Epiktet (50 – um 140)

  Stoischer Philosoph. Epiktet war ein von Nero freigelassener Sklave. Seine von seinem Schüler Arrian aufgezeichneten »Unterredungen« (griech. »Diatribai«) stellen die Philosophie der Stoa in den Dienst praktischer Lebensweisheit. Wegen der an christliche Ethik anklingenden Töne sind sie in einem Auszug (»Encheiridion«) oft bearbeitet worden.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Gott als Vater der Menschen
Die Gottheit sieht alles
Die richtige Vorstellung von den Göttern
Tischgenosse der Götter
Vorsehung

Gott als Vater der Menschen

Wenn jemand fähig ist, der Überzeugung mit festem Willen zuzustimmen, dass wir alle ursprünglich von Gott abstammen und er der Vater der Menschen und Götter ist, der wird meiner Meinung nach nichts Niedriges und Unedles von sich denken. Adoptierte dich der Kaiser, so würde dein Stolz unerträglich werden. Sollte es dann nicht dein Selbstbewusstsein heben, wenn du erfährst, dass du ein Sohn des Zeus bist? Aber das geschieht nicht. Weil wir aus zwei Elementen zusammengesetzt sind, aus dem Körperlichen, das wir mit den Tieren, und aus Geist und Erkenntnisfähigkeit, die wir mit den Göttern gemeinsam haben, so neigen sich viele von uns zu der armseligen und sterblichen Beziehung mit dem Körper, nur wenige aber zu der göttlichen und glückseligen Verwandtschaft hin.

Notwendigerweise wird die Art und Weise, wie man mit den Dingen umgeht, von den Vorstellungen bestimmt, die man sich von ihnen gemacht hat. Deshalb werden die wenigen, welche glauben, zur Treue, Selbstachtung und zum sicheren Urteil über die Vorstellungen geboren zu sein, nichts Niedriges und Geringes von sich denken. Von der großen Menge lässt sich wohl das Gegenteil annehmen. Da spricht man: »Was bin ich denn? Ein armer elender Mensch, schwaches, hinfälliges Fleisch!« In der Tat. Aber du hast ja auch etwas Besseres als dieses arme Fleisch. Warum vernachlässigst du denn das Edlere und klebst an jenem fest?

Durch die Verwandtschaft mit dem Leiblichen werden die einen wie die Wölfe: falsch, tückisch und schädlich, die anderen wie die Löwen: roh, wild und grausam. Die meisten aber werden Füchse, und was es sonst noch für schädliche Tiere gibt. Denn was ist ein verleumderischer und boshafter Mensch anderes als ein Fuchs oder ein noch schädlicheres und niedrigeres Tier? So seht also zu und achtet darauf, dass ihr keines dieser unnützen Tiere werdet
. Diatriben 1,3 »Was folgt daraus, dass Gott der Vater der Menschen ist?«

Die Gottheit sieht alles
Als jemand fragte, wie man beweisen könne, dass die Gottheit alles sieht, was man tut, antwortete er: Glaubst du nicht an den Zusammenhang und die Einheit aller Dinge? »Doch.« Glaubst du nicht, dass alles auf der Erde und im Himmel miteinander verbunden ist? »Das glaube ich durchaus», antwortete er. Denn woher sonst kommt es, sagte er, dass die Pflanzen zu ihrer Zeit, gleichsam auf den Wink Gottes, Blüten treiben, wenn er ihnen zu blühen befiehlt, Knospen bilden, wenn sie es sollen, Früchte tragen und reifen nach seinem Gebot und dass sie nach seinem Willen Früchte und Blätter fallen lassen und in sich selbst zurückgezogen still stehen und ausruhen? Woher kommt es, dass bei der Zu- und Abnahme des Mondes, bei Annäherung und Entfernung der Sonne die Dinge auf der Erde sich so stark verändern und ins Gegenteil verwandeln?

Du gibst also zu, dass die Pflanzen und unsere Körper mit dem Ganzen verknüpft sind und unter seinem Einfluss stehen; muss das dann nicht noch mehr für unsere Seelen gelten, die so eng mit ihm verbunden sind und so sehr mit ihm zusammenhängen, da sie Teilchen von ihm und aus ihm geschöpft sind? Sollte Gott nicht jede ihrer Regungen als seine eigene empfinden, da sie von Natur aus zu ihm gehört? Außerdem: Du bist fähig, über das göttliche Wirken und über alle göttlichen und menschlichen Dinge nachzudenken, gleichzeitig noch Eindrücke zu sammeln und dir Vorstellungen von tausenderlei Dingen zu machen und über sie ein Urteil zu fällen, indem du mit Bejahung, Ablehnung oder Zurückhaltung reagierst. In deiner Seele bewahrst du so viele Eindrücke von so vielen und mannigfachen Dingen. Von ihnen angeregt, findest du Bilder, die jenen ersten Abdrücken völlig ähneln. Du sammelst Wissen auf Wissen und behältst die Erinnerung an tausend Dinge in deinem Gedächtnis. Und Gott sollte nicht imstande sein, alles zu sehen, in allem gegenwärtig zu sein und Anteil zu nehmen? Und weiter noch: Die Sonne erleuchtet doch einen großen Teil des Kosmos und lässt nur unbeleuchtet, was sich im Erdschatten hält. Sollte nicht der, der die Sonne geschaffen hat und als kleinen Teil im Vergleich zum Ganzen ihren Lauf bestimmt, nicht fähig sein, alles wahrzunehmen?

«Aber«, so könnte jemand einwenden, »ich bin doch nicht fähig, all diese Dinge auf einmal wahrzunehmen und zu verstehen.« Behauptet denn jemand, dass du die gleiche Macht wie Zeus hast? Trotzdem hat er jedem einen Wächter zur Seite gestellt, einen Schutzgeist, der nie schläft und nie zu täuschen ist. Hätte er uns einem besseren und wachsameren übergeben können? Wenn ihr also die Türen verschlossen und die Räume verdunkelt habt, so glaubt nicht, sagen zu können, dass ihr allein seid. Denn ihr seid nicht allein, Gott ist bei euch und euer Schutzgeist ebenfalls. Die brauchen kein Licht, um zu sehen, was ihr tut. Diesem Gott solltet auch ihr einen Eid schwören wie die Soldaten dem Kaiser. Die, die bloß ihren Sold bekommen, schwören, dass ihnen nichts über das Heil des Kaisers gehe. Ihr aber, die ihr von Gott so viel Gutes empfangen habt, ihr wollt nicht schwören, oder wenn ihr geschworen habt, den Eid nicht halten? Und was wollt ihr schwören? Dass ihr ihm nie ungehorsam sein wollt, dass ihr euch nie beschweren, ihn nie anklagen, nie über das murren wollt, was er euch schickt, und dass ihr nichts von dem, was notwendig ist, nur widerwillig und leidend ertragt? Ist etwa dieser Schwur mit jenem Soldateneid zu vergleichen? Dort schwört man, niemanden dem Kaiser vorzuziehen, hier dass ihr euch selbst treu bleiben wollt.
Diatriben 1,14 »Die Gottheit sieht alles«

Die richtige Vorstellung von den Göttern

In der Frömmigkeit den Göttern gegenüber, so musst du wissen, ist es das wichtigste, dass man richtige Vorstellungen von ihnen hat, nämlich, dass sie wirklich vorhanden sind und die Welt gut und gerecht regieren. Dich selbst musst du daran gewöhnen, ihnen zu gehorchen und dich in alles, was sie schicken, zu fügen und zu unterwerfen, weil alles ja in bester Absicht zum Ziel führt. Deshalb sollst du auch niemals die Götter tadeln und ihnen vorwerfen, sie kümmerten sich nicht um dich.

Dazu kannst du aber nur gelangen, wenn du »gut« und »böse« trennst von dem, was nicht in unserer Macht steht, und nur in dem suchst, worüber wir verfügen. Denn sobald du etwas von dem Ersteren für ein Gut oder Übel ansiehst, musst du zwangsläufig die anklagen und hassen, welche verursacht haben, dass dir etwas entgeht, was du dir wünschst, oder etwas widerfährt, was du dir nicht wünschst. Denn jedes Lebewesen ist so beschaffen, dem - samt seinen Ursachen — aus dem Weg zu gehen, was es als schädlich ansieht, während es das Nützliche mit seinen Ursachen erstrebt und bewundert. So ist es auch unmöglich, dass einer, der sich geschädigt glaubt, an dem Schaden selbst oder dem Urheber Gefallen findet.

Deshalb wird selbst der Vater vom Sohn beschimpft, wenn er ihn nicht an dem, was dem Kind gut scheint, teilhaben lässt. Auch den Polyneikes und den Eteokles machte es zu Feinden, dass sie die Gewaltherrschaft für etwas Gutes hielten. Deshalb klagen auch der Bauer, der Schiffer, der Kaufmann und die, die Frau und Kinder verlieren, die Götter an. Denn wo Nutzen ist, ist auch Frömmigkeit.

Wer sich also bemüht, nur das zu begehren und zu vermeiden, was er soll, der bemüht sich gleichzeitig auch um die Frömmigkeit. Aber Spenden, Opfer und Erstlingsgaben nach Sitte der Vorfahren darzubringen, mit reinem Herzen, nicht nachlässig und nicht gleichgültig, nicht geizig, aber auch nicht über Vermögen — das ist auf jeden Fall geboten.
Handbüchlein 31

Tischgenosse der Götter

Vergiss nicht, dass du dich (im Leben] wie bei einem Gastmahl betragen musst. Man trägt etwas herum, und es gelangt zu dir: Strecke die Hand aus und nimm bescheiden deinen Anteil, Es geht an dir vorüber: Halte es nicht auf. Es ist noch immer nicht zu dir gekommen: Blicke nicht begehrlich hinauf, sondern warte, bis es zu dir gelangt.

So halte es auch nicht dem Verlangen nach Kindern, einer Ehefrau, der gesellschaftlichen Stellung und dem Reichtum.
Dann wirst du eines Tages ein würdiger Tischgenosse der Götter sein.

Wenn du aber selbst von dem, was dir angeboren wird, nichts annimmst, sondern darüber hinwegsiehst, wirst du nicht bloß mit den Göttern zu Tisch sitzen, vielmehr wirst du mit ihnen herrschen. So verhielten sich Diogenes, Heraklit und ihresgleichen, und deshalb waren sie und hießen mit Recht: göttliche Menschen.
Handbüchlein 15

Vorsehung

Wundert euch nicht, dass für die anderen Lebewesen das, was zum Leben gehört, bereitliegt, nicht nur Speise und Trank, sondern auch das Nachtlager, und wundert euch auch nicht, dass sie im Gegensatz zu uns weder Schuhe noch Decken noch Kleider brauchen. Sie sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern zum Dienen geschaffen, deshalb wäre es kaum zweckmäßig gewesen, wenn sie fremder Hilfe bedürften. Denn stell dir vor, wir müssten nicht nur für uns, sondern auch noch für die Schafe und Esel sorgen, dass sie Schuhe und Kleider hätten und Essen und Trinken.

Es ist wie bei den Soldaten: Sie stehen dem Feldherrn fertig in Kleidung und Waffen zur Verfügung; es wäre doch ausgesprochen unpraktisch, wenn die Offiziere herumgehen und Mann für Mann einkleiden und mit Waffen ausrüsten müssten. Ebenso hat auch die Natur die Tiere, die zu unserem Dienst bestimmt sind, so geschaffen, dass sie mit allem Notwendigen versehen sind und unsere Fürsorge nicht brauchen. Schon ein kleiner Junge reicht aus, eine Schafherde mit einem Stabe auf die Weide zu treiben.

Statt aber Gott zu danken, dass wir uns um die Tiere nicht in gleicher Weise kümmern müssen wie um uns selbst, machen wir ihm Vorwürfe, dass er uns weniger versorgt habe als die Tiere. Dabei sollte es doch — bei Zeus und allen Göttern — für einen bescheidenen und dankbaren Menschen ausreichen, irgendeinen Gegenstand der Natur zu betrachten, um die Vorsehung wahrzunehmen. Es geht dabei nicht einmal um Großes, nur darum, dass aus Gras Milch wird, aus Milch Käse und Wolle aus dem Fell. Wer ist es, der dies gemacht oder erdacht hat? Niemand, sagt ihr? Wie kann jemand so schamlos und ohne Empfindung sein.

Nun gut, lassen wir die bedeutenden Werke der Natur; schauen wir uns an, was sie an unwichtigen Dingen geschaffen hat: Gibt es etwas Unnützeres als die Kinnhaare? Was? Hat nicht die Natur ihnen eine sehr passende Aufgabe zugewiesen? Hat sie nicht dadurch den Mann und die Frau unterschieden? Macht die Natur nicht für uns schon von weitem sichtbar: »Ich bin ein Mann! Behandle mich so, rede so mit mir und verlange nicht anderes! Hier ist das Erkennungszeichen.« Dagegen hat die Natur den Frauen neben einer zarten Stimme ein glattes Kinn gegeben, oder etwa nicht? Oder hätte sie ihre Geschöpfe äußerlich ohne Unterschied erschaffen sollen, sodass jeder von uns ausrufen müsste: »Ich bin ein Mann!« Ist also dieses Erkennungszeichen nicht schön, sinnvoll und vernünftig? Wie viel schöner ist es als der Kamm eines Hahnes und wie viel prächtiger als die Mähne eines Löwen. Wir sollten deshalb auch diese Zeichen, die Gott gegeben hat, bewahren, und, soweit es an uns liegt, den Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht aufheben.

Sind dies die einzigen Werke, die die Vorsehung an uns getan hat? Mit welchen Worten kann man sie würdig loben und preisen? Wenn wir genügend Einsicht hätten, was könnten wir alle — und jeder Einzelne von uns — anderes tun, als die Gottheit loben und preisen und ihre Wohltaten rühmen? Sollten wir nicht beim Graben, Ackern und Essen ein Loblied auf die Gottheit singen, wie: Groß ist Gott, dass er uns diese Werkzeuge gab, die Erde zu bearbeiten. Groß ist Gott, weil er die Hände, die Kehle und den Magen erschaffen und es gemacht hat, dass wir wachsen, ohne es zu merken, und im Schlaf atmen.

So sollte man bei allem singen und den größten und erhabensten Lobgesang anstimmen, weil Gott uns die Fähigkeit verliehen hat, die Dinge klar zu erkennen und in der rechten Weise Gebrauch davon zu machen. Was also? Weil die meisten von euch blind sind, sollte es nicht einen geben, der stellvertretend für euch das Loblied auf die Gottheit sänge? Was kann ich lahmer Greis denn anderes tun, als Gott preisen? Wäre ich eine Nachtigall, so täte ich, was der Nachtigall zukommt. Wäre ich ein Schwan, täte ich das, was dem Schwan angemessen ist. Nun bin ich aber ein Geschöpf, das mit Vernunft begabt ist, folglich muss ich die Gottheit preisen. Das ist meine Aufgabe; ich verrichte sie und werde auf diesem Posten aushalten, solange es mir gewährt wird, und auch euch fordere ich zu diesem Lobgesang auf.
Diatriben 1,16 »Von der Vorsehung«
Aus: Die Philosophie der Stoa, Ausgewählte Texte
Übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Weinkauf
Reclams Universalbibliothek Nr. 18123 (S. 122-126, 142, 143-145)
© 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages