Paul Deussen (1845 – 1919)

  Deutscher Philosoph und Indologe, der ein Schulfreund Friedrich Nietzsches aus der »Schulpfortaer Zeit« war, wo sie gemeinsam dieselbe Klasse besuchten. Deussen war Anhänger Arthur Schopenhauers, dessen Werke er herausgab und Gründer der Schopenhauer-Gesellschaft. Durch seine einfühlsame Übersetzung und gekonnte Darstellung brachte er Wesen und Inhalt der indischen Philosophie dem interessierten deutschen Publikum näher. Folgende Textabschnitte stammen aus seinem mehrbändigen Werk »Allgemeine Geschichte der Philosophie«.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Kern und Schale des Christentums , 1. Der Kern des Christentums , 2. Die Schale des Christentums ,

>>>Christus
Quellen zur Geschichte Jesu , Leben und Wirken Jesu , Jesu Bewusstsein von Gott und von der Welt , Das Schicksal Jesu , Philosophische Elemente der Lehre Jesu

Montanus
,


Kern und Schale des Christentums.
Der Apostel sagt 2. Kor. 4,7: »wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen«. In anderm Sinne als dem, welchen der Zusammenhang der Stelle fordert, können wir diese Worte auf das ganze Christentum beziehen und an ihm einen unvergänglichen Schatz - von den vergänglichen Gefäßen, die ihn einschließen, einen unverlierbaren Kern echter philosophischer Wahrheit von einer sehr unphilosophischen Schale unterscheiden. Die fundamentale Bedeutung dieser Unterscheidung wird sich aus dem ganzen weitern Verlauf unserer Darstellung ergeben; es wird sich dabei zeigen, wie die Aneignung des Kernes mitsamt seiner Schale den Grundcharakter der Philosophie des Mittelalters, die Befreiung des Kernes von der ihn einschließenden Schale die Hauptaufgabe der neuern Philosophie gebildet hat; erstere hat nur zu oft über der Schale den Kern vernachlässigt, letztere nur zu oft mit der Schale auch den Kern weggeworfen und verloren.

1. Der Kern des Christentums.
Vier große Grundwahrheiten sind es, welche die Philosophie dem Christentum verdankt, und welche sie nie aufgeben kann, will sie nicht das Beste verlieren, was sie überhaupt besitzt.

Erste Wahrheit: Der Determinismus.
Dass der Wille des Menschen nicht frei, sondern durch die jedesmaligen Motive mit Notwendigkeit bestimmt ist, dass, mit andern Worten, dem die ganze Natur beherrschenden Kausalitätsgesetz auch das Wollen und Handeln des Menschen unterliegt, ist eine Grundwahrheit, deren Spuren sich zwar auch in dem indischen, griechischen und althebräischen Denken nachweisen lassen, welche aber erst von Jesus und Paulus mit voller Deutlichkeit ausgesprochen und zum Grundstein ihrer ganzen Weltanschauung gemacht worden ist. Wie der Baum, so seine Früchte, wie der Mensch, so seine Taten. Dieses von Jesu gebrauchte Bild lässt keinen Zweifel darüber, dass er die Unfreiheit des Willens mit, aller Deutlichkeit erkannt hat. Dieselbe Erkenntnis finden wir beim Apostel Paulus, nur dass sie sich bei ihm mit dem aus dem Alten Testament vererbten Theismus verbindet und dadurch zur Prädestination als ihrer Konsequenz führt. Wie der Mensch geschaffen ist, so ist er beschaffen, und wie er beschaffen ist, so muss er handeln. Frei sein kann nur ein solches Wesen, welches sich selbst erschaffen; welches die Beschaffenheit, nach der es mit Notwendigkeit handelt, aus sich selbst heraus geboren hat.

Zweite Wahrheit: Der kategorische Imperativ.
Jesus und Paulus lassen sich durch die von beiden klar erkannte Unfreiheit des Willens nicht davon abhalten, unermüdlich vom Menschen zu fordern, dass er das Gute vollbringe und das Böse meide. Diese Imperative, von denen Jesu Worte und Pauli Schriften voll sind, müssen als kategorische im Kantischen Sinne anerkannt werden. Zwar ist oft genug im Neuen Testament vom himmlischen Lohn, von der Aussicht auf einen seligen Endzustand die Rede; aber es ist etwas ganz anderes, ob dieser himmlische Lohn als Grund für das sittliche Wohlverhalten, oder ob er nur als eine Folge desselben erscheint. Letzteres ist auch bei Kant der Fall, wenn er in der Dialektik der praktischen Vernunft Unsterblichkeit und jenseitige Vergeltung als Postulate aufstellt, ohne dass darum jener Imperativ aufhört, ein kategorischer zu sein, welchen er formuliert in den Worten: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Diese Worte besagen nicht, dass wir die allgemeine Glückseligkeit befördern sollen, weil unsere eigene darin mit einbegriffen ist, sondern ihr wahrer und tieferer, wenn auch nicht überall von Kant streng festgehaltener Sinn ist: Handle nicht individuell, sondern überindividuell, handle so, wie der handeln würde, den du dir als den allgemeinen Gesetzgeber des Weltalls vorstellst. So aufgefasst trifft der Kantische Imperativ mit dem Jesu zusammen: »darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist«. Schärfer noch aber als bei Kant in dem Kapitel von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft tritt der wahre Inhalt dieses kategorischen Imperativs hervor in den Worten Jesu: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir« (Matth. 16,24), und in den Worten Pauli: »Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden« (Gal. 5,24). Unter Fleisch ist hier wie überall bei Paulus der Egoismus zu verstehen, welcher die Wurzel des ganzen natürlichen Menschen bildet, und aus welchem alle Handlungen desselben nach dem Kausalitätsgesetz mit Notwendigkeit hervorgehen, daher es Röm. 7,18 heißt: »Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, wohnet nichts Gutes.«

Dritte Wahrheit: Die Wiedergeburt.
Hieraus ergibt sich, dass nicht ein bloßes Tun und Lassen, sondern eine völlige Neuschöpfung, eine Umwandlung des alten Menschen in den neuen, wie Paulus, eine Wendung des Willens von der Bejahung zur Verneinung, wie Schopenhauer sagt, dasjenige ist; was dem aus den letzten metaphysischen Tiefen unserer Natur entspringenden kategorischen Imperativ Genüge leistet. Diese Wiedergeburt erscheint in der Darstellung bei Paulus wie bei Schopenhauer in der Regel als ein einmaliger Akt, indem beide in der begrifflichen Betrachtung zusammenrücken, was sich meist nur allmählich im Verlauf des ganzen empirischen Daseins vollzieht. Denn der höchste Zweck und der eigentliche Sinn dieses Daseins besteht darin, dass der sich bejahende Wille aus der Erkenntnis der Folgen dieser Bejahung an sich selbst und in der umgebenden Außenwelt nach und nach zu einer Läuterung des ihm eingeborenen Egoismus gelangt. »Aus der Erkenntnis entspringt die Erlösung« (jnanad mokshahv), wie die Inder sagen, aber diese Erkenntnis ist keine Erkenntnis, wie sie dein natürlichen Willen die Motive seines Handelns liefert, sondern ganz anderer Art, und kann durch keine Belehrung, kann überhaupt nicht durch natürliche Mittel bewirkt werden.

Vierte Wahrheit: Der Monergismus.
Wenn das Christentum in seinen hellsten Augenblicken und da, wo es konsequent ist, erklärt, dass diese Umwandlung, weil sie den ganzen natürlichen Menschen betrifft, nicht von diesem selbst, sondern von Gott, von dem, was das Christentum Gott nennt, gewirkt werde, so wird sich eine tiefere Philosophie dieser reinlichen Scheidung der natürlichen, d. h. egoistischen, und der moralischen, d. h, das eigene Selbst verleugnenden Handlungen, voll und ganz anschließen müssen. Beide sind so entgegengesetzt wie Tag und Nacht, wenn sie auch eben wie diese empirisch ununterscheidbar zusammenfließen und in einander übergehen. Jede Handlung, deren letzter Zweck die Beförderung des eigenen Wohles ist, entspringt aus dem Egoismus, dieser Wurzel des natürlichen Menschen, und jede Handlung, auch die kleinste, bei welcher das Bewusstsein vorhanden ist, unser eigenes Wohl einem höhern Zweck zum Opfer zu bringen, ist aus der natürlichen Ordnung der Dinge nicht abzuleiten oder zu begreifen. Sie wird, wie das Christentum sagt, durch Gott gewirkt. Aber das ist eben der tiefere Sinn des Gottesbegriffes, dass unser empirisches Dasein, welches den Gesetzen des Raumes, der Zeit und der Kausalität unterliegt, folglich egoistisch, sterblich und unfrei ist, nicht unser wahres, metaphysisches Wesen, sondern eine Abirrung von demselben bedeutet, aus welchem wir, wie eine innere Stimme fordert, zu unserer eigenen, an sich seienden, raumlosen, zeitlosen, kausalitätlosen, folglich sündlosen, unsterblichen und freien Wesenheit, mit andern Worten zu Gott zurückkehren sollen. Jede egoistische Handlung entspringt aus dem angeborenen Befangensein in Raum, Zeit und Kausalität, ist somit unfrei, und die mit dieser empiri¬schen Unfreiheit nach Kants Lehre zusammenbestehende Freiheit des Willens bedeutet nichts Geringeres, als die bei jeder Handlung unseres Lebens offenstehende Möglichkeit, dass wir imstande sind, wie ein Vogel aus der Schlinge, uns von dem ganzen phantasmagorischen Zyklus der empirischen Realität loszumachen und uns auf unsere an sich seiende, göttliche Natur zurückzuziehen, d. h, zu Gott zurückzukehren.

2. Die Schale des Christentums.
Dieser köstliche Kern ethischer und metaphysischer Grundwahrheiten findet sich im System der christlichen Lehre eingebettet in einer harten, auf der Beibehaltung des altsemitischen Realismus beruhenden Schale, welche mit den sichersten Resultaten der historischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Forschung in unversöhnlichem Widerspruche steht.

Ewig ist nach diesem System nicht die Welt, nicht einmal die Substanz, deren Unschaffbarkeit und Unvernichtbarkeit doch auf einem Grundgesetze a priori beruht, sondern allein Jahve; Ps. 90,2: »Ehe denn die Berge worden, und die Erde, und die Welt geschaffen worden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Diesen Gott denkt sich der Hebräer und, ihm folgend, das Christentum zwar allwissend und allmächtig, übrigens aber menschenähnlich; denn wenn es 1. Mos. 1,27 heißt: »Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde«, so bedeutet das, in die Sprache der Wissenschaft übersetzt: der Mensch stellt sich Gott nach dem Bilde eines Menschen vor, eine Hypothese, welche unter allen, die man je zur Erklärung der Welt aufgestellt hat, die verwegenste und unmöglichste ist. Dieser Gott beschließt zu einer bestimmten Zeit, man sieht nicht recht warum, nachdem eine unendliche Zeit ungenützt verstrichen ist, eine Welt zu schaffen. Im Verlaufe von sechs Tagen schafft er, wie es scheint, aus nichts (Hebr. 11,3) die Welt, d. h. die Erde und das Übrige. Sonne, Mond und alle Sterne scheinen nur da zu sein, um der kleinen Erde Wärme und Licht zu spenden. Von den möglicherweise, ja auf Grund der Analogie wahrscheinlicherweise vorhandenen Bewohnern anderer Planeten unseres Sonnensystems und der zahllosen übrigen Sonnensysteme ist keine Rede, noch weniger davon, ob auch sie einer Erlösung bedürfen und auf welche Weise sie zu derselben gelangen können. Wir stoßen hier sogleich auf das Grundgebrechen der christlichen Dogmatik; es besteht darin, dass sie Gott zum Prinzip der Welterlösung und zugleich zum Prinzip der Weltschöpfung macht.

Liegt diese Welt im Argen, ist der Fürst dieser Welt der Teufel, bedürfen wir einer Erlösung aus ihr, so kann sie nicht die Schöpfung eines allweisen, allmächtigen und allgütigen Gottes sein, ist sie hingegen das Werk eines solchen Gottes, so kann derselbe für das Böse und das Übel, dessen die Welt voll ist, nicht verantwortlich gemacht werden, wie es doch nach der alttestamentlichen, vom Christentum beibehaltenen Anschauung unvermeidlich ist. Die Annahme, dass Gott den Menschen geschaffen und ihm dabei die Freiheit des Willens verliehen habe, genügt nicht, um über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, denn warum verlieh Gott den Menschen dieses gefährliche Geschenk, da er doch vermöge seiner Allwissenheit voraussehen konnte, wie die Sache ablaufen würde, und vermöge seiner Allmacht imstande sein musste, eine andere Einrichtung zu treffen; aber eine Freiheit des Willens ist überhaupt weder vereinbar mit Gottes Allwissenheit, welche eine Vorausbestimmtheit alles Künftigen involviert, noch auch mit einer Schöpfung des Menschen durch Gott, denn alles, was geschaffen ist, muss auch irgendwie beschaffen sein und gemäß dieser Beschaffenheit nach dem Kausalitätsgesetz mit Notwendigkeit handeln. Frei kann, wie schon oben gesagt wurde, nur ein solches Wesen sein, welches sich selbst erschaffen, welches die Eigenschaften, nach denen es handelt und handeln muss, aus sich selbst heraus geboren hat.

Unbekümmert um diese Schwierigkeiten lehrt das System, dass Gott den Menschen frei geschaffen, und dass der erste Mensch in seiner Unerfahrenheit alsbald die ihm verliehene Freiheit benutzt hat, um eine Handlung des Ungehorsams zu begehen, welche nach menschlichen Begriffen ziemlich harmlos, als ein bloßer Akt des Vorwitzes erscheint, aber die fürchterlichsten Folgen hat, sofern durch denselben Adam mit allen seinen Nachkommen den Leiden des Daseins, dem ihnen nachfolgenden Tode welcher der Sold der Sünde ist, und nach dem Tode der ewigen Verdammnis anheimfällt. Um ihn aus dieser zu retten, sendet Gott seinen Sohn, welcher nach vorbedachtem Ratschluss als ein sündloser Mensch (eine contradictio in adjecto) geboren wird, leidet und stirbt, wodurch er für die Sünden der ganzen Menschheit die Genugtuung geleistet hat, welche Gottes Gerechtigkeit erfordert. Aber wenn es ungerecht ist, dem Sünder die verdiente Strafe zu erlassen, so wird, nach menschlichen Begriffen, die Ungerechtigkeit nicht ausgeglichen, sondern verdoppelt, wenn die verdiente Strafe von dem Schuldigen genommen und auf einen Unschuldigen gelegt wird.

Nach dieser Theorie, welche den Begriff einer materiellen Kompensation in einer nicht eben glücklichen Weise auf das Gebiet des Ethischen überträgt, sind durch den Opfertod des Sohnes Gottes die Menschen von der Gewalt des Teufels erlöst, doch besteht dabei die Bedingung, dass sie die ihnen gebotene Gnade im Glauben annehmen. Nach der tiefern Auffassung des Apostels Paulus ist dieser Glaube nicht eine bloß äußerliche Annahme der Heilstatsachen, sondern eine so tiefe Erfassung derselben, dass Kreuzigung und Auferstehung des Heilands für uns zu einer Kreuzigung unseres ganzen natürlichen Menschen und zu einer Auferstehung in einem neuen heiligen Lebenswandel wird, aber diese tiefere Auffassung wird in der christlichen Kirche und auch im Neuen Testament keineswegs immer festgehalten; vielmehr ist der Glaube sehr häufig, wie er schon Hebr. 11,1 definiert wird, nur eine »eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und nicht zweifelt an dem, das man nicht siehet«, eine Erklärung, welche am Ende doch auf ein Überzeugtsein ohne zureichende Gründe hinausläuft; wonach also dasjenige, vor dem wir im Leben wie in der Wissenschaft mit Recht gewarnt werden, irgend etwas als wahr anzunehmen, von dem wir uns nicht überzeugen können, hier als Bedingung der ewigen Seligkeit gefordert wird. Aber auch diese Bedingung kann der Mensch nicht aus eigener Kraft erfüllen, sondern es ist die Gnade Gottes, welche willkürlich den einen zum Glauben und Heil, den andern zur ewigen Verdammnis vorausbestimmt hat. Berechnet man nun, wie viele Menschen und ganze Völker der Erde in der vorchristlichen und nachchristlichen Zeit die Glaubensbotschaft nie haben vernehmen können, der Bewohner anderer Welten gar nicht zu gedenken, wie viele ferner schon hier auf der Erde durch einen gewissen Grad historischer und naturwissenschaftlicher Bildung unfähig geworden sind, den Kirchenglauben festzuhalten, so dürfte wohl nur ein kleiner Prozentsatz aller Menschen der Seligkeit teilhaftig werden, während alle übrigen dem ewigen Verderben verfallen.

So wunderlich nimmt sich bei vorurteilsfreier Betrachtung die äußere Schale aus, welche die ewigen Heilswahrheiten unserer Religion umschließt und nur zu oft verdunkelt, - und doch ist es besser, den Kern mitsamt der Schale festzuhalten, als, wie es heutzutage leider nur zu oft geschieht, mit der Schale auch den Kern wegzuwerfen und zu verlieren
. S.281ff.
Aus: Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, Zweiter Band, Zweite Abteilung: Die Biblisch-Mittelalterliche Philosophie, Leipzig: F. A. Brockhaus. 1919