Epikur (341 – 271 v. Chr.)

 

Griechischer Philosoph, der 306 eine philosophische Schule in einem Garten in Athen eröffnete. Seine in drei Lehrbriefen und vielen Fragmenten überlieferte Philosophie ist für ihn eine Tätigkeit, die durch Schlüsse und Untersuchungen, Begriffe und Beweise ein glückseliges Leben bewirkt. Sie gründet sich auf Erkennen, das Annahme ist und durch unwiderlegbare Wahrnehmung bestätigt wird. Seine Physik geht von Demokrits (um 460 v. Chr.) Bewegung der Atome aus. Die »Abweichung der Atome von der senkrechten Fallrichtung« gibt den Anstoß zur Weltbildung. Seine Natursicht braucht keine intervenierenden Götter, denn sowohl die Welt als auch der Mensch tragen das Prinzip des Geschehens in sich. Deshalb entbindet er die ewigen Götter von der Verantwortung für das Böse in dieser Welt und siedelt sie in kosmoslosen Sphären zwischen den unendlich vielen Welten (Intermundien) an, wo sie ein unvergängliches und glückseliges Leben führen und sich um die Menschen nicht kümmern. Diese Lehre soll von der Furcht vor Göttern und Dämonen befreien, greift jedoch die Grundlagen der Religion an, was den Kirchenvater Lactantius (um 250 - nach 317) dazu bewog, sich dezendiert mit den Lehren Epikurs auseinanderzusetzen und sie erbittert zu bekämpfen.. Die Seele ist nach der Auffassung Epikurs ein feiner, luftähnlicher Stoff, der sich nach dem Tod zerstreut. Seine Ethik ist im Gegensatz zum Hedonismus des Aristippos aus Kyrene (um 435 - 366 v. Chr.) auf der vergeistigten Lust gegründet, die ohne »Unerschütterlichkeit der Seele« und ohne Tugend nicht möglich ist. In römischer Zeit hatte das Wort Epikureer (s. a. Epikureismus) schon den vergröbernden Beigeschmack des Genussmenschen. Während im Lehrgedicht des Lukrez (97 - 55 v. Chr.) »De rerum natura, Von der Natur der Dinge« der echte Geist der Philosophie Epikurs nochmals auflebt und vertieft wird, setzt sich Cicero (106 - 43 v. Chr.) in seinen Schriften »De natura deorum, Vom Wesen der Götter«, »De finibus bonorum et malorum, Über das höchste Gut und das größte Übel« und »Tusculanae disputationes, Gespräche in Tusculum« durchaus kritisch mit Epikur auseinander . Von den im Brief an Herodot dargelegten Gedanken Epikurs über die ewige Selbstbewegung des Alls wurden insbesondere auch Fjodor Dostojewskj (1821 - 1881), David Hume (1711 - 1776) und Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) beeinflusst.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis

Die Philosophie Epikurs
Lust als Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens
aus dem Brief an Menoikeus
Über die Ewigkeit des Alls
aus dem Brief an Herodot
Über die Gottheit
aus dem Brief an Menoikeus
Zufall und Notwendigkeit aus dem Brief an Menoikeus
Über den Tod von Leib und Seele aus dem Brief an Menoikeus
Die Seele ist ein feinteiliger Körper ...
aus dem Brief an Herodot

Lukrez über die Philosophie Epikurs
Philosophische Erklärung des göttlichen Wesens
Preis Epikurs
Wohnsitz der Götter
Die Welt kein Götterwerk
Die Welt ein Werk der Natur
Unvollkommenheit der Welt
Entstehung des Götterwahns
Geist und Seele sind sterblich
Gibt es eine Präexistenz der Seele?
Torheit der Seelenwanderungslehre
Der Tod berührt uns nicht






Lactantius über die Philosophie Epikurs
Die Theodizee Epikurs
Die Vernichtung der Gottheit durch Epikur
Die Vernichtung der Grundlage der Religion durch Epikur
Ursprung des Bösen
Die Einwände Epikurs gegen den Zorn Gottes
Leugnung der Vorsehung durch Epikur
Epikurs Lehre von der Zerstörbarkeit der Seelen

Cicero über die Philosophie Epikurs

Die Vorstellungen über glückselige u. unsterbliche Götter sind angeboren
Erscheinungsbild der Götter
Leugnung der Existenz der Götter
Wohnsitz der Götter
Verehrung der Götter?
Vernichtung der Religiosität durch Epikur
Unterteilung der Begierden nach Epikur
Zusammenhang von Lust und Schmerz nach Epikur
Der Tod als ewiger Zufluchtsort

Hegel über die Philosophie Epikurs
Allgemeines
Kanonik
Metaphysik
Physik
Moral

Die Philosophie Epikurs
Lust als Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens aus dem Brief an Menoikeus
127 Wir müssen uns ferner daran erinnern, dass das Künftige weder ganz und gar in unserer Macht liegt noch ganz und gar nicht in unserer Macht: wir wollen weder erwarten, dass das Künftige ganz und gar so kommen wird, noch davor verzweifeln, dass es ganz und gar nicht so kommen wird.

Wir müssen ferner berücksichtigen, dass die Begierden zum einen anlagebedingt, zum andern ziellos sind. Und zwar sind von den anlagebedingten die einen notwendig, die andern nur anlagebedingt; von den notwendigen wiederum sind die einen zum Glück notwendig, die andern zur Störungsfreiheit des Körpers, die dritten zum bloßen Leben.

128 Denn eine unbeirrte Beobachtung dieser Zusammenhänge weiß ein jedes Wählen und Meiden zurückzuführen auf die Gesundheit des Körpers und die Unerschütterlichkeit der Seele: denn dies ist das Ziel des glückseligen Lebens. Um dessentwillen tun wir ja alles, damit wir weder Schmerz noch Unruhe empfinden. Sooft dies einmal an uns geschieht, legt sich der ganze Sturm der Seele, weil das Lebewesen nicht imstande ist, weiterzugehen wie auf der Suche nach etwas, was ihm mangelt, und etwas anderes zu erstreben, wodurch sich das Wohlbefinden der Seele und des Körpers erfüllen würde. Denn nur dann haben wir ein Bedürfnis nach Lust, wenn wir deswegen, weil uns die Lust fehlt, Schmerz empfinden; <wenn wir aber keinen Schmerz empfinden>, bedürfen wir auch der Lust nicht mehr.

Gerade deshalb ist die Lust, wie wir sagen, Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens.

129 Denn sie haben wir als erstes und angeborenes Gut erkannt, und von ihr aus beginnen wir mit jedem Wählen und Meiden, und auf sie gehen wir zurück, indem wir wie mit einem Richtscheit mit der Empfindung ein jedes Gut beurteilen. Und gerade weil dies das erste und in uns angelegte Gut ist, deswegen wählen wir auch nicht jede Lust, sondern bisweilen übergehen wir zahlreiche Lustempfindungen, sooft uns ein übermäßiges Unbehagen daraus erwächst. Sogar zahlreiche Schmerzen halten wir für wichtiger als Lustempfindungen, wenn uns eine größere Lust darauf folgt, dass wir lange Zeit die Schmerzen ertragen haben. Jede Lust also ist, weil sie eine verwandte Anlage hat, ein Gut, jedoch nicht jede ist wählenswert; wie ja auch jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder ist in sich so angelegt, dass er immer vermeidenswert wäre.

130 Doch durch vergleichendes Messen und den Blick auf Zuträgliches und Unzuträgliches ist dies alles zu beurteilen. Denn wir verfahren mit dem Gut zu bestimmten Zeiten wie mit einem Übel, mit dem Übel ein andermal wie mit einem Gut.

Auch die Selbstgenügsamkeit halten wir für ein großes Gut, nicht damit wir es ganz und gar mit dem Wenigen genug sein lassen, sondern um uns dann, wenn wir das Meiste nicht haben, mit dem Wenigen zu begnügen, da wir im vollen Sinne überzeugt sind, dass jene am lustvollsten den Aufwand genießen, die seiner am wenigsten bedürfen, und dass alles Anlagebedingte leicht, das Ziellose aber schwer zu beschaffen ist. Denn bescheidene Suppen verschaffen eine ebenso starke Lust wie ein aufwendiges Mahl, sooft das schmerzhafte Gefühl des Mangels aufgehoben wird;

131 auch Brot und Wasser spenden höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt. Sich also zu gewöhnen an einfache und nicht aufwendige Mahlzeiten befähigt zu voller Gesundheit, macht den Menschen unbeschwert gegenüber den notwendigen Anforderungen des Lebens, stärkt unsere Verfassung, wenn wir uns in Abständen zu aufwendigen Mahlzeiten aufmachen, und entlässt uns angstfrei gegenüber dem Zufall.

Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste der Hemmungslosen und jene, die im Genuss bestehen, wie einige, die dies nicht kennen und nicht eingestehen oder böswillig auffassen, annehmen, sondern: weder Schmerz im Körper noch Erschütterung in der Seele zu empfinden.

132 Denn nicht Trinkgelage und aneinander gereihte Umzüge, auch nicht das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und allem übrigen, was eine aufwendige Tafel bietet, erzeugen das lustvolle Leben, sondern ein nüchterner Verstand, der die Gründe für jedes Wählen und Meiden aufspürt und die bloßen Vermutungen vertreibt, von denen aus die häufigste Erschütterung auf die Seelen übergreift.

Für all dies ist die Einsicht Ursprung und höchstes Gut. Daher ist die Einsicht sogar wertvoller als die Philosophie: ihr entstammen alle übrigen Tugenden, weil sie lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben, ohne einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben, <ebenso wenig, einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben,> ohne lustvoll zu leben. Denn die Tugenden sind ursprünglich verwachsen mit dem lustvollen Leben, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar.
S. 45ff
Aus: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz
Reclams Universalbibliothek Nr. 9984 (Brief an Menoikeus), © 1980 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Über die Ewigkeit des Alls aus dem Brief an Herodot
Was den Worten zugrunde liegt, mein Herodot, müssen wir erfasst haben, um die vermuteten oder untersuchten oder ungeklärten Zusammenhänge darauf zurückführen und hinterher beurteilen zu können; weder soll uns alles unentschieden ins Grenzenlose <davonlaufen,> wenn wir es erläutern, noch wollen wir leere Worte zurückbehalten.

38 Denn es ist notwendig, dass das ursprüngliche Gedankenbild bei einem jeden Wort betrachtet wird und überhaupt keiner Erläuterung bedarf, wenn wir etwas haben wollen, worauf wir den untersuchten oder ungeklärten oder vermuteten Zusammenhang zurückführen können. Sodann: Anhand der Wahrnehmungen muss man alles prüfen und überhaupt anhand der unmittelbaren Zugriffe, sei es des Verstandes, sei es irgendeiner anderen Urteilsinstanz, ebenso anhand der gegenwärtigen Reizempfindungen, damit wir Indizien haben, mit denen wir sowohl den mittelbar bestätigungsfähigen als auch den sinnlich unfassbaren Zusammenhang erschließen können; wenn wir diese Zusammenhänge unterschieden haben, ist es schließlich erforderlich, einen Überblick über die sinnlich unfassbaren Zusammenhänge zu gewinnen. Zunächst: Nichts entsteht aus dem Nichtseienden. Denn sonst entstünde alles aus allem, da es ja »Samen« überhaupt nicht benötigte.


39 Und wenn das, was entschwindet, ins Nichtseiende zugrunde ginge, wäre bereits die ganze Gegenstandswelt vernichtet, weil nichts da wäre, wohinein sie sich auflöste. Ferner: Das All war immer so beschaffen, wie es jetzt ist, und wird immer so sein. Denn nichts ist da, wohinein es sich umwandeln kann. Denn neben dem All ist nichts, was in es eintreten könnte.

Sodann: Das All umfasst <Körper und Leeres.> Denn dass Körper da sind, bezeugt vor aller Augen schon allein die Wahrnehmung, mit deren Hilfe man den sinnlich unfassbaren Zusammenhang mit dem schlussfolgernden Denken erschließen muss, wie ich vorhin schon sagte.

40 Wäre <aber> nicht da, was wir »Leeres« und »Raum« und »unberührbares Element« nennen, dann hätten die Körper keinen Ort, wo sie sich befänden und worin sie sich bewegten — insofern sie sich doch offensichtlich bewegen. Neben diesen beiden lässt sich nicht einmal etwas ausdenken — weder imaginativ fassbar noch analog dem imaginativ Fassbaren —, weil beide als allumfassende Elemente aufgefasst und nicht als deren zufällige oder stetige Eigenschaften bezeichnet werden. Ferner: Von den Körpern sind die einen Verbindungen, die anderen solche, aus denen die Verbindungen zusammengesetzt sind.

41 Diese Körper sind unteilbar und unwandelbar — wenn doch nicht alles dazu bestimmt ist, ins Nichtseiende zugrunde zu gehen, sondern etwas ausdauernd beharren soll in den Auflösungen der Verbindungen —, weil sie in ihrer Struktur kompakt und nicht fähig sind, sich irgendwohin oder irgendwie aufzulösen. Daher sind die Prinzipien notwendig unteilbar, körperhafte Elemente.

Sodann: Das All ist unbegrenzt, denn das Begrenzte hat ein räumliches Extrem; ein räumliches Extrem aber wird im Vergleich zu etwas anderem betrachtet; <das All wird aber nicht im Vergleich zu etwas anderem betrachtet;> hat es also kein räumliches Extrem, hat es auch keine Grenze; was aber keine Grenze hat, dürfte wohl unbegrenzt und nicht begrenzt sein. Ferner: An Masse der Körper ist das All unbegrenzt und an Ausdehnung des Leeren.

42 Denn wäre das Leere unbegrenzt, die Masse der Körper aber begrenzt: nirgendwo verharrten dann die Körper, sondern bewegten sich zerstreut in der unbegrenzten Leere, ohne Partikel zu finden, die sie beim Rückprall abstützten und still stellten. Wäre das Leere begrenzt, fanden die zahlenmäßig unbegrenzten Körper keinen Ort, wo sie sich aufhielten.

Zudem sind die unteilbaren und dichten Elemente der Körper, aus denen die Verbindungen entstehen und in die sie sich auflösen, unerfassbar in den Unterschieden ihrer Gestalten. Denn es ist nicht möglich, dass die so vielfältigen Gestaltunterschiede entstanden sind aus denselben imaginativ erfassbaren Gestalten. Und für jede Gestaltung sind die ähnlichen Atome überhaupt zahlenmäßig unbegrenzt, in ihren Gestaltunterschieden jedoch nicht überhaupt unbegrenzt, sondern nur unerfassbar.

43 Es bewegen sich die Atome stetig die Ewigkeit hindurch und zwar die einen <in senkrechter Bahn, andere in seitlichem Wegdriften, andere in Vibration; von diesen bewegen sich die einen> weit voneinander entfernt, die anderen erhalten ebendiese Vibration, wenn es sich trifft, dass sie in einer Verflechtung zusammengeschlossen sind oder bedeckt werden von denen, die zu verflechten imstande sind.

44 Denn die Eigengesetzlichkeit des Leeren, die jedes einzelne Atom für sich abgrenzt, bringt dies zustande, weil sie nicht fähig ist, einen Stützhalt herzustellen. Die den Atomen eigene Härte bewirkt beim Zusammenstoß den Rückprall, soweit die Verflechtung jeweils die Rückkehr aus dem Zusammenstoß in die frühere Position erlaubt. Einen Ursprung dieser Vorgänge gibt es nicht: Ursachen sind die Atome und das Leere.

45 Eine derartig kurze Formel entwirft, wenn man sich dies alles einprägt, ein zureichendes Modell zum Nachdenken über die Gesetzlichkeit des Seienden.

Sodann:
Es gibt zahlenmäßig unbegrenzte Welten, teils ähnlich, teils unähnlich. Denn die Atome, die zahlenmäßig unbegrenzt sind, wie eben dargelegt, bewegen sich sogar in die weiteste Ferne. Denn aufgebraucht sind solche Atome, aus denen eine Welt entstehen oder von denen sie gebildet werden könnte, weder für eine einzige Welt noch für eine begrenzte Zahl, ob sie nun dieser Welt gleichen oder von derartigen Welten verschieden sind. Demnach wird kein Hindernis auftreten können im Hinblick auf die unbegrenzte Zahl der Welten.
Aus: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz
Reclams Universalbibliothek Nr. 9984 (Brief an Herodot, S. 7, 9, 11) © 1980 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Über die Gottheit aus dem Brief an Menoikeus
123 Wenn du die Gottheit für ein unvergängliches und glückseliges Wesen hältst, wie die allgemeine Anschauung der Gottheit vorgeprägt wurde, dann hänge ihr nichts an, was ihrer Unvergänglichkeit fremd oder mit ihrer Glückseligkeit unvereinbar ist. Vermute dagegen alles über sie, was ihre mit Unvergänglichkeit verbundene Glückseligkeit unversehrt zu bewahren vermag. Denn Götter gibt es tatsächlich: unmittelbar einleuchtend ist deren Erkenntnis. Wofür sie jedoch die Masse hält, so geartet sind sie nicht. Denn sie bewahrt dabei gerade das nicht unversehrt, wofür sie sie eigentlich hält. Ehrfurchtslos aber ist nicht der, der die Götter der Masse abschafft, sondern der, der die Vermutungen der Masse den Göttern anhängt.

124 Denn nicht unmittelbare Vor-Begriffe, sondern trügerische Vorstellungen bilden die Urteile der Masse über die Götter. Daher kommt es, dass der größte Schaden von seiten der Götter ebenso durch die schlechten Menschen herbeigeführt wird wie der größte Nutzen (durch die guten.) Denn indem die Menschen sie ihren eigenen Vorzügen ganz und gar angleichen, entdecken sie nur ihnen ähnliche Wesen wieder, weil sie alles, was nicht gleichartig ist, für fremd halten.
S. 43 [...]
Aus: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz
Reclams Universalbibliothek Nr. 9984 ((Brief an Menoikeus, © 1980 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Zufall und Notwendigkeit aus dem Brief an Menoikeus
133 Denn wer, glaubst du, ist stärker als jener, der über die Götter ehrfürchtige Vermutungen hegt, der gegenüber dem Tod ganz und gar angstfrei ist, der das Ziel unserer Veranlagung durchdacht hat und klar erfasst, dass das Höchstmaß der Güter leicht zu erfüllen und leicht zu beschaffen ist, das Höchstmaß der Übel aber flüchtige Phasen oder Qualen aufweist? Das von manchen als Herrin über alles eingeführte <Schicksal> verspottet er. <Denn er bestimmt sich selbst als Verantwortlichen für seine Handlungen, indem er festsetzt, dass manches mit Notwendigkeit eintritt,> manches infolge des Zufalls, manches in unserer Hand liegt, weil die Notwendigkeit verantwortungsfrei ist und weil er sieht, dass der Zufall unstet und das, was in unserer Hand liegt, herrenlos ist: ihm folgt ja auch zwingend der Tadel und sein Gegenteil.

134 Denn es wäre besser, dem Mythos über die Götter zu folgen, als dem »Schicksal« der Naturphilosophen sklavisch ergeben zu sein. Denn der Mythos entwirft eine Aussicht auf Erhörung von seiten der Götter auf dem Wege ihrer Verehrung, das Schicksal aber weist eine unerbittliche Notwendigkeit auf. Den Zufall fasst er weder als einen Gott auf, wie die Masse meint denn nichts wird von der Gottheit ungeordnet vollbracht — noch als eine unausgewiesene Ursache: er glaubt nämlich nicht, von ihm werde Gutes oder Übles den Menschen zum glückseligen Leben gegeben, vielmehr würden nur die Anfänge großer Güter oder Übel von ihm gelenkt.

135 Für besser hält er es, trotz richtiger Überlegung einen Misserfolg als trotz verkehrter Überlegung einen Zufallserfolg zu haben; denn es ist eher angemessen, wenn <sich> beim Handeln ein gutes Urteil <nicht bestätigt, als wenn sich ein schlechtes Urteil> nur durch den Zufall bestätigt.

Dies also und was dazugehört bedenke Tag und Nacht bei dir selbst <und> zusammen mit dem, der dir gleicht. Dann wirst du dich niemals, weder wachend noch schlafend, erschüttern lassen, und du wirst leben wie ein Gott unter den Menschen. Denn es gleicht keinem sterblichen Wesen der Mensch, der inmitten unsterblicher Güter lebt.
S. 51
Aus: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz
Reclams Universalbibliothek Nr. 9984 (Brief an Menoikeus), © 1980 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Über den Tod von Leib und Seele aus dem Brief an Menoikeus
124 Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die Vernichtung der Empfindung. Daher macht die richtige Erkenntnis — der Tod sei nichts, was uns betrifft — die Sterblichkeit des Lebens erst genussfähig, weil sie nicht eine unendliche Zeit hinzufügt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit von uns nimmt.

125 Denn es gibt nichts Schreckliches im Leben für den, der im vollen Sinne erfasst hat, dass nichts Schreckliches im Nicht-Leben liegt. Darum schwätzt der, der sagt, er fürchte den Tod nicht, weil er ihn bedrücken wird, wenn er da ist, sondern weil er ihn jetzt bedrückt, wenn er noch aussteht. Denn was uns, wenn es da ist, nicht bedrängen kann uns, wenn es erwartet wird, nur sinnlos bedrücken.Was Schauererregendste aller Übel, der Tod, betrifft uns überhaupt nicht; wenn »wir« sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind »wir« nicht. Er betrifft also weder die Lebenden noch die Gestorbenen, da er ja für die einen nicht da ist, die andern aber nicht mehr für ihn da sind. Doch die Masse flieht bisweilen den Tod als das größte aller Übel, bisweilen <ersehnt sie> ihn als Erholung von allen <Übeln> im Leben. <Der Weise indes weist weder das Leben zurück>,

126 noch fürchtet er das Nicht-Leben; denn weder ist ihm das Leben zuwider, noch vermutet er, das Nicht-Leben sei ein Übel. Wie er als Speise nicht in jedem Fall die größere, sondern die am meisten Lustspendende vorzieht, so schöpft er auch nicht eine möglichst lange, sondern eine möglichst lustspendende Zeit aus.

Wer nun mahnt, der Jüngling solle vollendet leben, der Greis vollendet scheiden, der ist naiv, nicht nur wegen der Annehmlichkeit des Lebens, sondern auch, weil das Einüben des vollkommenen Lebens und des vollkommenen Sterbens ein und dasselbe ist. Noch weit minderwertiger ist der, der sagt, es sei gut, nicht geboren zu sein,

»einmal geboren, dann schleunigst des Hades Tor zu durchmessen«

127 Denn wenn er darauf vertraut und es deshalb behauptet: warum scheidet er dann nicht aus dem Leben? Das steht ihm ja frei, wenn es doch von ihm unumstößlich geplant war. Wenn er aber bloß spottet, so ist er ein Schwätzer unter jenen, die dies nicht zugeben.
S. 43f.
Aus: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz
Reclams Universalbibliothek Nr. 9984 (Brief an Menoikeus), © 1980 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Die Seele ist ein feinteiliger Körper, der sich mit dem Leib auflöst
aus dem Brief an Herodot
63
Danach muss man einsehen, indem man das Erfasste zurückführt auf die Wahrnehmungen und die Reizempfindungen — so wird sich nämlich die verlässlichste Gewissheit einstellen —‚ dass die Seele ein feinteiliger Körper ist, der in den gesamten Körperkomplex eingestreut ist, am ähnlichsten einem Hauch, der eine gewisse Beimischung von Wärme besitzt, d.h. bald dieser, bald jenem ähnlich. Es gibt auch noch einen bestimmten Teil, der eine erhebliche Variation darstellt durch seine Feinteiligkeit sogar diesen beiden gegenüber und darum um so reizempfindlicher auch mit dem übrigen Körperkomplex verbunden ist: dies alles zeigen die Kräfte der Seele, und zwar die Reizempfindungen, die leichte Erregbarkeit, die Überlegungen und das, an dessen Verlust wir sterben. Ferner: dass die Seele am Wahrnehmungsvermögen den erheblichsten Ursachenanteil hat, muss man auch festhalten.

64 Jedoch besäße sie ihn nicht, wenn sie nicht von dem übrigen Körperkomplex irgendwie bedeckt würde. Der übrige Körperkomplex nun, der ihr diesen Ursachenanteil verschafft, hat auch selbst von ihr her teil an einer solchen zufälligen Eigenschaft, freilich nicht an allen, die jene besitzt. Deshalb hat er kein Wahrnehmungsvermögen, wenn die Seele sich entfernt hat. Denn nicht von sich aus und in sich selbst besaß er diese Fähigkeit, sondern verschaffte sie einem anderen Teil, der mit ihm zugleich erzeugt worden war. Dieser Teil befähigte, indem er durch die bei sich herausgebildete Fähigkeit mit Hilfe der Bewegung eine wahrnehmungsleitende Eigenschaft sofort für sich selbst vervollkommnete, auch jenen Körperkomplex zur Reizübertragung infolge der Nachbarschaft, wie ich eben sagte.

65
Deshalb also wird die Seele, solange sie innerhalb des Körperkomplexes bleibt, selbst wenn irgendein anderer Teil fehlt, niemals wahrnehmungslos sein. Sondern: was auch immer von ihr mitvernichtet wird, wenn der bedeckende Körperkomplex sich löst — sei es insgesamt, sei es an irgendeinem Teil —‚ wenn die übrige Seele nur überdauert, wird sie das Wahrnehmungsvermögen behalten. Der übrige Körperkomplex, sofern er insgesamt oder zum Teil überdauert, behält das Wahrnehmungsvermögen nicht, wenn jener Teil fehlt, der — wie klein er auch sei — <die> für die Elementarstruktur der Seele ausreichende Menge an Atomen beisteuert. Löst sich indes der gesamte Körperkomplex auf, dann zerstreut sich auch die Seele, hat nicht mehr dieselben Fähigkeiten und bewegt sich auch nicht mehr, wie sie dann ja auch kein Wahrnehmungsvermögen mehr besitzt.

66 Denn es lässt sich unmöglich denken, dass jener Teil noch wahrnimmt, wenn er <sich> nicht mehr innerhalb dieser Organisation <befindet> und die entsprechenden Bewegungen vollzieht, d.h. wenn die bedeckenden und umgebenden Teile nicht mehr ebenso sind wie die, in denen die Seele sich jetzt befindet und deshalb die entsprechenden Bewegungen hat.

67 Sodann muss man zusätzlich noch dies bedenken: »das Unkörperliche« sagt man — entsprechend der häufigsten Verwendung des Wortes —‚ immer angewandt auf das, was jeweils nur für sich gedacht werden kann. Für sich denken lässt sich »das Unkörperliche« nur als »das Leere«. Das Leere vermag weder zu wirken und Wirkung zu erfahren, sondern gewährt den Körpern nur Bewegung durch sich hindurch. Jene, die sagen, die Seele sei unkörperlich, reden also verrücktes Zeug. Denn nichts vermöchte sie zu wirken oder zu erfahren, wenn sie so beschaffen wäre. Unmittelbar einleuchtend jedoch werden diese beiden zufälligen Eigenschaften in Bezug auf die Seele unterschieden.

68 Wenn man schließlich all diese Schlussfolgerungen über die Seele zurückführt auf die Reizempfindungen und die Wahrnehmungen und sich dabei an das zu Anfang Gesagte erinnert, so wird man einsehen, dass sie zureichend in Modellen zusammengefasst sind, um von diesen aus verlässlich im einzelnen genaue Erklärungen liefern zu können.
S. 29ff
Aus: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Griechisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz
Reclams Universalbibliothek Nr. 9984 (Brief an Herodot), © 1980 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Lukrez über die Philosophie Epikurs
Philosophische Erklärung des göttlichen Wesens
Denn es versteht sich von selbst, das ganze Wesen der Götter.
Muss sich vollkommnen Friedens erfreun und unsterblichen Lebens,
Weit entfernt und geschieden von unseren Leiden und Sorgen;
Frei von jeglichen Schmerzen und frei von allen Gefahren,
Selbst gestützt auf die eigene Macht, nie unser bedürfend,
Wird es durch unser Verdienst nicht gelockt noch vom Zorne bezwungen.
Und die Erde nun erst! Sie besaß nie irgend Empfindung,
Aber dieweil sie die Fülle besitzt von Urelementen,
Bringt sie ans Sonnenlicht gar vieles auf vielerlei Weise.
Ist nun mancher geneigt, das Meer Neptun und die Feldfrucht
Ceres zu nennen und lieber des Bacchus Namen zu brauchen.
Als mit der eigentlich wahren Benennung vom Weine zu sprechen,
Mag‘s auch gestattet ihm sein, den Erdkreis Mutter der Götter
Weiterzunennen, sofern er nur wirklich die innere Seele
Rein sich erhält von der Schmach religiöser Glaubensbefleckung.
S.114f.
Lukrez, Von der Natur, Zweites Buch, 646-680, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Preis Epikurs
Der du zuerst aus der Finsternis Nacht so leuchtend die Fackel
Hoch zu erheben vermocht und die Güter des Lebens zu zeigen,
Dir, o Zier des hellenischen Volks, dir folg‘ ich und setze
Fest den Fuß in die Spuren, die du in den Boden gedrückt hast.
Nicht Wetteifer, dir gleiches zu tun, nur glühende Liebe
Drängt mich, dir nachzustreben. Wie möchte dem Schwane die Schwalbe
Je sich vergleichen? Wie könnte denn auch mit zitternden Gliedern
Jemals das Böcklein im Lauf mit dem sehnigen Rosse sich messen?
Du, mein Vater, du bist der Entdecker der Wahrheit, du gibst uns
Väterlich Rat. Wie die Bienen auf blumiger Halde den Blüten
Allen Honig entsaugen, so schlürfen auch wir aus den Rollen,
Die du, Gepriesener, schriebst, nun alle die goldenen Worte,
Goldene Worte und wert, bis in Ewigkeit weiter zu leben!
Denn sobald dein System, das Erzeugnis göttlichen Geistes,
Über das Wesen der Dinge die laute Verkündigung anhebt,
Scheucht es die Angst von der Seele. Da weichen die Mauern des Weltalls,
Und ich erblick‘ im unendlichen Raum das Getriebe der Dinge.
Da enthüllt sich der Gottheit Macht und die friedlichen Sitze,
Die kein Sturmwind peitscht, kein Regengewölbe benetzet,
Die kein Schneesturm schädigt, wo nie bei starrendem Froste
Weißlich die Flocken sich senken; wo immerdar heiter der Äther
Lacht, und überallhin sich die Ströme des Lichtes ergießen.
Allen Bedarf reicht ferner von selbst die Natur, und es stört nie
Irgendein Wesen die Gottheit im seligen Frieden des Geistes.
Nirgend erscheinen hingegen des finsteren Acheron Räume,
Nirgend auch hindert die Erde zu schauen, was alles umherschwirrt
Unterhalb unserer Füße im Raum des unendlichen Leeren.
Hier ergreift es mein Herz mit wahrhaft göttlicher Wollust
Und mit Schauer zugleich, dass so die Natur sich erschlossen
Deiner Gedankengewalt und jetzt allseitig enthüllt ist.
S.136f.
Lukrez, Von der Natur, Drittes Buch, 1-30, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Wohnsitz der Götter
Irrwahn ist auch dies, die heiligen Sitze der Götter
Fänden sich irgendwo in unserem Weltengebäude.
Denn gar zart ist der Götter Natur; von unseren Sinnen
Ist sie gar weit entfernt: kaum sieht sie das Auge des Geistes.
Denn da sie flieht vor der Hände Berührung und rauherem Zugriff,
Darf sie auch nichts berühren, was wir zu berühren imstand sind.
Was nicht berührbar ist, kann auch nicht selber berühren.
Deshalb ist auch ihr Sitz nicht vergleichbar unserem Wohnsitz,
Sondern er muss entsprechen dem zarteren Körper der Götter.
Doch dies will ich dir noch ausführlicher später erweisen.
S.241
Lukrez, Von der Natur, Fünftes Buch, 146-155, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Die Welt kein Götterwerk
Ferner behaupten zu wollen, es sei nur den Menschen zu Liebe
Diese vortreffliche Welt von den Göttern einstens erschaffen;
Drum sei dies hochpreisliche Werk als göttlich zu rühmen,
Sei für ewig bestehend und unzerstörbar zu halten,
Sündhaft sei es daher, die Welt, die den Menschengeschlechtern
Nach uraltem Beschlusse der Götter für ewig erbaut ward,
Irgendwann und — wo aus den Fundamenten zu reißen
Und sie mit Worten zu stürmen, das Oberste kehrend zu unterst, —
Und noch weitere Lügen nach gleicher Methode zu brauen:
Wahnsinn ist dies alles, mein Memmius. Welcherlei Vorteil
Könnte denn unsere Gunst den seligen Göttern verschaffen,
Dass sie um unseretwillen sich irgend betätigen sollten?
Welches Ereignis verlockte die vordem ruhigen Götter
Noch so spät zu dem Wunsche, ihr früheres Leben zu ändern?
Denn mich dünket, nur dem kann ein Wechsel der Lage genehm sein,
Welchem die alte missfällt. Doch wer nichts Schlimmes erfahren
In der vergangenen Zeit, wo er glücklich sein Leben verbrachte,
Was nur konnte in dem das Gelöst der Neuerung wecken?
Oder war etwa vorher ihr Leben voll Dunkel und Trübsal,
Ehe die Schöpfungsstunde das Licht in der Welt hat entzündet?
Oder was brächte denn uns, nicht geschaffen zu werden, für Übel?
Freilich wer einmal geboren, der wird auch im Leben noch bleiben
Wollen, solang‘ er behält des Daseins wonnige Freude.
Doch wer nimmer gekostet des Lebens Freude, wer nie ward
Mitgezählt, was schadet es dem, wenn er nie ward geboren?
S. 241-242
Lukrez, Von der Natur, Fünftes Buch, 156-180, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Die Welt ein Werk der Natur
Ferner woher nur stammt das Modell für die Schöpfung der Dinge
Und der Begriff von der Menschheit selbst in der Seele der Götter,
Dass sie erschauten und wussten im Geist, was sie wollten erschaffen?
Oder wie lernten sie nur die Kräfte der Urelemente
Kennen und was bei ihnen der Wechsel der Lage bedeute,
Wenn die Natur nicht selbst die Idee der Schöpfung gegeben?
Denn seit undenklicher Zeit schon haben die vielen Atome
Auf gar mancherlei Weise getrieben durch äußere Stöße
Und durch ihr eigen Gewicht durcheinander zu schwirren begonnen
Und sich auf allerlei Arten zu einigen, alles versuchend,
Was sie nur immer vermöchten durch ihre Verbindung zu schaffen.
So ist‘s doch kein Wunder, wenn diese Atome mitunter
In derartige Lagen und solche Bahnen geraten,
Durch die immer aufs Neue die Welt sich bis heute im Gang hält.
S.242
Lukrez, Von der Natur, Fünftes Buch, 181-194, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Unvollkommenheit der Welt
Denn selbst wenn ich das Wesen der Urelemente nicht kennte,
Wagt‘ ich doch dies zu behaupten, gerad‘ auf die Forschung des Himmels
Und viel andere Gründe mich stützend: Mitnichten, so sag‘ ich,
Ist dies Wesen der Welt für uns von den Göttern erschaffen;
Allzu sehr ist sie doch mit gewaltigen Mängeln behaftet.
S.243
Lukrez, Von der Natur, Fünftes Buch, 195-199, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Entstehung des Götterwahns
Selbst wer richtig gelernt, dass die Götter ein sorgloses Dasein
Führen, bestaunt doch wohl, wie alles im einzeln sich abspielt,
Namentlich auch bei jenen Erscheinungen, welche den Blicken
Über unserem Haupte im Äthergefilde sich zeigen:
Dann fällt mancher wohl wieder zurück in den früheren Glauben
Und bekennt sich als Sklaven von grausamen Herren, an deren
Allmacht leider er glaubt. Er weiß nicht, der Arme, was sein kann
Und was nicht kann sein und wie weit jedwedem umzirkt ist
Seine wirkende Kraft und der grundtief ruhende Markstein.
Blind ist seine Vernunft; drum schweift er noch mehr in die Irre.
Wenn du nicht jene Gedanken mit Abscheu bannst aus dem Herzen
Als nicht der Würde der Götter und ihrem Frieden entsprechend,
Wirst du die heiligen Mächte der Götter verkümmern und oftmals
Kehren wider dich selbst; nicht als ob die göttliche Allmacht
Kränkung erlitte und zornig die strenge Bestrafung verlange,
Sondern vielmehr weil du selber die Götter, die friedlicher Ruhe
Pflegen, erregt dir denkst von den Wogen erschrecklichen Zornes.
So wirst nie du mit ruhigem Geist in die Tempel der Götter
Treten können und nimmer die Bilder göttlichen Leibes,
Wenn in den menschlichen Geist sie als Boten der göttlichen Schönheit
Eintritt fordern, empfangen in ruhigem, friedlichem Herzen.
Daraus ergibt sich von selbst, welch‘ Leben dich künftig erwartet.
S.297f .
Lukrez, Von der Natur, Sechstes Buch, 58-75, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Geist und Seele sind sterblich
Aber wohlan, auf dass du erkennst, dass in lebenden Wesen
Geist und flüchtige Seelen entstehen und wieder vergehen,
Will ich die Verse, die mir in der langen, erfreulichen Arbeit
Reiften, dir jetzt vortragen: sie seien des Memmius würdig!
Fasse dabei nur die beiden Begriffe in eine Bezeichnung!
Wenn ich zum Beispiel nun von der »Seele« zu sprechen beginne
Und sie als sterblich erweise, so gilt dasselbe vom Geiste,
Da dies beides nur eins und eng miteinander verknüpft ist.
S.152
Lukrez, Von der Natur, Drittes Buch, 417-424, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Gibt es eine Präexistenz der Seele?
Weiter, besäße die Seele unsterbliches Wesen und fände
Sie erst bei der Geburt in den Leib der Geschöpfe den Eingang,
Weshalb können wir uns nicht des früheren Lebens erinnern?
Weshalb haften bei uns nicht auch Spuren früherer Taten?
Denn wenn sich wirklich so sehr die Kraft hat der Seele geändert,
Dass ihr gänzlich entfiel das Gedächtnis an frühere Dinge,
Dann ist der Zustand, dünkt mich, vom Tod nicht beträchtlich verschieden.
Deshalb musst du gestehen, dass jene Seele, die einst war,
Untergegangen und diese, die jetzt lebt, neu ist erschaffen.
S.163
Lukrez, Von der Natur, Drittes Buch, 670-678, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Torheit der Seelenwanderungslehre
Endlich, wie lächerlich ist‘s, sich die Seelen gerüstet zu denken,
Um bei der Paarung der Tiere und ihrer Geburt zu erscheinen!
Sollen sie warten unendlich an Zahl auf die sterblichen Glieder
Sie, die Unsterblichen? Sollen sie untereinander sich streiten
Um die Wette, wer allen zuvor soll haben den Zutritt?
Oder es müssten denn etwa die Seelen vertraglich beschlossen
Haben, dass, wer nur zuerst sich im Fluge genaht, auch als Erster
Dürfe hinein, wodurch sich erübrige weiterer Wettstreit.
S.167
Lukrez, Von der Natur, Drittes Buch, 776-782, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Der Tod berührt uns nicht
Nichts geht also der Tod uns an, nichts kann er bedeuten,
Da ja das Wesen des Geistes nunmehr als sterblich erkannt ist.
Wie kein Leid wir litten in jenen vergangenen Zeiten,
Als die Punier kamen mit kampfgerüsteten Heeren,
Als von dem Lärme des Krieges erschüttert der schaudernde Erdball
Unter den hohen Gefilden des himmlischen Äthers erdröhnte,
Als es noch zweifelhaft war, an welche von beiden Nationen
Fiele das Amt, zu Wasser und Land ob der Menschheit zu herrschen,
So wird dann, wenn wir nicht mehr sind, wenn Körper und Seele
Reinlich sich schieden, die jetzt sich in uns zur Einheit verbanden,
Sicherlich uns, die wir nicht mehr sind, nichts künftig mehr treffen,
Nichts auf der Welt mehr unser Gefühl zu erregen imstand sein,
Selbst wenn das Land mit dem Meer und das Meer mit dem Himmel sich mischte.
Ja, wenn des Geistes Natur und die Kraft der Seele noch irgend
Etwas empfände, sobald sie aus unserem Körper geschieden,
Geht es uns doch nichts an. Denn wir, wir bestehn ja als Einheit
Nur durch den innigen Bund, den Körper und Seele geschlossen.
Selbst wenn die Zeit nach unserem Tod die gesamten Atome
Unseres Daseins wieder vereinigte so, wie sie jetzt sind,
Und wir das Lebenslicht zum anderen Male erblickten,
Würde auch dieses Ereignis mit nichten uns irgend berühren,
Da an das frühere Leben uns fehlte die Wiedererinnrung.
Wie es uns jetzt nicht berührt, was wir früher einmal sind gewesen:
So trifft nie uns die Angst um unser künftiges Leben.
Wenn du bedenkst, wie unendlich sich dehnt der Vergangenheit ganzer
Zeitraum, ferner wie mannigfach auch die Bewegung des Urstoffs
Sich gestaltet, so kannst du wohl leicht zum Glauben gelangen,
Dass schon früher die Keime, aus denen wir jetzo bestehen,
Oft in derselbigen Ordnung gestanden sind, wie sie auch jetzt stehn.
Doch wir können uns nimmer zurück dies rufen im Geiste,
Da sich dazwischen ergab ein Stillstand unseres Lebens
Und der Atomenstrom von Empfindungen gänzlich sich fern hielt.
Denn wenn es einem vielleicht in der Zukunft schlecht soll ergehen,
Müsst‘ er doch selbst in eigner Person, der es übel ergehn soll,
Dasein. Da nun der Tod dies aufhebt und die Person nicht
Existieren mehr kann, die Übel zu treffen vermöchten,
Lernt man daraus, dass im Tode wir nichts mehr haben zu fürchten,
Ferner dass wer nicht lebt, auch niemals elend kann werden,
Ja, dass es grade so ist, als wären wir nimmer geboren,
Wenn der unsterbliche Tod uns das sterbliche Leben genommen.
S.170-171
Lukrez, Von der Natur, Drittes Buch, 830-869, dtv/Artemis, Übersetzt von Hermann Diels

Lactantius über die Philosophie Epikurs
Die Theodizee Epikurs
Doch stellte Gott dem Menschen Güter und Übel vor Augen, weil er ihm die Vernunft verlieh, deren ganze Aufgabe in der Unterscheidung der Güter und der Übel gelegen ist, Denn niemand kann das Bessere wählen, niemand wissen, was gut ist, wenn er nicht zugleich das Übel zurückzuweisen und zu vermeiden weiß. Gutes und Übles sind wechselseitig aneinander geknüpft; nimmt man das eine von ihnen weg, so muss man auch das andere wegnehmen. Erst wenn Güter und Übel zugleich vor Augen liegen, dann vollbringt die Weisheit ihr Werk; das Gute erstrebt sie in Ansehung des Nutzens, das Üble verwirft sie mit Rücksicht auf die Wohlfahrt. Gleichwie also dem Menschen Güter in Unzahl zum Genusse geboten waren, so fehlte es auch nicht an Übeln, vor denen er sich in Acht nehmen sollte. Denn würde es gar kein Übel geben, gar keine Gefahr und überhaupt nichts, was dem Menschen nachteilig sein könnte, so wäre der Weisheit aller Anlass zur Betätigung entzogen, und sie wäre dem Menschen nicht notwendig.

Wenn lediglich Güter sich zeigen, wohin das Auge blickt, was bedarf es da der Überlegung, der Einsicht, der Wissenschaft und Vernunft, wenn alles, wohin man die Hand ausstreckt, der. Natur angemessen und zuträglich ist? Wenn man Kindern, die noch den Gebrauch der Vernunft nicht haben, das prächtigste Mahl vorsetzen wollte, so wird sicherlich jedes nach dem greifen, zu dem es Neigung oder Hunger oder auch das Ungefähr zieht; und was sie immer zum Munde führen, wird ihnen lebenspendend und heilsam sein. Was wird es ihnen also schaden, wenn sie immer, so wie sie sind, bleiben, d, h, wenn sie immer Kinder und im Zustand der Unwissenheit sind? Mischt man aber Bitteres oder Nachteiliges oder gar Giftiges bei, so werden sie sicherlich aus Unkenntnis des Guten und des Üblen getäuscht werden, wenn ihnen nicht die Weisheit zu Hilfe kommt, die ihnen die Verwerfung der Übel und die Auswahl der Güter ermöglicht. Du siehst also, dass wir mehr wegen der Übel der Weisheit bedürftig sind; gäbe es keine Übel auf Erden, so würden wir kein vernünftiges Wesen sein.*
*D. h. unsere Vernunft würde sich nicht in der Weise, wie gegenwärtig, im Leben betätigen können. An sich stand die Vernunft auf einer höheren Stufe, als sie noch nicht das Gute und das Böse wusste.

Wenn nun diese Begründung richtig ist, die den Stoikern ganz entging, so fällt auch jener unumstößliche Beweis Epikurs in nichts zusammen, wenn er sagt;

Gott will entweder die Übel aufheben und kann nicht;

oder Gott kann und will nicht;

oder Gott will nicht und kann nicht;

oder Gott will und kann.

Wenn Gott will und nicht kann, so ist er ohnmächtig; und das widerstreitet dem Begriffe Gottes.

Wenn Gott kann und nicht will, so ist er missgünstig, und das ist gleichfalls mit Gott unvereinbar.

Wenn Gott nicht will und nicht kann, so ist er missgünstig und ohnmächtig zugleich, und darum auch nicht Gott.

Wenn Gott will und kann, was sich allein für die Gottheit geziemt, woher sind dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht hinweg?

Ich weiß, dass die meisten Philosophen, die für das Walten der Vorsehung eintreten, durch diese Beweisführung in Verlegenheit kommen und beinahe wider Willen zum Geständnis gedrängt werden, dass Gott sich um nichts kümmere; worauf es Epikur zunächst abgesehen hat.

Aber wir, denen der Grund der Übel am Tage liegt, lösen dieses Schreckbild von Beweis ohne Schwierigkeit auf.

Gott kann alles, was er will, und Schwäche oder Missgunst ist nicht in ihm. Er kann also die Übel hinwegnehmen, aber er will nicht; und doch ist er darum nicht missgünstig. Er nimmt sie aus dem Grunde nicht hinweg, weil er, wie bemerkt, dem Menschen zugleich die Weisheit (Vernünftigkeit) verliehen hat, und weil mehr Gutes und Annehmliches in der Weisheit liegt, als Beschwerlichkeit in den Übeln.

Denn die Weisheit bewirkt, dass wir auch Gott erkennen und vermöge dieser Erkenntnis die Unsterblichkeit erlangen, und darin besteht das höchste Gut. Wenn wir also nicht vorher das Übel erkennen, so vermögen wir auch das Gut nicht zu erkennen. Aber das hat weder Epikur noch irgendein anderer sich klar gemacht, dass mit der Aufhebung der Übel zugleich die Weisheit hinweggenommen würde, und dass keine Spur von Tugend mehr im Menschen bliebe; denn das Wesen der Tugend liegt im Ertragen und Überwinden der Bitterkeit der Übel. So müssten wir also wegen des geringfügigen Vorteils der Aufhebung der Übel des größten und wahren und uns ausschließlich zukommenden Gutes entbehren. Es steht demnach fest, dass alles der Bestimmung des Menschen dient, sowohl die Übel als auch die Güter .
S.101-103
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Vom Zorne Gottes (De ira dei), Ziffer 13, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung

Die Vernichtung der Gottheit durch Epikur
Der folgende Punkt ist aus der Schule Epikurs:

»Wie der Zorn nicht in Gott ist, so auch nicht die Gnade.«

Epikur war der Ansicht, es sei mit der Gottheit unvereinbar, Übel und Schaden zuzufügen, weil dies zumeist aus der Aufregung des Zornes hervorgeht; darum benahm er Gott auch das Wohltun; denn es schien ihm folgerichtig: wenn Gott Zorn habe, so müsse er auch Gnade haben. Um daher Gott nicht ein Gebrechen einräumen zu müssen, hat er ihn auch des Vorzugs beraubt.

»Gerade darum«, sagt er, »ist Gott glückselig und vom Verderbnis unberührt, weil er um nichts sich kümmert und weder selbst Mühsal hat, noch jemand Mühsal verursacht.«

Dann ist er auch nicht Gott, wenn er sich weder regt - was das Zeichen des Lebens ist -, noch etwas dem Menschen Unmögliches wirkt - was das Merkmal der Gottheit ist -, wenn er überhaupt keinen Willen, keine Tätigkeit, keine Verwaltung hat, die Gottes würdig wäre. Und welch größere, welch würdigere Verwaltung kann Gott zuerkannt werden als die Lenkung des Weltalls, als die Sorge für alles Lebende und vor allem für das menschliche Geschlecht, dem alles Irdische unterworfen ist? Was kann in Gott für eine Glückseligkeit sein, wenn er immer unbeweglich und regungslos starrt, wenn er taub ist für unsere Bitten und blind für unsere Verehrung? Was ist Gottes so würdig, was der Gottheit so wesentlich als die Fürsorge? Wenn Gott sich um nichts kümmert, wenn er für nichts Fürsorge trägt, so hat er alle Göttlichkeit eingebüßt.

Wer Gott die ganze Wirksamkeit, die ganze Wesenheit abspricht, was sagt dieser anders als: »Es gibt überhaupt keinen Gott?«

Markus Tullius
führt eine Äußerung des Posidonius an, nach der es wirklich die Ansicht Epikurs gewesen sei, dass es keine Götter gebe; was er über die Götter vorgebracht, habe er nur zur Vermeidung der Missgunst gesprochen; daher belasse er den Worten nach die Götter, in der Wirklichkeit hebe er sie auf; denn er erkennt ihnen keine Bewegung und keine Betätigung zu.

Wenn dem so ist, was ist dann falscher als Epikur? Falschheit aber verträgt sich nicht mit dem weisen und ernsten Manne. Wenn Epikur anders gedacht und anders gesprochen hat, was ist er dann anders zu nennen als trügerisch, doppelzüngig und böswillig und darum töricht? Indes war Epikur nicht so verschlagen, um in der Absicht der Täuschung so zu sprechen, zumal da er diese Aussprüche auch in Schriften zu immerwährendem Andenken niedergelegt hat. Es war die Unkenntnis der Wahrheit, die ihn irreführte. Denn er ließ sich von Anfang an durch die Wahrscheinlichkeit eines einzigen Satzes verleiten und geriet so notwendig in die Folgerungen hinein. Der erste Satz aber war, dass sich der Zorn für Gott nicht schicke. Dieser Satz schien ihm wahr und unwiderleglich zu sein, und so konnte er sich auch der Folgerungen nicht mehr erwehren; nachdem er einen Affekt von Gott ausgeschieden, zwang ihn die unvermeidliche Notwendigkeit, ihm auch die übrigen Affekte abzusprechen. Wer nicht zürnt, der wird auch nicht von Gnade bewegt; denn Gnade ist das Gegenteil von Zorn. In wem aber weder Zorn noch Gnade ist, in dem ist auch nicht Furcht und Freude, nicht Betrübnis und Mitleid. Denn auf e i n e r Grundlage beruhen die sämtlichen Affekte, und aus e i n e r Erregung gehen sie hervor, und von dieser kann nach Epikur bei Gott nicht die Rede sein. Wenn also keinerlei Affekt in Gott ist, weil alles, was Eindrücken unterliegt, schwächlich ist, so ist auch keine Sorge um irgendein Ding und keine Vorsehung in Gott. Bis hierher gelangte die Untersuchung des weisen Mannes; was weiter sich ergibt, hat er verschwiegen, nämlich: Wenn in Gott keine Sorge und keine Vorsehung ist, so ist auch kein Gedanke und keine Empfindung in ihm; daraus folgt, dass Gott überhaupt nicht ist. Nachdem so Epikur stufenweise hinabgestiegen, blieb er auf der letzten Stufe stehen, weil er bereits den Abgrund vor sich sah. Aber was nützt es zu schweigen und die Gefahr zu verheimlichen? Die Notwendigkeit hat ihn auch wider Willen zum Sturze gebracht. Denn er hat ausgesprochen, was nicht in seinem Willen lag, weil er die Beweisführung so angelegt hat, dass er notwendig zum Schlusse kommen musste, den er vermeiden wollte. Du siehst also, wohin man gelangt, wenn man den Zorn wegnimmt und der Gottheit abspricht. Freilich glaubt dies niemand oder nur gar wenige, und zwar Frevler und Bösewichte, die für ihre Sünden Ungestraftheit erhoffen. S. 73-75
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Vom Zorne Gottes (De ira dei), Ziffer 4, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung


Die Vernichtung der Grundlage der Religion durch Epikur
Die Religion wird aber tatsächlich aufgelöst, wenn wir dem Epikur glauben, der sich in folgender Weise ausspricht:

»Alles, was Wesen der Götter besitzt, muss für sich allein sein,
Muss das unsterbliche Leben in höchstem Frieden genießen,
Unseren Dingen entrückt und weit von ihnen geschieden. -
Unzugänglich dem Schmerz, geschützt vor jeder Gefährdung,
Selig in eigener Fülle, mitnichten unser bedürftig,
Werden sie, wie von Verdienst nicht berührt, so von Zorn nicht ergriffen.«

Lukr. II 646 f.

Indem Epikur so spricht, glaubt er da noch, dass man Gott irgendeine Verehrung erweisen müsse, oder stürzt er alle Religion um? Wenn Gott niemand Gutes erweist, wenn er dem Verehrer für seine Willfährigkeit keinen Dank erstattet, was ist dann so überflüssig, was so töricht, als Tempel zu erbauen, Opfer darzubringen, Geschenke auf den Altar zu legen, das Vermögen zu mindern, um am Ende nichts zu erlangen? »Aber man muss doch das vortrefflichste Wesen ehren.« Welche Ehre soll man dem schulden, der um nichts sich kümmert und der für nichts dankt? Können wir aus irgendeinem Grunde dem verpflichtet sein, der mit uns nichts zu tun haben will? »Wenn Gott so beschaffen ist«, sagt Cicero, »dass ihn keine Gnade, keine Liebe zu den Menschen beseelt, so gehab' er sich wohl.« Denn was soll ich sagen: »Gott sei mir gnädig?" wenn er doch»niemand gnädig sein kann«. Welche Sprache kann gegen Gott verächtlicher sein, als »er gehabe sich wohl«, d, h. er mache sich fort und verschwinde, nachdem er doch niemand nützen kann. Wenn Gott in seiner Ruhe weder gestört werden will noch andere stört, warum sollen wir uns dann vor Pflichtverletzungen hüten, so oft wir uns der Mitwissenschaft der Menschen entziehen und die öffentlichen Gesetze umgehen können? Wo nur immer uns Gelegenheit zum Verborgensein winkt, da wollen wir auf die Mehrung des Vermögens bedacht sein und Fremdes wegnehmen ohne Blut oder auch mit Blut, wenn man außer den Gesetzen nichts weiter zu fürchten braucht.

Mit solchen Anschauungen vernichtet Epikur die Religion von Grund aus; und ihrer Aufhebung folgt die Verwirrung und Zerrüttung des menschlichen Lebens.

Wenn man aber die Religion nicht aufheben kann, ohne dass wir auf die Vernünftigkeit, die uns von den Tieren unterscheidet, ohne dass wir auf die Gerechtigkeit, die dem gemeinschaftlichen Leben Sicherheit verleiht, verzichten, wie kann dann die Religion selbst ohne Furcht erhalten und bewahrt werden? Was man nicht fürchtet, schätzt man gering; und was man gering schätzt, wird man sicherlich nicht verehren. So ergibt sich, dass Religion, Würde und Ehre auf Furcht sich gründet; Furcht aber kann nicht bestehen, wo niemand zürnt.

Man mag also der Gottheit die Gnade oder den Zorn oder beides zugleich absprechen, immer ist die Aufhebung der Religion die notwendige Folge; ohne Religion aber sinkt das menschliche Leben zu einem Gemisch von Torheit, Verbrechen und Unmenschlichkeit herab. Denn ein mächtiger Zügel ist für den Menschen das Gewissen, wenn wir nämlich im Angesichte Gottes zu leben glauben, wenn wir überzeugt sind, dass der Himmel auf unsere Werke schaut, ja dass Gott auch unsere Gedanken wahrnimmt und unsere Worte hört.

»Freilich ist es gut, das zu glauben - so wähnen manche - aber nicht der Wahrheit, sondern des Nutzens halber, nachdem die Gesetze das Gewissen nicht strafen können; es muss daher irgendein Schrecken vom Himmel drohen, um die Ausschreitungen im Zaum zu halten.« Somit wäre alle Religion falsch, und es gäbe keine Gottheit; vielmehr wäre alles von klugen Männern erdichtet worden, um das Leben ordentlicher und schuldloser zu gestalten. Das ist eine wichtige Frage, die aber nicht zum Gegenstand, den wir zu behandeln haben, gehört; weil sie sich indes notwendig aufdrängt, so müssen wir sie, wenn auch kurz, berühren. S.81f.
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Vom Zorne Gottes (De ira dei), Ziffer 8, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung

Ursprung des Bösen
Hier könnte man vielleicht fragen: Woher sind denn die Sünden an den Menschen gekommen, und welche Verkehrtheit hat die Unwandelbarkeit der göttlichen Anordnung zum Schlechteren gezerrt, so dass der Mensch, der doch zur Gerechtigkeit geboren ist, die Werke der Ungerechtigkeit tut? Ich habe bereits oben auseinandergesetzt, dass Gott dem Menschen Gutes und Böses vor Augen gestellt hat, das Gute, um es zu lieben, das Böse, das dem Guten widerstrebt, um es zu hassen, und dass er darum das Böse zugelassen, damit auch das Gute hervorstrahle; denn das eine kann ohne das andere, wie öfters bemerkt, nicht bestehen. Ist ja auch die Welt aus zwei widerstrebenden und doch miteinander verbundenen Elementen zusammengesetzt, dem feurigen und dem flüssigen; und es hätte das Licht nicht entstehen können, wenn nicht auch Finsternis gewesen wäre; denn es kann kein Oberes geben ohne Unteres, keinen Aufgang ohne Untergang, wie es auch Warmes ohne Kaltes, Weiches ohne Hartes nicht geben kann. So sind auch wir aus zwei gleichermaßen widerstrebenden Bestandteilen zusammengesetzt, der Seele und dem Leibe. Der eine Bestandteil gehört der Ordnung des Himmels an, denn er ist fein und unfassbar; der andere gehört dem Gebiet der Erde an, denn er ist fassbar und greifbar. Die Seele ist unvergänglich und ewig, der Leib gebrechlich und sterblich. Der Seele haftet das Gute an, dem Leib das Böse, der Seele Licht, Leben und Gerechtigkeit, dem Leib Finsternis, Tod und Ungerechtigkeit. Daraus entstand im Menschen die Verschlechterung seiner Natur, so dass man ein Gesetz aufstellen musste, das die Laster in Schranken halten und die Pflichten der Tugend einschärfen sollte. Da es also im menschlichen Leben Gutes und Böses gibt, wovon ich den Grund dargelegt habe, so muss Gott nach beiden Seiten hin angeregt werden, zur Gnade, wenn er Gerechtes geschehen sieht, und zum Zorne, wenn er ungerechte Werke schaut.

Aber hier tritt uns Epikur entgegen und spricht:

»Wenn in Gott die Anreizung der Freude ist, die ihn zur Gnade, und die Anreizung des Hasses, die ihn zum Zorne bewegt, so muss Gott auch Furcht und Lüsternheit und Habsucht und die übrigen Gemütsbewegungen haben, die das Erbteil der menschlichen Schwäche sind.«

Es muss der nicht notwendig Furcht haben, welcher zürnt, und der nicht notwendig sich betrüben, welcher sich freut; sind ja doch auch die Zornmütigen weniger furchtsam, und die von Natur aus Fröhlichen weniger für Trauer empfänglich. Doch was bedarf es der Bezugnahme auf die menschlichen Stimmungen, denen unsere Gebrechlichkeit unterworfen ist? Betrachten wir das unwandelbare Sein Gottes — ich rede nicht vom Gesetz des Werdens (natura) in Gott, da Gott niemals geworden (natus) ist —. So ist z. B. zur Furcht Grund und Anlass im Menschen vorhanden nicht aber in Gott. Denn der Mensch ist vielen Wechselfällen und Gefahren ausgesetzt und muss daher fürchten, dass irgendeine überlegene Gewalt auftreten kann, die ihn peitscht, beraubt, zerfleischt, zu Boden wirft und ums Leben bringt; Gott aber, bei dem weder Dürftigkeit noch Gewalttat, weder Schmerz noch Tod in Betracht kommt, kann schlechterdings nicht fürchten; denn es gibt nichts, was ihm Gewalt antun könnte. So liegt auch für den Menschen Grund und Ursache der Lust am Tage; denn weil der Mensch gebrechlich und sterblich geschaffen ist, so war es notwendig, dass ein anderes verschiedenes Geschlecht begründet wurde, damit aus der Verbindung beider Geschlechter die Nachkommenschaft erzeugt würde zur immerwährenden Erhaltung des menschlichen Geschlechtes. Diese Lust bleibt für Gott außer Betracht; denn Gebrechlichkeit und Untergang ist ihm fremd; auch gibt es im Himmel nicht Götter und Göttinnen; und der bedarf keiner Nachkommenschaft, der ein unvergängliches Leben hat. Das gleiche gilt von Missgunst und Eigennutz; diese Gebrechen treffen aus bestimmten und offenkundigen Ursachen beim Menschen zu, aber in keiner Weise bei Gott. Aber für Gnade und Zorn und Erbarmung ist Grund und Anlass zur Betätigung in Gott, und mit Recht bedient sich ihrer die höchste und einzigartige Macht zur Erhaltung der Welt. S. 104-106
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Vom Zorne Gottes (De ira dei), Ziffer 15, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung

Die Einwände Epikurs gegen den Zorn Gottes
»Gott kümmert sich um nichts«, sagt Epikur. Dann hat Gott auch keine Macht — denn der muss sich annehmen, welcher Macht hat —; oder wenn Gott Macht hat und sie nicht gebraucht, was ist dann die Ursache einer solchen Vernachlässigung, dass ihm, ich sage nicht unser Geschlecht, sondern das ganze Weltall gleichgültig ist? »Darum ist Gott unvergänglich und glückselig, weil er immer in Ruhe ist.« Wem ist also die Verwaltung so großer Dinge zugefallen, wenn dieses All von Gott vernachlässigt wird, das wir mit höchster Vernunftmäßigkeit geleitet sehen? Oder wie kann der untätig sein, der lebt und empfindet? Ruhe ist Sache des Schlafes oder des Todes. Aber selbst der Schlaf hält nicht Ruhe. Wenn wir eingeschlummert sind, so ruht zwar der Leib, aber der Geist ist ohne Unterlass tätig; er gestaltet sich Bilder für das geistige Schauen, um seine natürliche Regsamkeit durch die Mannigfaltigkeit der Traumgesichte zu beschäftigen, und unterhält sich mit Vorstellungen, bis die Glieder ihr Genüge haben und neue Lebenskraft aus der Ruhe schöpfen. Immerwährende Ruhe ist nur dem Tode vorbehalten. Wenn aber der Tod mit Gott nichts zu tun hat, so ist also Gott niemals untätig. Worin nun kann Gottes Tätigkeit anders bestehen als in der Verwaltung der Welt? Wenn aber Gott Sorge trägt für die Welt, so kümmert er sich auch um das Leben der Menschen; dann nimmt er auch die Handlungen der einzelnen wahr und wünscht, dass diese Handlungen weise und gut sind. Dies ist der Wille Gottes, dies das göttliche Gesetz; wer es befolgt und beobachtet, der ist Gott lieb. Es muss also Gott von Zorn bewegt werden wider den, der dieses ewige und göttliche Gesetz verletzt und missachtet. S. 108-109
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Vom Zorne Gottes (De ira dei), Ziffer 17, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung

Leugnung der Vorsehung durch Epikur
Epikurs Lehre besteht im wesentlichen in der Leugnung der Vorsehung; und doch lehnt er dabei das Dasein der Götter nicht ab: beides gegen die Vernunft. Wenn es Götter gibt, so muss es auch eine Vorsehung geben. Anders kann man sich Gott nicht denken, als dass ihm die Fürsorge wesentlich ist.

»Gott kümmert sich um nichts«,
sagt Epikur.

So kümmert er sich also nicht um die Dinge auf Erden, ja nicht einmal um die Dinge des Himmels. Wie und mit welchen Gründen willst du dann erweisen, dass es einen Gott gibt? Denn schließt man die göttliche Voraussicht und Fürsorge aus, so wäre es nur folgerichtig, Gott das Dasein überhaupt abzusprechen. So hast du Gott im Worte belassen und in der Sache aufgehoben. Woher ist denn der gesetzmäßige Gang der Welt, wenn Gott sich um nichts kümmert?

»Es gibt winzige Sämchen, die man weder sehen noch berühren kann; durch ihr zufälliges Zusammentreffen ist alles entstanden und entsteht immerfort alles.«

Wenn man sie weder sehen noch mit irgendeinem Teil des Leibes wahrnehmen kann, woher konntest du dann wissen, dass sie sind? Und wenn sie sind, wie kommt es ihnen denn in den Sinn, sich zusammenzuscharen, um etwas hervorzubringen? Wenn sie glatt sind, so können sie nicht aneinander haften; wenn sie hakig und eckig sind, so sind sie teilbar; denn Haken und Ecken stehen hervor und können abgetrennt werden. Doch das sind wahnwitzige und unnütze Dinge
. S. 165
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Auszug aus den göttlichen Unterweisungen, , Ziffer 31, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung

Epikurs Lehre von der Zerstörbarkeit der Seelen
Und erst Epikurs Lehre von der Zerstörbarkeit der Seelen! Da widerlegen ihn nicht bloß sämtliche Philosophen und die allgemeine Überzeugung, sondern auch die Aussprüche der Seher, die Weissagungen der Sibyllen, ja auch die göttlichen Stimmen der Propheten, so dass man sich wundern muss, wie Epikur allein auftreten konnte, um das Los des Menschen den Tieren in Feld und Wald gleichzustellen.
S. 165f
Bibliothek der Kirchenväter, Des Luc. Cael. Firm. Lactantius Schriften: Auszug aus den göttlichen Unterweisungen, , Ziffer 31, 1919 Kempten & München, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung

Cicero über die Philosophie Epikurs
Die Vorstellungen über glückselige und unsterbliche Götter sind angeboren
(43) Mit den Verirrungen der Dichter kann man allerdings auch die Ungeheuerlichkeiten der Magier und die Verrücktheiten der Ägypter, die sich auf demselben Gebiet zeigen, auf eine Stufe stellen, ferner die Anschauungen der breiten Masse, die aus Unkenntnis der Wahrheit von höchster Inkonsequenz gekennzeichnet sind.

Wer darauf achtet, wie unüberlegt und grundlos diese Äußerungen sind, muss doch wohl Epikur verehren und ihn zu der Zahl eben derer rechnen, die Gegenstand unserer Erörterung sind. Er allein erkannte nämlich als erstes, dass es Götter gibt, weil die Natur selbst eine Vorstellung von ihnen in die Seelen aller Menschen eingeprägt hat. Denn welches Volk oder welcher Menschenschlag hätte nicht auch ohne Unterweisung einen bestimmten Vorbegriff von den Göttern? Ihn nennt Epikur Prolepsis, d. h. ein gewisses, in der Seele bereits vorgefasstes Bild von einer Sache, ohne das man weder etwas verstehen noch untersuchen, noch wissenschaftlich erörtern kann. Bedeutung und Nutzen dieser Lehre kennen wir aus jenem geradezu göttlichen Werk Epikurs »Über Regel und Urteil«.

(44) Was also das Fundament unserer Diskussion ist, seht ihr nun in schönster Klarheit gelegt. Weil ja der Glaube an die Götter nicht auf irgendeiner Anordnung, Sitte oder einem Gesetz gründet und ausnahmslos einhelliger Konsens besteht, muss man die Existenz von Göttern notwendigerweise einsehen, eben da wir eingepflanzte oder besser: angeborene Vorstellungen von ihnen haben. Worin aber alle von Natur aus übereinstimmen, das muss zwangsläufig wahr sein; folglich muss man die Existenz von Göttern zugeben. Da hiervon fast alle überzeugt sind — nicht nur die Philosophen, sondern auch die Ungebildeten —‚ bekunden wir, dass auch folgendes zutrifft: Wir besitzen einen Vorbegriff, wie ich eben sagte, oder eine Vorahnung von den Göttern — neuen Ideen muss man ja neue Namen geben, so wie Epikur selbst dafür das Wort »Prolepsis« benutzte, was niemand vor ihm dafür verwendete —‚ wir besitzen also diese Vorahnung, welche uns auch dazu bringt, die Götter für glückselig und unsterblich zu halten.

(45) Denn dieselbe Natur, die uns eine Vorstellung von den Göttern selbst gab, hat in unsere Seelen auch eingeprägt, sie für ewig und glückselig zu halten. Wenn dem so ist, hat Epikur auch jenen bekannten Satz wahrheitsgemäß formuliert: Etwas, das glückselig und ewig ist, empfindet selbst keinerlei Unannehmlichkeiten und bereitet sie auch keinem anderen; daher kennt es weder Zorn noch Sympathie, da alles Derartige ein Zeichen von Schwäche wäre.

Ginge es uns nur darum, die Götter fromm zu verehren und uns vom Aberglauben zu befreien, wäre schon genug gesagt. Denn die Menschen würden dann das erhabene Wesen der Götter fromm verehren, weil es ewig und glückselig ist — alles Herausragende erfährt ja gebührende Verehrung —‚ und jede Furcht vor der Macht und dem Zorn der Götter wäre vertrieben. Man begreift nämlich, dass sich Zorn und Sympathie mit einem glückseligen und unsterblichen Wesen nicht vereinbaren lassen; gibt es diese Gefühle nicht, haben wir von den Himmlischen überhaupt nichts zu befürchten. Doch zur Bestärkung dieser Ansicht fragt unser Verstand nach der Gestalt, der Lebensweise und der geistigen Tätigkeit und Aktivität eines Gottes.

(46) Über die Gestalt gibt uns freilich teils die Natur Auskunft, teils belehrt uns der Verstand. Denn von Natur aus haben wir Menschen in allen Völkern von den Göttern nur eine rein menschliche Vorstellung; denn welch andere Gestalt erscheint jemals einem Menschen, ob er nun wach ist oder schläft? Doch um nicht alles auf die Vorbegriffe zurückzuführen, auch der Verstand selbst führt zu demselben Ergebnis.

(47) Da es angemessen scheint, dass das alles überragende Wesen, sei es, weil es glückselig, sei es, weil es ewig ist, auch das schönste ist, welcher Körperbau, welche Bildung der Gesichtszüge, welche Gestalt und welche Erscheinung könnte die des Menschen an Schönheit übertreffen? Wenigstens ihr Lucilius, — mein Cotta redet ja mal so, mal so — pflegt, wenn ihr das kunstreiche Wirken der Götter darstellt, zu beschreiben, wie in der menschlichen Gestalt alles nicht nur dem Nutzen, sondern auch der Schönheit dient.

(48) Wenn nun die Gestalt des Menschen die aller anderen Lebewesen an Schönheit übertrifft, ein Gott aber ein Lebewesen ist, dann ist ganz bestimmt diese Gestalt die schönste von allen. Und da weiter gilt, dass sich die Götter im Zustand höchster Glückseligkeit befinden, niemand aber ohne Tugend glückselig zu sein vermag, Tugend ohne Vernunft nicht bestehen und die Tugend nirgendwo anders als in der Gestalt des Menschen beherbergt sein kann, muss man zugeben, dass die Götter eine menschliche Gestalt haben.

(49) Gleichwohl handelt es sich bei dieser Gestalt nicht um einen Körper, sondern nur um eine Art Körper, und sie besitzt auch kein Blut, sondern bloß eine Art Blut. Allerdings hat Epikur diese Dinge mit zu großem Scharfsinn erschlossen und mit zu großer Genauigkeit formuliert, als dass sie jedermann verstehen könnte; dennoch rede ich, im Vertrauen auf eure Intelligenz, darüber weniger ausführlich, als es die Sache eigentlich erfordert. Epikur aber, der Dunkles und tief Verborgenes nicht nur im Geiste sieht, sondern sogar fast wie mit Händen greift, lehrt, die Macht und das Wesen der Götter sei so beschaffen, dass es erstens nicht mit den Sinnen, sondern mit dem Geist erkannt wird, auch nicht in einer gewissen Festigkeit und individuell einzeln wie die Dinge, die er wegen ihrer Festigkeit Steremnien nennt, sondern durch Bilder, die in ihrer Ähnlichkeit (bzw. Artgleichheit) und durch ihren Übergang wahrgenommen werden. Weil die unendliche Erscheinung der äußerst ähnlichen Bilder aus unzähligen Atomen entsteht und zu uns herbeiströmt, richte sich unser Geist mit höchster Lust angespannt und fest auf diese Bilder und gewinne die Erkenntnis, was ein glückseliges und ewiges Wesen ist.

(50)
Der Begriff der Unendlichkeit ist aber höchst wichtig und verdient eine intensive, sorgfältige Betrachtung. Dabei muss man notwendigerweise erkennen, dass in der Natur alles Gleiche jeweils Gleichem entspricht. Epikur redet hier von isonomenía, das heißt der gleichmäßigen Verteilung. Daraus ergibt sich also folgendes: Wenn es so viele sterbliche Wesen gibt, gibt es auch genauso viele unsterbliche, und wenn die zerstörenden Kräfte zahllos sind, dann müssen auch die erhaltenden unbegrenzt sein.

Außerdem wollt ihr, mein Balbus, von uns immer wissen, wie das Leben der Götter aussieht und wie sie ihre Zeit verbringen.

(51) Natürlich so, wie man es sich glücklicher und mit allen Gütern reicher gesegnet nicht vorstellen kann. Denn ein Gott tut nichts, ist in keine Geschäfte verwickelt, plagt sich mit keiner Arbeit, sondern freut sich seiner Weisheit und Tugend und verlässt sich darauf, stets in höchsten und vor allem in ewigen Wonnen zu leben.

(52)
Einen solchen Gott können wir mit Recht glückselig nennen, den euren aber nur mühsalbeladen. Wenn nämlich zum einen Welt und Gott identisch sind, was kann dann größere Unruhe bedeuten, als sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit unausgesetzt um die Himmelsachse zu drehen? Ruhe ist indes für die Glückseligkeit unabdingbar Wenn zum anderen ein Gott selbst in der Welt ist, einer, der sie lenkt und steuert, der sich um den Lauf der Sterne, den Wechsel der Jahreszeiten, die Wiederkehr und Ordnung der Naturerscheinungen kümmert und der, Länder und Meere im Blick habend, das Wohlergehen und Leben der Menschen schützt, dann ist dieser Gott fürwahr in beschwerliche und mühsame Aufgaben verstrickt.

(53) Wir jedoch definieren das glückselige Leben als Seelenruhe und Freisein von allen Pflichten. Denn uns lehrte derselbe Meister, von dem wir auch alles übrige gelernt haben, dass die Welt durch natürliche Kräfte hervorgebracht wurde, es überhaupt keiner Kunstfertigkeit bedurfte und diese Sache ebenso einfach sei, wie ihr es eurerseits für unmöglich erklärt, dass die Natur ohne göttlichen Schöpfergeist unzählige Welten erschaffen werde, erschaffe und erschaffen habe. Da ihr nicht seht, wie die Natur in der Lage ist, dies ohne irgendwelche Geistesgaben zustande zu bringen, nehmt ihr wie die Dichter der Tragödie, wenn euch am Ende keine Lösung des Handlungsknotens einfällt, Zuflucht bei einer Gottheit.

(54) Deren Eingreifen würdet ihr gewiss nicht brauchen, wenn ihr die unermessliche und nach allen Seiten grenzenlose Weite der Räume sähet, in die sich unsere Seele hineinversetzt und versenkt und weit und breit durchwandert, ohne indes eine äußerste Begrenzung zu erblicken, wo sie haltmachen könnte. In dieser Unendlichkeit der Längen, Breiten und Höhen also schwirrt eine unendliche Menge zahlloser Atome umher, die trotz vorhandener Zwischenräume beginnen, sich miteinander zu verbinden, und die dadurch, dass sie sich gegenseitig erfassen, eine ununterbrochene Reihe bilden. Daraus werden dann die Formen und Gestalten der Dinge, deren Entstehen ihr ohne Blasebälge und Ambosse für unmöglich haltet. Und so habt ihr uns einen ewigen Herrn in den Nacken gesetzt, den wir Tag und Nacht fürchten müssen. Wer nämlich sollte einen Gott nicht fürchten, der alles voraussieht, bedenkt und bemerkt, der glaubt, alles gehe ihn etwas an, sich für alles interessiert und überhäuft ist mit Geschäften?

(55) Von daher habt ihr zuerst einmal jene bekannte Lehre von der schicksalhaften Notwendigkeit, die ihr heimarméne nennt, entwickelt; sie bringt euch zu der Aussage, dass alles, was geschehe, Ausfluss der ewigen Wahrheit und die unaufhörliche Folge von Ursachen sei. Wieviel muss man aber von einer Philosophie halten, für die alles, wie für alte Weiblein, und zwar ungebildete, nach vorherbestimmtem Schicksal eintritt? Dann folgt noch eure mantiké, die auf lateinisch divinatio (>Weissagung<) heißt und durch die wir, sollten wir auf euch hören, mit solchem Aberglauben erfüllt würden, dass wir auch Opferschauer, Vogelflugdeuter, Wahrsager, Seher und Traumdeuter verehren müssten.

(56) Epikur hat uns freilich von diesen Schreckbildern erlöst und in die Freiheit entlassen, und so fürchten wir auch nicht die, welche nach unserem Verständnis weder sich selbst Mühsal bereiten noch anderen zufügen wollen, sondern verehren ehrfürchtig und fromm ihr erhabenes und herrliches Wesen.
S. 45-55
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 43-56
Reclams Universalbibliothek Nr. 6881 © 1995 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Erscheinungsbild der Götter
(69) Als Epikur zum Beispiel erkannte, dass nichts mehr in unserer Macht stände, wenn die Atome aufgrund ihres Eigengewichtes nach unten fielen, weil ihre Bewegung dann notwendig festläge, fand er einen Ausweg, diese Zwangsläufigkeit auszuschalten, einen Ausweg, auf den Demokrit freilich nicht gekommen war: Er sagt einfach, das Atom ändere, wenn es durch Gewicht und Schwerkraft ganz senkrecht abwärts falle, ein ganz klein wenig seine Richtung.

(70) Eine solche Äußerung ist skandalöser, als eine gewünschte Behauptung nicht verteidigen zu können. Genauso geht er gegen die Dialektiker vor. Da sie, wie man weiß, die Position vertreten, bei allen Disjunktivsätzen, für die das Prinzip gelte »Entweder etwas ist, oder es ist nicht«, sei einer der beiden Teile wahr, hatte er die große Befürchtung, wenn man einen Satz wie »Entweder wird Epikur morgen noch leben oder nicht mehr leben« akzeptiere, treffe eines von beiden zwangsläufig ein. So bestritt er die Notwendigkeit der ganzen Alternative. Hätte man etwas noch Dümmeres sagen können? Arkesilaos setzte dem Zenon damit hart zu, dass er alle Sinneseindrücke für falsch erklärte, für Zenon jedoch nur manche falsch waren, nicht alle. Epikur war nun in Sorge, dass überhaupt keine Wahrnehmung mehr richtig sei, wenn sich auch nur eine als falsch herausstellte. Somit erklärte er alle sinnlichen Eindrücke als Boten der Wahrheit. Alle diese Auslassungen sind denkbar unüberlegt. Er musste nämlich einen noch schwereren Schlag einstecken, bloß um einen leichteren abzuwehren.

(71) Ebenso verfährt er beim Wesen der Götter: Während er bei ihnen eine Zusammballung unteilbarer Körper ausschalten will, damit nicht auch Untergang und Auflösung daraus erfolge, sagt er, die Götter hätten keinen Körper, sondern nur eine Art Körper, und auch kein Blut, sondern bloß eine Art Blut. Es scheint verwunderlich, dass ein Opferschauer beim Anblick eines anderen Opferschauers nicht in Gelächter ausbricht. Muss man sich aber nicht noch mehr wundern, dass ihr euch in eurem Kreis das Lachen verbeißen könnt? »Es ist kein Körper, sondern nur eine Art Körper«. Ich könnte begreifen, was damit gemeint ist, wenn man so über Wachs- oder Tonfiguren spräche. Doch was bei einem Gott eine Art Körper oder eine Art Blut bedeuten soll, übersteigt mein Verständnis. Das kannst nicht einmal du verstehen, mein Velleius, aber du willst es nicht zugeben.

(72) Diese Sätze, die Epikur im Halbschlaf dahergeschwätzt hat, spult ihr nun ab, wie wenn sie euch diktiert worden wären, obwohl er sich, wie wir aus seinen Schriften ersehen, rühmte, überhaupt keinen Lehrer gehabt zu haben. Das würde ich ihm, auch ohne sein ausdrückliches Bekenntnis, ohne weiteres glauben, ebenso wie dem Eigentümer eines schlechtgebauten Hauses, wenn er stolz darauf verweist, keinen Architekten zu Rate gezogen zu haben. Bei ihm nämlich riecht nichts nach der Akademie, nichts nach dem Lykeion, nichts auch nur nach dem Schulbesuch eines Kindes. Dabei hätte er Xenokrates hören können — was für ein Mann, ihr unsterblichen Götter! —‚ und manche meinen auch, er habe es getan. Er selbst will es nicht zugeben: darin glaube ich keinem mehr als ihm. Die Vorlesungen eines gewissen Pamphilos, eines Platon-Schülers, hat er, wie er erzählt, auf Samos besucht — als junger Mann wohnte er ja da mit seinem Vater und seinen Brüdern, da sein Vater Neokles dort als Siedler eingewandert war; doch weil der kleine Hof ihn nicht ausreichend ernährte, wurde er, soviel ich weiß, Schulmeister.

(73) Für diesen Platoniker zeigt Epikur allerdings eine erstaunliche Verachtung: Solche Angst hat er, er könne den Eindruck erwecken, jemals etwas gelernt zu haben. Bei Nausiphanes, einem Anhänger Demokrits, wird er jedoch überführt. Obwohl er gar nicht abstreitet, ihn gehört zu haben, kränkt er ihn durch Beleidigungen aller Art. Und selbst wenn er diese Theorien Demokrits wirklich nicht gehört hätte, was hatte er dann gehört, was in Epikurs Naturphilosophie stammt nicht von Demokrit? Denn mag er auch einiges verändert haben — ich habe eben die Richtungsabweichung der Atome erwähnt —‚ sagt er doch meist dasselbe über die Atome, die Leere, die Bilder, die Unendlichkeit der Räume und die unermessliche Zahl der Welten, über deren Ursprung und Untergang, also fast über alles, was die Naturphilosophie zum Inhalt hat.

Jetzt aber zu diesen sonderbaren Formulierungen »eine Art Körper« und »eine Art Blut«, was meinst du damit?

(74) Denn ich gebe nicht nur offen zu, dass du darüber besser Bescheid weißt als ich, sondern kann es sogar gut akzeptieren. Wenn die Begriffe nun einmal so gefallen sind: Warum kann Velleius sie begreifen, Cotta aber nicht? Was ein Körper, was Blut ist, verstehe ich also wohl, was hingegen eine Art Körper und eine Art Blut ist, verstehe ich absolut nicht. Du verheimlichst mir ja nicht etwas, so wie es Pythagoras Nichteingeweihten gegenüber zu tun pflegte, und du redest auch nicht absichtlich rätselhaft wie Herakleitos, sondern — ein freies Wort sollte unter uns erlaubt sein — du verstehst es selber auch nicht.

(75) Du streitest, wie ich sehe, für ein Erscheinungsbild der Götter, das nichts Verdichtetes, nichts Festes und keine ausgeprägten und hervortretenden Konturen hat und stattdessen rein, leicht und durchsichtig sein soll. Also werden wir dasselbe sagen wie bei der Venus von Kos: Das ist kein Körper, nur das Abbild eines Körpers, und die ihn überziehende, mit hellem Weiß vermischte Röte ist kein Blut, sondern etwas Blutähnliches; ebenso hätte der epikureische Gott keinen wirklichen Körper, sondern bloß Ähnlichkeiten mit realen Eigenschaften.

Nimm einmal an, ich sei von dem, was man sich nicht einmal vorstellen kann, überzeugt. Also auf, zeige mir die Züge und Formen dieser Schatten-Götter!

(76) Es fehlt auch hier nicht an einer Fülle von Gründen, mit denen ihr die menschliche Gestalt der Götter nachweisen wollt. Erstens, weil es in unseren Seelen eine angeborene, klare Vorstellung gebe, so dass dem Menschen beim Gedanken an eine Gottheit eine menschliche Gestalt vor Augen trete; zweitens, weil das göttliche Wesen, da es ja alles andere übertreffe, auch die schönste Gestalt haben müsse und es keine schönere als die menschliche gebe. Als dritten Beweis führt ihr an, dass der Geist in keiner anderen Gestalt seinen Wohnsitz haben könne.

(77) Überlege nun zuerst einmal, was das alles bedeutet. Denn wie mir scheint, übernehmt ihr gleichsam eigenmächtig eine keineswegs einleuchtende Behauptung. Erstens: Wer überhaupt wäre bei der Betrachtung dieser Fragen jemals so blind gewesen, nicht zu sehen, dass dieses menschliche Erscheinungsbild entweder von Philosophen in der bestimmten Absicht auf die Götter übertragen wurde, um unerfahrene Menschen leichter von ihrem verkehrten Lebenswandel abzubringen und zur Verehrung der Götter zu bewegen, oder aber aus Aberglauben, um Bilder zu haben, bei deren Verehrung die Leute meinen können, sich an die Götter selbst zu wenden? Genau dieselben Vorstellungen aber bekräftigten noch die Dichter, Maler und Bildhauer. Es wäre nämlich nicht leicht gewesen, den Glauben an tätige und handelnde Götter aufrechtzuerhalten, wenn man für sie das Vorbild anderer Gestalten gewählt hätte.
S. 65-71
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 69-77
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Leugnung der Existenz der Götter
(87) Doch da du dich ja nicht traust — ich will jetzt nämlich mit Epikur persönlich reden —‚ die Existenz der Götter zu leugnen, welchen Hinderungsgrund hast du dann, die Sonne, das Weltall oder irgendeine ewige geistige Kraft nicht zu den Göttern zu zählen? »Ich habe«, antwortet er, »eine mit Vernunft und Einsicht begabte Seele immer nur in einer menschlichen Gestalt gefunden.« Wie denn, hast du denn sonst schon je so etwas wie die Sonne, den Mond oder die fünf Planeten gesehen? Die Sonne vollendet ihren Jahreslauf, indem sie ihre Bewegung zwischen den äußersten Punkten eines einzigen Kreises begrenzt. Ebendiese Bahn durchläuft der durch ihre Strahlen erleuchtete Mond innerhalb eines Monats. Die fünf Gestirne indes, die denselben Kreis beschreiben, durchmessen — die einen näher an der Sonne, die anderen weiter entfernt — von identischen Ausgangspunkten aus in unterschiedlichen Zeiträumen dieselben Strecken. Hast du, Epikur, solches etwa sonst schon gesehen?

(88) Dann gäbe es folglich weder die Sonne noch den Mond, noch die Planeten, weil ja nur das existieren kann, was wir berührt oder gesehen haben. Und weiter: Hast du denn etwa schon eine Gottheit selbst gesehen? Wieso hältst du dann an ihrer Existenz fest? Lasst uns also alles beiseite schieben, was uns die Geschichte oder die Wissenschaft an neuen Erkenntnissen bringt. Als nächstes käme, dass die Menschen im Binnenland nicht an die Existenz des Meeres glauben. Was wäre dies für eine gewaltige geistige Beschränktheit! Denn wärest du auf Seriphos geboren und hättest die Insel, auf der du kleine Hasen und Füchse des öfteren gesehen hättest, niemals verlassen, würdest du konsequenterweise nicht glauben, dass es Löwen und Panther gibt, obwohl man sie dir beschriebe, und du müsstest annehmen, man mache sich sogar über dich lustig, wenn man dir auch noch von einem Elefanten erzählte.

(89) Allerdings hast du deinen Satz, mein Velleius, nicht in der bei euch üblichen Weise, sondern nach der dialektischen Methode, die euren Leuten völlig unbekannt ist, in einer recht gedrängten Beweisführung zu einem Schluss zusammengefasst. Dabei bist du von der Glückseligkeit der Götter ausgegangen: Ich bin damit einverstanden. Niemand aber könne ohne Tugend glückselig sein: Auch das räume ich ein, und zwar gern. Tugend könne jedoch ohne Vernunft nicht bestehen: Auch hiermit muss man übereinstimmen. Nun fügst du hinzu, Vernunft könne nur einer menschlichen Gestalt innewohnen. Wer, meinst du, wird dir das zubilligen? Wäre das nämlich der Fall, wieso war es dann nötig, schrittweise dahin zu gelangen? Du hättest es mit vollem Recht für gegeben annehmen können. Wie steht es jedoch mit diesem schrittweisen Vorgehen? Denn, wie ich sehe, bist du Schritt für Schritt von den Glückseligen zur Tugend und von der Tugend zur Vernunft gekommen. Doch wie gelangst du von der Vernunft zur menschlichen Gestalt? Das ist in der Tat ein Absturz, kein schrittweiser Abstieg.

(90) Ich verstehe aber auch nicht, warum Epikur die Götter lieber als die Ebenbilder der Menschen statt die Menschen als die Ebenbilder der Götter bezeichnen wollte. Du wirst nach dem Unterschied fragen; wenn nämlich A Ähnlichkeit habe mit B, dann ähnele B auch A. Das sehe ich auch so, aber was ich damit meine: Die Götter haben ihre äußere Gestalt nicht von den Menschen; die Götter waren ja immer da, sie sind niemals geboren worden, wenn sie denn ewig sein sollen. Doch die Menschen wurden geboren; also gab es eine menschliche Gestalt früher als die Menschen, und diese Gestalt besaßen die unsterblichen Götter; demzufolge darf man ihre Gestalt nicht menschlich, sondern muss die unsere göttlich nennen.

Möge es so sein, wie ihr wollt. Meine Frage jedoch lautet, was das für ein außerordentlicher Glücksfall war — nach eurem Willen ist ja in der Welt nichts nach vernünftiger Planung geschehen — ‚

(91) aber dennoch: Was war das für ein gewaltiger Zufall, woher rührte ein so glückliches Zusammentreffen der Atome, dass plötzlich Menschen in göttlicher Gestalt auf die Welt kamen? Sollen wir glauben, der Same der Götter sei vom Himmel auf die Erde gefallen und so seien die Menschen ihren Vätern ähnlich geworden? Ich wünschte, das wäre eure Behauptung. Eine Verwandtschaft mit den Göttern würde ich sehr gerne anerkennen! Doch ihr sagt nichts dergleichen, sondern besteht darauf, dass wir rein zufällig den Göttern ähneln: Und jetzt müssen Beweise gesucht werden, um diese These zu widerlegen. Wäre ich doch ebenso leicht in der Lage, die Wahrheit zu finden, wie ich nachweisen kann, wenn etwas falsch ist. S.81-85
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 87-91
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Wohnsitz der Götter

(102) »Ein Gott ist frei von aller Beschwernis«, sagt er. Epikur hält wahrhaftig, so wie verzogene Kinder, nichts für besser als den Müßiggang. Doch selbst die Kinder haben, auch wenn sie nichts tun. Freude an irgendeiner unterhaltsamen Beschäftigung. Wollen wir den tatenlosen Gott so im Nichtstun erstarren lassen, dass wir, sollte er sich nur rühren, befürchten müssen, er könne nicht mehr glückselig sein? Eine solche Äußerung spricht den Göttern nicht nur jede göttliche Bewegung und Aktivität ab, sondern macht auch die Menschen träge, sofern nicht einmal mehr ein Gott, der tätig ist, glückselig sein kann.

(103) Doch angenommen, der Gott sei, sowie ihr das wollt, ein Bild und Abbild des Menschen. Wo ist seine Wohnung, wo sein Sitz und Platz? Ferner, welches Leben führt er, und wodurch ist er, worauf ihr ja besteht, glückselig? Jemand, der glückselig sein soll, müsste nämlich seine Güter verwenden und genießen. Denn selbst von den seelenlosen Wesen hat jedes seinen ureigenen Platz: Die Erde nimmt die unterste Stelle ein, das Wasser überflutet sie; der darüberliegende Raum ist der Luft und der oberste den himmlischen Feuerkörpern zugewiesen. Von den Tieren aber leben die einen auf dem Land, andere im Wasser, wieder andere sind gleichsam als Doppelwesen in beiden Elementen zu Hause, und es gibt sogar welche, die angeblich durch das Feuer entstehen und die man oft in brennenden Öfen herumflattern sieht.

(104) Ich frage also erstens, wo euer Gott wohnt, zweitens, weshalb er seinen Platz verlässt, wofern er sich überhaupt einmal bewegt, dann — da es für Lebewesen charakteristisch ist, etwas, was ihrer Natur entspricht, zu begehren —, was ein Gott begehrt, wofür er denn überhaupt seinen Geist und Verstand einsetzt, und letztens, auf welche Weise er glückselig ist, auf welche Weise ewig. Egal nämlich, welche dieser Fragen Epikur berührt, es ist eine wunde Stelle: Eine so schlecht aufgebaute Lehre kann zu keinem Ergebnis führen.

(105) Dies waren ja deine Worte. Die Erscheinung des Gottes werde durch geistige Tätigkeit, nicht durch die Sinne erfasst, und sie habe keine (räumliche) Festigkeit und bleibe auch nicht individuell die gleiche, und sein Bild sei so beschaffen, dass es in seiner Ähnlichkeit (bzw. Artgleichheit) und durch den Übergang wahrgenommen werde und der aus den zahllosen Atomen erfolgende Strom ähnlicher Bilder niemals aufhöre; als Folge davon glaube unser darauf gerichteter Geist an die Glückseligkeit und Ewigkeit dieses Wesens. Gerade bei den Göttern, über die wir hier reden, was soll das bloß alles bedeuten? Falls sie nämlich nur unser Denken angehen und weder körperliche Dichte noch ausgeprägte Konturen besitzen, welchen Unterschied macht es dann, ob wir an einen Hippokentaur oder an eine Gottheit denken? Denn jede derartige Vorstellung der Seele bezeichnen alle anderen Philosophen als leere Seelenregung, ihr jedoch sprecht von Bildern, die zur Seele kommen und in sie eindringen.
S.95-99
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 102-105
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Verehrung der Götter?
(114) »Ein Gott«, sagen die Epikureer, »ist sich seiner immerwährenden Glückseligkeit bewusst; er hat nämlich nichts sonst, was seinen Geist beschäftigen könnte.« Mach dir das doch einmal klar und stell dir einen Gott vor Augen, der in aller Ewigkeit nichts anderes denkt als »Mir geht es gut« und »Ich, ich bin giückseIig«. Auch sehe ich trotz allem nicht, wie dieser glückselige Gott nicht doch seinen Untergang fürchten muss, da er ohne Unterlass durch den ewigen Anprall der Atome gestoßen und getrieben wird und da ihm selber ständig Bilder entströmen. Somit ist euer Gott weder glückselig noch ewig.

(115) »Aber auch über die Frömmigkeit und die Götterverehrung hat Epikur Schriften verfasst.« Doch in welchem Ton spricht er darin: so, dass man meint, die Oberpriester Tiberius Coruncanius oder Publius Scaevola zu hören, aber nicht den, der aller Religion radikal den Boden entzogen und die Tempel und Altäre der unsterblichen Götter zwar nicht mit seinen eigenen Händen, so wie Xerxes, wohl aber mit seinen Beweisführungen umgestürzt hat. Denn aus welchen Gründen müssen, wie du sagst, die Götter von den Menschen verehrt werden, wenn sich doch die Götter nicht nur um die Menschen nicht sorgen, sondern sich um überhaupt nichts kümmern und ganz untätig sind?

(116) »Aber ihr Wesen ist so außerordentlich und vollkommen, dass es schon aus sich heraus den Weisen zur Verehrung reizen muss.« Kann denn etwas Außerordentliches in einem Wesen vorhanden sein, das sich nur seiner eigenen Lust freut, niemals etwas tun will noch jetzt tut, noch je getan hat? Welchen frommen Respekt ist man außerdem einem Wesen schuldig, von welchem man nichts bekommen hat, oder was kann man überhaupt jemandem schulden, der ohne jedes Verdienst ist? Pietas ist nämlich das rechte Verhalten gegenüber den Göttern. In welchem Rechtsverhältnis können wir jedoch mit ihnen stehen, wenn der Mensch keine Gemeinsamkeit mit der Gottheit aufweist? Sanctitas dagegen ist die Wissenschaft von den Regeln der Götterverehrung. Weshalb sie nun verehrt werden sollten, begreife ich nicht, da man von ihnen weder etwas Gutes bekommen noch zu erhoffen hat.

(117) Warum aber sollten wir die Götter verehren — aus Bewunderung für ein Wesen, an dem wir nichts Außergewöhnliches entdecken?

Denn die Befreiung vom Aberglauben, deren ihr euch immer rühmt, ist einfach, wenn man den Göttern alle Macht abspricht. Es sei denn, man hält für möglich, dass Diagoras und Theodoros, welche die Existenz von Göttern rundweg bestritten, abergläubisch gewesen seien. Ich persönlich glaube das nicht einmal von Protagoras, dem keines von beiden einleuchtete, weder die Existenz noch die Nicht-Existenz der Götter. Die Lehrmeinungen aller dieser Männer beseitigen nicht nur den Aberglauben, der ja nur eine grundlose Furcht vor den Göttern beinhaltet, sondern auch die Religion, welche in der frommen Verehrung der Götter besteht. S. 105-107
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 114-117
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Vernichtung der Religiosität durch Epikur
(121) Epikur jedoch hat die Religiosität aus den Herzen der Menschen mit Stumpf und Stiel herausgerissen, indem er den unsterblichen Göttern sowohl Hilfsbereitschaft als auch Liebesfähigkeit absprach. Obwohl er nämlich das Wesen der Gottheit als das denkbar beste und vorzüglichste bezeichnet, bestreitet er zugleich, dass ein Gott der Zuneigung fähig wäre. Damit beseitigt er das, was für das denkbar beste und vorzüglichste Wesen besonders charakteristisch ist. Denn was ist besser oder was vorzüglicher als Güte und Wohltätigkeit? Wenn ihr nun diese Eigenschaften einem Gott aberkennen wollt, dann ist für euch auch einem Gott niemand, egal ob Gott oder Mensch, ans Herz gewachsen, und er schenkt niemandem seine Liebe, niemandem seine Wertschätzung. Daraus ergibt sich, dass nicht nur die Menschen den Göttern, sondern die Götter selbst den anderen Göttern gleichgültig sind. Wieviel besser halten es die Stoiker die von euch getadelt werden: Ihres Erachtens ist aber ein Weiser einem Weisen freundlich gesinnt, auch wenn er ihn nicht kennt; denn es gibt nichts Liebenswerteres als die Tugend, und wer in ihrem Besitze ist, den werden wir lieben, wo auch immer auf der Welt er lebt.

(122) Welches Unheil richtet ihr hingegen an, wenn ihr Gefälligkeit und Wohlwollen als Schwäche auslegt! Und um nicht vom machtvollen Wesen der Götter zu sprechen: Meint ihr denn, auch die Menschen seien bloß aus Schwäche wohltätig und gütig? Gibt es gar keine natürliche Zuneigung (caritas) unter den Guten? Eben das Wort carus (»lieb«) gehört zum Begriff amor (»Liebe«), wovon wiederum die Vokabel amicitia (»Freundschaft«) abgeleitet ist. Wenn wir hier lediglich unseren Nutzen und nicht die Vorteile des von uns geliebten Menschen im Auge haben, wird daraus nicht Freundschaft, sondern eine Art Handel um des eigenen Nutzens willen. Wiesen, Felder und Viehherden liebt man auf diese Weise, weil man aus ihnen Gewinn zieht, menschliche Zuneigung und Freundschaft aber sind uneigennützig. Das gilt erst recht für die Götter, die nichts brauchen und sich doch untereinander lieben und für die Menschen sorgen. Wäre dem nicht so: Warum verehren wir dann die Götter, warum beten wir zu ihnen, warum leiten Priester die Opfer, Auguren die Auspizien, warum bringen wir den unsterblichen Göttern Wünsche, warum Gelübde entgegen? »Doch es gibt auch ein Buch Epikurs über die Frömmigkeit.«

(123) Wir werden von einem Mann verspottet, der nicht gerade witzig ist, sondern sich vielmehr die Freiheit herausnimmt zu schreiben, wie ihm der Sinn steht. Wie nämlich wäre Frömmigkeit möglich, wenn sich die Götter um die menschlichen Angelegenheiten nicht kümmern, und wie ein beseeltes Wesen, das sich um überhaupt nichts kümmert? Also kommt gewiss jene Feststellung, die unser aller Freund Poseidonios in seinem fünften Buch »Über das Wesen der Götter« getroffen hat, der Wahrheit näher: Epikur glaube anscheinend gar nicht an die Götter und was er über die unsterblichen Götter gesagt habe, sei nur der Absicht entsprungen, gehässige Kritik zu vermeiden; auch sei er nicht so bar aller Vernunft gewesen, dass er sich die Gottheit als das Abbild eines schwachen Menschen ausgedacht hätte, eine Gottheit mit bloß äußeren Konturen, ohne feste Substanz, ausgestattet mit allen menschlichen Körperteilen, ohne sie im mindesten gebrauchen zu können, ein kraftloses und durchscheinendes Etwas, das niemandem etwas gewährt, sich niemandem gefällig erweist, sich um rein gar nichts kümmert und nichts tut. Ein solches Wesen kann es erstens nicht geben, und weil sich Epikur dessen bewusst ist, beseitigt er faktisch die Götter und behält sie nur den Worten nach bei.

(124) Zweitens, wenn ein Gott wirklich so ist, dass er den Menschen gegenüber keine Spur von Wohlwollen und Liebe empfindet, dann möge er sich verabschieden — denn weshalb sollte ich sagen: »Er sei mir gnädig«? Er kann ja niemandem gnädig sein, da, wie ihr behauptet, alles Wohlwollen und alle Liebe nur auf Schwäche beruhen. S.111-115
Aus: M. Tullius Cicero: De natura deorum, Über das Wesen der Götter, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort von Klaus Thraede, Erstes Buch, 114-117
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Unterteilung der Begierden nach Epikur
(93) Du weißt, so meine ich, wie Epikur die Arten der Begierden unterteilt hat, vielleicht nicht allzu genau, aber doch brauchbar: sie seien teils naturgemäß und notwendig, teils naturgemäß und nicht notwendig, teils keines von beidem; die notwendigen könnten fast durch ein Nichts befriedigt werden; denn der Reichtum der Natur stehe zur Verfügung; die zweite Gruppe der Begierden, so meint er, könne man leicht befriedigen, aber auch leicht entbehren; die der dritten Gruppe aber müsse man nach seiner Meinung, da sie ja völlig überflüssig seien und nicht nur mit der Notwendigkeit, sondern auch mit der Natur nichts zu tun hätten, vollends verwerfen.

(94) In diesem Zusammenhang erörtern die Epikureer vieles, und sie stellen die Arten der Genüsse im einzelnen als gering dar; sie verachten sie zwar nicht, versuchen aber doch nicht, sie in größerem Maß zu erlangen. Denn sie lehren, die schmutzigen Gelüste, über die sie vieles sagen, seien leicht zu erfüllen, allgemein zugänglich und auf der Straße anzutreffen, und sie glauben, wenn die Natur nach ihnen verlange, solle man nicht auf Herkunft, Rang oder Stand, sondern auf Aussehen, Alter und Gestalt sehen, und es sei keineswegs schwer sich ihrer zu enthalten, wenn die Gesundheit, die Pflicht oder der gute Ruf es verlangten, und überhaupt sei diese Gruppe der Genüsse wünschenswert, wenn sie nicht schade; sie nütze aber niemals.

(95) Im ganzen lehrt er über die Lust so, dass er der Ansicht ist, die Lust selbst sei an sich, weil sie eben Lust sei, immer zu wünschen und zu erstreben, und aus eben diesem Grund sei der Schmerz, weil er ja Schmerz sei, immer zu meiden; deshalb werde der Weise den Ausgleich dadurch herbeiführen, dass er eine Lust dann meide, wenn sie einen größeren Schmerz mit sich bringe, und den Schmerz auf sich nehme, wenn er eine größere Lust bewirke; alles Angenehme beziehe sich, obschon es mit der Sinneswahrnehmung des Körpers beurteilt werde, doch auf die Seele.

(96) Deshalb freue sich der Körper so lange, wie er die Lust gegenwärtig fühle, die Seele nehme einerseits die gegenwärtige Lust zusammen mit dem Körper wahr und sehe andererseits die kommende Lust voraus und lasse die vergangene nicht einfach aus dem Gedächtnis entschwinden. So seien im Weisen immer dauernde und miteinander verwobene Lustempfindungen, da sich die Erwartung erhoffter Gelüste mit der Erinnerung an genossene verbinde.

(97) Und ähnliche Vorstellungen werden auch auf die Lebensführung übertragen, und der Prunk und der Aufwand bei Gastmählern wird getadelt, weil die Natur mit einer bescheidenen Lebensweise zufrieden sei.
S. 459-461
Aus: M. Tullius Cicero: Tusculanae disputationes, Gespräche in Tusculum, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, Fünftes Buch, 93-97
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Zusammenhang von Lust und Schmerz nach Epikur
(37) Nun aber will ich Wesen und Beschaffenheit der Lust an sich erklären, damit der Irrtum aller Ahnungslosen ausgeräumt wird und damit man einsieht, wie ernst, wie maßvoll und wie streng die Schule ist, die als ausschweifend, üppig und verweichlicht gilt. Wir streben ja nicht nur nach der Lust, die durch irgendeinen Reiz auf die Natur selbst wirkt und von den Sinnen mit einem gewissen Behagen genossen wird, sondern wir halten die Lust für die größte, die man dadurch erlebt, dass man von jedem Schmerz befreit ist. Denn da wir uns, wenn wir vom Schmerz befreit werden, schon über die Befreiung selbst und das Freisein von jeder Mühsal freuen, da aber alles das, worüber wir uns freuen, eine Lust darstellt, wie alles, worunter wir zu leiden haben, einen Schmerz, wird jede Befreiung von einem Schmerz zu Recht als Lust bezeichnet. Wie nämlich immer, wenn durch Speise und durch Trank der Hunger und der Durst vertrieben ist, die Abwehr der Unlust selbst Lust zur Folge hat, so zieht in jedem Falle die Entfernung des Schmerzes Lust nach sich.

(38) Deswegen lehnte Epikur die Meinung ab, es gebe ein Mittleres zwischen Schmerz und Lust; er meinte nämlich, eben das, was manche für das Mittlere hielten, wenn man von jedem Schmerz frei sei, bedeute nicht nur Lust, sondern sogar die höchste Lust. Denn jeder, der empfindet, wie er gestimmt ist, befindet sich zwangsläufig entweder im Zustand der Lust oder in dem des Schmerzes. In jedem Fall wird aber nach der Meinung Epikurs die höchste Lust durch die Befreiung von Schmerz bestimmt, so dass danach die Lust zwar noch verändert und differenziert, jedoch nicht mehr gesteigert und erweitert werden kann.

(39) Wie ich von meinem Vater hörte, der die Stoiker mit Geist und Witz verspottete, gibt es doch auch im Kerameikos in Athen eine Bildsäule des Chrysipp, wie er mit ausgestreckter Hand dasitzt. Diese Hand soll zum Ausdruck bringen, dass er an folgender Scherzfrage sein Vergnügen fand: »Wenn diese Hand in der Verfassung ist, in der sie sich im Augenblick befindet, vermisst sie dann etwas? — Natürlich nicht. — Wäre aber die Lust ein Gut, dann würde sie sie doch vermissen. — Ich glaube schon. — Dann ist die Lust also kein Gut.« Mein Vater sagte, so würde nicht einmal eine Statue reden, wenn sie sprechen könnte. Denn die Schlussfolgerung richtet sich ziemlich treffend gegen die Kyrenaiker, doch gilt sie nicht für Epikur. Wenn nämlich die Lust allein in dem bestünde, was gleichsam die Sinne kitzelt, um es so auszudrücken, und mit seinem Reiz in sie hineinströmt und eindringt, dann könnte weder eine Hand noch überhaupt ein Teil mit dem Freisein von Schmerz ohne die angenehme Erregung einer Lust zufrieden sein. Wenn aber die höchste Lust, wie es der Meinung Epikurs entspricht, Schmerzlosigkeit bedeutet, dann hat man dir das erste Zugeständnis zu Recht gemacht, Chrysipp, dass die Hand, wenn sie sich in dieser Verfassung befinde, nichts vermisse, das zweite aber nicht zu Recht, dass sie die Lust vermissen würde, wäre sie ein Gut. Sie würde sie ja deshalb nicht vermissen, weil das, was frei von Schmerz ist, sich im Zustand der Lust befindet.

(40) Dass die Lust aber das höchste Gut ist, lässt sich sehr leicht durch folgende Überlegung erkennen: Nehmen wir an, ein Mensch genieße geistig und körperlich zahlreiche starke und ununterbrochene Lustgefühle, ohne dass ihn dabei ein Schmerz behindert oder bedroht, welchen Zustand könnten wir da nennen, der besser und erstrebenswerter als dieser wäre? Ein Mensch, der sich in einer solchen Verfassung befindet, muss ja zwangsläufig eine Seelenstärke besitzen, die weder Tod noch Schmerz zu fürchten hat, weil er im Tod nichts spürt, der Schmerz aber gewöhnlich bei langer Dauer leicht, bei heftiger Gewalt kurz ist, so dass ihn über seine Heftigkeit die kurze Dauer und über seine lange Dauer die Linderung hinwegtröstet.

(41) Kommt dann noch hinzu, dass er nicht ängstlich vor dem Walten der Götter schaudert und nicht zulässt, dass sich vergangene Lustgefühle verflüchtigen, dass er vielmehr die dauernde Erinnerung an sie genießt, was gibt es dann noch Besseres, das diesen Zustand steigern könnte? Nimm nun dagegen an, jemand sei durch so schlimme seelische und körperliche Schmerzen zermürbt, wie sie einen Menschen im Höchstfall treffen können, ohne dass ihm eine Hoffnung auf Erleichterung zu irgendeinem Zeitpunkt winkt, ohne dass ihm daneben eine Lust im Augenblick zuteil wird oder nur in Aussicht steht, was kann man da für einen Zustand nennen oder sich ausdenken, der schlimmer ist als dieser? Wenn aber nun ein Leben voll von Schmerzen unbedingt zu meiden ist, dann ist es doch gewiss das höchste Übel, unter Schmerzen zu leben, und diesem Satz entspricht, dass es das höchste Gut ist, in Lust zu leben. Es gibt ja keinen anderen Punkt, an dem unser Denken wie an einem Ende Halt gewinnen könnte, und alle Ängste und Kümmernisse gehen auf den Schmerz zurück; daneben gibt es nichts, was durch sein Wesen Unruhe oder Angst erzeugen könnte.

(42) Des Weiteren geht unser Streben und Vermeiden, unser Handeln überhaupt in seinem Ansatz entweder von der Lust oder vom Schmerz aus. Weil es sich so verhält, sind offensichtlich alle richtigen und lobenswerten Handlungen auf das Ziel gerichtet, in Lust zu leben. Weil aber dies das höchste, das letzte oder äußerste Gut ist — die Griechen bezeichnen es als »telos« —‚ das sich selbst auf nichts anderes bezieht, während alle anderen Dinge sich auf es beziehen, muss man bekennen, dass es das höchste Gut ist, angenehm zu leben.
S. 87-93
Aus: M. Tullius Cicero: De finbus bonorum et malorum, Über das höchste Gut und das größte Übel, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Erstes Buch, 37-42
Reclams Universalbibliothek Nr. 8593 © 1989 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Der Tod als ewiger Zufluchtsort
(117) Es mögen nun alle Gehrechen bei einem Menschen zusammenkommen, so dass derselbe Mensch blind und taub ist und auch noch von schlimmsten körperlichen Schmerzen gequält wird. Diese richten zunächst allein durch sich sehr häufig schon einen Menschen zugrunde; wenn sie sich in die Länge ziehen und doch heftiger quälen sollten, als dass es einen Sinn gäbe, sie zu ertragen, warum, ihr guten Götter, sollten wir uns abmühen? Denn es steht ein Hafen zur Verfügung, weil es ja den Tod gibt, einen ewigen Zufluchtsort, an dem man nichts mehr empfindet. Theodoros sagte zu Lysimachos, der ihm mit dem Tod drohte: »Großes hast du in der Tat erreicht, wenn du die Kraft einer giftigen Fliege erlangt hast.«

(118) Paulus sagte zu Perseus, als er ihn bat, nicht im Triumphzug mitgeführt zu werden: »Es liegt ganz in deiner Macht.« Vieles ist am ersten Tag, als wir über den Tod nachdachten, und nicht weniges auch am zweiten Tag, als es um den Schmerz ging, über den Tod gesagt worden; bei dem, der das beherzigt, besteht keine Gefahr, dass er den Tod nicht für wünschenswert, mit Sicherheit aber nicht für furchtbar hält. Mir jedenfalls scheint, man muss im Leben das Gebot beachten, das bei den Gastmählern der Griechen befolgt wird. Es besagt:
»Man soll entweder trinken oder weggehen.« Und zu Recht. Denn entweder soll jemand in gleicher Weise mit den anderen die Freude des Trinkens genießen, oder er soll, damit er nicht nüchtern in die Ausgelassenheit der Trunkenen gerät, vorher weggehen. So soll man sich auch den Schlägen des Schicksals, die man nicht ertragen kann, durch Flucht entziehen. Dasselbe wie Epikur sagt ebenso ausführlich Hieronymos.
S. 477-479
Aus: M. Tullius Cicero: Tusculanae disputationes, Gespräche in Tusculum, Lateinisch/Deutsch Übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, Fünftes Buch, 93-97
Reclams Universalbibliothek Nr. 5028 © 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Hegel über die Philosophie des Epikur
Allgemeines
Ebenso ausgedehnt oder noch ausgedehnter war die epikureische Philosophie. Denn als die politische Existenz und die sittliche Wirklichkeit Griechenlands untergegangen und später auch die römische Kaiserwelt von der Gegenwart nicht befriedigt war, zog sie sich in sich selbst zurück und suchte dort das Rechte und Sittliche, was im allgemeinen Leben nicht mehr vorhanden war. Epikurs Philosophie macht das Gegenstück zum Stoizismus, der das Sein als Gedachtes - den Begriff - als das Wahre setzte; Epikur das Sein nicht als Sein überhaupt,sondern als Empfundenes, das Bewusstsein in der Form der Einzelheit als das Wesen, - Aufnahme des Kyrenaismus in größere
Wissenschaftlichkeit. Inzwischen erhellt schon von selbst, wenn das empfundene Sein als das Wahre gilt, dass damit überhaupt die Notwendigkeit des Begriffs aufgehoben wird, alles auseinanderfällt ohne spekulatives Interesse und vielmehr die gemeine Ansicht der Dinge behauptet wird; in der Tat geht's nicht über die Ansicht des gemeinen Menschenverstandes hinaus, oder vielmehr alles ist herabgesetzt zum gemeinen Menschenverstand. Was früher als besondere Schulen erschien, kynische und kyrenaische, ging die erste in die stoische, die andere in die epikureische über: Kynismus und Kyrenaismus in Wissenschaft gebracht. Die Kyniker sagten auch, der Mensch müsse sich auf die einfache Natur einschränken; dieses suchten sie in den Bedürfnissen. Die Stoiker setzten dies aber in die allgemeine Vernunft; sie haben das kynische Prinzip zum Gedanken erhoben. Ebenso hat Epikur das Prinzip, dass das Vergnügen Zweck sei, in den Gedanken erhoben: Lust ist durch den Gedanken zu suchen, in einem Allgemeinen, welches durch den Gedanken bestimmt ist. Wenn bei der stoischen Philosophie das Denken des Logos, des Allgemeinen, das Festhalten daran das Prinzip war, so ist hier das Entgegengesetzte,nämlich die Empfindung, das unmittelbar Einzelne das Prinzip. Bei der Betrachtung dieser Philosophie müssen wir aber alle gewöhnlichen Vorstellungen von Epikureismus ablegen.

Leben: Der Stifter desselben, Epikur, wurde Ol. 109, 3 (342 v. Chr.) geboren, also vor Aristoteles' Tode (Ol. 114, 3). Er ist aus dem Dorfe Gargettos im atheniensischen Gebiete. Seine Gegner, besonders die Stoiker, haben ihm eine unsägliche Menge schlechter Sachen nachgesagt, kleinlicher Anekdoten über ihn erdichtet. Er hatte arme Eltern; sein Vater Neokles war Dorfschulmeister, seine Mutter Chairestrata eine Hexe, d.h. die sich wie die thrakischen und thessalischen Frauen mit Beschwörungs- und Bezauberungsformeln, welches damals ganz allgemein war, Geld verdiente. Sein Vater - und damit auch Epikur - zog mit einer atheniensischen Kolonie nach Samos, musste jedoch auch hier, weil sein Stück Land zu der Ernährung seiner Familie nicht hinreichte, Kindern Unterricht geben (Diogenes Laertios X, §14,1, 3-8; Cicero, De natura deorum I, 26). In einem Alter von 18 Jahren, ungefähr zu der Zeit, als Aristoteles gerade in Chalkis lebte, kehrte Epikur wieder nach Athen zurück. Wie schon in Samos, so jetzt noch mehr in Athen studierte er besonders Demokrits Philosophie und hat außerdem mit verschiedenen der damaligen Philosophen, Xenokrates, dem Platoniker, und Theophrast, Aristoteles' Schüler, Umgang gehabt. Epikur, zwölf Jahre alt, las mit seinem Lehrer den Hesiod vom Chaos, woraus alles ausgegangen. Sonst hat er sich auch einen autodidaktos genannt (Sextus Empiricus, Adversus mathematicos I, § 3; Diogenes Laertios X, § 13), in dem Sinne, dass er seine Philosophie ganz aus sich selber produziert habe; aber weder ist gerade damit nicht zu meinen, dass er nicht bei anderen Philosophen gehört, noch anderer Schriften studiert hat. Es kann auch nicht so verstanden werden, dass er in seiner Philosophie in Ansehung des Inhalts ganz originell gewesen; denn, wie später erinnert werden wird, so ist besonders seine physische Philosophie die Leukipps und Demokrits. Er trat zuerst als Lehrer einer eigenen Philosophie auf Lesbos in Mytilene und dann in Lampsakos in Kleinasien auf, aber ohne eben viele Zuhörer, trieb sich da mehrere Jahre herum. Nachher kehrte er aber etwa im 36. Jahre seines Alters nach Athen, in den eigentlichen Mittelpunkt der Philosophie, zurück, kaufte sich da nach einiger Zeit einen Garten, wo er lebte unter seinen Freunden, und dozierte daselbst. Er lebte, bei einem schwächlichen Körper, der ihm mehrere Jahre nicht erlaubte, vom Sessel aufzustehen, durchaus regelmäßig und höchst frugal und ganz ohne weitere Geschäfte den Wissenschaften (Diogenes Laertios X, § 15, 2, 7, 10-11; Brucker I, 1233,1236). Sogar Cicero, der fade von ihm spricht, gibt ihm doch das Zeugnis, dass er ein warmer Freund gewesen; dass niemand leugnen könne,er sei ein guter, freundlicher, menschenliebender, milder (bonum, comem et humanum) Mann gewesen (Cicero, De finibus II, 25). Diogenes Laertios rühmt insbesondere seine Milde, Verehrung seiner Eltern, Freigebigkeit gegen seine Brüder und Menschenfreundlichkeit gegen alle. Er starb im 71. Jahre seines Alters an Steinbeschwerden;er ließ sich vorher in ein warmes Bad bringen, trank einen Becher Weins und empfahl seinen Freunden, seiner Lehren eingedenk zu sein (Diogenes Laertios X, § 10, 15).

Und kein Lehrer hat bei seinen Schülern soviel Liebe und Verehrung erhalten als Epikur. Sie lebten in solcher Innigkeit, dass sie den Vorsatz fassten, ihr Vermögen zusammenzulegen und so in einer bleibenden Gesellschaft, wie einer Art von pythagoreischem Bunde, fortzudauern. Jedoch verbot ihnen dies Epikur selbst, weil dies selbst schon ein Misstrauen auf Bereitwilligkeit verrate, unter solchen aber, die sich misstrauen können, keine Freundschaft, Einigkeit, treue Anhänglichkeit stattfände. - Nach seinem Tode wurde er von seinen Schülern in sehr geehrtem Andenken erhalten; sie führten sein Bildnis überall in Ringen, auf Bechern gegraben und blieben überhaupt seinen Lehren so getreu, dass es bei ihnen für eine Art von Vergehen galt, daran etwas zu ändern (in der stoischen Philosophie ist dagegen fortgearbeitet worden),
und seine Schule einem festen geschlossenen Staate in Ansehung der Lehre glich (Cicero, De finibus V , 1; Eusebios, Praeparatio evangelica XIV, 5). Warum, davon liegt der Grund, wie wir sehen werden, in seinem Systeme. Daher denn auch weiter in wissenschaftlicher Rücksicht keine berühmten Schüler desselben angeführt werden können; seine Philosophie hat keinen Fortgang und keine Entwicklung, freilich auch keine Entartung gehabt. Es wird zum Lobe der epikureischen Philosophie nachgesagt, dass nur ein einziger der Schüler Epikurs, Metrodor, zum Karneades übergegangen; sonst habe sie, durch ununterbrochene Nachfolge von Lehre und Dauer, alle übertroffen, da die übrigen ausgingen und unterbrochen wurden. Und als Karneades auf diese Anhänglichkeit an Epikur aufmerksam gemacht wurde, sagte er: »Ein Mann kann wohl zum Eunuchen, aber ein Eunoch nie wieder zum Manne werden.« Epikur hat keine berühmten Schüler gehabt, die die Lehre eigentümlicher behandelten und ausführten; nur ein gewisser Metrodoros soll einige Seiten weiter ausgeführt haben (Diogenes Laertios X, § 9, 24).

.Epikur selbst schrieb während seines Lebens eine unsägliche Menge Schriften, so dass er, wenn bei Chrysipp abgerechnet wurde, was er aus anderen oder sich selbst kompiliert, ein viel fruchtbarerer Schriftsteller gewesen. Die Anzahl seiner Schriften soll sich auf 300 belaufen haben (Chrysipp schrieb eigentlich in Rücksicht auf Epikur mit ihm um die Wette) (Diogenes Laertios X, § 26).; diese haben wir nicht, schwerlich ist ihr Verlust sehr zu bedauern. Gottlob, dass sie nicht mehr vorhanden sind! Die Philologen würden große Mühe damit haben.

Diogenes Laertios (Buch X)
ist Hauptquelle, aber schal genug; besser war's bei Epikur selbst, doch kennen wir genug von ihm, um das Ganze zu würdigen. Vor einigen Jahren ist ein Fragment einer seiner Schriften in Herculanum zum Vorschein gekommen und abgedruckt worden (Epicuri Fragmenta libri II et XI de natura, Leipzig 1818; Nachdruck der neapolitanischen Ausgabe); aber es ist nicht viel daraus zu lernen und nur zu deprezieren, dass nicht alle [erhalten sind]. Von der Philosophie Epikurs ist uns durch Cicero, Sextus Empiricus, Seneca und Diogenes Laertios, der darüber sehr weitläufig ist in einem ganzen Buche, hinlänglich viel bekannt, und so gute Darstellungen, daß uns die in Herculanum aufgefundene, von Orelli nachgedruckte Schrift Epikurs selbst keine neuen Aufschlüsse und Bereicherungen gegeben hat.

Was nun die epikureische Philosophie betrifft, so ist sie in der Tat nicht als die Behauptung eines Systems der Begriffe, sondern im Gegensatze dagegen des Vorstellens anzusehen, - des sinnlichen Seins, als sinnliches Sein aufgenommen, der gewöhnlichen Weise des Anschauens. Im Gegensatze zu der stoischen Philosophie hat Epikur das sinnliche Sein, die Empfindung zur Grundlage und Richtschnur der Wahrheit gemacht. Die nähere Bestimmung, wie sie dieses sei, hat er in seiner sogenannten Kanonik angegeben. Wie bei den Stoikern haben wir zuerst davon zu sprechen, wie Epikur das Kriterium der Wahrheit bestimme hat; das zweite ist seine Naturphilosophie; und das dritte endlich seine Moral. S. 297-301
Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, nach dem suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw 619

1. Kanonik
Das Kriterium ist eigentlich die Logik Epikurs, die er Kanonik genannt hat; es ist die Bestimmung, Auseinandersetzung der Momente, die die Regel dessen ausmachen, was Wahrheit ist. In Ansehung der Erkenntnis gibt er drei Stufen an, wodurch die kritêria der Wahrheit bestimmt sein sollen; diese sind die Empfindungen überhaupt und dann die Antizipationen (prolêpseis), - in Ansehung des Theoretischen; und dann die Leidenschaften, Triebe und Neigungen, - in Ansehung des Praktischen (Diogenes Laertios X, § 31).

a) Nach Epikur hat das Kriterium drei Momente. Die drei Stufen der Erkenntnis sind erstens die Empfindung, zweitens die prolêpsis Vorstellung, drittens die Meinung (doxa).

a) Seite des Äußeren. »Die Empfindung ist alogisch, ohne Grund«, - das an und für sich Seiende, nur ein Gegebenes. »Denn sie wird nicht von sich selbst bewegt, noch, von einem Anderen bewegt, kann sie« von dem, was sie ist, »etwas wegnehmen oder dazutun«; sondern sie ist eben, wie sie ist. »Noch kann etwas sie kritisieren oder widerlegen (elenxai). Denn weder kann die ähnliche Empfindung die ähnliche beurteilen« (einerlei Arten des Gesichts), »denn sie sind beide von gleicher Kraft«, gelten beide gleichviel. Sie für sich muss mithin jede andere Empfindung gelten lassen. »Noch die unähnliche die unähnliche; denn sie gelten jede für etwas Verschiedenes (ou tôn autôn kritikai)« - Rot und Blau. Das ist richtig, jede ist einzeln. So sind die Empfindungen allerdings, jede ist eine Empfindung für sich; die eine kann nicht eine Regel sein, ein Kritisierendes für eine andere; und die unähnliche hat kein Recht gegen eine andere, denn sie gelten alle für sich. »Noch eine fremde Empfindung die fremde; denn wir geben auf alle Acht. Auch das Denken kann die Empfindung nicht kritisieren; denn alles Denken selbst hängt von der Empfindung ab«, -sie ist sein Inhalt. Aber die Empfindung kann sich irren. »Die Wahrheit des Empfundenen wird erst dadurch bewährt, dass das Empfinden besteht (ta epaisthêmata hyphestanai)«, - dass es eine feste Grundlage wird, dass es sich konstatiert in der Wiederholung und so fort. »Das Sehen, Hören ist etwas Bleibendes, wie das Schmerzen.« Dieses Bleibende, sich Wiederholende ist das Feste, Bestimmte; das ist die Grundlage von allem, was wir für wahr halten. Diese bleibende Empfindung wird nun vorgestellt; und das ist
die prolêpsis. »Deswegen kann denn auch das Unbekannte (ta adêla das Nichterscheinende, Nichtempfundene) durch das Erscheinende (das Empfinden) bezeichnet werden«; - ein Unbekanntes kann vorgestellt werden nach der Art bekannter Empfindung. Was nicht unmittelbar empfunden wird, davon nachher besonders bei der physischen Wissenschaft.

Alle unbekannten, nicht empfindbaren Gedanken sind von den Empfindungen ausgegangen (geworden), sowohl nach der Zufälligkeit ihres Entstehens, dass sie einfallen, als nach dem Verhältnisse, Ähnlichkeit und Verbindung; wobei das Denken auch etwas beiträgt. (Die Einbildungen der Wahnsinnigen oder des Traumes sind ebenfalls wahr, denn sie bewegen; es bewegt aber nicht, was nicht ist). Das Feste ist das Empfinden, und das Unbekannte muss nach der bekannten Empfindung bestimmt, aufgefasst werden. Jede Empfindung ist für sich, jede ist etwas Festes; und sie ist wahr, insofern sie sich als fest zeigt. (Diogenes Laertios X, § 31-32).Wir hören Epikur sprechen, wie man es im gemeinen Leben hört: Was ich sehe, höre, oder die sinnliche Anschauung überhaupt enthält das Seiende; jedes so sinnlich Angeschaute ist für sich. Dies Rot ist dies Rot, Blau ist Blau; es widerlege, negiert eins das andere nicht: alle gelten nebeneinander, sind gleichgültig; eins gilt wie das andere. Fürs Denken selbst sind diese angeschauten Dinge der Stoff und Inhalt; das Denken bedient sich selbst immer der Bilder. Bei der Verknüpfung dieser Vorstellungen trägt das Denken auch bei; es ist das formelle Verknüpfen derselben.

b) Seite des Innern. »Die Prolepsis ist nun gleichsam der Begriff (das Innere), oder die richtige Meinung oder der Gedanke oder das allgemeine inwohnende Denken; es ist nämlich die Erinnerung dessen, was oft erschienen ist«, - das Bild. »Z.B. wenn ich sage, dies ist ein Mensch, so erkenne ich durch die Prolepsis sogleich seine Gestalt, indem die Empfindungen vorangingen.« Durch diese Wiederholung wird sie zu einer festen Vorstellung in mir; diese Vorstellungen sind etwas Bestimmtes in uns, und zwar etwas Allgemeines. Freilich haben die Epikureer nicht die Allgemeinheit in der Form des Denkens gebraucht, sondern nur gesagt, sie komme dadurch, dass etwas oft erschienen sei. Dieses wird dann festgehalten durch den Namen, das so in uns entstandene Bild bekommt einen Namen. »Jedes Ding hat durch den ihm zuerst beigelegten Namen seine Evidenz, Enargie, Deutlichkeit.« (Diogenes Laertios X, § 33).Name ist Bestätigung, Setzen der Identität, des Einen. Die Evidenz, die Epikur enargeia nennt, ist eben dies Wiedererkanntwerden des Sinnlichen durch Subsumtion unter die schon im
Besitz seienden und durch den Namen befestigten Vorstellungen; die Evidenz einer Vorstellung ist, dass man ein Sinnliches bestätigt als dem Bilde entsprechend. Es ist das der Beifall, den wir bei den Stoikern als eine Zustimmung des Denkens gesehen haben, die einen Inhalt gibt: das Denken erkennt das Ding als das Seinige, nimmt es in sich auf; dies ist jedoch nur formell geblieben. Hier ist auch Einheit der Vorstellung des Gegenstands mit sich selbst als Erinnerung im Bewusstsein, aber die von Sinnlichem ausgehe; das Bild, die Vorstellung ist das Zustimmende zu einer Empfindung. Wiedererkennen des Gegenstandes ist Auffassen; aber nicht als Gedachtes, sondern Vorgestelltes. Auffassen gehöre der Erinnerung, dem Gedächtnisse an. Das höchste Ideelle ist der Name. Name ist etwas Allgemeines, gehört dem Denken an, macht das Vielfache einfach; aber so, da seine Bedeutung und Inhalt das Sinnliche ist und nicht als dies Einfache gelten soll, sondern als Sinnliches. Hierdurch ist statt des Wissens die Meinung begründet.

c) Die Meinung endlich ist nun nichts anderes als eben jetzt die Beziehung jener allgemeinen Vorstellung (und jenes Bildes), die wir in uns haben, auf einen Gegenstand (auf eine Empfindung oder Anschauung), - das Urteilen. Denn in der prolêpsis haben wir das antizipiert, was in der Anschauung vorkomme; und danach sprechen wir aus, ob etwas ein Mensch, ein Baum sei oder nicht. »Die Meinung hängt von einem vorhergehenden Enargischen ab, worauf wir etwas beziehen, wenn wir fragen: woher wissen wir, dass dies ein Mensch ist oder nicht? Diese
Subsumtion, doxa oder auch hypolêpsis, kann entweder wahr oder falsch sein: jenes, wenn die Anschauung durch das Zeugnis (der prolêpsis) bestätigt wird, oder nicht widersprochen wird; dieses, wenn nicht.«
(Diogenes Laertios X, § 33-34).Die Meinung ist nämlich eine Vorstellung als Anwendung ihrer, als einer schon gehabten, des Typus, auf einen vorstehenden Gegenstand, der dann untersucht wird, ob die Vorstellung von ihm mit ihm übereinstimme. Die Meinung ist wahr, wenn sie bestätigt wird, mit dem Typus übereinstimmt. Die Meinung hat ihr Kriterium an der Empfindung, ob sie sich als dasselbe wiederholt. Dies ist ebenso das ganz Gewöhnliche: Wenn wir eine Vorstellung haben, bedarf es des Zeugnisses, dass wir dies gesehen haben oder jetzt sehen.

Dies sind die drei ganz einfachen Momente. Aus der Empfindung formiert sich ein Bild; Bild ist die Empfindung auf allgemeine Weise; dies subsumiert unter die Prolepsis gibt eine Meinung, eine doxa. Wir haben Empfindungen, z.B. blau, sauer, süß usf.; dadurch formieren sich allgemeine Vorstellungen, diese haben wir; und wenn uns wieder ein Gegenstand vorkommt, so erkennen wir, dass dies Bild diesem Gegenstande entspricht. Dies ist das ganze Kriterium. Es ist ein ganz trivialer Gang; denn er bleibt stehen bei den ersten Anfängen des sinnlichen Bewusstseins, der Anschauung, der unmittelbaren Anschauung eines Gegenstandes. Die nächste Stufe ist allerdings die, dass die erste Anschauung sich zu einem Bilde formiert, zu einem Allgemeinen, - und dann die Subsumtion des Gegenstandes, der gegenwärtig ist, unter dies allgemeine Bild. Es wird also hier von der äußerlichen Empfindung angefangen; und von diesem Empfinden über Seiendes, Äußerliches werden unterschieden die Affekte, die innerlichen Empfindungen.

Die Affekte, die innerlichen Empfindungen geben die Kriterien für das Praktische. Sie sind gedoppelter Art, entweder angenehm oder unangenehm, haben Vergnügen (Befriedigung) und Schmerz; jenes erste ist eigentümlich als dem Empfindenden angehörig, das Positive, der Schmerz aber als ihm fremd, das Negative. Sie sind das Bestimmende des Handelns. Diese Empfindungen sind der Stoff, aus dem sich allgemeine Vorstellungen bilden über das, was mir Schmerz oder Vergnügen macht (sie sind wieder als bleibend prolêpseis, die doxa ist wieder Beziehung der Vorstellung auf die Empfindung); und danach beurteile ich die Gegenstände, die Neigungen, Begierden usf. Diese Meinung ist es, durch welche dann der Entschluss, etwas zu tun oder zu meiden, bestimmt wird. (Diogenes Laertios X, § 34).Dies macht nun die ganze Kanonik des Epikur aus, - die allgemeine Richtschnur für die Wahrheit. Sie ist so einfach, dass es nichts Einfacheres geben kann, - abstrakt, aber auch sehr trivial; und mehr oder weniger im gewöhnlichen Bewusstsein, welches zu reflektieren anfängt. Es sind gemeine psychologische Vorstellungen; sie sind ganz richtig. Aus den Empfindungen machen wir uns Vorstellungen, als das Allgemeine; dadurch wird es bleibend. Die Vorstellungen werden selbst (bei der doxa) durch Empfindungen geprüft, ob sie bleibend sind, sich wiederholen. Das ist im Ganzen richtig, aber ganz oberflächlich; es ist der erste Anfang, die Mechanik des Vorstellens in Ansehung der ersten Wahrnehmungen. Es ist über diesen noch eine ganz andere Sphäre, ein Feld, das Bestimmungen in sich selbst enthält; und diese sind die Kriterien jenes von Epikur Angeführten. Jetzt sprechen sogar Skeptiker von Tatsachen des Bewusstseins; dieses Gerede ist gar nicht weiter als diese epikureische Kanonik.
S. 301-306
Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, nach dem suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw 619

2. Metaphysik
Das Zweite ist nun die Metaphysik. Wir empfinden die Dinge, diese Dinge geben uns Bilder; dies sind unsere - nicht Begriffe, sondern - Vorstellungen. Und sie sind wahr, wenn die Empfindung der Dinge, worauf wir sie beziehen oder anwenden, ihnen zustimmt; falsch, wenn nicht. Sie sind auch wahr, wenn das Zeugnis des Sinnlichen ihnen nicht widerspricht; diese Art von Wahrheit haben die Vorstellungen von solchem, was nicht gesehen wird. Z.B. Begreifen der himmlischen Erscheinungen: hier können wir nicht näher hinzutreten, - etwas nur sehen, aber nicht die ganze Vollständigkeit der sinnlichen Empfindung von denselben haben; wir wenden also das, was sonst aus anderen Empfindungen uns bekannt ist, auf sie an, insofern ein Umstand an ihnen vorkommt, der auch in dieser Empfindung, Vorstellung sich findet. Wie wir zu Vorstellungen von solchem kommen, das nicht empfunden wird, scheint eine Denktätigkeit zu sein, welche dies von anderen ableitet; wir werden aber gleich näher sehen, wie die Seele dazu kommt. Empfindung und Anschauung betrachten wir sogleich als ein Verhältnis von uns zu äußerlichen Dingen und teilen sie sogleich so, dass sie in mir und dass ein Gegenstand außer mir ist. Die Frage ist nun, wie wir zu dieser Vorstellung kommen; - oder die Empfindungen sind nicht gleich Vorstellungen, und sie erfordern einen äußerlichen Gegenstand. Über die objektive Weise überhaupt, wie nun das von außen in uns hineinkommt - die Beziehung unserer selbst auf den Gegenstand, wodurch eben Vorstellungen entstehen -, darüber hat Epikur nun folgende Metaphysik aufgestellt:

»Aus der Oberfläche der Dinge«, sage er, »geht ein beständiger Fluss aus, der für die Empfindung nicht bemerkbar ist« (denn sonst müssten sie abnehmen) und sehr fein; »und dies darum, wegen der entgegengesetzten Erfüllung, weil das Ding selbst immer noch voll bleibt (beharrt) und die Erfüllung im Festen lange dieselbe Ordnung und Stellung der Atome behält« (sich nicht verändert, nicht leidet). »Und die Bewegung dieser sich ablösenden Oberflächen ist äußerst schnell in der Luft, weil es nicht nötig ist, dass das Abgelöste eine Tiefe hat«, etwas Solides ist; es sei nur Fläche. Epikur sagt, die Empfindung widerspreche einer solchen Vorstellung nicht, wenn man darauf acht gebe (zusehe), wie die Bilder ihre Wirkungen machen; sie bringen eine Übereinstimmung, eine Sympathie von dem Äußeren zu uns hervor. Also geht von ihnen etwas (das Feine) über, dass in uns so etwas sei, als außen. Dieses komme also auf ideelle Weise (durch Oberfläche) in uns. »Und dadurch, dass der Ausfluss in uns hineingehe, wissen wir vom Bestimmten einer Empfindung; das Bestimmte liegt in dem Gegenstande und fließt so in uns hinein.« (Diogenes Laertios X, § 48-49).Dies ist eine ganz triviale Weise, sich die Empfindung vorzustellen. Epikur hat sich das leichteste und auch jetzt noch gewöhnliche Kriterium des Wahren, insofern es nicht gesehen wird, genommen: dass ihm das, was gesehen, gehört wird, nicht widerspricht. Denn in der Tat, solche Gedankendinge wie Atome, Ablösen von Oberflächen und dergleichen bekomme man nicht zu sehen. Man bekomme freilich etwas anderes zu sehen und zu hören; aber das Gesehene und Vorgestellte, Eingebildete, hat beides gut nebeneinander Platz. Beides, auseinanderfallen gelassen, widerspricht sich nicht; denn der Widerspruch kommt erst in der Beziehung.

Irrtum, sagt Epikur ferner, entsteht, wenn durch die Bewegung in uns selbst an der eingewirkten Vorstellung eine solche Veränderung vorgeht, dass die Empfindung nicht rein sei, also die Vorstellung nicht mehr das Zeugnis der Empfindung für sich erlangt. »Es gäbe keine Wahrheit, keine Ähnlichkeit unserer Vorstellungen, die wir wie in Bildern empfangen oder in Träumen oder sonst auf eine Weise wenn nicht etwas wäre, worauf wir unser Wahrnehmen gleichsam auswerfen. Unwahrheit wäre nicht, wenn wir nicht eine andere Bewegung in uns selbst empfingen, die zwar dem Hereingehen der Vorstellung entspricht und ihr anpassend ist, aber zugleich eine Unterbrechung hat.« Irrtum ist nur Verrücken der Bilder in uns. »Irrtum entsteht nicht aus der Bewegung, sondern davon, dass wir in sie eine Unterbrechung machen, die Vorstellung eine Unterbrechung erleidet.« (Diogenes Laertios X, § 50-51).Es ist so gesprochen von einer Bewegung, die wir in uns selbst anfangen, die zugleich eine Unterbrechung des Einflusses der Vorstellung ist. Diese eigene Bewegung nennt Epikur eine Unterbrechung; und wie diese beschaffen ist, wird späterhin näher vorkommen. Auf diese dürftigen, zum Teil auch dunkel vorgetragenen oder ungeschickt von Diogenes Laertios ausgezogenen Stellen reduziert sich die epikureische Theorie des Erkennens; es ist nicht möglich, eine dürftigere zu haben. Das Erkennen nach der Seite des Denkens bestimmt sich allein als eine eigene Bewegung, die eine Unterbrechung macht. Die Dinge haben wir schon Erfüllte genannt, die Epikur als eine Menge von Atomen betrachtet. Zu dem Atomen ist das Leere das andere Moment, die Unterbrechung, Porus, - das Negative ist auch affirmativ, die Seele; und indem der Strom der Atome von dem Leeren unterbrochen wird, ist ein Stemmen gegen diesen Fluss möglich. Nur bis zu dieser Negativität ist Epikur gekommen; wir sehenetwas und sehen davon hinweg, - d.h. wir unterbrechen jenes Einströmen. Was nun aber diese unterbrechende Bewegung jetzt für sich ist, darüber weiß Epikur weiter nichts. Diese Unterbrechung (durch uns, das Denken gemacht) hänge mit den weiteren Vorstellungen Epikurs zusammen. Was diese eigene Bewegung, Unterbrechung, näher betrifft, so ist in Ansehung ihrer auf die Grundlage oder das Ansich des epikureischen Systems weiter zurückzugehen.

Allgemeine Metaphysik. Weiter hat Epikur sich über das Atome selbst erklärt; aber doch nicht weiter als Leukippos und Demokritos. Das Wesen Epikurs, die Wahrheit der Dinge, ist nämlich, wie bei Leukipp und Demokrit, die Atome und das Leere. Sie sind das körperliche Ansich; das Leere ist das Prinzip der Bewegung, scheint überhaupt sein Negatives zu sein, das in seiner Vorstellung vorkommen musste. »Die Atome haben keine Eigenschaft außer Figur, Schwere und Größe.« Die Atome als Atome müssen unbestimmt bleiben; aber sie sind zu der Inkonsequenz genötigt gewesen, ihnen Eigenschaften zuzuschreiben: quantitativ Größe und Figur, qualitativ die Schwere. Schwere kann abstraktes Fürsichsein sein; Figur, Größe ist aber nicht mehr Atom. Das an sich ganz Unteilbare kann weder Figur noch Größe haben; und
selbst die Schwere, die Richtung auf etwas anderes, ist dem Repellieren des Atoms entgegengesetzt. »Alle Eigenschaft ist der Veränderung unterworfen; die Atome aber ändern sich nicht. In allen Auflösungen des Zusammengesetzten muss etwas Festes und Unauflösliches bleiben, welches keine Veränderung in das, was nicht ist, noch aus dem Nichtsein in das Sein macht. Dies Unveränderliche sind daher einige Körper und Figurationen. Die Eigenschaften sind eine gewisse Beziehung der Atome aufeinander.« (Diogenes Laertios X, § 54-55).Das Berührbare haben wir als den Grund der Eigenschaften bei Aristoteles schon gesehen [s. S. 196 f.], - eine Unterscheidung, die unter verschiedenen Gestalten noch immer gemacht, und immer zu machen ist, gewöhnlich vorkommt: Gegensatz von Grundeigenschaften, eben Schwere, Figur und Größe, - und abgeleiteten oder sinnlichen Eigenschaften, nur in Beziehung auf uns. Dies ist häufig so verstanden worden, als ob die Schwere in dem Dinge, die anderen Eigenschaften nur in unseren Sinnen seien, überhaupt aber jenes das Moment des Ansich oder sein abstraktes Wesen, dies aber sein konkretes Wesen, oder welches seine Beziehung auf Anderes ausdrücke.

Die Hauptsache wäre nun, die Beziehung des Wesens, der Atome, auf die sinnliche Erscheinung anzugeben. Aber hier treibt sich dann Epikur in Unbestimmtheiten herum, die nichts sagen. Hier ist der Anstoß, das abstrakte Ansich in die Erscheinung, das Wesen in das Negative übergehen zu lassen, worüber wir bei Epikur wie anderen Physikern nichts als bewusstlose Verwicklung und Vermischung von Begriffen, Abstraktionen und Realitäten erblicken. Alle besonderen Gestalten, alle Dinge, Gegenstände, Licht, Farbe usf., selbst die Seele ist nichts anderes als eine gewisse Ordnung, Arrangement dieser Atome. Das hat auch Locke gesagt. Die Grundlage sind molécules, sie sind im Raume rangiert. Dies sind leere Worte. Eigenschaften sind hiernach gewisse Beziehungen der Atome zueinander; so sagt man auch wohl jetzt, ein Kristall sei ein gewisses Arrangement der Teile, das dann diese Figur gebe. Von dieser Beziehung der Atome ist es nicht der Mühe wert zu sprechen: es ist ein ganz formelles Reden. Epikur schreibt den Atomen Figur und Größe zu (Diogenes Laertios X, § 55-58)., gibt jedoch wieder zu, dass Figur und Größe, insofern sie den Atomen angehören, noch etwas anderes sind, als insofern sie erscheinen bei den Dingen. »Beide sind nicht ganz unähnlich; sondern das Eine, die an sich seiende Größe, hat etwas Gemeinschaftliches mit der erscheinenden.

Diese ist übergehende, sich verändernde, jene hat keine unterbrochenen Teile«,
nichts Negatives.

Diese Unterbrechung ist die andere Seite zu den Atomen, das Leere. Wir sahen oben: Die Bewegung des Denkens ist eine solche, die Unterbrechung hat (das Denken ist im Menschen eben das, was die Atome und das Leere in den Dingen, sein Inneres); d.h. eben ihr gehöre das Atome und das Leere an, oder für sie ist es, wie die Dinge an sich sind. Die Bewegung des Denkens ist also den Atomen der Seele
zukommend, so dass auch darin eine Unterbrechung stattfindet gegen die Atome, die von außen einfließen. Es ist also weiter nichts darin zu sehen als das allgemeine Prinzip des Positiven und Negativen, so dass auch das Denken mit einem negativen Prinzip, Moment der Unterbrechung, behaftet ist. Diese Grundlage des epikureischen Systems weiter angewandt und ausgeführt auf den Unterschied der Dinge ist das Willkürlichste und darum Langweiligste, das sich denken lässt.

Die Atome haben verschiedene Figuren, haben eine verschiedene Bewegung; und aus diesen ursprünglichen Verschiedenheiten entstehen dann die abgeleiteten Verschiedenheiten, welche Eigenschaften heißen. Wie ursprüngliche Figur und Größe, oder die der Atome, beschaffen sei, ist willkürliche Dichtung. Durch die Schwere haben die Atome auch eine Bewegung; diese Bewegung aber weicht in ihrer Richtung etwas von der geraden Linie ab. Epikur schreibt ihnen krummlinige Bewegung zu, damit sie zusammenstoßen können usf (Diogenes Laertios X, § 43-44, 60-61; Cicero, De fato, c.20; De finibus I, 6). Dadurch entstehen besondere Zusammenhäufungen, Konformationen; das sind die Dinge. Andere physikalische Eigenschaft, Geschmack, Geruch, hat in anderem Arrangement der molécules seinen Grund. Aber da gibt es keine Brücke von diesem zu jenem; oder auch es findet die leere Tautologie statt, dass die Teile gerade so geordnet und zusammengestellt sind, als erforderlich ist, dass ihre Erscheinung diese sei. Die Bestimmung aber der Atome, als so oder so geformt, wird eine Erdichtung einer vollkommenen Willkür. Den Übergang zu konkreten Erscheinungen, Körpern hat Epikur entweder gar nicht gemacht, oder was darüber angegeben ist, ist etwas für sich selbst Dürftiges. Man hört von der epikureischen Philosophie sonst nicht unvorteilhaft gesprochen; und es ist darüber noch etwas Näheres anzugeben.

Indem so das aufgelöste Zerstreute und das Leere das Wesen ist, so folgt unmittelbar daraus, dass Epikur die Einheit und die Beziehung dieser Atome als an sich seiend in dem Sinne des allgemeinen Zwecks leugnet. Alles, was wir Gestaltungen und Organisationen (organische Gebilde) heißen, überhaupt die Einheit des Naturzwecks, gehört ihm zu den Eigenschaften, zu einer Verbindung der Atome, die so nur zufällig ist und durch ihre zufällige Bewegung hervorgebracht wird. Epikur nimmt als Grundaffekt der Atome die Schwere an, lässt aber die Atome nicht in gerader Linie sich bewegen, sondern in einer von der geraden etwas abweichenden, in einer krummen Linie, so dass die Atome hier zusammenstoßen und eine nur oberflächliche, ihnen nicht wesentliche Einheit bilden. Oder Epikur leugnet überhaupt allen Begriff und das Allgemeine als Wesen. Alle Entstehungen sind zufällige Verbindungen, die sich ebenso zufällig auflösen. Denn das Geteilte ist das Erste und das wirklich Seiende; und Zufälligkeit ist das Gesetz der Verbindung. Weil aber der Zufall das Herrschende ist, so fällt alles Zweckmäßige und damit auch aller Endzweck der Welt hinweg. Epikur braucht, dies zu zeigen, die trivialsten Beispiele: dass z.B. aus dem Schlamme durch
Sonnenwärme zufällig Gewürme und so fort entstehen. Sie mögen wohl Zufällige sein als Ganze in Beziehung auf Anderes; aber ihr Ansich, Begriff und Wesen ist jetzt etwas Organisches, - und dieses zu begreifen, davon wäre die Rede. Epikur verbannt den Gedanken als ein Ansichseiendes, ohne daran zu denken, dass seine Atome selbst eben diese Natur von Gedanken haben, - ein solches Sein, das nicht unmittelbar, sondern wesentlich durch Vermittlung, negativ ist oder allgemein ist; eine Inkonsequenz, die seine erste und Epikurs einzige ist, - alle Inkonsequenz der Empiriker. Wie umgekehrt die Stoiker das Gedachte, Allgemeine zum Wesen machen und ebenso wenig zum Sein und Inhalt gelangen können, aber es inkonsequenterweise zugleich haben.

Dies ist nun die Metaphysik Epikurs; das Weitere derselben ist uninteressant. S. 306-313
Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, nach dem suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw 619

3. Physik
Die Naturphilosophie ist auf diesem Grunde gebaut; aber es ist hierin eine interessante Seite, weil es noch eigentlich die Methode unserer Zeit ist. Dass nun Epikur sich sogleich gegen einen allgemeinen Endzweck der Welt, jede Zweckbeziehung, Zweckmäßigkeit des Organischen in sich selbst, ferner gegen die teleologischen Vorstellungen von der Weisheit eines Weltschöpfers in der Welt und dessen Regierung usf. erklärt, dies versteht sich von selbst, indem er die Einheit aufhebt, es sei nun in welcher Weise sie vorgestellt werde, ob als Zweck der Natur an ihr selbst oder als Zweck, der in einem Anderen ist, aber an ihr geltend gemacht wird. Endzweck der Welt, Weisheit des Schöpfers, was bei den Stoikern hereinkommt, die teleologische Betrachtung, die bei den Stoikern sehr ausgebildet ist, ist bei Epikur nicht vorhanden; alles sind Ereignisse, die durch zufälliges, äußerliches Zusammenkommen der Figurationen der Atome bestimmt sind. Es sei Zufall, äußerliche Notwendigkeit, die das Prinzip alles Zusammenhalts aller Beziehung aufeinander ist.

Seine Gedanken über die einzelnen Seiten der Natur - an sich kläglich, eine gedankenlose Vermischung von allerhand Vorstellungen - sind ebenso vollkommen gleichgültige Gedanken. Das nähere Prinzip der physikalischen Betrachtungsweise Epikurs liegt in den Vorstellungen, die wir schon früher gesehen. Nämlich mehrere Wahrnehmungen fallen aufeinander, das ist feste Phantasie: wir haben durch die Empfindung gewisse allgemeine Vorstellungen, Bilder, Vorstellungen von Zusammenhängen; die Meinung ist das Beziehen solcher Wahrnehmungen auf solche vorhandenen Bilder. Epikur geht sodann weiter, wie man in der Vorstellung verfahren müsse über das, was man nicht unmittelbar empfinden könne. Diese Vorstellungen, Prolepsen, die wir schon haben, sind es, die wir anzuwenden haben auf etwas, dessen genaue Empfindung wir nicht haben können, aber das etwas Gemeinschaftliches hat mit jenen. Dadurch kommt es, dass wir das Unbekannte, was sich
nicht unmittelbar der Empfindung gibt, nach solchen Bildern fassen können: aus dem Bekannten müsse man auf das Unbekannte schließen. Dies ist nichts anderes, als dass Epikur die Analogie zum Prinzip der Naturbetrachtung macht
(Diogenes Laertios X, § 72)., - oder das sogenannte Erklären; und dies ist das Prinzip, was noch heute in der Naturwissenschaft gilt. Wir haben bestimmte Vorstellungen; was wir nicht durch Empfindung haben, bestimmen wir durch diese Vorstellungen; das ist das Prinzip moderner Physik überhaupt. Man macht Erfahrungen, Beobachtungen; dies sind Empfindungen, was man leicht übersieht, weil man gleich von den Vorstellungen spricht, die aus den Empfindungen entstehen. So komme man zu allgemeinen Vorstellungen; und dies sind die Gesetze, Kräfte, Weisen der Existenz. Elektrizität, Magnetismus usf. gründet sich so auf Erfahrung, auf Empfindung; diese allgemeinen Vorstellungen wenden wir dann an auf solche Gegenstände, Tätigkeiten, die wir nicht unmittelbar selbst empfinden können. Wir beurteilen sie so nach der Analogie. Z.B. wir wissen von den Nerven und ihrem Zusammenhange mit dem Gehirn; um nun zu fühlen usf., sagt man, findet eine Fortpflanzung von der Spitze des Fingers bis ins Gehirn statt. Wie soll man sich dies aber vorstellen? Man kann es nicht beobachten. Man kann durch Anatomie wohl die Nerven aufzeigen, aber nicht die Art ihrer Tätigkeit; diese stellt man sich nun vor nach der Analogie, nach analogen Erscheinungen einer Fortpflanzung: z.B. wie das Schwingen einer Saite, das den Nerven durchzittert bis ins Gehirn. Oder wie jene bekannte Erscheinung, die sich besonders an den Billardkugeln zeige, dass, indem man mehrere in eine dichte Reihe stelle und die erste anstößt, die letzte fortläuft, während die mittleren sich kaum zu bewegen scheinen: so stellt man sich vor, die Nerven bestehen aus ganz kleinen Kügelchen, die man selbst durch das stärkste Vergrößerungsglas nicht sehen kann; bei jeder Berührung usf. springe die letzte ab und treffe die Seele. Licht stellt man sich so als Fäden, Strahlen oder als Schwingungen des Äthers oder als Ätherkügelchen vor, die stoßen. Dies ist ganz die Manier der Analogie Epikurs. Oder man sage: Der Blitz ist eine elektrische Erscheinung. Bei der Elektrizität sieht man einen Funken, der Blitz ist auch ein Funken; durch dies beiden Gemeine schließt man auf die Analogie beider.

Epikur ist nun damit sehr liberal. Er sagt: »Was wir nicht selbst beobachten können, fassen wir nach Analogie auf; dies hat aber etwas gemein mit vielen anderen Vorstellungen. So lässt sich also vielerlei, und zwar beliebig, darauf anwenden; es ist nicht eine Weise zu behaupten, sondern es kann auf vielerlei Weise sein.« (Diogenes Laertios X, § 78-80, 86-87). Epikur sagt: z.B. der Mond leuchtet, so sehen wir ihn; wir können keine nähere Erfahrung über ihn machen. Es kann der Mond eigenes Licht haben oder auch von der Sonne geliehenes; denn auch auf Erden sehen wir vieles, das aus sich leuchtet, durch eigenes Licht (Flamme), und vieles, das von anderen, durch mitgeteiltes Licht, erleuchtet wird. »Es hindert nichts, die himmlischen Dinge nach vielerlei Erinnerungen zu betrachten und ihnen gemäß die Hypothesen und Ursachen anzunehmen.« Wir sehen Epikur die beliebte Manier der Analogie gebrauchen; Erinnerungen sind Prolepses, Vorstellungen von Dingen, die wir erfahren, Vorstellungen, die wir bei ähnlichen Erscheinungen wieder anwenden. So auch Ab- und Zunehmen des Monds kann man nicht direkt beobachten; nach der Analogie kann es nun geschehen durch Umwälzung dieses Körpers: dann durch Figurationen der Luft, je nachdem der Dunst anders modifiziert ist: »oder auch durch Zusätze und Wegnehmen:überhaupt auf alle die Weisen, wodurch dasjenige, was ebenso bei uns erscheine, veranlasst wird, solche Gestalten zu zeigen«, - auf der Erde sehen wir das Große klein werden usf. »Da können wir uns denn eine dieser Arten auswählen und die andere verwerfen«; und Epikur ist ausdrücklich hierin sehr billig, tolerant gewesen. Epikur wendet dabei alle die verschiedenen Vorstellungen an, die uns in dem Verhältnis sinnlicher Gegenstände vorkommen, und macht dabei ein leeres Geschwätze, das die Ohren und die Vorstellung füllt, aber verschwindet, näher betrachtet. So finden sich bei ihm alle diese Sächelchen von Reibung, Zusammenstoßen. So z.B. kann der Blitz nach der Analogie, wie wir sonst Feuer entstehen sehen, beurteilt werden. »So wird der Blitz durch eine ganze Menge möglicher Vorstellungen so erklärt: z.B. durch die Reibung und den Zusammenstoß der Wolken fällt die Figuration des Feuers heraus und erzeugt den Blitz«, was ein Arrangement der Atome ist. Wir sprechen auch so: Durch Reiben entsteht Feuer, ein Funken; und dies übertragen wir auf die Wolken. »Oder der Blitz kann auch durch Herausstoßen aus den Wolken durch die windigen Körper, die den Blitz machen, durch ein Herausschlagen, wenn die Wolken zusammengedrückt werden, entweder voneinander oder vom Winde, entstehen« usf. Bei den Stoikern ist es übrigens nicht viel besser. Anwendung von sinnlichen Vorstellungen, Vorstellung nach einer Analogie ist oft Begreifen oder Erklären genannt worden; in der Tat ist in solchem Tun keine Ahnung vom Gedanken oder Begreifen. - »Es kann auch einer eine dieser Arten auswählen und die anderen verwerfen, indem er nicht bedenkt, was dem Menschen möglich zu erkennen ist und was nicht, und deswegen das Unmögliche zu erkennen strebt.«
(Diogenes Laertios X, § 93-96, 101, 97).

Das ist dieselbe Manier der Analogie als unsere Physik: sinnlicher Bilder Anwendung, Übertragung auf etwas Ähnliches, und dies für Grund, Erkennen der Ursache gelten lassen, weil solche Anwendung sinnlicher Bilder auf solche Gegenstände nicht durch das Zeugnis bestätigt werden kann, wir nicht zur unmittelbaren Empfindung kommen können. Also bleibt es bei dem Gerede: es kann so oder anders ein. Die stoische Manier der Gründe aus Gedanken bleibt ausgeschlossen. So in der organischen Physik. Von den Nerven hängt alles ab. An gespannten Saiten sehen wir, dass, wenn wir eine anschlagen, die Schwingung sich mitteilt: so können die Nerven gespannte Saiten sein; - oder von vielen Kugeln, wird die eine angestoßen, so stößt sie alle auf sie in der Reihe folgenden an. Man darf also nicht gegen Epikurs Ansicht spröde tun, wenn man Physiker ist. Ein Umstand, der uns sogleich auffällt, ist der Mangel an Beobachtungen, an Erfahrungen über das Verhalten der Körper zueinander; aber die Sache, das Prinzip ist nichts als das Prinzip unserer gewöhnlichen Naturwissenschaft. Man hat diese Manier Epikurs angegriffen, verächtlich gemacht; aber nach dieser Seite hat man sich ihrer nicht zu schämen, denn es ist noch immer die Manier, die in unserer Naturwissenschaft zugrundeliegt. Das, was Epikur sagt, ist nicht schlechter, als was die Neueren behaupten: als ob durch Reibung der Wolken Elektrizität entsteht, wie wenn Glas und Taft gerieben werden; denn Wolken sind keine harten Körper, vielmehr wird die Elektrizität ja durch die Feuchtigkeit zerstreut. Mithin ist hier unsere Vorstellung ebenso leer wie bei Epikur.

Hauptsache bei Epikur ist, dass er dies besonders einschärft (Diogenes Laertios X, § 113-114)., eben weil das Zeugnis fehlt, nicht bei einer Analogie stehenzubleiben; und dies zu behaupten, ist noch ein gutes Bewusstsein. Auch sonst ist es ihm eben kein Ernst damit, sondern wenn der eine diese Möglichkeit, der andere eine andere Möglichkeit annimmt, so bewundert er den Scharfsinn des anderen; - es hat keine Not. Dieses ist begrifflose Weise, die nur zu allgemeinen Vorstellungen kommt. Epikurs Erklärungsweise ist von dieser Seite her der stoischen ganz entgegengesetzt. Man findet häufig von Epikurs Physik vorteilhaft gesprochen. Und wenn Physik dafür gehalten wird, sich einesteils an die unmittelbare Erfahrung zu halten, andernteils in Ansehung dessen, was nicht unmittelbar erfahren werden kann, an die Anwendung jenes nach einer Ähnlichkeit, die das nicht Erfahrene an ihm hat (Analogie), so kann Epikur in der Tat, wo nicht der Anfänger, doch Hauptanführer dieser Manier gehalten werden, und zwar als der, der sie dafür behauptet, dass sie das Erkennen sei. Es ist überhaupt von dieser Manier (der Philosophie Epikurs) zu sagen, dass sie gleichfalls ihre Seite hat, von der ihr ein Wert beizulegen ist. Aristoteles und die Älteren sind a priori ausgegangen vom allgemeinen Gedanken in der Naturphilosophie und haben den Begriff aus ihm entwickelt; dies ist die eine Seite. Die andere Seite ist die notwendige, dass die Erfahrung zur Allgemeinheit heraufgebildet werde, die Gesetze gefunden werden; dies ist, dass das, was aus der abstrakten Idee folgt, zusammentrifft mit der allgemeinen Vorstellung, zu der die Erfahrung, Beobachtung heraufpräpariert ist. Das a priori ist z.B. bei Aristoteles ganz vortrefflich, aber nicht genügend, weil ihm die Seite der Verbindung, des Zusammenhangs mit der Erfahrung, Beobachtung fehlt. Dies Zurückführen des Besonderen zum Allgemeinen ist das Finden der Gesetze, Naturkräfte usf. Man kann so sagen, Epikur ist der Erfinder der empirischen Naturwissenschaft, empirischen Psychologie. Entgegengesetzt den stoischen Zwecken, Verstandesbegriffen ist Erfahrung, sinnliche Gegenwart. Dort ist abstrakter bornierter Verstand, ohne Wahrheit in sich, daher auch ohne Gegenwart und Wirklichkeit der Natur; hier diese, - Natursinn, wahrer als jene Hypothesen.

Dieselbe Wirkung, die das Entstehen der Kenntnis von Naturgesetzen usf. in der modernen Welt gehabt hat, hatte auch die epikureische Philosophie in ihrem Kreise, insofern sie nämlich gegen die willkürliche Erdichtung von Ursachen gerichtet ist. Je mehr in neuerer Zeit die Menschen von den Naturgesetzen kennen lernten, je mehr verschwand der Aberglaube, das Wunderwesen, Astrologie usf.; alles dies verbleicht durch die Kenntnis der Naturgesetze. Und bei Epikur hatte seine Manier vorzüglich diese Tendenz gegen den gedankenlosen Aberglauben der Astrologie usf., - eine Manier, die ebenfalls nichts Vernünftiges, nicht im Gedanken ist, sondern gleichfalls in der Vorstellung, aber geradezu eben erdichtet oder, wenn man will, lügt. Gegen dies hat jene Manier die Wahrheit, wenn es auf Vorstellungen, nicht aufs Denken ankommt, sich an das Gesehene und Gehörte usf. zu halten, das dem Geiste Präsente, ihm nicht Fremdartige; nicht von Dingen zu sprechen, die solche sein sollen, die gesehen, gehört werden sollten, aber es nicht können, weil sie nur erdichtet sind. Die Wirkung der epikureischen Philosophie zu ihrer Zeit ist also die gewesen, dass sie sich dem Aberglauben der Griechen und Römer entgegengesetzt und die Menschen darüber erhoben hat.
(Cicero, De natura deorum I, 20). All dies Zeug vom Vogelflug rechts oder links, dass ein Hase über den Weg läuft, dass man die Handlungsweise bestimme aus den Eingeweiden der Tiere oder danach, ob die Hühner lustig oder unlustig sind usf., - all diesen Aberglauben hat die epikureische Philosophie ausgerottet, indem sie nur das für wahr gelten lässt, was durch die Empfindung mittels der Prolepsis als wahr gilt; und von ihr sind besonders die Vorstellungen ausgegangen, welche das Übersinnliche ganz geleugnet haben.

Seine Physik wird dadurch berühmt, dass sie den Aberglauben der Astrologie, Furcht vor den Göttern verbannt hat; sie hat Aufklärung in Rücksicht aufs Physische aufgebracht. Der Aberglaube gehe von unmittelbaren Erscheinungen gleich zu Gott, Engeln, Dämonen über; oder er erwartet bei endlichen Dingen andere Wirkungen, als die Umstände zulassen, Ereignisse in einer höheren Weise. Diesem ist die epikureische Physik allerdings entgegen, weil sie für den Kreis des Endlichen auch beim Endlichen stehen bleibe; sie nimmt nur endliche Ursachen hinein. Das ist das sogenannte Aufgeklärte, im Felde des Endlichen stehenzubleiben. Der Zusammenhang in anderem Endlichen, in Bedingungen, die selbst ein Bedingtes sind, wird aufgesucht (der Aberglaube geht, mit Recht oder Unrecht, gleich zu einem Höheren über); aber so sehr diese Weise in der Sphäre des Bedingten richtig ist, so nicht in anderen Sphären. Sage ich, die Elektrizität kommt von Gott, so habe ich Recht, aber auch Unrecht. Ich frage nach einer Ursache im selben Felde des Bedingten. Sage ich »Gott« als Antwort, so ist das zu viel gesagt. Er ist die Ursache von allem, ich will aber bestimmte Ursache, Zusammenhang dieser Erscheinung wissen; die Antwort »Gott« passt auf alles. Auf der andern Seite ist in diesem Feld selbst der Begriff schon etwas Höheres; diese höhere Betrachtungsweise, die wir bei Philosophen sahen, ist damit ganz abgeschnitten. Aberglaube fällt weg, aber auch ein in sich begründeter Zusammenhang und die Welt des Idealen.

Zu seiner Naturphilosophie gehört auch seine Vorstellung von der Seele. Was die Natur der Seele betrifft, so betrachtet Epikur diese ebenfalls als ein Ding, wie die Hypothesen unserer Zeit als Nervenfäden, gespannte Saiten oder Reihe von Kügelchen. »Die Seele besteht aus den feinsten und rundesten Atomen, noch ganz anders als das Feuer«, - »feiner Geist, der durch die ganze Zusammenhäufung eines Körpers zerstreut ist (paresparmenon) und an der Wärme desselben teilhat.« (Epikur hat mithin nur einen quantitativen Unterschied festgestellt: diese
feinsten Atome seien von einem Quantum gröberer Atome umgeben und durch diese größere Zusammenhäufung verbreitet.)
- »Der Teil, der der Vernunft entbehrt, ist im Körper« (das Lebensprinzip) »zerstreut, der sich bewusste Teil (to logikon) aber in der Brust, wie dies aus der Freude und Traurigkeit abzunehmen ist.« - »Sie hat viele Veränderung in sich durch die Feinheit ihrer Teile, die sich sehr schnell bewegen können; sie sympathisiert (sympathes) mit der übrigen Zusammenhäufung, wie wir dies aus den Gedanken und Gemütsbewegungen usf. sehen: wenn wir deren beraubt sind, so sterben wir. Die Seele hat aber auch ihrerseits den größten Anteil an der Empfindung; doch käme sie ihr nicht zu, wenn sie nicht von der übrigen Zusammenhäufung« (dem übrigen Körper) »gewissermaßen bedeckt wäre«, - ganz gedankenlose Vorstellung. »Diese übrige Zusammenhäufung, welche ihr dies Prinzip verschafft, wird dadurch gegenseitig auch eines solchen Zustandes« (Empfindung) »teilhaftig, doch nicht alles dessen, was jene besitzt; deswegen, wenn die Seele entflohen, fehlt ihr die Empfindung. Die Zusammenhäufung hat nicht in sich selbst diese Kraft, sondern erst das Andere, mit dem sie zusammengeeint ist, gibt ihr sie; und die empfindende Bewegung kommt durch den gemeinschaftlichen Fluss und Sympathie zustande.« (Diogenes Laertios X, § 66, 63-64) Mit solchen Vorstellungen ist nichts zu machen. Unterbrechung des Zusammenströmens der Bilder der äußeren Dinge mit unseren Organen, als Grund des Irrtums, hat seinen Grund darin, dass die Seele aus eigentümlichen Atomen bestehe und die Atome durch das Leere getrennt sind. Mit solchem Geschwätz wollen wir uns nicht länger aufhalten; es sind leere Worte. Vor Epikurs philosophischen Gedanken können wir keine Achtung haben; oder vielmehr es sind gar keine Gedanken.
S. 313-322
Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, nach dem suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw 619

4. Moral
Philosophie des Geistes. Epikurs Moral nun ist das Verschrienste seiner Lehre (und daher auch das Interessanteste); aber man kann auch sagen, sie ist das Beste daran. Er beschreibe zwar die Seele, den Geist; das heiße aber nicht viel, es ist so nach der Analogie geschlossen, verbunden mit der Metaphysik der Atome. Das Logische in unserer Seele ist eine Zusammenhäufung von feinen Atomen, und in dieser Zusammenhäufung haben sie erst eine Kraft, Tätigkeit durch die Empfindung, d.h. durch Sympathie untereinander, d.h. durch die Gemeinschaft, die hervorkommt durch das Einströmen der Atome von außen in sie; dies ist eine schale, triviale Vorstellung, die uns nicht aufhalten kann. Das Ziel der praktischen Philosophie Epikurs geht gleichfalls auf die Einzelheit des Selbstbewusstseins, wie die stoische; und das Ziel seiner Moralist insofern dasselbe, ist gleichfalls die Unerschütterlichkeit des Geistes, ist näher ein ungetrübter reiner Genuss seiner selbst.

Wenn wir das abstrakte Prinzip der Moral Epikurs betrachten, so kann das Urteil nicht anders als sehr unvorteilhaft ausfallen. Wenn nämlich die Empfindung, das Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen, das Kriterium sein soll für das Rechte, Gute, Wahre, für das, was der Mensch sich zum Zweck machen soll im Leben, so ist die Moral eigentlich aufgehoben, oder das moralische Prinzip ist in der Tat ein unmoralisches; wir glauben, aller Willkür im Handeln sei Tor und Tür geöffnet. Wird jetzt behauptet, dass das Gefühl Grund des Handelns sei (»weil ich Trieb in mir finde, so ist er recht«), so ist dies epikureisch. Jeder kann anderes fühlen, derselbe in anderen Momenten anderes Gefühl haben; so kann auch bei Epikur das Handeln der einzelnen Subjektivität freigelassen werden. Allein es ist dies wesentlich zu bemerken: wenn Epikur als Vergnügen den Zweck bestimmt, so ist dies nur, insofern der Genuss desselben Resultat der Philosophie ist. Wenn ein Mensch weiter nichts ist als ein gedankenloser, ausgelassener Mensch, der ebenso ohne allen Verstand sich in den Vergnügungen ersäufe und ein liederliches Leben führt, so ist er gar nicht für einen Epikureer zu halten, oder [es ist] nicht vorzustellen, dass Epikur den Zweck des Lebens hierin erfüllt sehe. Es ist schon früher bemerkt, dass allerdings zwar einerseits die Empfindung zum Prinzip gemacht wird, aber dass auch damit wesentlich verbunden sein soll der logos, die Vernunft, der Verstand, das Denken, - Ausdrücke, die jedoch hier nicht bestimmt zu unterscheiden sind. Es ist bei Epikur der Fall (Diogenes Laertios X, § 144), dass, indem er das Vergnügen als Kriterium des Guten bestimmte, er gefordert hat für das Denken eine Besonnenheit (hochgebildetes Bewusstsein), welche das Vergnügen berechnet, ob es nicht mit größerem Unangenehmen verbunden ist, und es richtig hiernach beurteilt. Mit dem logos, der Besonnenheit, der vernünftigen Überlegung, mit der Berechnung dessen, was Vergnügen macht, tritt die Reflexion ein, dass einiges wohl unmittelbar angenehm sein, aber doch üble Folgen haben könne; diese Reflexion schon bringt es mit sich, dass auf manches Vergnügen verzichtet wird. Das einzelne Vergnügen wird nur im Ganzen betrachtet: »Klugheit ist das höchste der
Güter«,
das allein durch Philosophie zuteil wird; Klugheit eben nicht unmittelbar, sondern in der Beziehung auf das Ganze. »Ohne Klugheit, Tugend und Gerechtigkeit kann man nicht glücklich leben.« (Diogenes Laertios X, § 141, 132). Andererseits aber haben die Epikureer auch, indem sie das Vergnügen zum Prinzip machten, die Glückseligkeit, die Seligkeit des Geistes zum Prinzip gemacht; so dassdiese Glückseligkeit auf solche Weise gesucht werden solle, dass sie ein von äußerlichen Zufälligkeiten, Zufälligkeiten der Empfindung Freies, Unabhängiges sei. Und sie haben so dasselbe Ziel wie die Stoiker. Epikur hat zum Ziel gesetzt wieder Zustand des Weisen, die ataraxia ein von Furcht und Begierde freies Sichselbstgleichundruhigbleiben des Geistes. Epikur erfordert so hierzu (um von Aberglauben frei zu sein) besonders auch physische Wissenschaft, von allen den Meinungen befreit zu sein, die die vorzüglichste Unruhe den Menschen machen: die Meinungen von den Göttern, ihren Strafen, besonders vom Tode (Diogenes Laertios X, § 142-143, 125), der kein Übel ist, denn er ist eine bloße Privation, nichts Positives. Von aller dieser Furcht und Vorstellungen der Menschen befreit, die in irgend etwas Bestimmtes ihr Wesen setzen, sucht der Weise nur das Vergnügen als etwas Allgemeines, hält nur dies für positiv. Es begegnet sich hier das Allgemeine und Einzelne; oder das Einzelne ist in die Form der Allgemeinheit erhoben, nur im Ganzen betrachtet. Es geschieht, dass - indem materiellerweise (oder dem Inhalt nach) Epikur die Einzelheit zum Prinzip macht, er dagegen die Allgemeinheit des Denkens auf der andern Seite fordert - seine Philosophie mit der stoischen übereinstimmt. Der Weise bei Epikur wird mit denselben Bestimmungen (die negativ sind) geschildert als bei den Stoikern.

Wenn man das Prinzip abstrakt betrachtet, so ist einerseits das Allgemeine, das Denken, andererseits das Einzelne, die Empfindung, und sind die beiden Prinzipien schlechthin einander entgegengesetzt. Die Empfindung ist aber nicht das ganze Prinzip der Epikureer, sondern dies ist die durch Vernunft erworbene und nur so zu erwerbende Glückseligkeit; und so haben beide Prinzipien dasselbe Ziel. Diogenes Laertios (X, § 135) führt über diesen Gesichtspunkt an: »Es ist vorzuziehen, mit Vernunft unglücklich zu sein (eulogistôs atychein), als mit Unvernunft glücklich (alogistôs). Denn es ist besser, dass in den Handlungen das richtig Geurteilte durch das Glück nicht recht gemacht werde (beltion gar to krithen en tais praxesikalôs, mê orthôthênai dia tautês)«, - es ist besser, dass in den Handlungen richtig geurteilt werde, als durch das Glück begünstigt zu sein; das richtige Urteil ist das, was vorzuziehen ist. »Dies habe bei Tag und Nacht in der Überlegung«: der Vernunft zu folgen, richtig zu urteilen. »Lasse durch nichts dich nicht aus der Ruhe der Seele bringen, dass du wie ein Gott unter den Menschen lebst; denn es hat nichts gemein mit einem sterblichen Lebendigen der Mensch, der in todlosen (unsterblichen) Gütern lebt.«

Seneca ist als bestimmter, beschränkter Stoiker bekannt; er kommt auch auf Epikureer zu sprechen. Ein unverdächtiges Zeugnis über Epikurs Moral findet sich bei Seneca. Seneca in seiner Schrift De vita beata (c. XIII) sagt: »Mein Urteil jedoch ist, und ich sage zum Teil gegen viele meiner Landsleute, dass die moralischen Gebote Epikurs ein Heiliges und Richtiges vorschreiben und, wenn man es näher betrachtet, sogar Trauriges. Denn jenes Vergnügen geht auf etwas sehr Geringes und Dürftiges zusammen. Dasselbe Gesetz, was wir für die Tugend, schreibt er fürs Vergnügen vor. Er verlangt, dass es der Natur gehorche; es ist aber sehr wenig Üppigkeit, mit der die Natur sich befriedigt.« Die Lebensweise eines Stoikers ist nicht anders beschaffen als das Leben eines Epikureers, der das vor Augen hat, was Epikur vorschreibt. »Wenn derjenige, welcher ein faules und schlemmerisches und liederliches Leben führt, das Glückseligkeit nennt« und dies Epikureismus nennt (dabei auf Epikur sich stützt), »so sucht er nur eine gute Autorität für eine schlimme Sache und folgt nicht einem Vergnügen, das er von Epikur hat, sondern denen, die er selbst mit herbeibringt.« »Solche suchen nur ihre Schlechtigkeit unter dem Mantel der Philosophie zu verbergen; denn Epikurs Vergnügen ist mäßig und trocken.« Auch dieser Name (denn durch ihn wenden sich viele dahin) ist es, welcher einer schlechten Sache gegeben wird. »Sie suchen nur einen Vorwand, eine Ausrede, einen Titel für ihre Ausschweifungen«, indem sie dies Leben epikureische Philosophie nennen (c. 12). Wenn nämlich das Vergnügen zum Prinzip gemacht wird, so wird zugleich befohlen, dass Vernunft und Besonnenheit darüber wache; und es tritt eine Berechnung ein, wo sich Vergnügen finden könne, wenn z.B. ein Vergnügen mit Gefahren, Furcht, Angst und anderem Missvergnügen verbunden ist. So wird das, was reines und ungetrübtes Vergnügen machen könne auf sehr weniges reduziert. Ruhe des Gemüts in sich selbst zu erhalten, ist Epikurs Prinzip; und dazu gehört gerade, demjenigen und dem vielen zu entsagen, wovon die Menschen beherrscht sind und worin sie ihr Vergnügen finden, - frei, leicht und ruhig, ohne Unruhe und ohne Begierde zu leben.

Die Kyrenaiker haben mehr das Vergnügen als ein Einzelnes, Epikur als Mittel: »Schmerzlosigkeit ist Lust«, - es gibt keinen Mittelzustand (Diogenes Laertios X, § 139). Zunächst kann uns einfallen, dass die Kyrenaiker dasselbe Prinzip gehabt haben wie die Epikureer. Diogenes Laertios gibt den Unterschied jedoch so an: »Die Kyrenaiker nehmen das Vergnügen in der Ruhe (tên hêdonên, tên katastêmatikên, constitutivam) nicht auch an, sondern nur das in der Bestimmung der Bewegung«, oder als etwas Affirmatives, d.h. im Genuss eines Vergnügens, es muss etwas angenehm sein; »er hingegen beides, sowohl des Körpers als der Seele«. Epikur verbindet einerseits mit der angenehmen Empfindung auch die affirmative Weise des Vergnügens, aber andererseits ist in seinem Prinzip auch das Vergnügen in Ruhe; dieses ist das Negative, dann auch innere Zufriedenheit, Ruhe des Geistes mit sich selbst. »Epikur sagt: Freiheit von Furcht und Begierde (ataraxia) und Mühelosigkeit (aponia) sind die höchsten Vergnügen (katastêmatikai hêdonai)«, - Freiheit von Sorgen und Arbeit, kein Interesse zu haben, sich an nichts zu knüpfen, was wir in Gefahr kommen können zu verlieren. Sinnliche Vergnügen, »Freuden, Fröhlichkeit (chara de kai euphrosynê, laetitia), Leidenschaften sind Lust nur nach Bewegung (kata kinêsin energeia blepontai) «, und darein setzten die Kyrenaiker ihr Prinzip. Epikur setzte beides, jenes aber als das Wesentliche. »Außerdem gelten den Kyrenaikern die Schmerzen des Körpers für schlimmer als die der Seele; bei Epikur sei es aber umgekehrt.«(Diogenes Laertios X, § 136-137).

Die Hauptlehren Epikurs in Rücksicht auf Moral sind in einem Briefe an Menoikeos enthalten, den Diogenes Laertios aufbewahrt hat (X, § 122-123). In einigen Stellen äußert er sich auf folgende Weise: »Weder der Jüngling muss zaudern (melletô, es anstehen lassen) zu philosophieren, noch dem Greise muss es zu mühselig sein. Denn niemand ist weder unreif (aôros) noch überreif (parôros), - es ist weder zu früh für ihn noch zu spät dazu, dass sein Geist gesunde. Es ist sich zu bemühen um das, was das glückselige Leben macht«, - dass es durch den Gedanken, durch Philosophie erkannt, gewusst wird.

»Folgendes sind seine Elemente«: Zuerst,
dass dafür zu halten ist, dass Gott ein unzerstörbares (aphtharton) und seliges Lebendiges ist, wie der allgemeine Glaube von ihm annimmt, und dass ihm nichts zur Unvergänglichkeit noch Seligkeit fehle. Götter aber sind, und die Erkenntnis derselben ist evident (enargês). Gottlos (asebês) ist nicht der, welcher die Götter der Menge (tôn pollôn) leugnet oder aufhebt, sondern welcher ihnen die Meinungen der Menge anheftet: gottlos ist der, welcher die gemeine Ansicht des Pöbels von den Göttern annimmt. Unter diesem Göttlichen ist nichts anderes verstanden als das Allgemeine überhaupt. § 139 fängt ohne weiteres so an: »Was selig und unzerstörlich ist, hat selbst keine Mühe, noch macht es deren anderen. Daher es weder durch Zorn noch durch Gunstbezeugungen (charisi) angerührt wird (synechetai); denn dergleichen findet nur in der Schwäche statt. Anderswo sagt er, dass die Götter durch die Vernunft erkannt werden können (logô theôrêtous einai). Sie bestehen teils in der Zahl (kat' arithmon hyphestôtas)« - wie die Zahl, sind Zahl; d.h. ganz abstrakt vom Sinnlichen, Sichtbaren, das Abstrakte im Sinnlichen. Wenn wir sagen »das höchste Wesen«, so glauben wir, weit über die epikureische Philosophie hinauszusein, und sind doch in der Tat nicht weiter. Also die Götter sind teils wie die Zahlen, »teils sind sie das vollendete Menschenförmliche« (in menschlicher Weise vollendet worden, apotetelesmenous anthrôpoeidôs), »was entsteht durch die Gleichheit der Bilder (kata homoeidian) aus dem kontinuierlichen Zusammenfluss der gleichen Bilder auf eins und dasselbe«, die wir empfangen, - die ganz allgemeinen Bilder in uns. Das sind die Götter; einzeln fallen sie im Schlaf in uns (Cicero, De natura deorum I, 18, 38). Dies allgemeine Bild, ein Konkretes, das zugleich menschlich vorgestellt ist, ist dasselbe, was wir Ideal nennen; nur dass ihm hier der Ursprung so gegeben ist, dass Bilder aufeinanderfallen.

Noch sind die epikureischen Götter zu erwähnen, wie sie einen Gedanken seiner Philosophie ausdrücken; die Stoiker hielten sich dagegen mehr an die gewöhnlichen Vorstellungen, ohne eben viel Gedanken über das Wesen Gottes zu haben; bei den Epikureern drücken sie mehr eine unmittelbare Idee des Systems aus. Sie scheinen ihm Ideale des seligen Lebens zu sein. Denn der Selbstgenuss ist in seiner Konsequenz ohne Tun, weil Tun immer etwas Fremdes in sich, den Gegensatz seiner und einer Wirklichkeit, hat und darin die Arbeit, Mühe vielmehr Seite des Bewusstseins der Entgegensetzung als des Verwirklichtseins. Götter sind Wesen des reinen untätigen Selbstgenusses. Sie sind auch seiende Dinge, aus den feinsten Atomen bestehend, reine Seelen, die nicht mit Gröberem vermischt und daher auch der Arbeit, Mühe und den Leiden gar nicht ausgesetzt sind. In ihrem Selbstgenusse bekümmern sie sich nicht um die Angelegenheiten der Welt und der Menschen. Epikur fährt fort: Das Selige, Allgemeine, das Allgemeine in konkreter Gestalt, das Menschenförmliche hat weder selbst Geschäfte (pragmata), noch Unruhe, noch ist es anderen beschwerlich; es ist nicht zornig, noch wird es durch Gefälligkeiten, Opfer gerührt. Die Menschen müssen den Göttern Ehre erweisen, um der Vortrefflichkeit ihrer Natur und Seligkeit willen, - nicht um etwas Besonderes von ihnen zu erhalten, nicht um dieses oder jenes Vorteils willen (Cicero, De natura deorum I, 19-20, 17).

Es ist viel über die Art gespottet worden, wie Epikur sie als körperliche, menschenähnliche Wesen darstellt. Cicero macht sich über Epikur lustig; er sagt nämlich, sie haben nur Gleichsamkörper, Gleichsamblut, Gleichsamfleisch (quasi sanguinem, carnem) usf. (Cicero, De natura deorum I, 18) Es folgt aber daraus, dass sie gleichsam nur das Ansich sind, wie wir von der Seele und den sinnlichen Dingen ein solches Gleichsam-Ansich sahen; Gegenstände der sinnlichen Empfindung sind das Wahre, doch haben sie ein Ansich hinter ihnen.

Unser Reden von den Eigenschaften ist auch nicht besser. Gerechtigkeit, Güte soll in sensu eminentiori gemeint sein, nicht wie bei uns, d.h. also gleichsamgerecht usw.

Epikur lässt die Götter im leeren Raume, in den Zwischenräumen der Welt (Gedanken) wohnen, wo sie keinem Regen, Wind, Schnee und dergleichen ausgesetzt sind (Cicero, De natura deorum I, 8), - Zwischenräume, denn das Leere ist das Prinzip der Bewegung der Atome, die Atome-an-sich sind im Leeren. Das Erscheinende ist das Erfüllte, Kontinuierliche; aber inwendig hängt dies so oder so zusammen. So sind die Welten Konkretionen solcher Atome, aber Konkretionen, die nur äußere Beziehungen sind. Zwischen ihnen als dem Leeren ist also auch dies Ansich, diese Wesen, welche selbst wohl Konkretionen von Atomen sind, aber Konkretionen, die Ansich bleiben. (Doch kommt man hier nur in Verwirrung, wenn etwas Näheres bestimmt wird; denn die Konkretion macht das Sinnliche aus. Wenn die Götter auch Konkretionen wären, so doch nicht solche eigentliche Wirklichkeiten. Auf gedankenlose Weise ist eben das Allgemeine herausgehoben, das Ansich aus der Wirklichkeit nicht als die Atome, sondern selbst wieder als eine Verbindung dieser Atome; so dass diese Verbindung selbst nicht das Sinnliche ist.) Dies sieht lächerlich aus, aber es hängt zusammen mit den genannten Unterbrechungen und dem Verhältnis des Leeren zur Erfüllung, zum Atom. Insofern gehören also die Götter der Seite des Negativen gegen das Sinnliche an; und dies Negative ist das Denken. Das, was Epikur so über die Götter sagt, kann man zum Teil noch sagen. Zur Bestimmung Gottes gehört zwar allerdings noch mehr Objektivität; aber dass Gott dies Selige ist, was nur um seiner selbst willen geachtet werden soll, ist ganz richtig. Epikur schreibt dieser Erkenntnis, dass Gott das Allgemeine usf. ist, Evidenz, Energie zu. - Das Erste ist also Verehrung der Götter, nicht aus Furcht oder Hoffnung.

Ein zweiter Punkt ist bei Epikur ferner die Betrachtung des Todes, des Negativen für die Existenz, für das Selbstgefühl des Menschen; man muss eine richtige Vorstellung vom Tode haben, weil dieser sonst die Ruhe trübt. Er sagt nämlich: »Alsdann gewöhne dich an den Gedanken, dass« das Negative, »der Tod uns nichts angeht. Denn alles Gute und Übel ist ja in der Empfindung«; auch wenn es Ataraxie, Schmerzlosigkeit usf. ist, so gehört es doch zu der Empfindung; »der Tod aber ist eine Beraubung«, ein Nichtsein, ein Aufhören (sterêsis) der Empfindung. »Darum macht denn der richtige Gedanke, dass der Tod uns nichts angeht, das Sterbliche des Lebens zum Genussvollen (apolauston)«, - insofern also die Vorstellung des Negativen, was der Tod ist, sich nicht einmischt in das Gefühl der Lebendigkeit, »indem
dieser Gedanke«
(in der Vorstellung) »nicht eine unendliche Zeit hinzusetzt, sondern die Sehnsucht nach Unsterblichkeit benimmt. Warum sollte ich mich vor dir fürchten, o Tod? Der Tod geht uns nichts an. Denn wenn wir sind, so ist der Tod nicht da (ou parestin); und wenn der Tod da ist, dann sind wir nicht da. Also geht der Tod uns nichts an.« (Diogenes Laertios X, § 124-125). Dieses ist richtig in Ansehung des Unmittelbaren; es ist ein geistreicher Gedanke, die Furcht ist entfernt. Das Negative, das Nichts ist nicht hereinzubringen, festzuhalten im Leben, das positiv ist; es ist nicht sich selbst damit zuquälen. »Das Zukünftige überhaupt aber ist weder unser noch auch nicht unser; auf dass wir nicht es erwarten als ein solches, das sein wird, noch auch daran verzweifeln, als ob es nicht sein werde.« Es geht uns nichts an, weder dass es ist, noch dass es nicht ist; wir dürfen keine Unruhe deshalb haben. Dies ist der richtige Gedanke über die Zukunft.

Epikur geht dann auf die Triebe über. Er sagt: »Ferner ist der Gedanke zu haben, dass von den Trieben (epithymiôn) einige natürlich sind, andere aber leer; und von den natürlichen einige notwendig, andere aber nur natürlich. Die notwendigen sind teils für die Glückseligkeit, teils gehen sie auf die Mühelosigkeit des Körpers (tou sômatos aochlêsian) «, dass uns der Körper keinen Verdruss, Ungelegenheit macht, »teils auf das Leben überhaupt.« (Diogenes Laertios X, § 127).

»Die irrtumlose Theorie«,
die epikureische Philosophie, »lehrt die Wahl und Verwerfung dessen, was zur Gesundheit des Körpers und zur Ataraxie der Seele gehört oder derselben im Wege steht, indem dies der Zweck des seligen Lebens ist«, dass der Körper gesund und die Seele ohne Unruhe, im Gleichmute sei. »Um deswillen tun wir (Epikureer) alles, dass wir weder Schmerzen haben, noch im Geiste beunruhigt werden (tarbômen). Wenn wir dies einmal erlangt haben, so ist aller Sturm der Seele aufgelöst, indem das Leben nicht mehr nach etwas, dessen es bedarf, zu gehen hat, und nicht mehr ein anderes zu suchen hat, wodurch das Gute« (der Zweck) »der Seele und des Körpers erfüllt werde.« (Diogenes Laertios X, § 128).

»Wenn nun aber schon das
Vergnügen das erste und eingeborne (symphyton) Gute ist, so wählen wir darum doch nicht alles Vergnügen, sondern übergehen viele, wenn mehr Beschwerde daraus folgt, und viele Schmerzen ziehen wir sogar dem Vergnügen vor, wenn daraus ein größeres Vergnügen entsteht. - Die Mäßigung (autarkeian, Genügsamkeit) halten wir für ein Gut, nicht um schlechthin (pantôs) das Dürftige, Geringe zu gebrauchen« wie die Kyniker (Diogenes Laertios X, § 119)., »sondern um uns zu begnügen, wenn wir das Viele nicht haben, - wissend, dass die den größten Genuss vom Reichlichen (polyteleias) haben, die desselben nicht bedürfen« (die reich sind, welche des Reichtums nicht bedürfen), »und dass, was natürlich ist, leicht zu haben, was aber leer ist, schwer zu erwerben sei, - einfache Speisen. Wenn wir also das Vergnügen uns zum Zweck machen, so sind es nicht die Genüsse der Schweiger, wie es falsch verstanden wird, sondern weder körperliche Beschwerde zu haben, noch im Geiste beunruhigt zu sein (mête algein kata sôma, mête tarattesthai kata psychên)« (Diogenes Laertios X, § 129-131)., sondern der Geist soll sich selbst gleich erhalten.

»Dieses glückselige Leben (hêdyn bion) verschafft uns allein die nüchterne (richtige, besonnene) Vernunft (nêphôn logismos), welche die Ursachen (den Grund) aller Wahl und alles Verwerfens (phygês) untersucht und die Meinungen austreibt, von denen die Seele am meisten thorybos befängt (befangen ist).« Es ist vorzuziehen, mit Vernunft unglücklich zu sein, als unvernünftig glücklich zu sein; denn es ist vorzuziehen, dass im Handeln recht geurteilt werde, dem, dass man nur im Glück sei. So lebst du wie ein Gott unter den Menschen; denn der Mensch hat mit sterblichen Menschen nichts gemein, welcher in solchen Gütern lebt, als Ruhe des Geistes. »Von allem diesen ist der Anfang und das größte Gut die Vernünftigkeit (phronêsis), das Vortrefflichste der Philosophie; aus ihr erzeugen sich die übrigen Tugenden. Denn sie zeigen, dass man nicht glückselig leben könne ohne Verständigkeit, ohne schön (kalôs) und gerecht (dikaiôs) zu sein, noch verständig (phronimôs), schön und gerecht sein kann ohne das Angenehme (tou hêdeôs)« (Diogenes Laertios X, § 132), - teils angenehme Empfindung, teils Schmerzlosigkeit; nur durch Verständigkeit kann das Vergnügen hervorgebracht werden. So schlimm es um das Prinzip Epikurs zu stehen scheint, so schlägt durch diese Umwendung, dass der vernünftige Gedanke das Leitende ist, dieses Prinzip in den Stoizismus um, wie Seneca auch selbst zugegeben hat.

Es kommt daher eigentlich dasselbe Resultat heraus als bei den Stoikern; und die Epikureer machen wenigstens ebenso schöne Beschreibungen von ihrem Weisen als diese. Den Stoikern ist das Allgemeine das Wesen, - nicht das Vergnügen, das Selbstbewusstsein des Einzelnen als Einzelnen; aber die Wirklichkeit dieses Selbstbewusstseins ist ebenso ein Angenehmes. Den Epikureern ist das Vergnügen das Wesen, aber gesucht und genossen: dass es rein und unvermischt ist, verständig, ohne sich selbst zu zerstören durch größere Übel, im Ganzen betrachtet wird, d.h. selbst als etwas Allgemeines. Nur hat die epikureische Darstellung des Weisen (Diogenes Laertios X, § 117-121).einen Charakter von größerer Milde, er richtet sich mehr nach den eingeführten Gesetzen; dahingegen der stoische Weise sich nichts aus diesen macht. Der epikureische Weise trotzt weniger als der stoische, weil der stoische vom Gedanken der Selbständigkeit ausgeht, die sich negierend, tätig verhält, die Epikureer hingegen vom Gedanken des Seins, der sich mehr gefallen lässt und nicht sowohl diese Tätigkeit nach außen als vielmehr die Ruhe sucht. Sein Zweck ist die ataraxia des Geistes, eine Ruhe, die aber nicht durch Stumpfheit, sondern durch die höchste Bildung des Geistes erworben wird. Der Inhalt der epikureischen Philosophie, das Ganze, der Zweck ist ein Hohes und ist dem Zweck der stoischen Philosophie hiernach ganz parallel.

Es ist schon erinnert, dass seine Schüler sich nicht ausgezeichnet; denn die Auszeichnung hätte eben darin bestehen müssen, weiterzugehen als Epikur. Dies Weitergehen eben wäre ein Verfallen ins Begreifen gewesen, was nur das epikureische System verwirrt hätte; denn das Gedankenlose wird durch denBegriff verwirrt, und diese Gedankenlosigkeit ist eben zum Prinzip gemacht. Sie ist nicht selbst gedankenlos, sondern der Gedanke wird eben gebraucht, den Gedanken abzuhalten, verhält sich negativ gegen sich selbst; und dies ist die philosophische Tätigkeit des Epikur, eben sich aus dem Begriffe, der das Sinnliche verwirrt, es sich herzustellen und es festzuhalten.

Das stoische und das epikureische System sind sichentgegengesetzt, aber jedes ist einseitig, und daher sind beide Dogmatismen nach der Notwendigkeit des Begriffs inkonsequent gegen sich, d.h. das entgegengesetzte Prinzip an ihnen zu haben.

a) Die Stoiker nehmen den Inhalt ihres Denkens aus dem Sein, dem Sinnlichen, fordern, daß das Denken Denken eines Seienden ist;

b) umgekehrt die Epikureer erweitern ihre Einzelheit des Seins zu den Atomen, denn sie sind nur Gedankendinge, und zum Vergnügen als einem Allgemeinen; nach ihrem Prinzip aber genommen, wissen sie sich als Bestimmte gegeneinander.

Gegen diese einseitigen Prinzipien ist nun ihre negative Mitte der Begriff, der solche fixierte Bestimmtheiten, Extreme der Bestimmung aufhebt und sie, die nur als entgegengesetzt sind, in Bewegung und Auflösung setzt. S.322-335
Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, nach dem suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft stw 619