vor unter dem Bilde eines festlichen Gelages (Matth. 5,11), und mit einer gewissen Wehmut nimmt er beim letzten Abendmahle Abschied vom Gewächse des Weinstocks bis an den Tag, da er es neu trinken werde mit seinen Jüngern in seines Vaters Haus (Matth. 26,29). -

Aber bei den weiten Wanderungen, welche Jesus von Ort zu Ort unternahm, waren, ungeachtet der im Orient üblichen Gastfreundschaft, doch nicht immer Häuser vorhanden, um Jesum und sein großes Gefolge zu bewirten, und wenn auch, wie Luc. 8,3 berichtet, Frauen befreundeter Häuser in seinem Gefolge »Handreichung taten von ihrer Habe«, so mochte es doch vorkommen, dass Jesus mit seinen Jüngern auf dem Felde Ähren ausraufte, um den Hunger zu stillen, was nach 5. Mos. 23,25 gestattet war, aber, weil es an einem Sabbat geschah, von den Pharisäern vermöge einer rigoristischen Auslegung von 2. Mos. 20,10 für Sabbatschändung erklärt wurde und dadurch Anlass gab zu dem geistvollen Ausspruche Jesu: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen« (Marc. 2,27).

Wie sehr es an Geld gebrach, lehrt die Erzählung Matth: 17,24-27, wo Jesus und Petrus nicht imstande sind, die jedem Juden obliegende jährliche Tempelsteuer von zwei Drachmen aufzubringen. Jesus bemerkt zu ihm, dass die Kinder von dieser ihrem himmlischen Vater zu zahlenden Steuer eigentlich befreit bleiben müssten, weiset ihn aber dann an, als Fischer durch Fang und Verkauf eines größern Fisches die kleine Summe zu beschaffen, wobei er scherzend gesagt haben mag, der Fisch werde den Stater, das Silberstück von vier Drachmen im Munde haben (wie wir sagen: Morgenstund hat Gold im Mund), was dann von der Volkslegende buchstäblich verstanden wurde. Dass es bei weitern Reisen in der Umgegend zuweilen auch sogar für Jesum an einem Unterkommen fehlte, scheinen die Worte zu besagen: »Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter, dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege« (Matth. 8,20). Doch soll zum Schluss nicht unerwähnt bleiben, was nach Luc. 22,35 in der letzten Stunde des Zusammenseins der Herr zu seinen Jüngern sprach: »So oft ich euch gesandt habe ohne Beutel, ohne Tasche; und ohne Schuhe, habt ihr auch je Mangel gehabt? Sie sprachen: Nie keinen!« -

Dass Jesus »gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten«, würden wir auch dann glauben; wenn es nicht ausdrücklich überliefert wäre. Die meisten der Sprüche und Reden, welche wir der Sammlung eines Augenzeugen, des Matthäus (oben S. 191), verdanken, erweisen sich als echt schon durch den Umstand, dass kein anderer in der Zeit und .Umgebung Jesu sich denken lässt, von dem so geistvolle, so frei über die Vorurteile des Zeitalters sich erhebende Gedanken hätten ausgehen können. Und auch die Worte, in welche gekleidet diese Gedanken erscheinen, zeugen für die Treue der Überlieferung durch ihr Gepräge, durch einen eigen¬tümlichen Glanz, welcher ihnen anhaftet und auch im Laufe aller kommenden Jahrhunderte nicht verblichen ist. Mitunter, wenn auch nicht eben häufig, begegnet uns ein sinnreiches Scherzwort, wie er denn z. B. den Petrus und Andreas von ihrem Fischergewerbe abruft, indem er verspricht, sie zu Menschenfischern zu machen. Oft haben diese Scherzworte einen sarkastischen Beigeschmack, wie das schon oben erwähnte: »Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken«, oder die Antwort, die dem Jünger zuteil wurde, welcher, ehe er sich an Jesus anschloss, noch seinen verstorbenen Vater begraben wollte: »Folge du mir und lass die Toten ihre Toten begraben« (Matth. 8,22). Viele dieser Aussprüche erinnern in ihrer scharfen Pointierung an die Art des Heraklit, während der überströmende Reichtum an Bildern in Jesu Sprache nur von einem Shakespeare überboten wird.

Wundervoll ist auch die Geistesgegenwart, mit welcher er die verfänglichen Fragen der Pharisäer zu beantworten weiß. So, wenn sie ihm eine Frage vorlegen, deren Beantwortung entweder die Römer oder das Volk gegen ihn aufbringen musste, ob es recht sei, dem Kaiser den Zins zu geben, und er antwortet: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Matth. 22,21). Ganz ähnlich liegt der Fall bei einem versprengten Stück synoptischer Überlieferung, welches sich bei Joh. 8,3-11 findet; hier bringen die Pharisäer Jesum in Konflikt zwischen dem mosaischen Gesetz und den Forderungen der Menschlichkeit, indem sie ihm eine Ehebrecherin vorführen, welche nach 3. Mos. 20,10 getötet werden musste. Jesus bückt sich und schreibt in den Sand, nichts anderes, wie wir glauben und schon in unserer Schrift über Jakob Böhme (2. Aufl., S. 3) gesagt haben, als die Worte des Gesetzes: »Sie soll des Todes sterben«, wodurch er in drastischer Weise dem Gesetz die gebührende Anerkennung zollte und zugleich dasselbe als toten Buchstaben behandelte, in Gedanken das paulinischo Wort antizipierend: »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2. Kor. 3,6).

Die Neigung Jesu für bildliche Ausdrucksweise findet ihren Höhepunkt in seiner Gewohnheit, abstrakte Gedanken in Parabeln zu kleiden, von denen das Gleichnis vom Säemann, von den törichten und klugen Jungfrauen, vielleicht auch, wiewohl sie nur bei Lucas stehen, vom barmherzigen Samariter und vom verlornen Sohne herrliche Beispiele geben. Viele derselben sind durch die Überlieferung entstellt und verdorben worden; wie namentlich das Gleichnis Matth. 22,2-14 (vgl. Luc. 14,16-24), nach welchem ein König seine Großen zur Hochzeit ladet, und als sie sich entschuldigen, seine Gäste auf der Landstrasse auflesen lässt, dann aber einen bemerkt, der kein hochzeitliches Kleid anhat und denselben zur Verdammnis überliefert. Hier haben sich offenbar zwei Parabeln wie zwei Kristalle störend durchdrungen, deren eine die Armen und Geringen ins Himmelreich lud, während die andere die Unwürdigen von demselben ausschloss. Der letztere Zug fehlt bei Lucas, der somit, abgesehen von den bei ihm üblichen Ausschmückungen, die Überlieferung reiner bewahrt zu haben scheint.

Auf die Frage, warum Jesus in Parabeln lehre, erhalten wir aus Jesu eigenem Munde nach Marc: 4,11-12 (vgl. Matth. 13,13-14) die seltsame Antwort: »Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Reichs Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfährt es alles durch Gleichnisse. Auf dass sie es mit sehenden Augen sehen, und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören, und doch nicht verstehen; auf dass sie sich nicht dermaleinst bekehren, und ihre Sünden ihnen vergeben werden.« Wenn diese augenscheinlich an Jesaia 6,8-10 anknüpfenden Worte wirklich von Jesu gesprochen worden sein sollten, so würden wir schon bei ihm die Keime der Prädestinationslehre vor uns haben, welche allerdings, wie später zu zeigen sein wird, da wo der Determinismus sich mit dem Theismus verbindet, die notwendige Konsequenz ist, nur dass es fraglich bleiben muss, ob Jesus diese Konsequenz schon gezogen hat.

Bei Beurteilung Jesu soll man nie außer Augen lassen, dass wir ihn nur als einen jungen Mann kennen, welcher nach dem, trotz allen neuern Hypothesen immer noch am wenigsten unwahrscheinlichen Berichte des Lucas erst dreißig Jahre alt war, als er seine kurze öffentliche Laufbahn antrat. So erscheint er als ein junger, feuriger, noch nicht völlig mit sich fertiger Geist, wie dies namentlich bei seiner heftigen Polemik gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer Matth. 23 hervortritt, welche, einzelne Beobachtungen verallgemeinernd, gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit eine ganze Menschenklasse, unter der sich doch auch Männer wie Gamaliel und Paulus befanden, in leidenschaftlicher Rede verurteilt.

Die Jugendlichkeit Jesu macht sich besonders bemerkbar in einer gewissen Exzentrizität seines ganzen, eben dadurch so liebenswürdigen und die Herzen gewinnenden Wesens. Alle seine Reden zeigen eine Vorliebe für groteske, das Maß überschreitende Ausdrücke; so erklärt er es Matth. 19,24 für leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. Man hat diesen Vergleich zu stark gefunden und der Sache abzuhelfen gesucht, indem man entweder das Kamel zu einem Tau verkleinerte oder das Nadelöhr zu einer Zeltöffnung vergrößerte. Aber eine ganze Reihe ähnlicher Ausdrücke beweisen die Vorliebe des jugendlichen Feuergeistes für derartige übertriebene Wendungen: Er wirft den Pharisäern vor, dass sie Mücken seihen und Kamele verschlucken (Matth. 23,24); er ermahnt, das Licht nicht unter den Scheffel zu stellen (Matth. 5,15), die Perlen nicht vor die Säue zu werfen (Matth. 7,6), beim Almosengeben die linke Hand nicht wissen zu lassen, was die rechte tut (Matth. 6,3); tadelt es, dass man den Splitter im Auge des Nächsten und nicht den Balken im eigenen Auge sehe (Matth. 7,3) ; erklärt: »Wer aber ärgert dieser geringsten Einen, die an mich glauben, dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehänget, und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist« (Matth. 18,6); erwidert bei seinem Einzuge in Jerusalem den an dem Jubel des Volkes Anstoß nehmenden Pharisäern: »Wo diese werden schweigen, so werden die Steine schreien« (Luc. 19,40); spricht auf dem Ölberg zu seinen Jüngern: »So ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein solches mit dem Feigenbaum tun; sondern so werdet ihr sagen zu dem Berge: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer! so wird es geschehen«(Matth. 21,21); und sagt bei der Gefangennahme zu Petrus: »Oder meinest du, dass ich nicht könnte meinen Vater bitten, dass er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel?« (Matth. 26,53).

Exorbitant wie diese Aussprüche sind auch die ethischen Forderungen Jesu, wenn er verlangt, dem, der uns auf den rechten Backen schlage, auch den linken darzubieten (Matth. 5,39), dem, der den Rock nehme, auch den Mantel (das wertvollere Stück) zu geben (Matth. 5,40, anders Luc. 6,29), nicht für den andern Morgen zu sorgen (Matth. 6,34), wenn er zu dem reichen Jüngling sagt: »Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen« (Matth. 19,21), ja, noch weit über alles dieses hinaus geht (Matth. 19,12; vgl. Matth. 5,27-30).

Derartige Vorschriften scheinen nicht ganz ernst gemeint zu sein, sondern, durch Aufstellung eines unerreichbaren und nicht einmal wünschenswerten Ideals nur die Richtung an deuten zu wollen, in welcher unser Handeln sich zu bewegen hat, um des Himmelreiches würdig zu werden.

Als die beiden Grundzüge des Charakters Jesu lassen sich bezeichnen einerseits ein leidenschaftlicher und rückhaltlos sich äußernder Zorn über alles, was verwerflich war oder ihm zu sein schien, und andererseits ein grenzenloses Mitgefühl mit allen Leidenden, Elenden und Unterdrückten: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.« Ein besonders rührender und sympathischer Zug ist seine Liebe zu den Kindern: »Lasset die Kindlein zu mir kommen, und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes« (Marc. 10,14). Musste er sich nicht sagen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten, welche er bekämpfte, auch einst solche Kinder gewesen seien, und dass die Kindlein, welche er herzte und segnete, auch dereinst Männer werden würden wie die, über welche er so oft die Schale seines Zornes ausgegossen hat? Oder glaubte er Weltende und Himmelreich so nahe, dass es den Kindern, die er in seinen Armen hielt, erspart bleiben würde, in den Kampf des Lebens und seine Versuchungen einzutreten, dass die Vollendung des Himmelreichs hereinbrechen werde, ehe Begierde, Sünde und Laster den unschuldigen Kindergesichtern ihre Züge eingraben würden?

Jenes Mitgefühl mit allen Leidenden und der Wille Jesu, ihnen nach Kräften zu helfen, ist die eigentliche Wurzel gewesen, aus der die zahlreichen Wundergeschichten erwachsen sind, welche die Kunde von Jesu Wirken so sehr überwuchert und verdunkelt haben. Es wird nicht zu umgehen sein, uns über diesen Punkt mit rückhaltloser Deutlichkeit auszusprechen.

Unter einem Wunder verstehen wir nicht etwa ein Ereignis, dessen Möglichkeit wir zurzeit einzusehen noch nicht imstande sind, sondern ein Wunder im vollen und wahren Sinne des Wortes ist eine Begebenheit, welche nach der uns bekannten Naturordnung unmöglich und doch wirklich ist. Es gibt ein solches Wunder, und es begibt sich täglich und stündlich vor unsern Augen. Es ist die unleugbare Tatsache, dass wir, obgleich die Naturordnung unsere Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden, auf unser eigenes Selbst und was zu ihm gehört, beschränkt, imstande sind, diese durch die räumliche Trennung der Individuen gesetzte Naturordnung zu durchbrechen, und das Unmögliche wirklich zu machen, indem wir das Leiden anderer fühlen, als wäre es unser eigenes, und Opfer an unserm persönlichen Wohlsein bringen, um die Not unserer Mitgeschöpfe zu lindern.

Diese wunderbare Tatsache ist aus den Gesetzen der empirischen Realität nicht zu erklären, weist über dieselbe hinaus und enthält ein ganzes und sicheres Evangelium dafür, dass diese aus dem Egoismus entsprungene Weltordnung nicht das letzte Wort der Natur, dass unsere wahre Bestimmung nicht diesseits, sondern jenseits des Grabes zu suchen ist. An diesem einen, durch die sicherste Erfahrung immer wieder aufs neue bezeugten Wunder müssen und können wir uns genügen lassen, wenn wir sehen, wie zwar die mythische Vorgeschichte aller Völker, und nicht sie allein, voll ist von Wundererzählungen, wie aber keine einzige dieser Erzählungen; mögen sie innerhalb oder außerhalb des biblischen Gebietes liegen, auch nur entfernt derartig bezeugt und beglaubigt ist, dass wir in ihr eine Durchbrechung der uns bekannten, durch den Verlauf unseres ganzen Lebens bestätigten Naturordnung und nicht vielmehr eine aus der Neigung der Menschen, natürliche Vorgänge zu vergrößern und ins Wunderbare zu steigern, entsprungene Erdichtung anerkennen müssten.

Von dem Bericht über die Auferstehung Jesu werden wir weiter unten zu handeln haben. Was die Wundererzählungen aus seinem Leben betrifft, so hindert uns nichts, anzuerkennen, dass diesem außerordentlichen Menschen auch außerordentliche, vielleicht uns noch unbekannte Kräfte gegeben waren, dass er durch den Eindruck seiner mächtigen Persönlichkeit in neurasthenischen, der damaligen Zeit unerklärlichen und daher für ein Besessensein von Teufeln gehaltenen Zuständen, vielleicht auch in andern Krankheiten, durch physische oder rein geistige Mittel eine vorübergehende, möglicherweise auch eine dauernde Heilung zu erzielen vermochte. Solche Erfolge, von Mund zu Mund weitergetragen, führten dann schließlich dazu, bei dem wunderbaren Manne nichts für unmöglich zu halten, und auf Anlässe hin, die wir nicht mehr kennen, eine Erweckung wirklich Verstorbener, eine Speisung von fünftausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen, ein Wandeln auf dem Meere und dergleichen von ihm zu berichten.

Über eine Fortentwicklung Jesu, soweit von einer solchen während der kurzen Zeit seines öffentlichen Wirkens die Rede sein kann, sind wir auf Vermutungen angewiesen, da die Synoptiker in dieser Hinsicht vom Synoptikon, dieses aber wiederum vom Urmarkus abhängen, welcher nach dem Bericht des Papias ohne chronologische Ordnung war (oben S. 191). Wir dürfen aber annehmen, dass Jesus im allgemeinen vom Partikularismus zum Universalismus und von der Ankündigung des nahen Messiasreiches zur Verwirklichung desselben als der Messias fortgeschritten ist.

Dass Jesus zu Anfang seiner Lehrtätigkeit partikularistisch dachte und seine Mission auf das Judenvolk beschränkte, spricht er mit Bestimmtheit aus, Matth. 15,24: »Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlornen Schafen von dem Hause Israel.« Beweisend hierfür ist auch, dass er zwölf Jünger erwählte, offenbar entsprechend den wenigstens in der Theorie noch fortbestehenden zwölf Stämmen Israels, sei es, dass Levi mitgezählt oder Joseph als Ephraim und Manasse doppelt gezählt wurde; ausdrücklich befiehlt er seinen Jüngern bei deren Aussendung, Matth. 10,5: »Gehet nicht auf der Heiden Strasse, und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlornen Schafen aus dem Hause Israel.« Aber die Erfahrungen, welche er an seinen eigenen Landsleuten und im Gegensatze dazu an Nichtjuden, wie dem kananäischen Weibe (Matth. 15) und dem Hauptmann von Kapernaum (Matth. 8) machte, erweiterten seinen Blick, so dass er bei Gelegenheit des letztern Vorganges erklärte, Matth. 8,11-12: »Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend, und mit Abraham und Isaak im Himmelreich zu Tische sitzen, aber die Kinder des Reichs werden ausgestoßen in die äußerste Finsternis hinaus, da wird sein Heulen und Zähnklappen.«

Diese universalistische Auffassung seiner Aufgabe musste vorhergehen oder gleichzeitig erfolgen, wenn Jesus in sich den von Daniel 7,13-14 verkündigten Weltheiland erblicken sollte, ,»welchem alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten«. Was Jesum veranlasste zu dem großen Schritt, sich nicht mehr als den Verkündiger des Messiasreiches, sondern als den erwarteten Messias selbst zu betrachten, können wir nur vermutungsweise ermitteln. Ursprünglich war seine Predigt dieselbe wie die Johannes des Täufers: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen« (Matth. 4,17), und eben diese Predigt trug er auch seinen Jüngern bei ihrer Aussendung auf (Matth. 10,7). Dass das von messianischen Hoffnungen erfüllte Volk geneigt war, in ihm den Messias zu sehen, dass Besessene und andere Kranke ihn dafür erklärten, konnte wenig Eindruck auf ihn machen; er gebot ihnen zu schweigen. Eine stärkere Anregung empfing er schon, als der von ihm so hochgeschätzte Johannes aus dem Gefängnisse ihn fragen ließ, Matth. 11,3: »Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?« Die Antwort, welche Jesus erteilt, und welche seine Messianität voraussetzt, muss wohl auf späterer Redaktion beruhen. Denn wenn nicht alles täuscht, liegt die entscheidende Wendung für das Bewusstsein Jesu erst in dem bekannten Bekenntnisse des Petrus, Matth. 16,13-17: »Da kam Jesus in die Gegend der Stadt Cäsarea Philippi, und fragte seine Jünger, und sprach: Wer sagen die Leute, dass des Menschen Sohn sei? Sie sprachen: Etliche sagen, du seiest Johannes der Täufer; die andern, du seiest Elias; etliche.., du seiest Jeremias, oder der Propheten einer. Er sprach zu ihnen: Wer sagt denn ihr, dass ich sei? Da antwortete Simon Petrus, und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbaret, sondern mein Vater im Himmel.« Diese Worte beweisen, dass Jesus in der spontanen Äußerung des Petrus, er sei Christus, d. h. der Messias, nicht eine individuelle Anschauung des Petrus, sondern eine Eingebung von oben erkannte, welche als solche vollkommen ausreichte, um in ihm jeden Zweifel an seinem Berufe zum Messias und Sohn Gottes zu beseitigen.

Jesu Bewusstsein von Gott und von der Welt
Zunächst kann es keinem Zweifel unterliegen, dass Jesus sich selbst für den Messias und den Sohn Gottes, nicht in dem Sinne, in welchem alle Menschen Kinder Gottes heißen, sondern im eminenten und ausschließlichen Sinne des Wortes gehalten und erklärt hat. Wer hieran noch zweifeln und die eben mitgeteilte Erzählung vom Bekenntnis des Petrus, wie so vieles in den Evangelien, für eine spätere Legende halten wollte, der wäre zu verweisen auf die Erklärung, welche Jesus selbst vor dem Hohen Rate abgegeben hat. Mag auch noch so viel auf späterer Erfindung beruhen, die Vorgänge bei einem gerichtlichen Verhör, von dem die Entscheidung über Leben und Tod des Angeschuldigten abhing, mussten auf die zahlreichen Zeugen dieses Verhörs einen tiefen Eindruck machen und, wenn irgend etwas, treu in der Erinnerung erhalten werden. Matth. 26,63-65 (vgl. Marc.14,61-64; Luc.22,68-71) heißt es: »Und der Hohepriester antwortete, und sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagest, ob du seiest Christus, der Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: Du sagest es (d. h. Ich bin's, wie bei Marcus steht). Doch sage ich euch: Von nun an wird es geschehen, dafs ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels. Da zerriss der Hohepriester seine Kleider, und sprach: Er hat Gott gelästert; was bedürfen wir weiter Zeugnis? Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört.« Hier erklärt sich Jesus mit ausdrücklicher Beziehung auf Daniel 7,13-14 unumwunden für den Messias und Sohn Gottes. Eine solche Erklärung mag vielen anstößig erscheinen, aber wenn man sich klar macht, was unter Gott und einem Sohne Gottes vernünftigerweise verstanden werden muss, so wird man finden, dass Jesus mit seiner Erklärung vollkommen im Rechte war.

Wir wissen es, und alle tiefern Geister der Menschheit haben es erkannt und ausgesprochen, dass die wahre und ewige Realität, dass der Urgrund des Seins und das höchste Ziel unseres Strebens nicht in dieser Erscheinungswelt, sondern in dem zu, suchen ist, was uns erst zugänglich wird, sofern und in dem Maße wie wir diese ganze in Raum und Zeit ausgebreitete Welt von uns abgeschüttelt und überwunden haben. Wir haben aber nach dem ganzen Eindruck der Überlieferung Jesum zu denken als einen Menschen, welcher ohne nennenswerte Kämpfe (denn die Versuchungsfabeln beweisen gar nichts) infolge einer überaus glücklichen Naturanlage über diese Welt hinausging und zum Bewusstsein der festen Wurzelung in jenem ewigen Urgrunde und der völligen Einheit mit ihm gelangt ist. Nun erschien ihm jenes ewige, über die Erscheinungswelt hinausliegende Reich, entsprechend der semitischen Anschauung, die wir oben (S. 114-116) charakterisierten und als relativ berechtigt anerkannten, als Jahve, als persönlicher Gott, und indem Jesus in der Natur nach einem Bilde suchte, um die Gottesgemeinschaft, welche ihn beseelte, zum fasslichen Ausdruck zu bringen, konnte er kein glücklicheres Bild finden, als das Verhältnis des Sohnes zum Vater, bezeichnete Gott als seinen Vater und sich selbst als den Sohn Gottes. Das vierte Evangelium, welches als historische Quelle nicht verwendbar ist; aber oft mit tiefer poetischer Wahrheit die historischen Vorgänge interpretiert, hat für dieses Bewusstsein Jesu von seinem Verhältnis zu Gott das kurze und treffende Wort: »Ich und der Vater sind eins« (Joh. 10,30).

Aus diesem Verhältnis zu Gott ergibt sich von selbst das Verhältnis Jesu zur Welt, und auch dieses wird durch ein großes Wort des vierten Evangeliums, welches in der Kürze alles befasst, gleichsam blitzartig erleuchtet, wenn Jesus Joh. 16,33 sagt: »Ich habe die Welt überwunden.« Diese Weltüberwindung zeigt sich in allem, was von Jesu glaubhaft überliefert ist, und lässt sich nach drei Richtungen hin verfolgen, sofern er

erstlich die Welt und ihre Ordnung verachtete,

zweitens dieser Ordnung fremd blieb, weil er es nicht für der Mühe wert hielt, sie näher kennen zu lernen, und

drittens von der ethischen Höhe seiner das Land wie die Zeit weit überragenden Anschauungen aus die engen, veralteten, das geistige und sittliche Leben niederhaltenden Formen, in denen sich das Leben des Volkes und seiner Führer bewegte, schroff und trotzig bekämpfte, wodurch er kurze Zeit nach seinem öffentlichen Auftreten seinen Untergang herbeiführte.

Diese dreifache Stellung Jesu zur Welt erfordert eine nähere Beleuchtung.

1. Jesu Weltverachtung.
Wir haben oben (S. 210) eine Reihe von Forderungen Jesu zusammengestellt, deren buchstäbliche Befolgung das staatliche und bürgerliche Leben völlig auflösen und unmöglich machen würde. Wollten wir allem gewalttätigen und raublustigen Gesindel erlauben, uns nach Belieben zu misshandeln und zu plündern, wollten wir aufhören, am heutigen Tage für den morgenden zu sorgen, und alle unsere Habe verschenken, um selbst als Bettler unsern Mitmenschen zur Last zu fallen, so würden daraus soziale Zustände entstehen, welche keinem Wohlgesinnten als wünschenswert erscheinen können. Wir haben daher oben der Meinung Ausdruck gegeben, dass diese Vorschriften nur die Richtung bezeichnen sollen, in der sich unser Handeln zu bewegen hat, somit nicht völlig ernst zu nehmen sind. Sofern sie aber von Jesu wirklich ernst gemeint sein sollten, würden sie sich wohl nur aus der Überzeugung erklären, welche von Jesu wiederholt und unmissverständlich ausgesprochen wird, dass das Weltende ganz nahe bevorstehe und die gegenwärtige Generation es noch erleben werde. Matth. 16,27-28 (vgl. Marc. 8,38-9,1, Luc. 9,26-27): »Denn es wird je geschehen, dass des Menschen Sohn komme in der Herrlichkeit seines Vaters, mit seinen Engeln; und als¬dann wird er einem jeglichen vergelten nach seinen Werken. Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis dass sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich«; Matth. 24,34 (vgl. Marc. 13,30, Luc. 21,32): »Wahrlich ich sage euch: Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis dass dieses alles geschehe.«

2. Jesu Weltfremdheit.
Jesus war der Sohn eines Handwerkers und stammte aus einer kleinen Provinzialstadt; seine Jünger waren, soweit wir deren Vorleben kennen, Fischer und Zöllner; er selbst verkehrte vorwiegend mit den niedrigsten Schichten des Volkes, und es ist fraglich, ob und inwieweit er überhaupt Gelegenheit gehabt hat, den höhern Kreisen der menschlichen Gesellschaft näherzutreten; Tiberias, die Hauptstadt Galiläas, hat er, wie es scheint, nie besucht, und seine Parabeln von Königen, Vornehmen und Großen beweisen, dass er deren Leben nie näher kennen gelernt hat; auch dürfte er bei seinem Leben in und mit Gott, bei seiner Geringschätzung aller irdischen Herrlichkeit und der Erwartung ihres nahen Unterganges wohl kaum Wert darauf gelegt haben, diesen Dingen näherzutreten. Dass er für das Wesen des Menschen, für die Schwäche, Sündhaftigkeit und Bedürftigkeit des menschlichen Herzens ein tiefes psychologisches Verständnis besaß, geht aus allen seinen Reden hervor; aber eine andere Frage ist, ob sein Blick nicht zu sehr auf das Ganze und in die Ferne gerichtet war, um das einzelne Indi¬viduum mit seinen kleinlichen Interessen und Bestrebungen richtig einzuschätzen. Platon sagt vom Philosophen (Theaetet p. 174B): »Er weiß nichts von seinem Nächsten und Nachbar, nicht nur nicht was er betreibt, sondern kaum ob er ein Mensch ist oder irgendein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch an sich sein mag, und was einer solchen Natur ziemt anders als andern zu tun und zu leiden, das untersucht er, und lässt es sich Mühe kosten, es zu erforschen.«

Was Platon vom Philosophen sagt, das gilt ebensosehr von einem religiösen Genius. Auch Jesu Kopf und Herz war zu sehr mit der Sorge für den Menschen als solchen beschäftigt, als dass er den einzelnen Menschen genauer zu sondieren und abzuschätzen vermocht oder auch nur gewünscht hätte. So ist es zunächst kaum zu verstehen, wie Jesus unter den zwölf Jüngern, die er erwählt hatte, einen Schurken, wie den Judas, dulden und mit den elf übrigen vertrauensvoll aussenden konnte, um die Nähe des Himmelreichs zu verkündigen. Man hat es versucht, den Judas weißzuwaschen; er habe, so meint man, durch seinen Verrat nur Jesum zwingen wollen, sich für den Messias zu erklären und die Macht an sich zu reißen; aber derartige Versuche scheitern an der Tatsache, dass er Geld dafür nahm, seinen Verrat, und noch dazu in so schamloser Weise, auszuführen; daher er noch um eine Stufe tiefer steht als der Verräter Brutus, mit welchem zusammen er von Dante in den untersten Höllenpfuhl versetzt wird.

Aber auch an seinen andern Jüngern hat der Meister nicht viel Freude erlebt. Oft genug schilt er ihren Unverstand und ihre Kleinmütigkeit. Er erzählt ihnen das Gleichnis vom Säemann, dessen Bedeutung so durchsichtig ist; sie aber verstehen es nicht, kommen und bitten Jesum, es ihnen zu erklären, worauf er erwidert: »Versteht ihr dieses Gleichnis nicht, wie wollt ihr denn die andern alle verstehen?« (Marc. 4,13). Er spricht zu ihnen das geistvolle Wort: »Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer«, sie aber verstehen ihn so wenig, dass sie unter sich sagen: »Das wird es sein, dass wir nicht Brot mit uns genommen« (Matth. 16,7).

Während Jesus in Gethsemane in der größten Seelennot ist, kämpfen sie mit dem Schlafe, und als der Verräter mit den Schergen herankommt, ihren Herrn gefangen zu nehmen, »da verließen ihn alle Jünger und flohen« (Matth.26,56. Marc. 14,50). Wir brauchen nicht eben hoch von uns zu denken, um zu glauben, und tausende in jeder der seit Jesu vergangenen Generationen werden diesen Glauben geteilt haben, dass sie sich stark genug fühlten, mit einem solchen Herrn und Meister lieber das Äußerste zu erdulden, als ihn im Augenblick der größten Not schmählich im Stiche zu lassen. War die Gesinnung der Jünger wirklich eine so niedrige, oder war der Eindruck der Persönlichkeit Jesu in der Gegenwart nicht so mächtig, wie er auf uns in der Ferne wirkt? Diese Frage ist um so schwerer zu entscheiden, als möglicherweise keine einzige Schrift des Neuen Testaments von einem Augenzeugen des Wirkens Jesu herrührt. Am meisten kann noch die Offenbarung Johannis darauf Anspruch machen, ein Werk des Jüngers Johannes zu sein, des Donnersohnes, wie ihn Jesus nannte (Marc. 3,11; vgl. Luc. 9,54), ein Buch, dessen wilde Poesie wir mit der Bemerkung auf sich beruhen lassen können, dass der Verfasser jedenfalls von dem wirklichen Entwicklungsgang, den die christliche Kirche genommen hat, keine Ahnung hatte.

Von dem spätern Wirken der meisten Apostel haben wir, abgesehen von dem, was in den Briefen des Apostels Paulus steht, keine sichere Kunde, dieser aber scheint ihre Verdienste nicht allzuhoch anzuschlagen, … und wenn er, gewiss mit Recht, erklärt: »Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle« (1. Kor. 15,10; vgl. 2. Kor. 11,23). Jesus selbst scheint unter seinen Jüngern die größte Hoffnung auf Petrus gesetzt zu haben, zu welchem er nach dessen oben erwähntem Bekenntnis die Worte spricht: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Höllen sollen sie nicht überwältigen« (Matth. 16,18). Mit diesem Urteil muss man vergleichen, was über Petrus berichtet wird, dass er in der Nacht der Gefangennahme, ehe der Hahn krähte, d. h. ehe der Morgen nahte, seinen Herrn dreimal hinter einander verleugnet haben soll, und dass er, wie Paulus Gal. 2 erzählt, bei einem Besuch in Antiochien sich dazu bestimmen ließ, mit den Heidenchristen zu Tische zu sitzen, dann aber, als einige Judenchristen von der durch Jakobus in Jerusalem vertretenen Richtung angereist kamen, für seine Reputation in Jerusalem fürchtete und sich von den Heidenchristen zurückzog, worauf ihm Paulus vor aller Augen die bekannte derbe Zurechtweisung erteilte (Gal. 2,14). Die Hochschätzung, welche gerade Petrus im katholischen Mittelalter genoss, erklärt sich zum Teil wohl daraus, dass er, im Gegensatze zu Paulus als dem Apostel der Gebildeten und Denkenden, ein typischer Vertreter der Volksseele war, welche sich leicht zur Begeisterung für das Hohe und Edle entflammen lässt, aber bald darauf wankelmütig ins Gegenteil umschlägt.

3. Jesu Welttrotz.
Es ist sehr begreiflich, dass ein Genius, welcher berufen ist, das geistige Leben der Menschheit in ganz neue Bahnen zu leiten, den brennenden Wunsch und die Hoffnung hegt, schon die Zeitgenossen für seine Ideale zu gewinnen, - es ist aber auch sehr begreiflich, dass ein beträchtlicher, und nicht immer der schlechteste, Teil der Zeitgenossen jeder gewagten Neuerung, deren Konsequenzen er nicht zu übersehen vermag, misstrauisch gegenübersteht und mit Zähigkeit an dem von den Vätern überkommenen, durch die Zeit bewährten und gleichsam geheiligten Alten festhält, wie denn selbst eine so edle Natur wie die des Apostels Paulus vor seiner Bekehrung »über die Maße um das väterliche Gesetz eiferte« (Gal. 1,14). Auch auf geistigem Gebiete gilt das Gesetz, dass natura non facit saltus, dass eine gesunde Entwicklung nicht in Sprüngen vor sich geht, sondern nur stetig und allmählich von weniger Gutem zum Bessern fortschreitet. Wer dies außer acht lässt und mit Ungestüm das Alte einreißt, um Neues und Besseres an seine Stelle zu setzen, der läuft Gefahr, sich selbst zum Märtyrer seiner Überzeugung zu machen, und dies ist, wie bei so vielen großen Erscheinungen in der Weltgeschichte, auch bei Jesu der Fall gewesen. Sein feuriges Temperament erlaubte ihm kein geduldiges Abwarten, und er ist sich des Gewaltsamen seines Auftretens selbst deutlich bewusst, wenn er sagt: »Von den Tagen Johannis des Täufers, bis hieher, leidet das Himmelreich Gewalt; und die Gewalt tun, reißen es an sich« (Matth. 11,12). Schroff und rücksichtslos stellt er seine hohen ethischen Anschauungen dem in Buchstabenkultus und Werkheiligkeit erstarrten Judentum entgegen; er vernachlässigt die jüdischen Speisegesetze: »Was zum Munde eingehet, das verunreinigt den Menschen nicht, sondern was zum Munde ausgehet, das verunreiniget den Menschen« (Matth: 15,11), er sitzt zu Tische mit Zöllnern und Sündern, verlangt von seinen Jüngern nicht, dass sie fasten, dass sie die Hände vor dem Essen waschen, und behandelt die Kranken auch am Sabbat. Hierzu kommen seine heftigen Ausfälle gegen das Treiben der Pharisäer und Schriftgelehrten, von denen uns Matth. 23 eine Probe erhalten ist. Er tadelt ihre Scheinheiligkeit und Habgier, ihr kleinliches Kleben am Buchstaben des Gesetzes und ihre Bedrückung des Volkes durch Vorschriften, welche sie selber zu halten nicht gesonnen sind; immer kühner wird sein Auftreten; er lässt es sich gefallen, dass das Volk ihn bei seinem Einzuge in Jerusalem als Messias feiert, und treibt mit eigener Hand Krämer und Wechsler aus dem Vorhofe des Tempels weg, zum Entsetzen der Pharisäer und Schriftgelehrten, welche nicht wagten, gegen ihn einzuschreiten, so lange er von einer ihm zujubelnden Volksmenge umgeben und geschützt war, und erst als diese sich verlaufen hatte, Mittel und Wege fanden, ihn zu verderben.

Das Schicksal Jesu
Nicht immer scheint Jesus den Vorurteilen seines Zeitalters so kühn entgegengetreten zu sein, wie in Jerusalem während der letzten Woche seines Lebens. In der ersten Periode seiner Wirksamkeit, welche sich von der Gefangen¬nahme Johannes des Täufers bis über dessen Hinrichtung hinaus erstreckt, und in der sich Jesu. Wirken auf Galiläa und dessen Umgebung beschränkte, lassen sich Anzeichen einer gewissen Behutsamkeit erkennen, welche in dem nach Heilerfolgen so häufigen Verbote; dieselben kundzumachen, zum Ausdruck kommen und vermuten lassen, dass auch die Schärfe in der Verurteilung des Pharisäerwesens von dem mildern, in der Bergpredigt angeschlagenen Ton bis zu der großen Strafpredigt in Jerusalem (Matth.23) stetig zugenommen hat. Als nach der Enthauptung des Johannes die Aufmerksamkeit des Herodes auch auf Jesum gelenkt wurde, fand dieser es geraten, der Gefahr aus dem Wege zu gehen (Matth.14,13); wir finden ihn bald in der Wüste (Speisung der Fünftausend) oder auf einem entlegenen Berge (Speisung der Viertausend), bald in der Gegend von Tyrus und Sidon, bis er schließlich seinen Aufenthalt in der Umgebung von Cäsarea Philippi, im Tetrarchat des milde und gerecht regierenden Philippus, wählte, wo er vor den Nachstellungen des Herodes (Luc. 13,31) in Sicherheit war. Hier erfolgte das Bekenntnis des Petrus (oben S. 214) und der Entschluss Jesu, als Messias den Gefahren Trotz zu bieten und seine Gegner in der Hochburg des Judentums, in Jerusalem selbst, aufzusuchen. Wohl mag er auf dieser letzten Reise von düstern Ahnungen erfüllt gewesen sein, mag auch wohl schon neben dem ihm aus Daniel vorschwebenden Bilde des triumphierenden Messias Andeutungen eines leidenden Messias in Stellen wie Jes. 53 und Ps. 22 als erster gefunden haben, dass er aber den Jüngern sein Leiden und Sterben und wohl gar seine Auferstehung, wie die Evangelien erzählen, mit Bestimmtheit vorausgesagt habe, ist gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit und steht auch im Widerspruch damit, dass Jesus noch in Gethsemane an die Möglichkeit glaubte, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen könne.

Wie sich Jesus den weitern Gang vorstellte, den die Ereignisse nehmen würden, ist allerdings schwer zu sagen. Er wusste sich als den Messias, der bestimmt sei, noch vor Ablauf der jetzt lebenden Generation das Weltende und Weltgericht herbeizuführen. Er wusste Elias als seinen Vorläufer und hat sicher an dessen Himmelfahrt fest geglaubt. Durfte er nicht annehmen, dass auch ihn sein himmlischer Vater in Not und Gefahr nicht im Stiche lassen werde, dass er durch ein Wunder gerettet, etwa wie Elias auf feurigem Wagen emporgehoben werden könnte bis zu dem Throne des Alten, wie ihn Daniel nennt, um von dort in den Wolken des Himmels als Weltrichter zurückzukehren? Wie dem auch sei, jedenfalls war es die Überzeugung, dass Gott ihn nicht verlassen werde, welche ihm den Mut eingab, in Jerusalem so aufzutreten, wie wir es gesehen haben. Inzwischen zogen sich die Wolken über ihm zusammen; im Kreise der eigenen Jünger fühlte er sich vor Verrat nicht mehr sicher; immer deutlicher mochte er ahnen, dass schlimme Dinge bevorstünden.

In dieser Stimmung feierte er mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl. Hierüber haben wir den urkundlichen Bericht des Apostels Paulus, der ihn ohne Zweifel von Augenzeugen erhalten hat, 1. Kor. 11,23-26: »Denn der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach es und sprach: Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird; solches tut zu meinem Gedächtnis. Desselbigen gleichen auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach: Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut; solches tut, so oft ihr es trinket, zu meinem Gedächtnis. Denn so oft ihr von diesem Brot esset, und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis dass er kommt.« Ohne uns hier bei dem Wörtchen »ist« aufzuhalten, welches so viel unnötigen Staub aufgewirbelt hat, müssen wir doch aus dieser Stelle zweierlei entnehmen,

erstens, dass Jesus nach der Wendung, welche die Dinge genommen hatten, seinen Tod mit Bestimmtheit voraussah, und

zweitens,
dass er das Bewusstsein hatte, für seine Anhänger in den Tod zu gehen.

Das erstere steht allerdings in Widerspruch damit, dass Jesus, wie schon oben bemerkt, noch in Gethsemane eine Rettung, ein Vorübergehen des Kelches für möglich hielt, und wir werden annehmen dürfen, dass, je nach der Stimmung, beide Möglichkeiten abwechselnd sein Gemüt beherrschten; das letztere aber erklärt sich wohl daraus, dass Jesus in dem Maße, wie die Schwierigkeit der Lage einen andern Ausweg immer unwahrscheinlicher machte, anfing, sich mit dem Knecht Gottes Jes. 53 zu identifizieren und auf sich die Worte zu beziehen: »Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet.«

Furchtbar ist das Schicksal, welches dem geistig wie sittlich so hoch über seinem Zeitalter stehenden Manne von seinen Gegnern, und nicht nur von diesen allein, bereitet wurde. Empörend sind die Beschuldigungen im Verhör Jesu vor dem Hohen Rate, denen er nur ein erhabenes Schweigen entgegensetzte. Entsetzlich sind die Misshandlungen und Verhöhnungen durch rohe Kriegsknechte, aber das Schwerste von allem war doch, dass keiner der Jünger, die er erwählt, belehrt und geliebt hatte, ihm Beistand leistete, dass sie sämtlich in der Stunde der größten Not ihren Meister schmählich verlassen hatten. Doch wie alles Erdenleid nahm auch dieses, nahm auch die Qual des langsamen Verschmachtens am Kreuze ein Ende. Das dritte und vierte Evangelium legen Jesu am Kreuze sechs schöne und würdige Aussprüche in den Mund, welche, wenn sie historisch wären; bei Matthäus und Marcus sicherlich nicht fehlen würden. Der treueste Bericht ist bei Matthäus (in allem Wesentlichen mit Marcus übereinstimmend) erhalten: Kap. 27,46-50: »Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut, und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Etliche aber, die da standen, da sie das höreten sprachen sie: Er ruft den Elias. Und bald lief Einer unter ihnen, nahm einen Schwamm, und füllete ihn mit Essig, und steckte ihn auf ein Rohr, und tränkte ihn. Die Andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elias komme, und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermal laut, und verschied.« Wie der letzte Ausruf Jesu zu verstehen sei, ob er einen Trost darin suchte, dass er sich selbst als den leidenden Messias in den Worten des Psalms (22,2) wiedererkannte, - oder ob er, von physischer und geistiger Schwäche übermannt, einen Augenblick an seiner ganzen Lebensaufgabe irre wurde und verzweifelte -, muss dahingestellt bleiben. Die Bedeutung seines Werkes wird durch diese Frage nicht berührt.

Die Geschichte des Todes Jesu bildet eines der schwärzesten Blätter in den Annalen der Menschheit. Hier scheint das Wort: tout comprendre c'est tout pardonner eine Ausnahme erleiden zu müssen. Verziehen werden kann diese Untat nimmermehr, und sie ist nicht verziehen worden, denn fürchterlich hat sich durch alle kommenden Jahrhunderte an dem unglücklichen Volke der .Juden das (schwerlich historische) Wort erfüllt: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« (Matth: 27,25). -

Aber verstehen, d. h. als notwendige Folge vorhergehender Ursachen begreifen lassen, wird sich, wie alles in der Welt, so auch dieses Unerhörte, dass die Juden den edelsten Mann, den ihre Nation je hervorgebracht hat, so schmählich hingemordet haben. Der Hauptgrund dafür ist sicherlich darin zu suchen, dass Jesus, aufschießend wie ein Palmbaum unter niedrigem Gestrüpp, zu hoch über seinem Zeitalter und Volke stand, um von ihm verstanden zu werden; verstanden ihn doch seine eigenen Jünger nicht.

Wie kann man von einem römischen Verwaltungsbeamten gewöhnlichen Schlages, wie es Pilatus war, erwarten, dass er einen Jesus habe würdigen können? Er hatte die schwere Aufgabe, ein unbändiges, verkommenes Volk im Zaume zu halten, und um vor ihm Ruhe zu haben, hat er nach einigem Widerstreben Jesum geopfert Aber nicht das Volk, sondern seine Leiter, die Pharisäer und Schriftgelehrten; sind für die Ermordung Jesu verantwortlich zu machen, und auch diese, die blinden Leiter der Blinden, wie sie Jesus nennt, haben sich nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissenheit an ihm versündigt, sie wussten nicht, was sie taten, als sie ihn ans Kreuz schlagen ließen, und konnten es nicht wissen.

Eingerostet in den ererbten Vorurteilen ihres Zeremonialgesetzes und unfähig zu verstehen oder auch nur ernstlich zu prüfen, was diesem zuwider war, mussten sie in Jesu einen verwegenen Neuerer sehen, der um so gefährlicher war, je heftiger und rücksichtsloser er gegen sie auftrat. Die weltliche Herrschaft war an die Römer verloren gegangen; nur die geistige Leitung des Volkes war dem Hohenpriester und den Schriftgelehrten verblieben. Was Jesus wollte, war ihnen nicht klar, und nur eines war ihnen klar, dass der letzte Rest ihres Einflusses auf die Volksmassen verloren ging, wenn dieselben Jesu zufielen, wozu nach den Vorgängen bei seinem Einzuge in Jerusalem alle Aussicht war. Sie kämpften um ihre Existenz: entweder sie mussten fallen oder er; sie wählten das letztere, denn omnis natura vult esse conservatrix sui. Ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen, vor allem die Arglosigkeit Jesu, vermöge deren er, statt wie sonst nach Bethanien zurückzukehren, die verhängnisvolle Nacht in Gethsemane zubrachte, begünstigte ihren Anschlag. Wir wissen nicht, welche Agitation sie betrieben haben, um die Menge umzustimmen und die schon halb verlorene Volksgunst wiederzugewinnen; wäre es ihnen nicht gelungen, so hätte der Ausgang leicht ein anderer sein können, und die Entwicklung der Weltgeschichte würde einen andern Gang genommen haben.

Der Glaube an die Auferstehung Jesu ist der Grund für die Entstehung der christlichen Kirche geworden. Wie dieser Glaube unter den entmutigten und den Verlust ihres Meisters betrauernden Jüngern habe entstehen können, lässt sich bei den Widersprüchen und der teilweisen Verworrenheit der evangelischen Überlieferung nur vermutungsweise ermitteln. Wollen wir aber nicht so weit gehen, den Berichten der Evangelien alle Glaubwürdigkeit abzusprechen, wollen wir nicht annehmen, dass das alles erst später, als niemand mehr in der Lage war, die Gerüchte an dem Tatbestande zu kontrollieren, willkürlich erdichtet worden sei, so scheinen sich doch zwei Tatsachen aus der Mitte der sie umrahmenden Legenden als historisch gesichert zu ergeben:

erstens, dass Jesus am Kreuze wirklich gestorben ist, denn unmöglich konnte der Glaube seiner siegreichen und glorreichen Auferstehung an das Fortleben einer siechen, durch Martern aller Art geschwächten Persönlichkeit anknüpfen; und

zweitens, dass die Frauen, welche am Morgen nach dem Sabbat kamen, um den Leichnam zu salben, das Grab, in welchem sie denselben vermuteten, leer fanden, eine Tatsache, welche den Glauben, der Herr sei neubelebt aus dem Grabe hervorgegangen, und weiterhin das Gerücht, man habe ihn hier und da gesehen, veranlasste.

Wie aber jene Tatsache zu erklären ist, auf welchem seltsamen Zufalle oder, wenn man will, auf welcher Fügung es beruhte, dass die Frauen das Grab leer fanden, darüber lassen sich nur Vermutungen äußern. Dass die Jünger ihn heimlich aus dem Grabe entwendet und daraufhin die Predigt von seiner Auferstehung gegründet hätten, widerspricht so sehr ihrem weitern ethischen Verhalten, dass eine solche, schon Matth. 27,64 erwähnte, Möglichkeit schlechterdings von der Hand zu weisen ist. Aber an einer kleinen pia fraus ist, scheint es, doch nicht vorbeizukommen. Denn als das Gerücht aufkam, der Herr sei auferstanden, da waren einige oder mindestens einer, welcher wusste, wie die Sache lag, derjenige nämlich, welcher den Leichnam entweder von vornherein anderswo untergebracht oder, wenn die Frauen wirklich bei der Grablegung zugegen gewesen sein sollten, ihn von dort, wir wissen nicht, ob auf Anordnung des Joseph von Arimathia oder aus andern Gründen, wieder weggenommen und an einem andern Orte bestattet hatte. Einer also musste wissen, wo der Leichnam zu finden gewesen wäre, weil er ihn selbst hingebracht hatte, dieser eine aber, als das Gerücht der Auferstehung aufkam, hat geschwiegen, und dass er schwieg, das ist die kleine pia fraus, an welcher, wie es scheint, nicht vorbeizukommen ist.

Freilich haben wir über die Erscheinungen des Auferstandenen nicht nur die phantasievollen und unvereinbaren Berichte der Evangelien, sondern, was schwerer wiegt als sie alle, das Zeugnis des Apostels Paulus, an dessen Redlichkeit als einer anima candida nicht zu zweifeln ist, und der sich 1. Kor. 15,3-5 also vernehmen lässt:
»Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich auch empfangen habe: dass Christus gestorben sei für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben sei, und dass er auferstanden sei am dritten Tage, nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, darnach von den zwölfen. Darnach ist er gesehen worden von mehr denn fünfhundert Brüdern auf einmal: derer noch viele leben, etliche aber sind entschlafen. Darnach ist er gesehen worden von Jakobo, darnach von allen Aposteln. Am letzten nach allen ist er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden.«

Die letzte der sechs von Paulus erwähnten Christuserscheinungen, welche ihm selbst zuteil geworden ist, liefert uns den Schlüssel zu allen übrigen. Bei der zu ekstatischen Zuständen neigenden Natur des Apostels Paulus ist es begreiflich, wie seinem, durch gewaltige innere Kämpfe und Wandlungen erschütterten Gemüte eine subjektive Vision sich als objektive Begebenheit darstellen konnte, wie er den Herrn, dessen Anhänger er so eifrig verfolgt hatte, und dem er in plötzlicher innerer Umwandlung mit der ganzen Glut seines feurigen Temperaments sich hingab, leibhaftig als eine objektive Erscheinung gesehen zu haben glaubte. Von dieser Art werden auch jene frühern Erscheinungen gewesen sein, nicht nur die, welche dem Petrus und Jacobus, sondern auch die, welche allen zwölf Jüngern, ja auch den fünfhundert Brüdern zuteil wurden, denn dass bei einer gleichgesinnten und religiös aufgeregten Versammlung die dem einen oder andern sich darstellenden Visionen eine gewisse Ansteckungskraft üben und allen Anwesenden sich mitteilen können, ist eine psychologische, durch Beispiele aus allen Ländern und Zeiten belegte Tatsache.

Philosophische Elemente der Lehre Jesu.
Bei jedem Denker auf philosophischem wie auf religiösem Gebiete haben wir, wie zu Eingang dieses Werkes auseinandergesetzt wurde, zwei Elemente in seinen Gedanken zu unterscheiden, das traditionelle Element, welches alles befasst, was er aus der Tradition, von seinen Vorgängern wie aus dem Ideenkreise seines Zeitalters und Volkes übernommen hat, und das originelle Element, worunter wir nur das verstehen, was der philosophische oder religiöse Genius unmittelbar aus der Natur, aus der ihn umgebenden Außenwelt wie aus den psychologischen Erlebnissen seines eigenen Innern schöpfte. An das traditionelle Element knüpfen sich alle die Missverständnisse und Verirrungen, an denen das geistige Leben der Menschheit in philosophischer wie in religiöser Hinsicht so reich ist; was hingegen ein Denker an originellen Gedanken unmittelbar aus dem Eindruck der äußern und innern Wirklichkeit geschöpft hat, das kann wohl einseitig, nicht aber eigentlich falsch sein, so wenig die Natur selbst es ist.

Diese Unterscheidung des traditionellen Elements als der bloßen Schale und des originellen Elements als des eigentlich wertvollen und für alle Zeiten gültigen Kerns eines Gedankenzusammenhanges erweist sich, wie überall, so auch bei Jesu, und bei diesem in besonders hohem Grade, geboten und fruchtbar.

Wie jeder Mensch, so stand auch Jesus zunächst unter dem Einflusse der Traditionen seines Zeitalters, und in dieser Hinsicht ist er ein bewusster Schüler des Mose und ein unbewusster Schüler des Zarathustra. Viele seiner Gedanken sind nur eine lebendige Reproduktion des von diesen beiden Meistern Überkommenen.

Auf dem Mosaismus beruhen Jesu Theismus sowie die Grundzüge seiner Weltanschauung im allgemeinen, während er von den Propheten die überall hervortretende Geringschätzung der äußerlichen Kultusbräuche und das Dringen auf Reinheit des Herzens, auf Gerechtigkeit und Mitleid übernommen hat, wie sich dies am kürzesten und schönsten in dem wiederholt von ihm zitierten Ausspruch des Hosea (6,6) zusammenfassen lässt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit, und nicht am Opfer« (Matth. 9,13 und 12,7). Hingegen hat Jesus aus der iranischen Weltanschauung, nicht direkt, sondern durch Vermittlung des zu Jesu Zeit von diesen Vorstellungen durchdrungenen Judentums, wie oben gezeigt wurde, seine ausgebildete Dämonenlehre, wie auch seinen Unsterblichkeitsglauben in der realistischen Form einer Auferstehung von den Toten übernommen.

Aber auch die jüdische Messiasidee hat Jesus in der durch iranischen Einfluss modifizierten Form, wie sie im Buche Daniel vorliegt, sich zu eigen gemacht, und nachdem er durch göttliche Eingebung, wie sie dem Petrus geworden war, den erwarteten Messias in sich selbst erkannt hatte, war es eine einfache Konsequenz dieser Anschauungen, dass er sich für berufen hielt, noch bei Lebzeiten der gegenwärtigen Generation Weltende und Weltgericht herbeizuführen, wobei natürlich in dem allgemeinen Untergang auch der Jerusalems und des Tempels einbegriffen war, um dem neuen Messianischen Reiche Platz zu machen. So würde sich seine Weissagung erklären, dass kein Stein des Tempels auf dem andern bleiben werde, so auch, wenn sie historisch sein sollte, die ihm von seinen Gegnern schuldgegebene Behauptung, dass er den Tempel abbrechen und in drei Tagen wieder aufbauen werde. Diese Weissagungen Jesu lebten in mündlicher, vielleicht auch schon schriftlich fixierter Erinnerung fort, als der jüdische Krieg ausbrach und in seinem Gefolge im Jahre 70 p. C. die Zerstörung Jerusalems und des Tempels sich verwirklichte, während der Untergang der Welt noch auf sich warten ließ.

Jetzt war die Tradition genötigt, die beiden von Jesu als Einheit gedachten und noch vor Ablauf der lebenden Generation erwarteten Katastrophen, die Zerstörung Jerusalems und den Untergang der Welt, von einander zu trennen, wobei die bald nach 70 p. C. verfasste Schilderung dieser Vorgänge, bei Matthäus, wie die Worte Matth. 24,29 »bald aber nach dem Trübsal derselbigen Zeit« beweisen, in jener Zeit der höchsten Not und Verwirrung das Weltende als nahe bevorstehend dachte, während dasselbe von den später verfassten Berichten des Marcus (vgl. 13,24) und Lucas (vgl. 21,24 fg.) weiter und weiter hinausgeschoben wird. Aber auch in dieser modifizierten Form zeigen die eschatologischen Reden Jesu eine starke Abhängigkeit von iranischen Vorstellungen. Wie dort der aus dem Samen des Zarathustra stammende Caoshyanc (»der da retten wird«, »der Heiland«), so bewirkt hier der aus dem Samen Davids stammende Messias die Auferstehung der Toten und das Weltgericht.

Wie Caoshyanc dabei von fünfzehn männlichen und fünfzehn weiblichen Gehilfen unterstützt wird, so verheißt Jesus seinen Jüngern, dass sie auf zwölf Stühlen sitzen werden und richten die zwölf Geschlechter Israels (Matth. 19,28), wie der Weltrichter dort die schwarzen von den weißen Schafen, so scheidet er hier, weniger treffend, die Schafe von den Böcken (Matth. 25,32). Diese Züge werden genügen, um. zu zeigen, dass hier nicht eine zufällige Analogie, sondern eine direkte Abhängigkeit vorliegt, und fragen wir, auf wessen Seite die Priorität zu suchen ist, so kann es nach dem, was oben (S. 133) über das Alter der iranischen Vorstellungen beigebracht wurde, sowie nach den zahlreichen Spuren persischer Einflüsse auf das Judentum, denen wir im weitern Verlaufe begegnet sind, wohl keinem Zweifel unterliegen, dass mit so vielem andern auch die eschatologischen Vorstellungen von Iran nach Palästina gedrungen und dort von Jesu übernommen worden sind.

Wenden wir uns von diesen auf Tradition beruhenden Vorstellungen zu der Frage, worin denn eigentlich das originelle Element der Lehre Jesu zu suchen ist, so kann es sich dabei nicht sowohl um Gedanken handeln, welche nie vorher ausgesprochen worden wären, als vielmehr um solche welche von Jesus aus dem unmittelbaren Eindrucke der äußern und innern Natur geschöpft wurden und in der Folge zu den tragenden Grundpfeilern der christlichen Weltanschauung ge¬worden sind. Was ist unter der reichen Fülle der in Jesu Reden ausgestreuten Keime das eigentlich Wesentliche, das Senfkorn, aus dem nachmals der Baum des Christentums erwachsen ist? - Um in Beantwortung dieser Frage einen methodisch sichern Weg einzuschlagen, müssen wir davon ausgehen, dass das Zentraldogma des Christentums, dass die spezifische Lehre, welche das Christentum vor allen andern Religionen auszeichnet, besteht in dem von Paulus ausgebildeten und vom vierten Evangelium fertig übernommenen Dogma der Wiedergeburt, nach welchem das Heil nicht von einem Tun und Lassen im einzelnen, sondern von einer völligen Umschaffung unseres natürlichen Wesens, wie sich der Apostel Paulus ausdrückt, zu suchen ist. Diese Lehre findet sich, von unsichern Anklängen abgesehen, beim historischen Jesus noch nicht, wohl aber lassen sich bei ihm die Keime nachweisen, aus welchen sie entsprungen ist, und diese Keime bestehen in zwei Gedanken, welche scheinbar in Widerspruch mit einander stehen, in einer Art Antinomie, aus welcher, wie aus Stahl und Stein der lebendige Feuerfunke, jene Grundlehre des Christentums von der Wiedergeburt hervorgegangen ist. Mit modernen Ausdrücken können wir jene beiden sich widerstreitenden Gedanken Jesu als seinen Determinismus und seinen kategorischen Imperativ bezeichnen.

1. Jesu Determinismus.
Zunächst kann es keinem Zweifel unterliegen, dass Jesus überzeugt war von der empirischen Unfreiheit des Willens, der zufolge jeder so handeln muss und nicht anders handeln kann, als es seiner Natur gemäß ist. Wie der Baum, so seine Früchte; wie der Mensch, so seine Taten. In der Bergpredigt heißt es Matth. 7,16-18:

»An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen: Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringet gute Früchte: aber ein fauler Baum bringet arge Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.«

Wie dieses Gleichnis zu verstehen sei, lehrt unmissverständlich der Zusammenhang Matth. 12, wo die Pharisäer einen besonders auffallenden Beweis ihrer Verstocktheit geben, indem sie behaupten, Jesus treibe die Teufel aus durch der Teufel Obersten, worauf Jesus erwidert, Matth. 12,33-35:

»Setzet entweder einen guten Baum, so wird die Frucht gut: oder setzet einen faulen Baum, so wird die Frucht faul. Denn an der Frucht erkennet man den Baum. Ihr Otterngezüchte, wie könnet ihr Gutes reden, dieweil ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Ein guter Mensch bringet Gutes hervor aus seinem guten Schatz des Herzens; und ein böser Mensch bringet Böses hervor aus seinem bösen Schatz.«

Das originelle und drastische Bild von dem Baum und den Früchten deutet darauf hin, dass Jesus die Überzeugung von der Unfreiheit des Willens, so oft sie auch schon vor ihm ausgesprochen sein mag, doch nicht von andern übernommen, sondern unmittelbar aus der Beobachtung des Treibens der Menschen um ihn her geschöpft hat. Zugleich aber fühlte er in sich die Gewissheit, welche jeder von uns in seinem Innern fühlt, dass unser Wille frei ist, nicht nur sofern wir tun können, was wir wollen, sondern sofern es nur auf uns ankommt, anders zu wollen, als wir wollen, ja sogar anders zu sein, als wir sind, und nur auf dieser in unserm tiefsten Innern lebenden Gewissheit kann es beruhen, dass Jesus in allen seinen Reden von den Menschen fordert, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, wie wir sogleich weiter auszuführen haben.

2. Jesu kategorischer Imperativ.
Alle Forderungen, welche Jesus an den Menschen stellt, lassen sich zusammenfassen in dem einen großen Imperativ, Matth. 5,48:

»Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist!«

Dieser Imperativ ist ein kategorischer, kein hypothetischer, denn so oft auch Jesus verheißt: es wird euch im Himmel wohl belohnt werden, so sind derartige Verheißungen bei ihm, ähnlich wie die Postulate bei Kant, doch nur eine Folge, nicht aber der Grund des sittlichen Wohlverhaltens; er sagt nicht: um dafür himmlischen Lohn zu erhalten, sondern weil es uns eine innere Stimme gebietet, sollen wir das Gute tun, und haben wir es getan, dann sollen wir sagen: »Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig sind« (Luc. 17,10). Entkleiden wir dieses Wort der semitischen Hülle, in welcher es auftritt, so besagt es: Nicht aus Hoffnung auf Lohn sollen wir das Gute tun, sondern nur darum, weil unser Gewissen es uns gebietet.

Der Widerspruch zwischen diesen kategorischen Forderungen Jesu und dem gleichzeitig von ihm vertretenen Determinismus verschärft sich noch, wenn wir andere Aussprüche Jesu ins Auge fassen. Zu den Alten ist gesagt: Du sollst nicht töten, sollst nicht ehebrechen, Jesus verbietet, den Bruder zu hassen, ein Weib anzusehen ihrer zu begehren; die Alten verbieten die böse Tat, Jesus auch die Gesinnung, aus der sie entspringt; die Alten verlangen: Du sollst anders handeln als du handelst; Jesus verlangt: Du sollst anders sein als du bist; dies aber ist nach der empirischen Naturordnung unmöglich, ebenso wie es unmöglich ist, unsere Feinde zu lieben, denjenigen zu helfen, welche uns schädigen, und somit indirekt unsere eigene Schädigung zu fördern. Ihren Höhepunkt erreichen diese Forderungen Jesu in dem großen Worte, dem größten, welches überhaupt von ihm gesprochen worden ist:

»Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst«
(Matth. 16,24).

Man kann alles verleugnen, sich von allem lossagen, nur nicht von sich selbst, wie ein Messer alles schneiden kann, nur nicht sich selbst. Erfüllbar wird die Forderung nur, wenn in dem Satze: »er verleugne sich selbst« Subjekt und Objekt verschieden sind, wenn derjenige, welcher sich lossagt, ein anderer ist als der, von welchem er sich lossagt; der letztere ist, mit dem Apostel Paulus zu reden, der alte Mensch, der alte Adam in uns, der erstere der neue Mensch, der Christus, welcher in uns Gestalt gewinnen soll; es ist der Mensch als Gott, welcher den Menschen als Menschen überwindet, es ist, wie Kant sagt, der Mensch als Ding an sich, welcher dem Menschen als Erscheinung das Gesetz gibt.

Wie dies möglich sei, darüber finden sich in Jesu Worten nur Andeutungen, wenn er Matth. 19,28 sagt: »Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich« oder Matth. 15,13: »Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzet, die werden ausgereutet.«

Das Zusammenbestehen der empirischen Unfreiheit mit der metaphysischen Freiheit unseres Wesens ist das letzte und höchste Resultat der Philosophie Kants, bei welchem es sich als notwendige Konsequenz seiner ganzen Weltanschauung ergibt. Jesus hat dieses Resultat vorweggenommen, indem er einerseits die äußere Notwendigkeit alles Geschehens erkannte, andererseits die innere Freiheit in der Selbstbestimmung unseres Wollens empfand und mit naiver Unbefangenheit aussprach. Wie diese Gegensätze zu versöhnen seien, darüber finden sich in Jesu Worten nur Andeutungen wie die erwähnten, deren weitere Entwicklung dem Apostel Paulus zufiel. Eine Verfolgung der von Jesu aufgedeckten Antinomie zwischen der Unfreiheit unseres dem Gesetze der Kausalität unterworfenen Handelns und der Freiheit des Willens als unserer ansichseienden, kausalitätlosen Wesenheit würde zu allen wesentlichen Grundanschauungen der Kantischen Philosophie geführt haben. S.189ff.
Aus: Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, Zweiter Band, Zweite Abteilung: Die Biblisch-Mittelalterliche Philosophie, Leipzig: F. A. Brockhaus. 1919