Diogenes Laertios (1. Hälfte des 3. Jh. n. Chr.)

Alte Akademie in Athen

Griechischer Autor, der Einzelheiten über das Leben und die Lehre der griechischen Philosophen zu berichten weiß. Wertvoll - aber nicht unumstritten - als geschichtliche Quelle sind seine zehn Bücher über Leben und Lehre berühmter Philosophen


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Über den Ursprung der Philosophie
1 Das philosophische Studium sei, so sagen einige Autoren, bei den Nichtgriechen entstanden. Denn bei den Persern hat es die Magier, bei den Babyloniern und Assyrern die Chaldäer gegeben und die Gymnosophisten bei den Indern, bei den Kelten und Galliern die sogenannten Druiden und Heiligen Männer, wie Aristoteles in Magikos und Sotion in den Diadochai 23 mitteilen; ebenso lebte in Phönizien Ochos, in Thrakien Zamolxis und in Libyen Atlas. Die Ägypter hingegen behaupten, Hephaistos, Sohn des Nil, habe die Philosophie begründet, der die Priester und Propheten vorstehen.

2 Von da bis zum Makedonenkönig Alexander seien 48 863 Jahre vergangen und dabei 373 Sonnen- und 832 Mondfinsternisse geschehen.
Von den Magiern mit dem Perser Zoroaster als Ahnherrn bis zum Fall Trojas seien, wie der Platoniker Hermodor in Über die Wissenschaften angibt, 5000 Jahre vergangen; der Lyder Xanthos rechnet mit 6000 Jahren von Zoroaster bis zur Überquerung des Hellesponts durch Xerxes, worauf noch viele Magier bis zur Zerstörung des Perserreiches durch Alexander gefolgt seien wie Ostanes, Astrapsychos, Gobryas und Pazatas.

3 Doch diese Leute machen sich etwas vor, wenn sie den Nichtgriechen die Leistungen der Griechen zuschreiben, die nicht nur die Philosophie, sondern auch die Bildung der Menschheit begründet haben. Denn es gab in Athen Musaios und in Theben Linos; jener gilt als Sohn des Eumolpos und soll als erster eine Theogonie und einen Himmeisglobus geschaffen haben. Auch habe er behauptet, alles entstehe aus Einem und löse sich darin wieder auf. Gestorben sei er in Phaleron und habe als Grabinschrift dieses Distichon erhalten:

Hier unser diesem Grabmal hält fest die Erde Phalerons
Musaios‘ toten Leib, Eumolpos‘ lieben Sohn.

Nach dem Vater des Musaios aber heißen die Eumolpiden in Athen.

4 Linos soll ein Sohn des Hermes und der Muse Urania gewesen sein und eine Kosmogonie mit der Darstellung der Sonnen- und Mondbahn und der Entstehung der Tiere und Pflanzen verfaßt haben. Der Anfang seines Gedichtes lautet:

Einst gab es jene Zeit, da die Dinge zugleich all‘ entstanden.

Daran orientierte sich Anaxagoras mit seiner Lehre, dass alle Dinge zusammen waren und dann der Geist kam, sie zu organisieren. Linos sei in Euböa durch einen Pfeil Apollons getötet worden; seine Grabinschrift lautet:

Hier hat die Erde den toten Linos aus Theben empfangen,
Der Urania Sproß, die mit Kränzen geschmückt.

So ist denn die Philosophie von den Griechen ausgegangen, und auch das Wort selbst kennt keine Bezeichnung bei den Nichtgriechen.

5 Wer aber die Philosophie auf diese zurückführt, bezieht sich auf den Thraker Orpheus mit der Behauptung, dieser sei ein Philosoph und zwar der älteste gewesen. Ich weiß aber nicht, ob man einen Philosophen nennen sollte, wer solches von den Göttern erzählt hat, und wie einer zu bezeichnen ist, der den Göttern rücksichtslos jede menschliche Leidenschaft und selbst solche Schändlichkeiten zuschreibt, die sogar von Menschen nur selten begangen werden. Der Sage nach ist er von Frauen umgebracht worden; nach dem folgenden Epigramm zu Dion in Makedonien aber hat ihn ein Blitz erschlagen:

Hier begruben die Musen den Orpheus mit goldener Lyra,
Den mit flammendem Blitz Zeus in der Höhe erschlug.

6 Die den nichtgriechischen Ursprung der Philosophie befürworten, weisen auf deren besondere Formen bei den Völkern hin. So hätten die Gymnosophisten und Druiden ihre Philosophie, die Götter zu ehren, nichts Böses zu tun und Tapferkeit zu üben, in rätselhafter Weise wiedergegeben. Kleitarchos in Buch 12 bemerkt, daß die Gymnosophisten den Tod verachten, die Chaldäer aber sich mit Astronomie und Wahrsagerei befassen, während die Magier sich dem Götterkult mit Opfern und Gebeten so hingeben, als würden sie allein erhört. Sie erklären Wesen und Werden der Götter, die Feuer, Erde und Wasser seien. Kultbilder verdammen sie und besonders die Behauptung, es gebe männliche und weibliche Götter.

7 Sie diskutieren über Gerechtigkeit und halten die Feuerbestattung für sündhaft, den Geschlechtsverkehr mit Mutter und Tochter aber für gottgefällig, wie Sotion, Buch 23, sagt. Mantik und Wahrsagerei würden mit der Begründung praktiziert, dass sich die Götter ihnen doch offenbaren. Die Luft aber sei voll von Abbildern, die durch Ausdünstung abfließen und in die Augen der Scharfsichtigen eindringen. Prunk und Goldschmuck seien untersagt. Ihr Gewand sei weiß, ihr Bett ein Strohlager, die Nahrung Gemüsekraut, Käse und billiges Brot; sie hätten einen Rohrstock, mit dem sie, wie es heißt, den Käse zerstückeln, zum Munde führen und essen.

8 Vulgäre Magie kennen sie nicht, wie Aristoteles (Magikos) und Deinon (Historien 5) sagen; dieser deutet auch den Namen Zoroaster — ebenso wie Hermodor — als Sternverehrer. Aristoteles in Über die Philosophie 1 meint, die Magier seien älter als die Ägypter. Sie nehmen zwei Prinzipien an:

eine gute und eine böse Gottheit; jene wird Zeus bzw. Oromasdes [Ormuzd], diese Hades bzw. Areimanios [Ariman] genannt, was Hermipp (Über die Magier 1), Eudoxos (Periodos) und Theopomp (Philippika 8) bestätigen, der zugleich betont,

9 den Magiern zufolge würden die Menschen zu neuem Leben auferstehen und unsterblich sein, und die Existenz der Dinge werde durch beschwörende Nennung ihrer Namen garantiert. Das bezeugt auch Eudemos von Rhodos; Hekataios berichtet aber, daß ihnen zufolge die Götter entstanden seien. Nach Klearch von Soloi (Über die Erziehung) stammen die Gymnosophisten von den Magiern ab, nach anderen auch die Juden. Außerdem tadeln die Autoren, die über die Magier berichten, Herodot; denn Xerxes könne seinen Speer niemals gegen die Sonne geschleudert oder Fußfesseln ins Meer gesenkt haben, die doch bei den Magiern für Götter gelten. Dagegen hat er natürlich die Götterbilder zerstört.

10 Mit der Philosophie der Ägypter über Götter und Gerechtigkeit steht es folgendermaßen: Prinzip ist die Materie; aus ihr haben sich die vier Elemente gesondert und die verschiedenen Lebewesen gebildet; Götter sind Sonne und Mond, auch Osiris und Isis genannt und rätselhaft symbolisiert durch den Skarabäus, die Schlange, den Geier und anderes, wie Manetho (Physik-Epitome) und Hekataios (Philosophie der Ägypter 1) angeben. Sie errichten Statuen und Heiligtümer, weil die Göttergestalt ja unbekannt sei.

11 Der Kosmos sei geworden, vergänglich und kugelförmig, die Sterne seien Feuer, durch deren Stoffmischung die Dinge auf der Erde geschehen; der Mond verfinstere sich durch Eintritt in den Erdschatten; die Seele lebe nach dem Tode fort und gehe in andere Körper ein; Regen entstehe durch Luftveränderung. Auch das übrige erklärten sie auf natürliche Weise, wie Hekataios und Aristagoras berichten. Sie haben auch Grundsätze über die Gerechtigkeit aufgestellt, die sie auf Hermes zurückführen, und hielten die nützlichen Tiere für Götter. Sie selbst behaupten, die Geometrie, Astronomie und Arithmetik erfunden zu haben. So viel zur Erfindung der Philosophie.

12 Zuerst gebrauchte Pythagoras den Ausdruck »Philosophie« und nannte sich selbst einen Philosophen, als er in Sikyon mit Leon, dem Tyrannen von Sikyon oder von Phlius, disputierte, wie Herakleides Pontikos in Über die leblose Frau angibt: keiner nämlich sei weise außer Gott; voreilig jedoch sei sie Sophia genannt worden und ein Weiser, wer sie verkündete, insofern er sich durch geistige Größe hervorgetan hätte; Philosoph aber sei, wer die Weisheit zu erlangen wünsche. Die Weisen hießen auch Weisheitslehrer, und ebenso die Dichter; die Kratinos (Archilochoi) beim Lob Homers und Hesiods so nennt.

13 Für weise galten Thales, Solon, Periander, Bias, Pittakos, dazu der Skythe Anarchasis, Myson von Chenai, Pherekydes von Syros, Epimenides von Kreta. Einige nennen noch den Tyrannen Peisistratos. So weit die Weisen.

Die Philosophie ist zweifach entstanden: bei Anaximander, dem Schüler des Thales, und bei Pythagoras, den Pherekydes anleitete. Jene hieß ionische Philosophie, weil Thales Ionier aus Milet war und Anaximander unterwies; diese die italische wegen Pythagoras, der meist in Italien philosophierte.

14 Die ionische endet mit Kleitomachos, Chrysipp und Theophrast, die italische mit Epikur. Die Abfolge ist: Thales, Anaximander, Anaximenes, Anaxagoras, Archelaos, Sokrates, der die Ethik einführte, dann die Sokratiker und Platon, der Begründer der Alten Akademie, weiter Speusipp, Xenokrates, Polemon, Krantor, Krates, Arkesilaos, der Begründer der Mittleren Akademie, Lakydes, der Stifter der Neuen Akademie, Karneades und Kleitomachos, wie gesagt.

15 Mit Chrysipp hört folgende Reihe auf: Sokrates, Antisthenes, der Kyniker Diogenes, der Thebaner Krates, Zenon von Kition, Kleanthes und Chsysipp; zu Theophrast führt diese: Platon, Aristoteles, Theophrast. So endet die ionische Richtung.

Die italische Philosophie verläuft von Pherekydes über Pythagoras, dessen Sohn Telauges, Xenophanes, Parmenides, den Eleaten Zenon und dann Leukipp zu Demokrit, dem viele folgen, namentlich Nausiphanes und Naukydes, denen sich Epikur anschloß.

16 Die Philosophen sind entweder Dogmatiker oder Ephektiker. Dogmatiker sind sie, insofern sie die Dinge für erkennbar halten und deshalb auch erklären; die Ephektiker enthalten sich, weil sie unerkennbar seien, aller Erklärungen darüber. Einige hinterließen Aufzeichnungen, andere schrieben gar nichts, wie von Sokrates, Stilpon, Philippos, Menedemos, Pyrrhon, Theodoros, Karneades, Bryson, aber auch von Pyrhagoras und Ariston aus Chios berichtet wird, wenn man von einigen Briefen absieht. Manche verfassten nur eine Abhandlung, so Melissos, Parmenides, Anaxagoras. Viel schrieb Zenon, mehr Xenophanes, jeweils mehr Demokrit, Aristoteles, Epikur und Chrysipp.

17 Die Philosophen wurden teils nach ihren Poleis bezeichnet wie die Elier, Megariker, Eretrier und Kyrenaiker, teils nach den Lehrstätten wie die Akademiker und Stoiker, teils nach zufälligen Eigenschaften wie die Peripatetiker; aber auch nach Spottnamen wie die Kyniker, oder nach der Seelenverfassung wie etwa die Eudämoniker. Andere hießen nach ihren Intentionen wie die Wahrheitsliebhaber, die Widerlegungskünstler und die Analogiemethodiker; wieder andere nach dem Lehrer wie die Sokratiker und Epikureer und dergleichen. Soweit sie sich mit der Natur beschäftigen, heißen sie Naturphilosophen, die um die Ethik Bemühten Ethiker, Dialektiker aber sind, die sich mit begrifflichen Spitzfindigkeiten befassen.

18 Die drei Teile der Philosophie sind Naturphilosophie, Ethik und Dialektik. Die Naturphilosophie betrifft den Kosmos und seine Erscheinungen, die Ethik die Lebensform und die menschlichen Verhältnisse, die Dialektik aber die logischen Grundlagen beider Gebiete. Die Narurphilosophie dominierte bis Archelaos, die Ethik begann, wie erwähnt, mit Sokrates, die Dialektik mit dem Eleaten Zenon.

Zehn Richtungen der Ethik gab es: die akademische, kyrenaische, elische, megarische, kynische, eretrische, dialektische, peripatetische, stoische und epikureische.

19 Platon begründete die Alte Akademie, Arkesilaos die Mittlere, Lakydes die Neue, Aristipp von Kyrene die kyrenaische Richtung, Phaidon von Elis die elische, Eukleides von Megara die megarische, Antisthenes von Athen die kynische, Menedemos von Eretria die eretrische, Kleitomachos von Karthago die dialektische, Aristoteles aus Stageira die peripatetische, Zenon von Kition die stoische, während die epikureische nach Epikur selbst heißt.

Hippobotos (Über die philosophischen Richtungen) gibt neun Richtungen und Lebensweisen an: 1. die megarische; 2. die eretrische; 3. die kyrenaische; 4. die epikureische; 5. die annikerische; 6. die theodoreische; 7. die zenonische oder stoische; 8. die altakademische; 9. die peripatetische, nicht aber die kynische, elische und dialektische.

20 Die meisten zählen auch den Pyrrhonismus wegen seiner Unklarheit nicht als Richtung; einige jedoch meinen, er sei in einer Hinsicht eine Richtung, in anderer nicht. Dennoch dürfte er eine sein; denn als Richtung bezeichnen wir auch eine Philosophie, die einem bestimmten, an der Erscheinung orientierten Grundsatz folgt oder zu folgen scheint; danach können wir den Skeptizismus plausibel eine Richtung nennen. Wenn wir aber annehmen, eine Richtung sei die Anerkennung logisch zusammenhängender Lehren, dann dürften wir sie wohl nicht mehr so nennen; denn er hat keine Lehren. Soweit also die Anfänge der Philosophie, ihre Sukzessionslinien, ihre Teile und Richtungen.

21 Vor kurzem wurde noch eine eklektische Richtung durch Potamon von Alexandrien begründet, der seine Ansichten aus allen Richtungen auswählte. Im Werk Philosophische Grundzüge nimmt er folgende Wahrheitskriterien an: dasjenige, das urteilt, d. h. der Verstand, und dasjenige, aufgrund dessen geurteilt wird, wie die genaueste Vorstellung. Prinzipien des Alls seien die Materie, das Wirkende, Qualität und Raum, d. h. das Woraus, Wodurch, Wie und Wo. Das höchste Ziel aber, auf das sich alles bezieht, ist ein Leben in der Vollkommenheit aller Vorzüge einschließlich der dem Körper von Natur aus zugehörigen und der äußeren.

Aus: Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen
Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Fritz Jürß.
Reclams Universalbibliothek Nr. 6996 (S. 37-46)
© 1998 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages