Dschuang Dsi, auch Tschuang-Tse (365v.C. – 290 v.C.)

  Chinesischer Mystiker und Philosoph, der der konfuzianischen Schule kritisch gegenüber- und dem Taoismus Lao Tse’s geistig nahestand. Die Widersprüche und die relativen Unterschiede der Gegensätze verflüchtigen sich in der mystischen Schau der alles durchdringenden Einheit, die allem Bestehenden zugrunde liegt. »im SINN sind diese Gegensätze aufgehoben in der Einheit. In ihrer Geschiedenheit haben sie ihr Bestehen; durch ihr Bestehen kommen sie zum Vergehen. Alle Dinge, die jenseits sind vom Bestehen und Vergehen, kehren zurück zur Aufhebung in der Einheit. Aber nur der Schauende kennt diese Aufhebung in der Einheit«. Die Erkenntnis dieser Wahrheit kann nur durch die Erleuchtung innerhalb der selbstlosen Stille einer meditativen Versenkung erlangt werden, in der es dem Geiste gelingt, sich in Gänze von seiner körperlichen Ich-Bezogenheit zu lösen. Dschuang Dsi wird heute als der bedeutendste Vertreter der taostischen Mystik angesehen.

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Inhaltsverzeichnis
Ausgleich der Weltanschauungen (Buch II)
0. Einleitung und Erläuterung der einzelnen Abschnitte (von Richard Wilhelm)
1. Das Orgelspiel des Himmels
2. Verstrickungen der Außenwelt
3. Sub Specie Aeternitatis (Im Lichte der Ewigkeit)
4. Der Sinn und die Welt
5. Die ideelle Welt und die Wirklichkeit
6. Begriff und Sein
7. Jenseits der Unterschiede
8. Wer hat recht?

Der höchste Mensch

Der höchste Mensch I (Buch XIII)
Der höchste Mensch II (Buch XXI)
Das Totenlied der Übermenschen (Buch VI)
Die Standpunkte und der Standpunkt des berufenen Heiligen (Buch XV)

Die Verbesserung der Natur (Buch XVI)
1. Die Quelle der Tugenden
2. Stufen des Verfalls
3. Weltverlorenheit
4. Das wahre Ziel


Ausgleich der Weltanschauungen (Buch II)
0. Einleitung und Erläuterung der einzelnen Abschnitte (von Richard Wilhelm)
Der Ausgleich der Weltanschauungen, der in diesem Buche gegeben wird, ist eine großzügige Auseinandersetzung des objektiven Idealismus Dschuang Dsi‘s mit den philosophischen Gedanken seiner Zeit. Das Buch ist eines der berühmtesten in Dschuang Dsi‘s Werk. Allerdings gehört es mit zu der schwersten Kost der chinesischen philosophischen Literatur. Der Grundgedanke ist klar. Gegenüber den vielen Weltanschauungen, die alle von einem bestimmten Punkt in der Wirklichkeit ausgehen und darum notwendig sich in unlösbare Widersprüche verwickeln, sieht er die Lösung nicht in dem Zusammenordnen der einzelnen Fälle nach Ähnlichkeit oder Gleichheit, das für ihn immer etwas bloß Willkürliches hat, sondern in dem großen Zusammenschauen aller Lebenserfahrungen als einzelner Teile in dem großen Weltzusammenhang. Dieser Weltzusammenhang ist nicht etwas Jenseitiges. Der Rekurs in das Jenseits der Zeit und des räumlichen Daseins führt nur zu Denkwidersprüchen, und auch die feinste Abstraktion führt nicht über die Schwierigkeiten hinaus. Vielmehr ist die Lösung gegeben in der Einheit, die alles Bestehende durchdringt und umfaßt, und in der sich die Widersprüche restlos zusammenordnen lassen.

1. Das Orgelspiel des Himmels
Der 1. Abschnitt gibt die Lösung in bildhafter Anschauung. Das Brausen des Windes und seine verschiedenartigen Äußerungen, dieses Orgelspiel der Erde, geht in all seiner Mannigfaltigkeit zurück auf eine einheitliche Kraft, die alle diese Äußerungen erst ermöglicht. Diese überweltliche Kraft inmitten und hinter den Kräften der Natur wird in dem Bilde geschildert, das auch uns geläufig ist durch die Stelle im Johannesevangelium: »Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt.«

Meister Ki von Südweiler saß, den Kopf in den Händen, über seinen Tisch gebeugt da. Er blickte zum Himmel auf und atmete, abwesend, als hätte er die Welt um sich verloren.

Ein Schüler von ihm, der dienend vor ihm stand, sprach: »Was geht hier vor? Kann man wirklich den Leib erstarren machen wie dürres Holz und alle Gedanken auslöschen wie tote Asche? Ihr seid so anders, Meister, als ich Euch sonst über Euren Tisch gebeugt erblickte.«

Meister Ki sprach: »Es ist ganz gut, daß du darüber fragst. Heute habe ich mein Ich begraben. Weißt du, was das heißt?
Du hast vielleicht der Menschen Orgelspiel gehört, allein der Erde Orgelspiel noch nicht vernommen. Du hast vielleicht der Erde Orgelspiel gehört, allein des Himmels Orgelspiel noch nicht vernommen.«


Der Jünger sprach: »Darf ich fragen, wie das zugeht?«

Meister Ki sprach: »Die große Natur stößt ihren Atem aus, man nennt ihn Wind. Jetzt eben bläst er nicht; bläst er aber, so ertönen heftig alle Löcher. Hast du noch nie dieses Brausen vernommen? Der Bergwälder steile Hänge, uralter Bäume Höhlungen und Löcher: sie sind wie Nasen, wie Mäuler, wie Ohren, wie Dachgestühl, wie Ringe, wie Mörser, wie Pfützen, wie Wasserlachen. Da zischt es, da schwirrt es, da schilt es, da schnauft es, da ruft es, da klagt es, da dröhnt es, da kracht es. Der Anlaut klingt schrill, ihm folgen keuchende Töne. Wenn der Wind sanft weht, gibt es leise Harmonien; wenn ein Wirbelsturm sich erhebt, so gibt es starke Harmonien. Wenn dann der grause Sturm sich legt, so stehen alle Öffnungen leer. Hast du noch nie gesehen, wie dann alles leise nachzittert und webt?«

Der Jünger sprach: »Der Erde Orgelspiel kommt also einfach aus den verschiedenen Öffnungen, wie der Menschen Orgelspiel aus gleichgereihten Röhren kommt. Aber darf ich fragen: wie ist das Orgelspiel des Himmels?«

Meister Ki sprach: »Das bläst auf tausenderlei verschiedene Arten. Aber hinter all dem steht noch eine treibende Kraft, die macht, daß jene Klänge sich enden, und daß sie alle sich erheben. Diese treibende Kraft: wer ist es?«

2. Verstrickungen der Außenwelt
Der 2. Abschnitt stellt dann das eigentliche Problem in seiner vollen Schärfe auf: die Relativität auch des inneren Lebens infolge seiner Verstrickung mir der Außenwelt, einer Verstrickung, die doch nicht etwa willkürlich vermieden werden kann, sondern eine selbstverständliche Äußerung alles Lebens ist. Diese Verstrickung bleibt bestehen, trotzdem das geistige Prinzip als ordnende und beherrschende Einheit in der Form eines Postulats festgehalten werden muß. Da es sich dabei aber um eine dem Verstand unerreichbare Vernunftidee handelt, so dient dieses Postulat vielmehr nur dazu, den Konflikt zu verschärfen, und unentwirrbares Dunkel scheint jeden Lösungsversuch unmöglich zu machen. Dem Abschnitt ist eine Art Motto vorangestellt, das sich höchst wahrscheinlich auf alle folgenden Abschnitte mit bezieht.

»Große Weisheit macht sicher und frei,
Kleine Weisheit ist Tyrannei.
Große Rede: glänzende Pracht.
Kleine Rede nur Worte macht.«


Im Schlafe pflegt die Seele Verkehr. Im Wachen öffnet sich das körperliche Leben wieder und beschäftigt sich mit dem, was ihm begegnet, und die widerstreitenden Gefühle erheben sich täglich im Herzen. Die Menschen sind verstrickt, hinterlistig, verborgen. Aus Furcht vor kleinen Übeln beben sie ängstlich; ist Großes zu fürchten, so werden sie gänzlich verstrickt. Bald fahren sie zu, wie der Bolzen von der Armbrust schnellt: das nennt man Richter sein über Recht und Unrecht. Bald verharren sie auf etwas wie auf einem beschworenen Vertrag: das nennt man seine Überlegenheit festhalten. Unaufhaltsam wie das Sterben im Herbst und Winter zehren sie täglich immer mehr ihre Kraft aus. Sie ertrinken in ihren Taten, also daß jede Umkehr für sie unmöglich wird. Sie sind zur Unfreiheit verdammt, wie mit Stricken gebunden; so sind sie eingefahren in ihre alten Geleise. Und ist das Herz dann erst dem Tode nahe, läßt es sich nicht zum lichten Leben wiederbringen. Lust und Zorn, Trauer und Freude, Sorgen und Seufzer, Unbeständigkeit und Zögern, Genußsucht und Unmäßigkeit, Hingegebensein an die Welt und Hochmut entstehen wie die Töne in hohlen Röhren, wie feuchte Wärme Pilze erzeugt. Tag und Nacht lösen sie einander ab und tauchen auf, ohne daß (die Menschen) erkennen, woher sie sprossen. Genug! Genug! Früh und spät besitzen wir jenes Etwas, von dem sie in ihrem Entstehen abhängig sind. Ohne jenes Etwas gibt es kein Ich. Ohne Ich gibt es nichts, das sie erfassen könnte. So ist es uns also ganz nahe, wenn wir auch nicht seine Wirkungsart erkennen können. Man muß wohl einen wahren Leiter annehmen, obwohl wir keine äußere Spur von ihm zu erfassen vermögen. Man kann entsprechend seinem eigenen Glauben an ihn handeln, aber nicht seine Gestalt sehen. Er hat Bewußtsein, aber hat keine Gestalt.

Da ist mein Leib mit allen seinen Gliedern und Teilen. Welchem nun (von euch Gliedern) soll ich mich am nächsten fühlen? Ihr alle möchtet es gerne? — Dann haben also (die eigenen Körperteile) wohl auch ein Selbst? So sind sie mir gegenüber wie Knechte und Mägde. Aber Knechte und Mägde können nicht einander regieren. Oder besteht zwischen ihnen das Verhältnis von Herren und Knechten? Es muß aber wohl noch ein wahrer Herr da sein. Ob man sein Wesen zu ergründen sucht oder nicht, das fördert oder beeinträchtigt nicht seine Wahrheit. Von dem Zeitpunkt ab, da wir eine festgeprägte Form empfangen haben, bleibt er bestehen bis zum Ende. Aber wenn wir uns mit der Außenwelt beständig ritzen und reiben, so geht (das Leben) zu Ende, als flögen wir dahin, und niemand kann es aufhalten. Ist das nicht traurig? Das ganze Leben sich abmühen, ohne einen fertigen Erfolg zu sehen, sich quälen in erschöpfendem Dienst und nicht wissen, wohin es führt: ist das nicht zu beklagen? Die Leute reden von Unsterblichkeit, aber was hat das für einen Wert? Wenn der Leib sich auflöst, so wird auch die Seele davon betroffen; ist das nicht aufs tiefste zu beklagen? Ist das Menschenleben wirklich so vom Dunkel umhüllt, oder bin ich nur allein im Dunkeln? Und gibt es andere, die nicht im Dunkel sind?

3. Sub Specie Aeternitatis (Im Lichte der Ewigkeit)
Der 3. Abschnitt geht nun energisch vor gegen alle Lösungsversuche der Zeitphilosophie. Auf die Stufe des naiven Denkens war in China ähnlich wie in Griechenland eine sophi¬stische Zeit gefolgt, die die Souveränität des denkenden Subjekts proklamierte und ihre Weisheit in die Form paradoxer Sätze zu kleiden liebte. Ein solches Paradoxon ist der Satz: »Heute mache ich mich auf ins Südland und bin doch schon lange dort (sc. weil mit dem Entschluß zur Reise der Geist schon am Ziel ist — Priorität des Zwecks - und die darauf folgende Ausführung des Entschlusses nur nachträglich die kausale Reihenfolge hinzubringt).« Dieser zersetzenden Auflösung tritt Dschuang Dsi ähnlich energisch gegenüber wie Kant dem Skeptizismus eines Hume, da durch eine derartige Zersetzung das Denken in Gefahr ist, jeden Sinn zu verlieren. Wie aber läßt es sich überhaupt erklären, daß die verschiedenen Denker zu so verschiedenen Resultaten kommen? Der Grund ist die subjektive Bedingtheit, infolge deren jeder nur von dem einmal eingenommenen »Standpunkt« aus seine Urteile fällt. Darum haben andere den Versuch gemacht, die Gegensätze zeitlich hintereinander zu ordnen, so daß entgegengesetzte Prädikate von derselben Substanz ausgesagt werden können, nur eben zu verschiedenen Zeiten. Aber auch dieser Versuch führt über die Relativität nicht hinaus. Deshalb ist die Lösung zu suchen im Anschauen dieser Gegensätze sub specie aeternitatis. Von dieser Anschauung aus lassen sich jeweils die beiden Seiten eines Gegensatzes in ihrer ewigen
Bedeutung würdigen. Das ist die »Erleuchtung«, in der Dschuang Dsi den Ausweg findet.


Wer sich an seine festgeprägten Gefühle hält und sich danach richtet, der ist mit sich immer im reinen. Was braucht der sich auf andrer Erkenntnisse zu verlassen? Er wird immer (bestimmte Ansichten) haben, die sich ganz von selbst in seiner Seele bilden. Auch der Tor hat solche Ansichten. Wer aber (dieses naive Selbstbewußtsein verloren hat und) ohne solche festgeprägten Gefühle sich über Recht und Unrecht auslassen will, der macht es, wie es in dem Rätselworte heißt: »Heute mache ich mich auf ins Südland und bin doch schon lange dort«. Ein solcher gibt das Nichtwirkliche für wirklich aus. Wenn aber einer das Nichtwirkliche für wirklich ausgibt, dann hört auch für den größten Weisen die Erkenntnis auf. Was soll ich mich da noch weiter damit beschäftigen?

Worte sind doch kein bloßer Hauch! Wer redet, muß auch etwas zu sagen haben. Wenn einer alles, was er redet, absichtlich im Unbestimmten läßt: hat er dann wirklich etwas zu sagen, oder hat er nicht vielmehr nicht zu sagen? Er meint wohl, daß seine Worte verschieden sind vom Piepen eines Kückens. Ist da wirklich ein solcher Unterschied, oder ist da kein Unterschied?

Wie kann aber der SINN des Daseins so verdunkelt werden, daß es einen wahren und einen falschen gibt? Wie können die Worte so umnebelt werden, daß es Recht und Unrecht gibt? Wohin soll denn der SINN des Daseins gehen, so daß er zu existieren aufhörte? Wie können denn Worte überhaupt existieren, während sie eine Unmöglichkeit enthalten? Der SINN wird verdunkelt, wenn man nur kleine fertige Ausschnitte des Daseins ins Auge faßt; die Worte werden umnebelt durch Phrasenschmuck.

So kommt es zu den gegenseitigen Verurteilungen der verschiedenen Philosophenschulen. Was der andere verneint, bejaht man; was jener bejaht, verneint man. Weit besser als das Streben, jedem Nein des anderen ein Ja und jedem Ja des andern ein Nein entgegenzusetzen, ist der Weg der Erleuchtung. Es gibt kein Ding, das nicht vom Standpunkt des Nicht-Ichs aus angesehen werden könnte. Es gibt auch kein Ding, das nicht vom Standpunkt des Ichs aus angesehen werden könnte. Nur daß ich die Dinge vom Standpunkt des Nicht-Ichs aus nicht sehen kann, sondern nur vorstellungsmäßig darum wissen kann. So wird nun von Menschen behauptet, daß das Nicht-Ich aus dem Ich hervorgehe und daß das Ich seinerseits vom Nicht-Ich bedingt werde. Das ist die Theorie von der gegenseitigen Erzeugung dieser Gegensätze in der Zeit. Nun wohl! So kommt man darauf, daß das, was nun lebt, im Lauf der Zeit stirbt; was nun tot ist, im Lauf der Zeit lebt; was nun möglich ist, im Lauf der Zeit unmöglich wird; was nun unmöglich ist, im Lauf der Zeit möglich wird; und daß dadurch die Bejahung und die Verneinung einer Behauptung jeweils begründet wird. (Damit kommt man aber über die Relativität nicht hinaus.) Deshalb macht sich der Berufene frei von dieser Betrachtungsweise und sieht die Dinge an im Lichte der Ewigkeit. Allerdings bleibt er subjektiv bedingt. Aber das Ich ist auf diese Weise zugleich Nicht-Ich, das Nicht-Ich ist auf diese Weise zugleich Ich. So zeigt sich, daß von zwei entgegengesetzten Betrachtungsweisen jede in gewissem Sinne Recht und in gewissem Sinne Unrecht hat. Gibt es nun auf diesem Standpunkt in Wahrheit noch diesen Unterschied von Ich und Nicht-Ich, oder ist in Wahrheit dieser Unterschied von Ich und Nicht-Ich aufgehoben? Der Zustand, wo Ich und Nicht-Ich keinen Gegensatz mehr bilden, heißt der Angelpunkt des SINNS. Das ist der Mittelpunkt, um den sich nun die Gegensätze drehen können, so daß jeder seine Berechtigung im Unendlichen findet. Auf diese Weise hat sowohl das Ja als das Nein unendliche Bedeutung. Darum habe ich gesagt: es gibt keinen besseren Weg als die Erleuchtung.

4. Der Sinn und die Welt
Der 4. Abschnitt beschäftigt sich mit den logischen Künsten der Philosophen, die einen Ausweg aus den Schwierigkeiten darin suchten, daß sie die Begriffe von den Gegenständen völlig loslösen wollten, indem sie z. B. behaupteten, erst müsse der Begriff des Fingers da sein, ehe ein Ding als Finger bezeichnet werden könne. Ohne den Begriff des Fingers gebe es keinen Finger. Oder: der Begriff des Pferdes beziehe sich nur auf die Gestalt; die weiße Farbe sei etwas, das zu dem Begriff des Pferdes hinzutrete, so daß ein weißes Pferd nicht unter den Begriff des Pferdes falle. Auf diese Weise wurde ebenfalls alles Bestehende auf gelöst in ein äußerliches Ineinandersein getrennter Begriffe. Was Dschuang Dsi an diesen Methoden aussetzt, ist einerseits, daß sie in sophistischer Weise konträren und kontradiktorischen Gegensatz verwechselten, andrerseits, daß sie dem Bestand der Erfahrung mit subjektiver Willkürlichkeit gegenübertraten und dadurch bloß Verwirrung schufen. Dagegen sind nach seiner Anschauung die Gegensätze innerhalb der Welt der Erfahrung anzuerkennen und können erst in einer höheren Einheit aufgehoben werden. Die Gegensätze von einem Einzelstandpunkt innerhalb der Erfahrung durch bloße Abstraktion aufheben zu wollen, führt nur zur Selbsttäuschung, wie an der aus Liä Dsi genommenen Geschichte von der Affenfütterung erläutert wird.

Mit Hilfe (des Begriffs) eines Fingers nachweisen zu wollen, daß ein (als) Finger (bezeichnetes Ding) kein Finger ist, kommt der Methode nicht gleich, die mit Hilfe (des Begriffs) des Nicht-Fingers nachweist, daß ein (als) Finger (bezeichnetes Ding) kein Finger ist. Mit Hilfe (des Begriffs) eines Pferdes nachweisen zu wollen, daß ein (als) Pferd (bezeichnetes Ding) kein Pferd ist, kommt der Methode nicht gleich, die mit Hilfe (des Begriffs) des Nicht-Pferdes nachweist, daß ein (als) Pferd (bezeichnetes Ding) kein Pferd ist. Mit der ganzen Welt verhält es sich ebenso wie mit dem einen Finger; mit allen Dingen verhält es sich ebenso wie mit dem einen Pferd.

Was möglich ist, ist möglich; was unmöglich ist, ist unmöglich. Ein Weg bildet sich dadurch, daß er begangen wird; die Dinge erhalten ihr So-Sein dadurch, daß sie genannt werden. Worin besteht das So-Sein? Das So-Sein besteht eben im So-Sein. Worin besteht das Nicht-So-Sein? Das Nicht-So-Sein besteht eben im Nicht-So-Sein. Die Dinge haben notwendig ihr So-Sein; die Dinge haben notwendig ihre Möglichkeit. Kein Ding ist ohne So-Sein; kein Ding ist ohne Möglichkeit.

Darum, was vom Standpunkt des Ichs aus ein Querbalken ist oder ein Längsbalken, Häßlichkeit oder Schönheit, Größe oder Gemeinheit, Übereinstimmung oder Abweichung: im SINN sind diese Gegensätze aufgehoben in der Einheit. In ihrer Geschiedenheit haben sie ihr Bestehen; durch ihr Bestehen kommen sie zum Vergehen. Alle Dinge, die jenseits sind vom Bestehen und Vergehen, kehren zurück zur Auf¬hebung in der Einheit. Aber nur der Schauende kennt diese Aufhebung in der Einheit. Er entfaltet keine Tätigkeit vom Standpunkt seines Ichs aus, sondern beruhigt sich beim allge¬mein Anerkannten. Das allgemein Anerkannte ermöglicht (ungehinderte Tätigkeit), diese Tätigkeit ermöglicht Fortschritt ohne Haften, dieser Fortschritt führt zur Erlangung des LEBENS; wer das LEBEN erlangt hat, der ist am Ziel. Zu Ende ist für ihn die subjektive Bedingtheit. Er ist zu Ende und weiß nichts mehr vom So-Sein; das ist der SINN.

Wer seinen Geist abmüht, um die Einheit (aller Dinge) zu erklären, ohne ihre Gemeinsamkeit zu erkennen, dem geht‘s, wie es in der Geschichte heißt: »Morgens drei«. Was bedeutet dieses »Morgens drei«? Es heißt: Ein Affenvater brachte (seinen Affen) Stroh und sprach: »Morgens drei und abends vier«. Da wurden die Affen alle böse. Da sprach er: »Dann also morgens vier und abends drei«. Da freuten sich die Affen alle. Ohne daß sich begrifflich oder sachlich etwas geändert hätte, äußerte sich Freude oder Zorn bei ihnen. Die Affen waren eben auch in subjektiver Bedingtheit befangen. Also macht es der Berufene in seinem Verkehr mit den Menschen. Er befriedigt sie mit Ja und Nein, während er innerlich ruht im Ausgleich des Himmels: das heißt beides gelten lassen.

5. Die ideelle Welt und die Wirklichkeit
Der 5. Abschnitt führt denselben Gedanken in anderer Form aus. Die ideale Welt jenseits der Sonderbestimmtheiten erhält ihre Wirklichkeit nur durch diese Bestimmtheiten, ähnlich wie die im Geist erlauschte Musik an sich der äußerlich bestimmten Darstellung auf Musikinstrumenten bedarf, um in die erfahrbare Welt einzutreten. Jeder Versuch, von einem einseitig subjektiven Standpunkt aus Verständigung mit der Außenwelt zu finden, muß notwendig scheitern. Die Ideen sind der verstandesmäßigen Erkenntnis unzugänglich. Der Flimmerglanz der Ahnung ist das einzige Erreichbare, während der Erfahrung gegenüber die Beruhigung beim allgemein Anerkannten der einzige Weg ist, um mit der Umwelt auszukommen.

Die Männer des Altertums führten ihre Erkenntnis weiter bis zu einem letzten Ausgangspunkt. Was war dieser Ausgangspunkt? — Sie nahmen einen Zustand an, da die Existenz der Dinge noch nicht begonnen hatte. Damit ist in der Tat der äußerste Punkt erreicht, über den man nicht hinausgehen kann. Die nächste Annahme war, daß es zwar Dinge gab, aber ihre Getrenntheit noch nicht begonnen hatte. Die nächste Annahme war, daß es zwar in gewissem Sinn Getrenntheiten gab, aber Bejahung und Verneinung noch nicht begonnen hatten. Durch die Entfaltung von Bejahung und Verneinung verblaßte der SINN. Durch die Verblassung des SINNS verwirklichte sich einseitige Zuneigung. Gibt es nun in Wahrheit eine solche Verwirklichung und Verblassung, oder gibt es in Wahrheit keine solche Verwirklichung und Verblassung? Die Welt der Wirklichkeit, in der der SINN verblaßt ist, sie gleicht der Musik, die den Saiten entströmt. Die Welt aber jenseits der Wirklichkeit und Verblassung des SINNS, sie gleicht der Musik, die nicht mit Saiten hervorgebracht wird.

Es gab so manche Meister, die es weit gebracht hatten in ihrer Kunst und sich ihr ganzes Leben damit beschäftigten. Sie hatten ein Interesse daran, anders zu sein als die andern, und hatten ein Interesse daran, die andern aufzuklären. Aber die andern besaßen nicht die Klarheit, daß sie hätten aufgeklärt werden können. Darum verloren sie sich schließlich in die Irrtümer logischer Spitzfindigkeiten, und ihre Schüler verstrickten sich schließlich in die Fäden ihrer Worte und brachten es ihr ganzes Leben lang zu nichts Wirklichem. Wenn man das als wirklichen (Erfolg) bezeichnen kann, so ist auch mein Ich etwas Wirkliches. Wenn man das aber nicht als wirklichen (Erfolg) bezeichnen kann, so sind Ich und Welt beide nichts Wirkliches. Darum ist es der Flimmerglanz der Ahnung, was der Berufene ersehnt. Er entfaltet keine Tätigkeit vom Standpunkt des Ichs aus, sondern beruhigt sich beim allgemein Anerkannten. Das ist der Weg zu (wahrer) Erleuchtung.

6. Begriff und Sein
Der 6. Abschnitt weist die Widersprüche nach, die daraus entstehen, wenn man die Relativität dadurch zu beseitigen sucht, daß man das Einzelding als etwas Absolutes nimmt. So kommt man wohl dahin, daß jedes Ding absolut groß oder klein ist, daß das Ich, das die Welt setzt, mit der Welt identifiziert werden kann. Aber da alle diese Denkoperationen mit Hilfe der begrifflichen Bezeichnungen ausgeführt werden müssen, so kommt durch den Begriff immer eine Zweiheit zu den letzten gedachten Einheiten hinzu, so daß man sich in unlösbaren Widersprüchen verfängt, wenn man auf diese Weise den Begriff dem Sein beiordnet. Es handelt sich hier um eine ähnliche Argumentation wie die, mit der Kant der Möglichkeit eines ontologischen Gottesbeweises gegenübertrat.

Nun gibt es noch eine Theorie. Ich weiß nicht, ob sie mit den eben genannten von derselben Art ist oder nicht. Aber einerlei, ob sie von derselben Art ist oder nicht, sie ist eine Theorie neben andern und daher von jenen andern nicht verschieden. Wie dem auch sei, wir wollen versuchen, sie auszusprechen.

Gibt es einen Anfang, so gibt es auch eine Zeit, da dieser Anfang noch nicht war, und weiterhin eine Zeit, die der Zeit, da dieser Anfang noch nicht war, vorangeht.

Gibt es Sein, so geht ihm das Nicht-Sein voran, und diesem Nicht-Sein geht eine Zeit voran, da auch das Nicht-Sein noch nicht angefangen hatte, und weiterhin eine Zeit, da der Nicht-Anfang des Nicht-Seins noch nicht angefangen hatte.

Unvermittelt tritt nun das Nicht-Sein in die Existenz, ohne daß man sagen könnte, ob dieses Sein des Nicht-Seins dem Sein zuzurechnen ist oder dem Nicht-Sein. Nun habe ich aber einen Ausdruck dafür, ohne daß man sagen könnte, ob das, was ich damit ausdrücke, in Wahrheit einen Sinn hat oder keinen Sinn hat. Hierher gehören jene Aussprüche wie: »Auf der ganzen Welt gibt es nichts Größeres als die Spitze eines Flaumhaares« und: »Der Große Berg ist klein«. »Es gibt nichts, das ein höheres Alter hätte als ein totgeborenes Kind« und: »Der alte Großvater Pong (der seine sechshundert Jahre gelebt hat) ist in frühester Jugend gestorben«. Himmel und Erde entstehen mit mir zugleich, und alle Dinge sind mit mir eins. Da sie nun Eins sind, kann es nicht noch außerdem ein Wort dafür geben; da sie aber andererseits als Eins bezeichnet werden, so muß es noch außerdem ein Wort dafür geben. Das Eine und das Wort sind zwei; zwei und eins sind drei. Von da kann man fortmachen, daß auch der geschickteste Rechner nicht folgen kann, wieviel weniger die Masse der Menschen! Wenn man nun schon vom Nicht-Sein aus das Sein erreicht bis zu drei, wohin kommt man dann erst, wenn man vom Sein aus das Sein erreichen will! Man erreicht nichts damit. Darum genug davon!

7. Jenseits der Unterschiede
Der 7. Abschnitt zeigt den Weg zum Frieden, indem man unterscheidet zwischen der transzendenten Welt, der gegenüber man sich von allem Beweisenwollen fernzuhalten hat, da es hier nur Postulate, aber keine beweisbaren Wahrheiten gibt, und der Welt der Erfahrung, wo die Gegensätze notwendig sind. Um von diesen Gegensätzen frei zu bleiben, gibt es keinen andern Weg als das Festhalten an dem »verborgenen Glanz«, das auf alles subjektive Hervortreten verzichtet und sich eins weiß mit dem Grundsinn des Daseins. Durch das Gegenbeispiel des großen Herrschers Yau, der nicht Ruhe fand, weil er die Gedanken an seine Feinde in einseitiger Weise festhielt, wird diese Praxis demonstriert.

Die Begrenzungen sind nicht ursprünglich im SINN des Daseins begründet. Die festgelegten Bedeutungen sind nicht ursprünglich den Worten eigentümlich. Die Unterscheidungen entstammen erst der subjektiven Betrachtungsweise. Ich will die Unterscheidungsgründe nennen: Rechts und Links, Beziehungen und Pflichten, Teilen und Beweisen, Widerspruch und Gegenwirkung. Das nennt man die acht Kategorien.

Außerhalb der Welt der Räumlichkeit (gibt es Ideen, die) der Berufene festhält, ohne sie zu beschreiben. Innerhalb der Welt der Räumlichkeit (gibt es Ideen, die) der Berufene beschreibt, ohne sie zu beurteilen. Im Verlauf der Geschichte (gibt es Taten, die) der Berufene beurteilt, ohne beweisen zu wollen. Im Geteilten gibt es Unteilbares. In den Beweisen gibt es Unbeweisbares.

Was heißt das? Der Berufene hat (die Wahrheit) als innere Überzeugung, die Menschen der Masse suchen sie zu beweisen, um sie einander zu zeigen. Darum heißt es: Wo bewiesen wird, da fehlt die Anschauung. Der große SINN bedarf nicht der Bezeichnung; großer Beweis bedarf nicht der Worte; große Liebe ist nicht liebevoll; große Reinheit ist nicht wählerisch; großer Mut ist nicht tollkühn. Ist der SINN gleißend, so ist es nicht der SINN; sucht man mit Worten zu beweisen, so erreicht man nichts; ist die Liebe korrekt, so bringt sie nichts fertig; ist die Reinheit allzu rein, so ist sie nicht wahrhaft; zeigt sich der Mut tollkühn, so bringt er nichts fertig. Diese fünf Dinge sind auf der Grenze zwischen der in sich geschlossenen (himmlischen Welt) und der kantigen (wirklichen Welt).

Darum: mit seinem Erkennen haltmachen an der Grenze des Unerforschlichen ist das Höchste. Wer vermag zu erkennen den unaussprechlichen Beweis, den unsagbaren SINN? Diese zu erkennen vermögen heißt des Himmels Schatzhaus besitzen. Dann strömt es uns zu, und wir werden nicht voll. Es fließt aus uns hervor, und wir werden nicht leer, und wir wissen nicht, von wannen es kommt: das ist das verborgene Licht.

So fragte vor alters Yau den Schun und sprach: »Ich möchte einige rebellische Fürsten bestrafen. Nun sitz ich auf meinem Thron und werde den Gedanken an sie nicht los. Woher kommt das?«

Da sprach Schun: »Diese Fürsten fristen ihr Dasein gleichsam inmitten dichten Gestrüpps. Wie solltest du von ihnen nicht loskommen? Vor alters gingen zehn Sonnen gleichzeitig auf, und alle Dinge waren im Licht; um wieviel mehr sollte geistiges Leben der Sonne überlegen sein!«

8. Wer hat recht?
Der 8. Abschnitt zeigt die Verschiedenheit der Wertungen in ihrer Abhängigkeit von der Natur der verschiedenen Wesen.

Lückenbeißer fragte Keimwalter: »Wißt Ihr, worin die Welt mit dem Ich übereinstimmt?«

Er sprach: »Wie sollte ich das wissen?«

»Wißt Ihr, was Ihr nicht wißt?«


Er sprach: »Wie sollte ich das wissen?«

»Dann gibt es also kein Wissen der Dinge?«


Er sprach: »Wie sollte ich das wissen? Immerhin, ich will versuchen, darüber zu reden! Woher weiß ich, daß das, was ich Wissen nenne, nicht Nicht-Wissen ist? Woher weiß ich, daß das, was ich Nicht-Wissen nenne, nicht Wissen ist? Nun will ich dich einmal fragen. Wenn die Menschen an einem feuchten Ort schlafen, so bekommen sie Hüftweh, und die ganze Seite stirbt ab; geht es aber einem Aale ebenso? Wenn sie auf einem Baum weilen, so zittern sie vor Furcht und sind ängstlich besorgt; geht es aber einem Affen ebenso? Wer von diesen drei Geschöpfen nun weiß, welches der richtige Wohnort ist? Die Menschen nähren sich von Mastvieh; die Hirsche nähren sich von Gras; der Tausendfuß liebt Würmer, und der Eule schmecken Mäuse. Welches dieser vier Geschöpfe weiß nun, was wirklich gut schmeckt? Die Paviane gesellen sich zu Äffinnen, die Hirsche zu Hindinnen, die Aale schwimmen mit den Fischen zusammen, und schöne Frauen erfreuen der Menschen Augen. Wenn die Fische sie sehen, so tauchen sie in die Tiefe; wenn die Vögel sie sehen, so fliegen sie in die Höhe; wenn die Hirsche sie sehen, so laufen sie davon. Welches von diesen Geschöpfen weiß nun, was wahre Schönheit unter dem Himmel ist? Von meinem Standpunkt aus gesehen sind die Grundsätze von Sittlichkeit und Pflicht, die Pfade von Bejahung und Verneinung unentwirrbar verwickelt. Wie sollte ich ihre Unterscheidungen kennen?«

Lückenbeißer sprach: »Ihr kennt nicht Nutzen und Schaden; kennt aber auch der höchste Mensch nicht Nutzen und Schaden?«

Keimwalter sprach: »Der höchste Mensch ist Geist. Wenn das große Meer im Feuer aufginge, vermöchte es ihm nicht heiß zu machen; wenn alle Ströme gefrören, vermöchte ihm das nicht kalt zu machen; wenn heftiger Donner die Berge zerrisse und der Sturm den Ozean peitschte, vermöchte ihm das nicht Schrecken einzuflößen? Einer, der also ist, der fährt auf Luft und Wolken; er reitet auf Sonne und Mond und wandelt jenseits der Welt. Leben und Tod können sein Selbst nicht verändern. Was erst sollten ihm da die Gedanken an Nutzen und Schaden sein!« S.35ff.
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm
. Diederichs Gelbe Reihe Band 172

Der höchste Mensch

Der höchste Mensch I (Buch XIII)
Unser Meister sprach: »Der SINN umfaßt auch das Größte und läßt auch das Kleinste nicht zurück. Darum sind alle Wesen so vollkommen und weit. Weit ist er, daß er alles in sich befaßt; tief ist er, daß niemand ihn ermessen kann. Die Gestaltungen, die sein LEBEN annimmt in Liebe und Pflicht, sind nur die Enden des Geistes. Wer kann sie festsetzen außer dem höchsten Menschen? Der höchste Mensch besitzt die Welt. Ist das nicht etwas Großes? Und doch ist sie nicht imstande, ihn zu verstricken. Er hat die Macht in der Hand über die ganze Welt, und doch macht es ihm keine Unruhe. Er urteilt ohne Falsch und läßt sich nicht durch Gewinn berücken. Er kennt der Dinge wahres Wesen und vermag ihre Wurzel zu wahren. Darum ist er jenseits von Himmel und Erde und läßt alle Wesen hinter sich, und nichts vermag seinen Geist zu binden. Er hat Anschluß an den SINN, ist eins mit dem LEBEN. Er ist erhaben über Liebe und Pflicht. Riten und Musik sind nur Gäste für ihn. Des höchsten Menschen Herz besitzt etwas, durch das es fest ist.« S.152
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Band 172

Der höchste Mensch II (Buch XXI)
Kung Dsi besuchte den Lau Dan. Lau Dan hatte eben gebadet und ließ sein Haar zum Trocknen herabhängen. Er saß leblos da, allem Menschlichen vollkommen entrückt. Da wartete Kung Dsi.

Nach einer Weile trat er vor ihn und sprach: »War ich geblendet, oder ist es wirklich so? Euer Körper, Herr, erschien mir eben erstarrt wie ein dürrer Baum, als hättet Ihr die Welt verlassen und Euch von den Menschen geschieden und stündet in der Einsamkeit.«

Lau Dan sprach: »Ich ließ mein Herz wandern im Anfang der Welt.«

Kung Dsi sprach: »Was bedeutet das?«

Er sprach: »Meine Seele ist gebunden und vermag nicht zu denken; mein Mund ist geschlossen und vermag nicht zu reden. Doch will ich dir davon erzählen, was der Sache nahe kommt. Das dunkle Prinzip in seiner höchsten Wirkung ist ernst und still; das lichte Prinzip in seiner Vollendung ist mächtig und wirksam. Das Ernste und Stille geht aus dem Himmel hervor; das Mächtige und Wirksame entwickelt sich aus der Erde. Wenn die beiden sich vereinigen und Harmonie wirken, so entstehen die Dinge. Es ist noch eine geheime Kraft, die diese Tätigkeiten ordnet; aber man sieht nicht ihre Gestalt. Der Wechsel von Zurückebben und Ausatmen, von Fülle und Leere, von Dunkel und Licht, der Wandel der Sonne und die Änderungen des Mondes: das alles findet fortwährend statt, aber man kann nicht sehen, wie es zustande kommt. Das Leben hat einen Anfang, aus dem es hervorsproßt; das Sterben hat einen Endpunkt, zu dem es sich wendet. Anfang und Ende lösen einander ab ohne Unterbrechung, und man kann nicht erkennen die letzte Ursache. Wenn es nicht jene geheime Kraft ist, die das regelt, worauf geht dann alles zurück?«

Kung Dsi sprach: »Darf ich fragen, wie man zu dieser Kraft gelangen kann?«

Lau Dan sprach: »Sie zu erreichen, ist höchste Schönheit und höchste Seligkeit. Wer höchste Schönheit erreicht und sich höchster Seligkeit erfreut: das ist der höchste Mensch.«

Kung Dsi sprach: »Ich würde gern hören, wie man dazu gelangt.«

Jener sprach: »Grasfressende Tiere weigern sich nicht, ihren Weideplatz zu wechseln; im Wasser lebende Geschöpfe weigern sich nicht, das Wasser zu wechseln. Sie halten kleine Veränderungen aus, ohne die beständigen Gesetze ihrer Natur zu verlieren. (Wer als Mensch diesen Standpunkt erreicht hat), in dessen Brust finden Lust und Zorn, Trauer und Freude keinen Eingang mehr. Nun ist das, was man Welt nennt, die Einheit aller Geschöpfe. Wer diese Einheit erreicht und mit ihr übereinstimmt, für den ist sein Körper mit allen seinen Gliedern nur Staub und Erde. Leben und Tod, Anfang und Ende sind für ihn wie Tag und Nacht. Sie vermögen ihn nicht zu betören, wieviel weniger wird das, was als Gewinn oder Verlust, als Unglück oder Glück ihm naht, ihn betören können! Wer darum Amt und Würden wegwirft, der ist, als würfe er Schlamm und Erde weg, denn er weiß, daß sein Ich edler ist als sein Amt. Der Adel beruht auf dem eigenen Ich und geht nicht verloren durch äußere Veränderungen. Auch ändert sich alles, und kein Ziel ist abgemessen. Wie wäre es deshalb der Mühe wert, das Herz zu bekümmern? Wer selbst im LEBEN wirkt, für den löst sich das alles auf.«

Kung Dsi sprach: »Euer Leben kommt Himmel und Erde gleich, und dennoch habt Ihr wohl höchste Worte der Weisheit vernommen, deren Ihr Euch bedient, um Eure Seele zu bilden. Wer aber von den großen Männern des Altertums war imstande, solche Worte auszusprechen?«

Lau Dan sprach: »Nicht also! Das Wasser eines Sprudels tut selber nichts, sondern folgt einfach seiner Natur. Also verhält sich der höchste Mensch zum LEBEN. Er sucht nichts zu bilden, und dennoch kann sich kein Wesen seinem Einfluß entziehen. Er ist wie der Himmel, der hoch ist durch sich sel¬ber, wie die Erde, die fest ist durch sich selber, wie Sonne und Mond, die klar sind durch sich selber. Was bedarf es da der Bildung?«

Kung Dsi verließ ihn und sagte über diese Unterhaltung zu Yen Hui: »Ich bin gegenüber dem SINN nicht besser als ein Essigälchen. Hätte der Meister nicht die Decke von meinen Augen gehoben, so hätte ich niemals die große Vollkommenheit von Himmel und Erde erkannt.« S.221ff.
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Band 172

Das Totenlied der Übermenschen (Buch VI)
Dsi Sang Hu, Mong Dsi Fan und Dsi Kin Dschang waren Freunde zusammen.

Nach einer Weile starb Dsi Sang Hu. Er war noch nicht begraben, da hörte Meister Kung von der Sache und schickte den Dsi Gung hin, um bei der Trauerfeier behilflich zu sein. Der eine der Freunde hatte ein Lied gedichtet, der andere spielte die Zither, und so sangen sie zusammen:

»Willst du nicht wiederkommen, Sang Ku?
Willst du nicht wiederkommen, Sang Ku?
Du gingst zum ew‘gen Leben ein;
Wir müssen noch hienieden sein.
O weh!«


Dsi Gung kam mit eiligen Schritten heran und sprach: »Darf ich fragen: ist das Anstand, in Gegenwart eines Leichnams zu singen?«

Die beiden Männer sahen einander an, lachten und sprachen: »Was versteht der von Anstand?«

Dsi Gung kehrte zurück, sagte es Meister Kung an und sprach: »Was sind das für Menschen! Geordnetes Benehmen kennen sie nicht und kümmern sich nicht um das Äußere. In Gegenwart des Leichnams sangen sie und verzogen keine Miene zur Trauer. Das spottet jeder Beschreibung. Was sind das für Menschen!«

Meister Kung sprach: »Sie wandeln außerhalb der Regeln, ich wandle innerhalb der Regeln. Das sind unüberbrückbare Gegensätze, und es war ungeschickt von mir, daß ich dich hinschickte zur Beileidsbezeugung. Sie verkehren mit dem Schöpfer wie Mensch zu Mensch und wandeln in der Urkraft der Natur. Ihnen ist das Leben eine Geschwulst und Eiterbeule und der Tod die Befreiung von der Beule und Entleerung ihres Inhalts. In dieser Gesinnung wissen sie nicht, worin der Wertunterschied von Leben und Tod bestehen sollte. Sie entlehnen die verschiedenen Substanzen und bilden aus ihnen zusammen ihren Körper. Aber alles Körperliche ist ihnen Nebensache. Sie kommen und gehen vom Ende zum Anfang und kennen kein Aufhören. Sie schweben unabhängig jenseits vom Staub und Schmutz (der Erde). Sie wandern müßig im Beruf des Nichthandelns. Von solchen Leuten kann man wahrlich nicht erwarten, daß sie peinlich genau alle Anstandsbräuche erfüllen, die in der Welt Sitte sind, nur um den Augen und Ohren der Masse zu gefallen.«

Dsi Gung sprach: »Warum haltet Ihr Euch aber dann an die Regeln, Meister?«

Er sprach: »Ich bin von der Natur daran gebunden. Immerhin, ich will dir mitteilen (was ich darüber weiß). «


Dsi Gung sprach: »Darf ich fragen, wie man dazu gelangt?«

Meister Kung sprach: »Die Fische sind fürs Wasser geschaffen; die Menschen sind für den SINN geschaffen. Weil jene fürs Wasser geschaffen sind, so tauchen sie in die Tiefe und finden ihre Nahrung; weil diese für den SINN geschaffen sind, so bedürfen sie keiner Sorge, ihr Leben kommt in Sicherheit. Darum heißt es: Die Fische mögen einander vergessen in Strömen und Seen; die Menschen mögen einander vergessen in Übung des SINNS.«

Dsi Gung sprach:
»Darf ich fragen, wie es sich mit den Übermenschen verhält? «


Der Meister sprach: »Der Übermensch steht über den Menschen, aber er steht im Einklang mit der Natur. Darum heißt es: Die vor dem Himmel gemein sind, sind groß vor den Menschen; die vor den Menschen groß sind, sind klein vor dem Himmel.« S.90ff.
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Band 172

Die Standpunkte und der Standpunkt des berufenen Heiligen (Buch XV)
Sich auf einen Wandel nach starren Grundsätzen etwas zugute tun, sich von der Welt absondern und alles anders machen als die andern, hohe Reden führen und bitteres Urteil fällen: das ist der Menschenhaß. So lieben es die Weisen in den Bergklüften, die die Welt verurteilen, die einsam wie ein kahler Baum an tiefem Abgrund stehen.

Von Liebe reden und Pflicht, von Treu und Glauben, von Ehrfurcht und Mäßigkeit, Bescheidenheit und Gefälligkeit: das ist die Moral. So lieben es die Weisen, die die Welt zur Ruhe bringen wollen und Buße verkündigen, die Wanderprediger und Lernbeflissenen.

Von großen Werken reden, sich einen großen Namen machen, die Formen feststellen im Verkehr von Fürst und Diener, das Verhältnis ordnen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen: das ist die Politik. So lieben es die Weisen an den Höfen, die ihren Herren ehren und ihren Staat stark machen wollen und ihre Arbeit darauf richten, andere Staaten zu annektieren.

Sich an Sümpfe und Seen zurückziehen, in einsamen Gefilden weilen, Fische angeln und müßig sein: das ist der Quietismus. So lieben es die Weisen an Fluß und Meer, die sich von der Welt zurückgezogen haben und in freier Muße leben.

Schnauben und den Mund aufsperren, ausatmen und einatmen, die alte Luft ausstoßen und die neue einziehen, sich recken wie ein Bär und strecken wie ein Vogel: das ist die Kunst, das Leben zu verlängern. So lieben es die Weisen, die Atemübungen treiben und ihren Körper pflegen, um alt zu werden wie der Vater Pong.

Aber ohne starre Grundsätze erhaben sein, ohne die Betonung von Liebe und Pflicht Moral haben, ohne Werke und Ruhm Ordnung schaffen, ohne in die Einsamkeit zu gehen Muße finden, ohne Atemübungen hohes Alter erreichen, alles vergessen und alles besitzen in unendlicher Gelassenheit und dabei doch alles Schöne im Gefolge haben: das ist der SINN von Himmel und Erde, das LEBEN des berufenen Heiligen.

Darum heißt es: Ruhe, Schmacklosigkeit, Gelassenheit, Versinken, Leere, Nicht-Sein, Nicht-Handeln: das ist das Gleichgewicht von Himmel und Erde und das Wesen von SINN ist Einigung mit himmlischem LEBEN.

Darum heißt es: Der berufene Heilige läßt ab. Ablassen bringt Gleichgewicht und Leichtigkeit; Gleichgewicht und Leichtigkeit bringen Ruhe und Schmacklosigkeit. Gleichgewicht und Leichtigkeit, Ruhe und Schmacklosigkeit: da können Leid und Schmerzen nicht hinein, und üble Einflüsse vermögen nicht zu überwältigen. So wird das LEBEN völlig und der Geist ohne Fehl. Darum heißt es: das Leben des berufenen Heiligen ist Wirken des Himmels; sein Sterben ist Wandel der körperlichen Form. In seiner Stille ist er eins mit dem Wesen der Nacht; in seinen Regungen ist er eins mit den WOgen des Tags. Er sucht nicht dem Glück zuvorzukommen noch dem Unglück zu begegnen; er entspricht nur den Anregungen, die auf ihn wirken; er bewegt sich nur gezwungen und erhebt sich nur, wenn er nicht anders kann; er tut ab Vorsätze und Erinnerungen und folgt allein des Himmels Richtlinien. Darum trifft ihn nicht Strafe des Himmels noch Verwicklungen durch die Dinge, nicht der Tadel der Menschen noch Beunruhigung der Geister. Sein Leben ist wie Schwimmen, sein Sterben ist wie Ausruhen. Er macht sich keine Sorgen und schmiedet keine Pläne; er ist licht ohne Schimmer, er ist wahr ohne Beteurungen. Sein Schlaf ist ohne Traum, sein Wachen ohne Leid. Sein Geist ist rein, seine Seele bleibt ohne Ermüdung. Leere, Nicht-Sein, Ruhe, Schmacklosigkeit ist Einigung mit himmlischem LEBEN.

Darum heißt es: Trauer und Freude sind Verkehrungen des LEBENS; Lust und Zorn sind Übertretungen des SINNS.

Zuneigungen und Abneigungen sind Verlust des LEBENS. Darum, wenn das Herz frei ist von Trauer und Freude: das ist höchstes LEBEN. Einsam sein und unwandelbar: das ist höchste Stille. Kein Widerstreben kennen: das ist höchste Leere. Nicht mit der Außenwelt verkehren: das ist höchste Schmacklosigkeit. Frei sein von aller Unzufriedenheit: das ist höchste Echtheit.

Darum heißt es: Wenn der Leib sich abmüht ohne Ruhe, so wird er aufgebraucht; wenn der Geist tätig ist ohne Aufhören, so wird er müde. Müdigkeit führt zur Erschöpfung. Es ist die Art des Wassers, daß es rein ist, wenn es nicht bewegt wird. Wird es gehindert und eingedämmt, so fließt es wohl nicht, aber verliert seine Klarheit. Das ist ein Bild des himmlischen LEBENS. Darum heißt es: Rein sein und echt und ungemischt, stille sein und eins und ohne Wandel, schmacklos sein und nicht handeln, in allen Regungen sich nach den Wirkungen des Himmels richten: das ist der Weg zur Pflege des Geistes. Wer eine kostbare Klinge hat, der tut sie in einen Schrein und verbirgt sie und wagt sie nicht zu gebrauchen, weil sie so wertvoll ist. Wenn der Geist alles durchdringt und durchströmt und nichts ihm unerreichbar bleibt; wenn er hinauf dringt zum Himmel und unten die Erde umschlingt; wenn er alle Wesen wandelt und nährt und ohne Gleichnis noch Bildnis ist: das heißt eins sein mit Gott:

Wer des SINNES reine Art
Innerlich im Geist bewahrt
Und verliert in keiner Not,
Der wird eines sein mit Gott.
Und die Einheit, klar und echt
Einigt mit des Himmels Recht.


Es gibt ein Sprichwort, das sagt: Die Menge trachtet nach Gewinn, der Held trachtet nach Ruhm, der Würdige ehrt seinen Willen, der Heilige schätzt die Reinheit.

Einfalt, das heißt: Freiheit von aller Vermischung; Echtheit, das heißt: Freiheit von allem Trug. Wessen Geist Echtheit und Reinheit darzustellen vermag, der heißt der wahre Mensch. S.170ff.
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Band 172

Die Verbesserung der Natur (Buch XVI)
1. Die Quelle der Tugenden
Die ihre Natur verbessern wollen durch weltliches Lernen, um dadurch ihren Anfangszustand zu erreichen; die ihre Wünsche regeln wollen durch weltliches Denken, um dadurch Klarheit zu erreichen, sind betörte und betrogene Leute.

Die Alten ordneten den SINN, indem sie durch ihre Ruhe ihre Erkenntnis förderten. Sie lebten, aber richteten sieh nicht nach ihrer Erkenntnis bei ihren Handlungen. Auf diese Weise förderten sie durch ihre Erkenntnis ihre Ruhe. Indem Ruhe und Erkenntnis sich gegenseitig förderten, ging Einklang und Ordnung aus ihrer Natur hervor. LEBEN ist Einklang, SINN ist Ordnung. Das LEBEN, das alles umfängt, ist Liebe; der SINN, der alles ordnet, ist Pflicht. Ist die Pflicht klar, und man liebt die Welt: das ist Treue. Ist das Innere rein und wahr und spiegelt sich in den Gefühlen: das ist Musik. Ist man wahrhaftig in seinen äußeren Handlungen und folgt dabei den Regeln der Schönheit: das ist Formvollendung. Wird Formvollendung und Musik einseitig gepflegt, so kommt die Welt in Verwirrung. Wenn einer andere recht machen will und umnebelt sein eigenes LEBEN, so strömt das LEBEN nicht aus, und was ausströmt, macht, daß die Geschöpfe ihre wahre Natur verlieren.

2. Stufen des Verfalls
Die Männer des höchsten Altertums lebten inmitten des Unbewußten. Sie waren eins mit ihrem Geschlecht und erreichten Ruhe und Vergessenheit. Zu jener Zeit war Licht und Dunkel in stillem Einklang; Geister und Götter störten nicht; die Jahreszeiten hatten ihre Ordnung; alle Wesen blieben ohne Verletzung, und die Schar der Lebenden kannte keinen vorzeitigen Tod; die Menschen hatten wohl Erkenntnis, aber sie gebrauchten sie nicht: das war die höchste Einheit.

Zu jener Zeit handelte man nicht, sondern ließ stets der Freiheit ihren Lauf. Als dann das LEBEN verfiel, kamen Feuerspender (Sui Jen) und Brütender Atem (Fu Hi) zur Herrschaft über die Welt. Darum ging wohl alles seinen Gang, aber die Einheit war nicht mehr vorhanden.

Als dann das LEBEN noch weiter verfiel, da kamen der göttliche Landmann (Schen Nung) und der Herr der gelben Erde (Huang Di) zur Herrschaft über die Welt. Darum herrschte wohl Friede, aber die Dinge gingen nicht mehr ihren Lauf.

Als dann das LEBEN noch weiter verfiel, da kamen Yau und Schun zur Herrschaft über die Welt. Sie brachten die Strömung des Ordnens und Besserns in Lauf, befleckten die Reinheit, zerstreuten die Einheit, verließen den SINN und stellten statt seiner das Gute auf, gefährdeten das LEBEN und stellten statt seiner die Tugenden auf. Von da ab ging die Natur verloren, und man folgte dem Verstand. Verstand tauschte mit Verstand die Kenntnisse aus, und doch war man nicht mehr fähig, der Welt eine feste Ordnung vorzuschreiben. Darauf fügte man Formenschönheit hinzu und häufte die Kenntnisse. Aber die Formenschönheit zerstörte den Inhalt, und Kenntnisse ertränkten den Verstand. Da wurden die Leute vollends betört und verwirrt, und kein Weg führte mehr zurück zur wahren Natur und zum Urzustand.

3. Weltverlorenheit
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, zeigt sich, daß die Welt den SINN immer mehr verlor und der SINN die Welt immer mehr verlor. So verloren SINN und Welt einander, und wenn heute der SINN bei einem Menschen wohnt: wie will der es machen, um ihn wieder zur Geltung zu bringen in der Welt, und wie will die Welt es machen, um wieder zur Geltung zu kommen im SINN? Es ist gar keine Möglichkeit mehr vorhanden, daß der SINN zur Geltung kommt in der Welt, oder daß die Welt zur Geltung kommt im SINN. Wenn daher ein Berufener sich auch nicht zurückzieht in die Bergwälder, ist sein LEBEN doch verborgen und zwar so verborgen, daß er es gar nicht mehr selbst zu verbergen braucht.

Die man in alten Zeiten verborgene Weise nannte, waren nicht Leute, die sich versteckten und sich nicht mehr sehen ließen; sie waren nicht Leute, die sich in Schweigen hüllten; sie waren nicht Leute, die ihre Erkenntnis zurückhielten, sondern Zeit und Umstände waren in großer Verwirrung. Wenn Sie rechte Zeit und Umstände trafen, so wirkten sie großartig auf Erden, so daß alles zur Einheit zurückkehrte und keine Spur hinterließ. Wenn sie nicht rechte Zeit und Umstände trafen, so war ihr Wirken auf Erden vollständig unmöglich. So trieben sie ihre Wurzeln tiefer, waren vollkommen still und warteten. Das war der Weg, sich selbst zu bewahren.

4. Das wahre Ziel
Die vor alters ihr Selbst zu wahren wußten, schmückten nicht durch Beweise ihr Wissen auf. Sie suchten nicht mit ihrem Wissen die Welt zu erschöpfen, suchten nicht mit ihrem Wissen das LEBEN zu erschöpfen. Auf steiler Höh‘ weilten sie an ihrem Platz und kehrten zu ihrer Natur zurück. Was hätten sie auch handeln sollen? Der SINN besteht wahrlich nicht aus kleinen Tugenden; das LEBEN besteht wahrlich nicht aus kleinen Erkenntnissen. Kleine Erkenntnisse schädigen das LEBEN; kleine Tugenden schädigen den SINN. Darum heißt es: Sich selbst recht machen ist alles. Höchste Freude ist es, das Ziel zu erreichen.

Was die Alten als Erreichung des Ziels bezeichneten, waren nicht Staatskarossen und Kronen, sondern sie bezeichneten damit einfach die Freude, der nichts zugefügt werden kann. Was man heute unter Erreichung des Ziels versteht, sind Staatskarossen und Kronen. Staatskarossen und Kronen aber sind nur etwas Äußerliches und haben nichts zu tun mit dem wahren LEBEN. Was von außen her der Zufall bringt, ist nur vorübergehend. Das Vorübergehende soll man nicht abweisen, wenn es kommt, und nicht festhalten, wenn es geht. Darum soll man nicht um äußerer Auszeichnungen willen selbstisch werden in seinen Zielen, noch um äußerer Not und Schwierigkeiten willen es machen wollen wie die andern. Dann ist unsere Freude dieselbe im Glück und Unglück, und man ist frei von allen Sorgen. Heutzutage aber verlieren die Leute ihre Freude, wenn das Vorübergehende sie verläßt. Von diesem Gesichtspunkt aus sind sie auch mitten in ihrer Freude immer in Unruhe. Darum heißt es: Die ihr Selbst verlieren an die Außenwelt, die ihr Wesen preisgeben an die andern: das sind verkehrte Leute. S.173ff.
Aus: Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Aus dem Chinesischen übertragen und erläutert von Richard Wilhelm. Diederichs Gelbe Reihe Band 172