Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882)

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Inhaltsverzeichnis

Der wahrhafte Mensch
Die Unsterblichkeit der Seele
Der heilig-erhabene Lehrer

Jesus Christus: Diener der reinen Vernunft
Die Geschichte Christi

Der wahrhafte Mensch

Wir wollen die Stirn haben, die glatte Mittelmäßigkeit und die erbärmliche Selbstzufriedenheit der Zeit zu tadeln, und der Gewohnheit, dem Handel und der Obrigkeit die Tatsache ins Gesicht schleudern, die die Summe aller Geschichte ist, dass nämlich ein bedeutender und verantwortungsbewusst Denkender und Handelnder überall dort tätig ist, wo ein Mensch tätig ist, und dass ein wahrer Mensch an keinen anderen Ort oder in eine andere Zeit gehört, sondern der Mittelpunkt aller Dinge ist. Wo er ist, da ist Natur. Er ist der Maßstab für dich und alle Menschen und alle Ereignisse. Gewöhnlich erinnert uns jedes Mitglied der Gesellschaft an etwas anderes oder an irgendeine andere Person. Charakter und Wirklichkeit erinnern dich an nichts anderes; sie nehmen die Stelle der ganzen Schöpfung ein.

Der Mensch muss so viel sein, dass er alle Begleitumstände bedeutungslos macht. Jeder wahrhafte Mensch ist eine Ursache, ein Land und ein Zeitalter; er bedarf unendlicher Räume, Zahlen und Zeiten, um sich ganz zu verwirklichen; — und die Nachwelt scheint seinen Spuren wie eine Anhängerschaft zu folgen. Ein Mann namens Caesar wird geboren, und nach ihm haben wir für Jahrhunderte ein Römisches Reich.

Christus wird geboren, und Millionen Gehirne verwachsen so mit seinem Genius, dass er schließlich mit der Tugend und den Möglichkeiten des Menschen schlechthin verwechselt wird. Eine Institution ist der verlängerte Schatten eines Menschen; das Mönchtum der des Eremiten Antonius, die Reformation der Luthers, das Quäkertum der von Fox, das Methodistentum der Wesleys, die Sklavenbefreiung der Clarksons. Milton nannte Scipio »die Vollendung Roms«, und die gesamte Geschichte lässt sich sehr leicht in die Biographie einiger standhafter und ernsthafter Menschen auflösen. S.156-157 [...]

Die Unsterblichkeit der Seele.
Die Menschen stellen Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele, den Belangen des Himmels, dem Gnadenstatus des Sünders und so weiter. Sie bilden sich sogar ein, dass Jesus Antworten auf genau diese Fragen hinterlassen habe. Doch dieser erhabene Geist redete nicht einen Augenblick in ihrer niedrigen Sprache. Mit Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe — diesen Attributen der Seele — ist die Idee der Unwandelbarkeit wesentlich verbunden. Jesus, der in diesen moralischen Empfindungen lebte und ungeachtet weltlichen Glücks nur ihre Manifestationen achtete, trennte nie die Idee der Fortdauer vom Wesen dieser Attribute und äußerte nie eine Silbe über die Fortdauer der Seele. Es blieb seinen Jüngern vorbehalten, die Fortdauer von den moralischen Elementen zu trennen und die Unsterblichkeit der Seele als Doktrin zu lehren und mit Belegen zu untermauern. In dem Moment, wo die Doktrin der Unsterblichkeit getrennt verkündet wird, ist der Mensch schon gefallen. Im Strömen der Liebe, in der Verehrung der Demut, gibt es keine Frage nach der Fortdauer. Kein inspirierter Mensch stellt je diese Frage oder lässt sich zu solchen Beweisen herab. Denn die Seele ist sich selbst treu, und der Mensch, in den sie strömt, kann nicht aus einer Gegenwart, die unendlich ist, in eine Zukunft, die endlich wäre, abirren. S.192-193 [...]

Der heilig-erhabene Lehrer.
Der große Unterschied zwischen den heilig-erhabenen und den nur literarischen Lehrern — zwischen Dichtern wie Herbert und Dichtern wie Pope, zwischen Philosophen wie Spinoza, Kant und Coleridge und Philosophen wie Locke, Paley, Mackintos und Stewart, zwischen den Weltgewandten, die für vollendete Redner gehalten werden, und dem vereinzelten, glühenden Mystiker, der, halb wahnsinnig durch die Unendlichkeit seiner Gedanken, Offenbarungen verkündet —, dieser Unterschied ist, daß die einen von innen heraus oder aus eigener Erfahrung als Teilhaber und Besitzer einer Tatsache reden, die anderen aber von außen als bloße Zuschauer oder vielleicht wie Menschen, die mit einer Tatsache erst durch das Zeugnis dritter Personen vertraut gemacht wurden. Es hat keinen Sinn, von außen zu mir zu predigen. Das kann ich nur zu leicht selbst. Jesus spricht stets von innen heraus, und dies in einem Maße, das alle anderen übersteigt. Darin liegt das Wunder. Ich glaube schon im voraus, daß es so sein soll. Alle Menschen harren beständig auf das Erscheinen eines solchen Lehrers. Aber wenn einer nicht aus dem Inneren des Bereichs spricht, wo das Wort und der Sinn eins sind, so soll er es demütig bekennen. S.195-196
Aus: Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Ausgewählte Essays. Herausgegeben von Manfred Pütz
Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Manfred Pütz und Gottfried Krieger
Reclams Universalbibliothek Nr. 3702 (S.156-157, 192, 193, 195, 196) ©1982 Philipp Reclam jun.,
Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Jesus Christus: Diener der reinen Vernunft
Jesus Christus war ein Diener der reinen Vernunft. Die Seligkeiten der Bergpredigt sind alles Kundgebungen eines Geistes, der die Welt der Erscheinungen verachtet. »Selig sind die Armen im Geist, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen schmähen«, usw. Der Verstand kann nichts damit anfangen. Es ist alles Unsinn. Die Vernunft bestätigt die absolute Wahrheit.

Mancherlei Begriffe hat man schon angewendet, um das Widerspiel von Vernunft und Verstand darzulegen, und das mit mehr oder weniger Genauigkeit je nach der Bildung des Redners. Eine klare Vorstellung davon ist der Schlüssel zur ganzen Theologie und die Theorie des menschlichen Daseins. Paulus kennzeichnet den Unterschied mit den Begriffen natürlicher und geistlicher Mensch.

Wenn Novalis sagt: »Es ist der Instinkt des Verstandes, der Vernunft entgegenzuarbeiten«, dann gibt er damit lediglich dem Satz des Paulus: »Fleischliche Gesinnung ist Feindschaft gegen Gott« eine wissenschaftliche Formulierung. S.74

Munroe f
ragte mich ernstlich, was ich von Jesus und den Propheten glaube. Ich antwortete wie so oft, es käme mir gottlos vor, dem einen oder andern Gehör zu schenken, wenn der reine Himmel selbst in jeden von uns strömt unter der einfachen Bedingung, ihm Folge zu leisten, auf eine Verkündigung aus zweiter Hand hören, hieße die erste verdammen. Jesus war Jesus, weil er es ablehnte, auf andere zu hören, und in sich selbst hineinlauschte. S.247
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson, Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr. Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart

Die Geschichte Christi
Der Glaube an das Christentum, der heute die Oberhand bat, ist auch der Unglaube der Menschen. Man will Christus als Herrn, nicht als Bruder. Christus predigt die Größe des Menschen, aber wir hören nur von der Größe Christi. S.112

Die Geschichte Christi ist das schönste Dokument von Charakterstärke, das wir besitzen. Ein junger Mann, der nichts dem Glück zu verdanken hatte und »zu Tyburn hingerichtet wurde« — mit den reinen Eigenschaften seiner Natur hat er solchen epischen Glanz um die Tatsachen seines Todes gebreitet, daß seitdem jede Einzelheit für die Augen der ganzen Menschheit zu einem grandiosen Symbol von Weltbedeutung verwandelt worden ist.

Er hat recht getan. Jene große Niederlage ist bis heute die bedeutendste Tatsache, die wir haben. Aber er, der kommen soll, er soll es besser machen. Der Geist fordert einen weit höheren Beweis von Charakter, einen Beweis, der sich ebenso vor den Sinnen wie vor der Seele rechtfertigen soll, ein Erfolg also für die Sinne wie für die Seele. Es war eine grandiose Niederlage, wir aber fordern den Sieg. Ein Mehr noch an Charakter wird Richter und Gericht, Soldat und Könige bekehren, wird über das Wesen des Menschen, des tierischen Geschöpfes, des Gesteins herrschen, wird unwiderstehlich Gewalt ausüben und eins werden mit der allumfassenden Natur. S.163f.

Es gibt in der Geschichte nichts, das der Wirkung Christi gleicht. Die Bücher Chinas reden von Wan Wang, einem ihrer Herrscher: »Vom Westen, vom Osten, vom Süden und vom Norden, da war nicht ein Gedanke der ihm nicht unterworfen wäre«. Das läßt sich viel richtiger von Jesus sagen als von irgendeinem Sterblichen. S.187
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson, Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr. Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart