Erasmus Desiderius von Rotterdam (1466 – 1536)

  Niederländischer Theologe, Philologe, Kultur- und Kirchenkritiker. Der uneheliche Sohn eines Geistlichen wurde Haupt des europäischen Humanismus. 1516 wurde Erasmus zum Ratgeber des späteren Kaisers Karl V. ernannt. Seine Wendung gegen die kirchlichen Missbräuche seiner Zeit begann nach seiner Priesterweihe 1492 in Paris. In England freundete er sich mit Thomas Morus und John Colet - einem Schüler Ficinos - an. In ihrem Kreis wuchs er dann in einen christlich-biblischen Humanismus hinein. Seine satirischen Angriffe gegen spätscholastische Gelehrsamkeit und kirchliche Praxis sind von großer Bedeutung für die Vorbereitung der Reformation gewesen, von der er sich trotzdem sorgfältig fernzuhalten wusste. Seine Auseinandersetzungen mit Luther über den freien Willen beendeten schließlich die bis dahin enge Verbindung zwischen Reformation und Humanismus. In seinem »Encomium moriae« (Lob der Torheit), wie auch im seinen anderen Werken, kritisierte er Kirche und Theologie in geistreicher Satire. Sein Verständnis der Heiligen Schrift und der »Philosophia Christi« orientierte sich nicht wie bei Luther an Paulus, sondern an der Bergpredigt.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Aus dem Handbüchlein eines christlichen Streiters (1503)
Vom äußeren und inneren Menschen
Von den verschiedenen Begierden
Allgemeine Regeln des wahren Christentums

  Lob der Torheit
Über Apostel, Kirchenväter und Theologen
Die Verwandtschaft der christlichen Religion mit der Torheit

Vom äußeren und inneren Menschen
So sehr nun der Mensch ein wunderlich Wesen, aus zwei oder drei sehr verschiedenen Teilen zusammengesetzt, aus Seele und Leib – gleichsam aus Göttlichem und Tierischem. Dem Leibe nach sind wir nicht besser als die übrigen Tiere, stehen sogar hinter ihnen zurück, aber der Seele nach sind wir der Gottheit fähig, wir können selbst Engel überfliegen und mit Gott eins werden. Hättest du, so wärest du göttlich, hättest du keinen Geist, viehisch. Dies beide so verschiedenen Naturen hatte der höchste Werkmeister in glücklicher Eintracht verbunden, aber die Schlange, der Feind des Friedens, hat sie in unglücklicher Zwietracht zerspalten, so dass sie nur unter großen Qualen voneinander können und auch ohne beständigen Kampf nicht zusammen leben können.

Der Leib, selbst sinnenfällig, hat Freude an den sinnlichen Dingen; sterblich wie er ist, jagt er Vergänglichem nach, schwerfällig klebt er am Boden. Die Seele hingegen, eingedenk ihres himmlischen Ursprungs, strebt nach oben und kämpft mit der Erdenlast, sie verachtet die sinnlichen Dinge, denn sie kennt ihre Vergänglichkeit, sie sucht die ewige Wahrheit. Die unsterbliche liebt das Unsterbliche, die himmlische das Himmlische, gleich und gleich gesellt sich gern, es sei denn, dass sie ganz im Schmutze des Leibes untergegangen ist und dass ihr Adel degeneriert. Diese Zwietracht verdanken wir nicht dem Prometheus der Legende, der unserem Geiste ein Partikelchen Tier beigemischt hätte, wir haben´s auch nicht von der ersten Schöpfung her, nein, die Sünde hat, was gut war, schlecht gemacht, sie hat unter die Eintracht das Gift der Uneinigkeit gespritzt. Vorher nämlich regierte die Seele den Leib ohne Mühe, und der Leib gehorchte der Seele gern und willig, jetzt hingegen ist die Ordnung gestört, des Leibes die Leidenschaften suchen die Vernunft zu übermögen, und sie wird gezwungen, nach dem Willen des Leibes zu laufen . . .

Die Vernunft ist im Menschen wie ein König. Die Minister gleichsam sind gewisse Affekte, irdisch zwar, aber nicht viehisch, z. B. die wahre Achtung vor den Eltern, die Liebe zu den Brüdern, Güte gegenüber den Freunden, Barmherzigkeit gegenüber Leidenden, Furcht vor schlechtem Ruf, Begierde nach Achtung bei den Menschen und dergleichen. Die Triebe jedoch, die sich von dem Willen der Vernunft möglichst weit entfernen und sich wegwerfen bis zum Viehischwerden, die sind gleichsam die Hefe des Volkes. Zum Beispiel die Lust, der Luxus, der Neid und dergleichen Seelenkrankheiten; wie schmutzige und gottlose Sklaven muss man sie ins Zuchthaus sperren, damit sie ihr befohlenes Pensum, wenn`s geht, absolvieren, im anderen Fallen wenigstens keinen Schaden anrichten . . .

Dem göttlichen Teil der Seele, d. h. der Vernunft hat Plato (Timäus) im Gehirne wie auf einer Burg einen Königssitz zugewiesen; es ist der höchste Teil unseres Körpers, dem Himmel am nächsten, am wenigstens viehisch, von zarter Struktur , weder durch Nerven noch Fleisch beschwert, durch und durch sensibel, das Gehirn soll merken, wenn die Sinne rebellieren, und eine Revolution in unserem Körper verhüten. Aber das vergängliche Teil der Seele, die Affekte, die teils der Vernunft folgen, teils ihr widerstreben, hat er von ihr geschieden . . .

Aber der göttliche Leiter der Seele auf seiner hohen Burg denkt, seinem Ursprung getreu, nichts Schmutziges, nichts Gemeines. Ein Elfenbein-Zepter ziert ihn, da er nur gebietet, was recht ist; auf der Zinne der Burg (so schreibt Homer in der Ilias 8, 247; 24, 292) ein Adler, zum Himmel emporfliegend und mit Adleraugen erspähend, was auf Erden vorgeht. Schließlich krönt ihn eine goldene Krone. Denn Gold bedeutet in mytischen Schriften die Weisheit, der Kreis die Vollkommenheit und Absolutheit – das sind königliche Gaben. Könige sollen möglichst viel wissen, um nicht durch Irrtum zu sündigen, sie sollen das Rechte so wollen, dass sie nichts Böses und Schändliches gegen das Urteil der Seele tun. Wem dieses fehlt, sollst du nicht für einen König, sondern für einen Räuber achten.
S.31ff.

Von den verschiedenen Begierden
Unser König kann dank dem ewigen, ihm göttlich eingepflanzten Gesetze zwar niedergeworfen, aber nicht vernichtet werden, so dass er nicht protestieren und sich dagegen wehren könnte. Wenn ihm sein Volk gehorcht, so hat er nichts zu bereuen und wird keinen Schaden anrichten, vielmehr in bester Ordnung und Ruhe wird sich alles vollziehen . . .

Darum muss man zunächst alle Regungen der Seele kennen und wissen, dass sie allesamt, so kräftig sie auch seien, von der Vernunft gemeistert und auf die Bahn der Tugend geleitet werden können. Ich höre mitunter die schändliche Meinung, man werde zum Laster gezwungen; andere hingegen, die sich selbst nicht kennen, folgen derartigen Regungen, wie wenn sie ein Gebot der Vernunft wären, und nennen verzehrenden Eifer um Gott, was Zorn oder Neid ihnen riet . . .

Hast du eine trotzige Seele, so lasse nicht etwa gänzlich den Mut sinken, im Gegenteil, um so eifriger arbeite an dir, der Weg zur Tugend ist dir nicht verschlossen, vielmehr nur um so reicher Gelegenheit zur Tugend gegeben. Ist dir eine gute Vernunft zuteil geworden, so bist du nicht besser als dein Nächster, nur glückseliger, so jedoch, dass diese Glückseligkeit auch eine stärkere Verpflichtung umschließt. Doch wer ist da so glückselig, dass er nicht noch vielfach kämpfen müsste? Wo er die stärksten Unruhen fürchtet, da muss der König am eifrigsten wachen.

Es gibt gewisse Erblaster – so spricht man bei einigen Völkern vom Erbübel der Treulosigkeit, des Luxus, der Unkeuschheit. Andere Laster haften an der Körperbeschaffenheit, so das Begehren nach dem Weibe und die Vergnügungssucht beim Sanguiniker, der Zorn, Trotz, die Schmähsucht beim Choleriker, die Trägheit und Müdigkeit beim Phlegmatiker, der Neid, Trübsinn und die Bitterkeit beim Melancholiker. Einige Laster steigen und fallen je nach dem Alter, so die Wollust, Verschwendung und Verwegenheit bei der Jugend, die Filzigkeit, Griesgrämigkeit und der Geiz im Alter. Andere differenzieren sich nach dem Geschlecht, Trotz ist ein Manneslaster, Eitelkeit und Rachsucht ein Frauenlaster. Mitunter kompensiert die ausgleichende Natur eine Krankheit der Seele durch eine andere Gabe. Der z. B. neigt zu Vergnügen, ist aber keinesfalls jähzornig oder neidisch. Jener besitzt unverdorbenes Schamgefühl, ist aber stolzer, jähzorniger und nervöser . . .

Darum ist das der einzige Weg zur Seligkeit, dass du dich vor allen Dingen selbst kennst, ferner, dass du nichts aus Affekt, sondern alles nach vernünftiger Überlegung tust. Die Vernunft muss aber gesund und verständig sein, d. h. nur auf Edles sehen.

Das ist schwer wirst du sagen, was du mir da vorschreibst. Wer bestreitet das? .
. .
Aber sich selbst zu bezwingen, ist der mutigste Kampf, und keine Belohnung ist größer als die Glückseligkeit . . .

Der menschliche Geist kann, was er will. Ein gut Stück Christentum besteht darin, von ganzem Herzen Christ werden zu wollen. Was auf den ersten Anhieb unüberwindlich erscheint, wird, je länger, desto leichter und zugänglicher, schließlich durch Gewohnheit geradezu angenehm . .
.
Kein Tier ist so wild, das nicht menschliche Nähe zähmen könnte, und die Seele, die alles zähmt, sollte nicht zu zähmen sein? Für dein leibliches Wohl kannst du jahrelang Abstinenzler und keusch sein, nach ärztlicher Vorschrift, und um der Ruhe deines ganzen Lebens willen kannst du nicht für ein paar Monate deine Leidenschaften zügeln, wie Gott, dein Schöpfer es will? Um leiblicher Krankheit vorzubeugen, tust du alles, um Leib und Seele vom ewigen Tod zu erretten, tust du nicht einmal das, was doch Heiden getan haben?
S.33ff.
Aus: Desiderius Erasmus, Ein Lebensbild in Auszügen aus seinen Werken von Prof. D. Dr. Walter Köhler
Die Klassiker der Religion. Herausgegeben von Prof. Lic.theol. Gustav Pfannenmüller, 12./13. Band, 1917 Hutten-Verlag G.m.b.H. Berlin

Allgemeine Regeln des wahren Christentums
Erste Regel: Gegen das Übel der Unwissenheit. Da der Glaube die einzige Türe zu Christus ist, so muß es die erste Regel sein, über Christus und die von seinem Geist überlieferten Schriften die rechte Kenntnis zu haben. Dein Glaube darf nicht, wie gemeinhin beim Christenvolk, auf den Lippen liegen, kalt, schläfrig, zaghaft sein, er muß vielmehr von ganzem Herzen kommen und fest und unverrückt im Inneren sitzen, daß jeder Buchstabe in der Heiligen Schrift ohne Ausnahme gar sehr zu deinem Heil dient. Es darf dich nicht stören, daß du ein gut Teil Menschen so leben siehst, als wären Himmel und Hölle Altweiberfabeln oder Droh- oder Lockmittel für Kinder. Bleibe fest in deinem Glauben. Und wäre die ganze Welt auf einmal verrückt, die Elemente wandelten sich, die Engel fielen ab: Die Wahrheit kann nicht lügen. Was Gott vorhergesagt hat, muß sich erfüllen. Glaubst du an Gottes Existenz, so mußt du auch an seine Wahrhaftigkeit glauben. Sei überzeugt, nichts ist so wahr, so sicher und unzweifelhaft zu hören, zu sehen oder zu greifen wie die Schriften, welche die Gottheit, die Wahrheit, eingegeben, die heiligen Propheten kundgetan, viele Märtyrer mit ihrem Blut besiegelt, Tausende von frommen Menschen viele Jahrhunderte hindurch einmütig bestätigt haben, welche Christus selbst in seiner Menschheit überliefert und in seinem Wandel zum Ausdruck gebracht hat, welche von Wundern bekräftigt und selbst von den Teufeln geglaubt werden, die vor ihnen erzittern (Jak. 2,19). Schließlich stimmen sie mit dem Gleichmaß der Natur überein, sind unter sich einhellig, packen, reißen mit und wandeln diejenigen um, die sie aufmerksam lesen. Wenn so viele Beweise allein auf sie zutreffen, welcher Wahnwitz wäre es, am Glauben zu zweifeln! Schließe aus der Vergangenheit auf die Zukunft! Was hatten die Propheten nicht von Christus vorausgesagt, fast Unglaubliches! Alles ist eingetreten. Wer hier nicht trog, sollte sonst trügen? Schließlich haben die Propheten nicht gelogen, und Christus, der Herr der Propheten, sollte lügen? Wenn du durch solche Überlegungen die Glaubensflamme entfacht hast, so bitte Gott inständig, er möge dir den Glauben mehren — es würde mich wundern, wenn du lange schlecht sein könntest. Denn wer ist so verrucht, daß er nicht vor dem Laster zurückschreckt, wenn er nur fest glaubt, daß man mit kurzem Vergnügen wegen der unglückseligen Gewissenspein auch ewige Marter erkauft, daß hingegen den Frommen für die kurze und leichte Anfechtung die hundertfältige Freude eines reinen Gewissens und endlich unsterbliches Leben zuteil wird?

Zweite Regel: Erstens darfst du an den göttlichen Verheißungen nicht zweifeln, sodann mußt du den Heilsweg nicht zögernd, nicht furchtsam, sondern festen Entschlusses, von ganzem Herzen, in gutem Vertrauen und sozusagen wie ein Schwertkämpfer betreten, bereit, für Christus Gut und Leben dahinzugeben. Der Träge will und will doch wieder nicht. Nicht den Trägen wird das Reich Gottes zuteil, vielmehr will es offenbar Gewalt leiden, »und die Gewalttätigen reißen es an sich« (Mt. 11,12). Eilst du ihm nach, so dürfen dich nicht die Zuneigung zu deinen Lieben, keine Verlockungen der Welt, keine häuslichen Sorgen zu¬rückhalten. Das Band mit der Welt muß zerschnitten werden, entknoten kann man es nicht...

Dritte Regel: ... Alle Schrecken und Gespenster, die dir von Anfang an gleichsam am Rand des Höllenschlundes entgegentreten, achte für nichts, wie Äneas bei Vergil . . . Das Menschenleben an sich ist voll von tausend Sorgen, es trifft Gute und Böse in gleicher Weise. Das alles aber wird dir zu einer Fülle von Verdienst, wenn es dich auf der Bahn Christi trifft, im anderen Fall ist die Mühseligkeit größer, ohne doch einen Nutzen zu schaffen...

Vierte Regel:
... Christus sei das einzige Ziel deines ganzen Lebens, all dein Streben, dein Wollen, dein Tun und Lassen richte auf ihn! Unter Christus darfst du aber nicht ein bloßes Wort verstehen, vielmehr nichts anderes als Liebe, Einfalt, Geduld, Reinheit, kurz: alles, was er gelehrt hat.

Fünfte Regel: Zwei Welten wollen wir uns vorstellen, die geistige und die sichtbare. Die geistige können wir auch »Welt der Engel« nennen, in welcher Gott mit den seligen Geistern wohnt, die sichtbare Welt sind die himmlischen Sphären und was sie umschließen. Der Mensch steht gleichsam als dritte Welt in der Mitte und nimmt an beiden Welten teil, an der sichtbaren dem Leibe nach, an der unsichtbaren der Seele nach. In der sichtbaren Welt dürfen wir, da wir Pilger sind, nicht ausruhen, vielmehr muß man alles Sinnliche in geeigneter Vergleichung entweder auf die Engelwelt oder, was noch besser ist, auf die moralischen Wahrheiten und auf das, was ihnen im Menschen entspricht, beziehen...

Kurzum: Alle leiblichen Empfindungen müssen seelisch verstanden werden. Darin beruht also der Weg zu einem geistlichen und vollkommenen Leben, daß wir uns allmählich lossagen von der Welt dessen, was nicht wahrhaft ist, sondern zum Teil zu sein scheint, was es nicht ist, wie zum Beispiel schändliche Lust, weltliche Ehre, oder zum Teil zerfließt und zunichte wird, und daß wir zum Ewigen, Unveränderlichen, Echten entrückt werden...

Was soll also der Christ tun? Soll er die Gebote der Kirche nicht befolgen? Soll er die ehrenwerten Traditionen der Vorfahren verachten? Soll er die frommen Gewohnheiten verdammen? Im Gegenteil: Wenn er ein schwacher Christ ist, wird er sie halten, als seien sie notwendig, ist er aber stark und vollkommen, so wird er sie um so mehr halten, um nicht durch sein Wissen dem schwachen Bruder Ärgernis zu geben und ihn zu töten, für den Christus gestorben ist. Jenes muß man tun, dies soll man nicht lassen. Leibliche Werke werden nicht verdammt, aber die unsichtbaren haben den Vorzug. Der sichtbare Gottesdienst wird nicht verdammt, aber Gott wird nur durch unsichtbare Frömmigkeit versöhnt. Gott ist Geist und will geistige Opfer. Schlimm ist es, wenn Christen nicht wissen was schon ein heidnischer Dichter wußte, der von der Frömmigkeit sagte: »Ist Gott ein Geist, wie uns künden die Lieder, so wisse das eine: Rein sei dein Geist, wie Gott heischt, willst du verehrend ihm nahn«! -

Laßt uns den Verfasser nicht verachten, mag er auch ein Heide oder unbedeutend gewesen sein! Der Satz selbst ist eines großen Theologen würdig und, soweit ich sehe, kennt ihn jeder, aber wenige nur verstehen ihn, obwohl alle ihn lesen. Er hat aber die Bedeutung: Gleiches wirkt auf Gleichartiges …

Sechste Regel:
... Ein Herz, das nach Christus verlangt, muß vom Tun und Denken der Menge möglichst abweichen und nur in Christus das Vorbild seiner Frömmigkeit erblicken. Wer von diesem Urbild auch nur einen Finger breit abweicht, verläßt den rechten Weg und gerät auf Abwege...

Siebente Regel:
Sind wir noch zu jung und schwach, jene Geisteshöhe zu erreichen, so müssen wir uns doch Mühe geben, um ihr möglichst nahe zu kommen... Je mehr du in der Liebe zu Christus zunimmst, desto mehr wirst du die Welt hassen. Je mehr du das Unsichtbare bewunderst, desto mehr vergehen die flüchtigen Dinge des Augenblicks. Man soll, was Fablus für die Bildung rät, auch in der Tugend beherzigen: sogleich nach dem Besten streben! Erreichen wir das infolge unserer Fehler nicht, so sollen wir wenigstens in gewisser Menschenklugheit uns von großen Lastern fernhalten und uns, soweit es möglich ist, für Gottes Güte bewahren... Sind wir noch zu schwach, um den Aposteln, Märtyrern oder Jungfrauen nachzufolgen, so sollen wir es doch nicht zulassen, daß uns die Heiden in dieser Rennbahn vorauseilen...

Achte Regel: Wenn der Sturm der Anfechtungen allzu häufig und schwer auf dich einfällt, so sei nicht sogleich unzufrieden mit dir, als ob deshalb dein Gott nicht für dich sorgte oder als wärst du zu wenig fromm oder nicht vollkommen genug. Danke vielmehr Gott, daß er dich zum künftigen Erben erzieht, wie seinen geliebten Sohn schlägt, als Freund prüft. Wenn jemand durch keine Anfechtungen bekümmert wird, so ist das der beste Beweis, daß ihn die göttliche Barmherzigkeit verworfen hat.

Neunte Regel: Wie kluge Feldherren auch im Frieden auf der Wache stehen, so wache auch du stets und schau aus nach dem kommenden Angriff des Feindes...

Zehnte Regel: Der Versucher wird am besten so vertrieben: entschlossen das Herz von ihn abwenden, sofort gleichsam ausspucken, sobald er sich mit seinen Einflüsterungen naht, inbrünstig beten, von ganzem Herzen sich einer heiligen Beschäftigung zuwenden, mit Worten der Schrift dem Versucher antworten, wie oben gesagt. Sehr wertvoll ist es dabei, gegen Versuchungen aller Art bestimmte Sprüche bereitzuhaben, besonders solche, die dich einmal innerlich stark bewegt haben.

Elfte Regel:
Bei frommen Menschen besteht eine doppelte Gefahr: einmal, daß sie in der Versuchung unterliegen, sodann, daß sie nach dem Sieg in Trost und geistlicher Freude übermütig werden. Damit du nun nicht nur vor dem Schrecken der Nacht, sondern auch vor dem Dämon des Mittags sicher bist, so blicke, wenn dich der Feind zu schmählichem Tun reizt, nicht auf deine Schwäche, sondern denke daran, daß du in Christus alles vermagst, der nicht nur zu den Aposteln, sondern auch zu dir und zu allen, auch seinen geringsten Gliedern, gesprochen hat: »Seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (Joh. 16, 33). Wiederum, wenn du dich nach der Überwindung des Versuchers oder über ein frommes Werk innerlich erfreut fühlst, so hüte dich erst recht, etwas deinen Verdiensten zuzu¬schreiben, vielmehr nimm alles als Geschenk der gütigen Gnade Gottes an und dränge dich gelöst ganz mit den Worten des Paulus zurück: »Was hast du, das du nicht empfangen hättest?« (1. Kor. 4, 7) ...

Zwölfte Regel: Wenn du mit dem Feinde kämpfst, darf es dir nicht genügen, seinen Schlag abzuwehren oder auch ihn zurückzuschlagen, vielmehr mußt du seinen Spieß tapfer packen, ihn auf den Schützen zurückwerfen und ihn mit seiner eigenen Waffe töten. Das wird der Fall sein, wenn du, zum Bösen gereizt, nicht nur nicht sündigst, sondern vielmehr Anlaß nimmst zur Tugend...

Dreizehnte Regel:
Kämpfe immer mit der Absicht und Hoffnung, als wäre der Streit dein letzter, falls du glücklicher Sieger bleibst. Denn möglicherweise schenkt die göttliche Güte deiner Tugend auch den Lohn, daß der einmal schmählich besiegte Feind niemals wieder dich angreift ...

Vierzehnte Regel: Hüte dich, eine Sünde zu verachten, als wäre sie leicht. Kein Feind siegt häufiger als der verachtete. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sich manche Menschen darin elend getäuscht haben...

Fünfzehnte Regel:
Schreckt dich die Mühsal, die man beim Kampf mit den Anfechtungen erleiden muß, so gibt es dagegen ein Mittel: nicht die Beschwerde des Kampfes mit der Lust der Sünde vergleichen, vielmehr die gegenwärtige Bitterkeit des Kampfes mit der künftigen Bitterkeit der Sünde, die denjenigen trifft, der sich besiegen ließ, und sodann die gegenwärtige Süßigkeit der Sünde, die dich reizt, mit der künftigen Süßigkeit des Sieges und der Ruhe des Gewissens, die dem tapfer Kämpfenden zuteil wird...

Sechzehnte Regel: Hast du einmal eine tödliche Wunde empfangen, so wirf nicht sogleich Schild und Waffen fort und ergib dich dem Feinde... Sind wir in Sünde gefallen, so sollen wir nicht nur nicht verzweifeln, sondern es vielmehr den tapferen Soldaten gleichtun, welche nicht selten die Furcht vor der Schande und der Schmerz ihrer Wunde nicht allein vor der Flucht bewahrt, sondern zu noch tapfererem Kampfe als zuvor reizt und befähigt...

Siebzehnte Regel: Doch gegen die immer wieder verschiedenen Angriffe des Versuchers gibt es immer wieder verschiedene Mittel: Aber das einzigartige, unter allen wirksamste Mittel gegen jede Art von Unglück und Anfechtung ist das Kreuz Christi: Es ist den Strauchelnden ein Vorbild, den Leidenden eine Erquickung und den Kämpfern eine Rüstung. Es ist die eine Waffe gegen alle Pfeile des Bösen...

Achtzehnte Regel:
Ist dieses Mittel des Kreuzes auch weitaus das allerbeste, so mag es doch denen, die auf dem Wege zum Leben schon etwas fortgeschritten, aber doch noch zu schwach sind, auch förderlich sein, wenn sie sich beim Reiz zur Sünde sofort vor Augen stellen, wie häßlich, wie abscheulich und verderblich die Sünde ist, andererseits, wie groß die Menschenwürde...

Neunzehnte Regel:
Sodann vergleiche die beiden untereinander so verschiedenen Meister Gott und den Teufel. Den einen machst du dir durch deine Sünde zum Feind, den anderen zum Herrn. Durch Unschuld und Gnade wirst du in die Zahl der Freunde Gottes berufen, aufgenommen in das Recht und Erbe der Kinder. Durch die Sünde aber wirst du zum Knecht und Sohn des Teufels...

Zwanzigste Regel: Wie die Meister verschieden sind, so auch ihr Lohn: ewiger Tod und unsterbliches Leben. Gibt es etwas Verschiedenartigeres als den ewigen Tod und das ewige Leben; ohne Ende das höchste Gut genießen in Gemeinschaft der Himmelsbürger und ohne Ende aufs grausamste gequält werden in der unglücklichen Gemeinschaft der Verdammten!
Aber auch ganz davon abgesehen, zeitigen schon hier in diesem Leben Frömmigkeit und Gottlosigkeit ihre ganz verschiedenen Früchte. Aus jener erntet man die ruhige Sicherheit des Geistes und jene selige Freude eines reinen Herzens. Wer sie einmal geschmeckt hat, möchte sie um kein Gut und keine Lust dieser Welt eintauschen...

Einundzwanzigste Regel:
Bedenke auch, wie mühselig und flüchtig das Leben ist, wie überall der Tod lauert, der uns packt, wenn wir es nicht ahnen. Und wenn nun niemand auch nur für einen Moment seines Lebens sicher ist, wie gefährlich ist es dann, das Leben noch weiter fortzuführen, das dich, wenn dich, wie es häufig geschieht, ein plötzlicher Tod überfällt, in ewiges Verderben bringt...

Zweiundzwanzigste Regel: Sodann mußt du immer die Unbußfertigkeit fürchten. Sie ist das schlimmste Übel. Du mußt bedenken, wie wenige aus der großen Schar sich wahrhaft und von ganzem Herzen von ihren Sünden bekehren.
.. S.511ff.
Enthalten in: Wegbereiter der Reformation. Herausgegeben von Gustav Adolf Benrath, Carl Schünemann Verlag Bremen


Über Apostel, Kirchenväter und Theologen
Die Theologen sollte man füglich mit Schweigen übergehen und diesem Kräutchen Rührmichnichtan aus dem Wege bleiben. Dieses hochmütige und reizbare Geschlecht möchte mir leicht geschlossen mit sechshundert Schlußfolgerungen auf den Leib rücken und den Widerruf erzwingen, dessen Verweigerung mich in den Geruch der Ketzerei brächte.

Sie dräuen nämlich unversehens mit dem Bannstrahl, wenn sie einem nicht grün sind. Obwohl sonst keiner seine Verbindlichkeit gegen mich widerwilliger zugibt, stehen auch sie nicht wenig in meiner Schuld. Sie sonnen sich in ihrer Eigenliebe wie im dritten Himmel und blicken aus ihrer erhabenen Höhe voll Verachtung und Mitleid auf alle anderen Sterblichen wie auf schleichendes Gewürm herab. Sie verschanzen sich mächtig hinter ihren lehrhaften Definitionen, Schlüssen, Folgesätzen, einfachen und verwickelten Vordersätzen und sind so wenig um Ausflüchte verlegen, daß die Fesseln des Vulkan nicht einmal ihre Begriffsbestimmungen zu binden vermöchten. Mit ihnen zerschneiden sie alle Knoten, wie man es mit dem berühmten Beil von Tenedosiso nicht besser könnte.

Sie sind reich an neuen Wortprägungen und Ungeheuerlichkeiten des Ausdrucks, vor allem wenn sie die tiefen Geheimnisse nach ihrem Gutdünken auslegen, wie zum Beispiel das Weltall gestaltet und eingerichtet ist, durch wen jener Schandfleck der Erbsünde auf die Nachwelt gekommen ist, von welchem Augenblick ab im Leibe der Jungfrau Christus wirklich vorhanden ist, wie in der Eucharistie die Akzidenzien ohne Heimstatt bleiben. Doch das ist ziemlich breitgetreten.

Etwas anderes scheint ihnen eines großen und ihrer Meinung nach erleuchteten Theologen würdig. Sie werden wach, sobald die Rede auf solche Dinge kommt: ob es einen Augenblick gibt in der göttlichen Zeugung, ob in Christus mehrere Abstammungen sind, ob der Vordersatz »Der Vater haßt den Sohn« möglich ist, ob Gott die Gestalt eines Weibes, eines Teufels, eines Esels, eines Kürbisses oder eines Kieselsteins hätte annehmen können, dann wiederum, wie etwa der Kürbis gepredigt hätte, wie er Wunder gewirkt hätte und ans Kreuz zu schlagen gewesen wäre, was Petrus konsekriert hätte, wenn er zur selben Zeit konsekriert hätte, als der Leib Christi am Kreuze hing, ob Christus zur selben Zeit hätte Mensch genannt werden dürfen und ob nach der Auferstehung Essen und Trinken erlaubt sein werden, da wir uns jetzt doch vor Hunger und Durst hüteten.

Zahllos sind die Spitzfindigkeiten, die noch nichtiger sind als diese, die Begriffe, Beziehungen, Entwicklungs-, Gestalt-, Wesens- und Erscheinungsfragen, die einer wirklich nur wahrnehmen könnte, wenn er ein Lynkeus wäre, der auch im tiefsten Dunkel sähe, was nirgendwo ist. Dazu gehören noch jene Sentenzen, die so widerspruchsvoll sind, daß die sogenannten paradoxen Sprüche der Stoiker im Vergleich dazu höchst einfältig und volkstümlich erscheinen. Da heißt es zum Beispiel, es sei ein geringeres Vergehen, tausend Menschen umzubringen, als nur einmal an einem Sonntag einem Armen den Schuh zusammenzunähen. Der Untergang der ganzen Welt mit all ihrem Essen und ihrer Kleidung, wie sie sagen, sei eher zu verantworten als eine einzige noch so unbedeutende Lüge. Das Auftreten so vieler Scholastiker macht diese unaussprechlichen Spitzfindigkeiten noch spitzfindiger, so daß man sich eher aus einem Labyrinth herauswindet als aus dem Gewebe der Realisten, Nominalisten, Thomisten, Albertisten, Occamisten und Scotisten.

Dabei habe ich noch nicht einmal alle, sondern nur die auffallenden Richtungen erwähnt. So viel mühselige Bildung ist zu allen diesen Dingen erforderlich, daß die Apostel wohl einen andern Geist brauchten, wenn sie darüber mit dem neuen Theologenstand disputieren wollten. Paulus konnte zwar den Glauben vorleben, hat aber offenbar ohne die erforderliche Gelehrsamkeit definiert, als er sagte, der Glaube ist der Inbegriff alles dessen, was wir erhoffen, das Unterpfand dessen, was nicht sichtbar ist. So eindringlich er die Liebe vorgelebt hat, so ungenau hat er im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes ihr Wesen gesehen und erläutert.

Mit frommem Sinn haben die Apostel die Eucharistie geweiht, würden aber, wie ich glaube, nicht mit derselben Schärfe geantwortet haben, mit der die Scotisten dies behandeln, und kaum Stellung nehmen, wenn man sie nach dem Zeitpunkt, von welchem ab, und nach dem Zeitpunkt, bis zu welchem, befragen wollte, nach der Transsubstantiation [Wesensverwandlung], nach der Möglichkeit gleichzeitiger Anwesenheit des Leibes an verschiedenen Orten, nach dem Unterschied der Leibesbeschaffenheit Christi im Himmel, am Kreuze und in der Eucharistie, nach dem Augenblick der Transsubstantiation, wenn das Gebet, das sie bewirkt, als eine ausgedehnte Quantität im Flusse ist. Sie kannten die Mutter Jesu, aber wer von ihnen hat so philosophisch nachgewiesen, wie sie von der Erbschuld Adams frei blieb, wie unsere Theologen?

Petrus empfing die Schlüssel und empfing sie von ihm, der sie keinem Unwürdigen anvertraute, und doch weiß ich nicht, ob er die rechte Einsicht gehabt hat, mindestens hat er den Tiefsinn nicht erfaßt, wie der den Schlüssel der Wissenschaft haben könne, der kein Wissen habe. Sie tauften überall, lehrten aber nirgendwo, was die formale, materiale, wirkende und Zielursache der Taufe sei. Auch der zerstörbare und unzerstörbare Charakter der Taufe wird bei ihnen nicht erwähnt. Jene beteten zwar an, aber im Geiste, und folgten lediglich dem Worte des Evangeliums, Gott sei ein Geist, und die ihn anbeten, müßten ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten (Joh. 4, 24).

Anscheinend war ihnen aber noch nicht eröffnet, daß man Christus in einem Bildchen anbeten müsse, das mit Kohle auf die Wand gemalt ist und ihn mit zwei segnend erhobenen Fingern, langem Haar und drei Strahlen an der Rundung des Hinterhaupts darstellt. Wer könnte das auch begreifen, ohne zuvor sechsunddreißig volle Jahre auf die »Natur« und »Übernatur« des Aristoteles und der Scotisten verwendet zu haben? Immer wieder weisen die Apostel auf die Gnade hin, unterscheiden aber nirgendwo zwischen der unverdient empfangenen und der wohlgefällig machenden Gnade. Sie mahnen zu guten Werken, kennen aber noch nicht den Unterschied zwischen wirkendem und bewirktem Werk.

Bei jeder Gelegenheit prägen sie das Gebot der Liebe ein, kennen aber keine eingegebene neben einer erworbenen Liebe und erörtern nicht, ob sie ein Akzidenz ist oder eine Substanz, ein geschaffenes oder ungeschaffenes Ding.

Sie verfluchen die Sünde, ich will aber tot umfallen, wenn sie ohne scotistische Geistesbildung hätten wissenschaftlich darlegen können, was das eigentlich ist, was wir Sünde nennen. Man kann mir auch nicht einreden, daß Paulus, nach dessen Bildung man alle beurteilen darf, alle die Quästionen, Streitfragen, Genealogien und, wie er selbst sagt, Wortfechtereien verworfen hätte, wenn er selbst dieser Feinheiten mächtig gewesen wäre.

Alle Streitigkeiten und Auseinandersetzungen waren nämlich zu jener Zeit noch bäurisch und grobschlächtig, wenn man sie mit den überchrysippischen Feinheiten unserer Professoren vergleicht. Trotzdem stellen wirklich bescheidene Menschen mögliche Verstöße der Apostel gegen stilistische Feinheit und wissenschaftliche Tiefe keineswegs bloß, sondern geben eine verständliche Auslegung. Diese Ehre gebührt der apostolischen Frühe, in deren Namenlosigkeit sie mit ihrer Arbeit aufgegangen sind.

Beim Herkules, es wäre auch unbillig, Dinge von den Aposteln zu verlangen, über die sie von ihrem Meister nicht einmal ein Wort gehört haben. Wenn dasselbe bei Chrysostomus, Basilius oder Hieronymus vorkommt, begnügen sie sich hinzuzuschreiben: »Man ist nicht gebunden«.

Auch haben die Apostel die heidnischen Philosophen und die Juden, die von Natur aus die störrischsten waren, widerlegt, aber mehr durch ihre Lebensführung und durch Wunder als durch Syllogis¬men, waren also Menschen, von denen kein einziger auch nur imstande wäre, bloß das Quodlibet des Scotus zu begreifen. Welcher Heide und Ketzer dagegen würde heutzutage nicht im Nu vor solch haarkleinen Spitzfindigkeiten das Feld räumen, er müßte denn in seiner Einfalt nicht begreifen oder mit Widerspruch seine Unverschämtheit beweisen oder aber für einen Gang mit gleichen Waffen gerüstet sein. Es ist genauso wie beim Kampf zweier Magier miteinander oder bei der feindlichen Begegnung zweier Menschen, die beide ein Zauberschwert besitzen: Der Ausgang ist dabei ebensowohl abzusehen wie bei der Webarbeit der Penelope (die auch niemals fertig wurde).

Meiner Ansicht nach täten die Christen wohl daran, wenn sie statt ansehnlicher Söldnerheere, die einst schon zu keiner Entscheidung kamen, die scotistischen Schreihälse, die eigensinnigen Occamisten und die unüberwindlichen Albertisten samt dem ganzen Sophistenhaufen gegen die Türken und Sarazenen aufbieten würden. Sie würden, glaube ich, das Schauspiel eines einmalig sinnigen Zusammenstoßes und einen unvorhergesehenen Sieg erleben. Wessen Gleichmut vermöchten ihre Spitzfindigkeiten nicht zu entflammen und wessen Stumpfsinn würden solche Stachel nicht aufbringen? Wer ist so scharfäugig, daß sie ihn nicht in ärgste Finsternis bringen könnten?

Wundert euch nur nicht, wenn ich anscheinend witzele; denn auch unter den Theologen gibt es gebildetere Menschen, die einen Widerwillen empfinden bei diesen ihrer Meinung nach ehrfurchtslosen Spiegelfechtereien. Manche verfluchen es wie Gottesschändung und betrachten es als groben Mangel an Frömmigkeit, über solch geheimnisvolle Gegenstände, die mehr Verehrung als Erforschung verdienen, mit ungewaschenem Maul herzufahren und dabei mit den weltlichen Spitzfindigkeiten der Heiden zu disputieren, anmaßende Begriffsbestimmung zu formulieren und das Ansehen der göttlichen Theologie mit widerlichem Wortschwall und hohlen Phrasen zu beschmutzen.

Jedenfalls gefallen sie sich selbst in der Wonne dieses Glücks und geben sich Tag und Nacht so ausschließlich mit den ergötzlichen Zaubersprüchen ab, daß für die Beschäftigung mit dem Evangelium oder den Paulusbriefen kein Augenblick übrigbleibt. Mit solch schülerhaftem Unfug glauben sie die ganze Kirche vor dem sicheren Untergang zu bewahren und meinen sie mit den Flötentönen ihrer Syllogismen zu stützen, wie Atlas bei den Dichtern den Himmel hält.
S.70-75
Aus: Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit. Encomium Moriae. Übersetzt und herausgegeben von J. Gail
Reclams Universalbibliothek Nr. 1907 . © Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Die Verwandtschaft der christlichen Religion mit der Torheit
Ich will mich aber nicht in endlose Einzelheiten verlieren und es nach meiner Art geradeheraus sagen: Die christliche Religion hat allem Anscheine nach eine innige Verwandtschaft mit der Torheit und recht wenig mit der Weisheit gemeinsam. Wollt ihr die Beweise dafür haben, dann richtet euer Augenmerk zunächst einmal auf die Kinder, Greise, Frauen und einfältigen Seelen, die mehr als alle anderen ihre Freude an Gottesdiensten und religiösen Übungen haben und deshalb, wie von der Natur getrieben, immer in unmittelbarer Nähe der Altäre sind. Zudem seht ihr ja auch, daß die ersten Glaubensboten in ihrer unverbrüchlichen Einfalt heftige Gegner der Wissenschaft waren. Schließlich gibt es keine besesseneren Narren als die von christlicher Glaubensinbrunst einmal ganz Erfaßten. Sie verschleudern ihre Habe, ertragen Ungerechtigkeiten, lassen sich hintergehen und machen keinen Unterschied zwischen Freund und Feind; Vergnügungen sind ihnen zuwider, und sie haben ihr Genügen an Hunger, Nachtwachen, Tränen, Mühsal und Schmähungen; sie hassen das Leben und wünschen sich nur den Tod; kurz, sie scheinen jedes Gefühl für gesunden Menschenverstand eingebüßt zu haben, als ob ihr Geist nicht im Körper anwesend wäre.

Was ist denn das anders als Unverstand, Verrücktheit? Um so weniger erstaunlich mag es sein, wenn die Apostel »voll süßen Weines« (Apostelgesch. 2, 13) schienen und Paulus dem Richter Festus (Apostelgesch. 26, 24) wie ein Verrückter vorkam.

Doch da wir einmal unsere Eselsgestalt in das Löwenfell der Bildung gekleidet haben, wollen wir auch noch beweisen, daß die Seligkeit der Christen, die sie unter so viel Mühen erstreben, nichts anderes ist als eine Art Verrücktheit oder Torheit. Nehmt an den Worten keinen Anstoß und überlegt lieber sachlich! Zusammen mit den Platonikern sind die Christen der Ansicht, daß die Seele in den Fesseln des Körpers gebunden und begraben sei und durch seine Stofflichkeit gehindert werde, die Wahrheit zu schauen und zu genießen. Die Philosophie wird dabei als Betrachtung des Todes erklärt, weil durch sie der Geist von den sichtbaren und körperhaften Dingen abgelenkt wird, und dasselbe bewirkt ja überall der Tod.

Solange nun die Seele von den körperlichen Organen den rechten Gebrauch macht, nennt man sie bei Sinnen. Sobald aber die Fesseln gesprengt sind und sie Freiheit gewinnen will, das heißt also auf Flucht aus dem Gefängnis sinnt, spricht man von Unbesonnenheit. Ist Krankheit oder ein organischer Fehler die Ursache, sprechen alle einstimmig von Verrücktheit. Gleichwohl sehen wir solche Menschen die Zukunft vorhersagen, in Zungen reden und Wissenschaften verstehen, die sie niemals gelernt haben. Im ganzen kann man sagen, daß ein Schimmer göttlichen Wesens sie umgibt. Unzweifelhaft kommt es daher, daß der Geist, sobald er von der Bindung ans Körperliche ein wenig frei geworden ist, seine natürliche Kraft zu entfalten beginnt.

Aus dem gleichen Grunde kommen die Menschen in der Sterbestunde in eine ähnliche Lage, so daß sie wie Erleuchtete weissagen. Wenn der Frömmigkeitseifer zu diesem Ergebnis führt, ist es vielleicht nicht die gleiche Art Verrücktheit, ist aber doch so hart daran, daß viele Menschen es als bare Verrücktheit bezeichnen, zumal nur einige wenige Erdenkinder sich in ihrer ganzen Lebensweise von der menschlichen Gemeinschaft absondern.

Daher geht es jenen gewöhnlich so wie im Gleichnis des Platon jenen, die in der Höhle gebunden die Schatten der Dinge anstaunen, und jenem Ausreißer, der in die Höhle zurückkommt und behauptet, das Wesen der Dinge geschaut zu haben. Sie seien im Irrtum, meinte er, weil sie glaubten, es gebe nichts anderes als die elenden Schatten. So bedauert und beweint der Weise ihre verrückte Befangenheit in solchem Irrtum, wogegen sie wieder über seine Verrücktheit lachen und ihn hinausschmeißen. Dasselbe macht der große Haufen, der das grob Körperliche schätzt und es für allein wirklich hält.

Die Frommen hingegen mißachten alles, je körperhafter es ist, und geben sich ganz der Beschauung der unsichtbaren Dinge hin. Jene schätzen den Reichtum über alles, nächst diesem die körperlichen Bequemlichkeiten und räumen der Seele den geringsten Anspruch ein; die meisten glauben nicht einmal an ihr Dasein, weil sie nicht sichtbar ist. Dagegen wenden sich die Frommen vor allem zu Gott, dem Urgrund der Einfachheit. An zweiter Stelle kommt bei ihnen die Seele, aber nur, weil und insofern sie Gott am nächsten ist. Um das körperliche Leben machen sie sich keine Sorge, mißachten und meiden das Geld geradezu wie Ballast. Müssen sie sich mit solchen Dingen abgeben, tun sie es nur ärgerlich und mit deutlichem Ekel. Sie »haben, als ob sie nicht hätten, und besitzen, als ob sie nicht besäßen«. Auch in der Sinneswelt machen sie noch besondere Unterschiede. Obwohl alle Sinne am Körper haften, sind doch manche darunter gröber, wie Gefühl, Gehör, Gesicht, Geruch und Geschmack. Andere sind weniger körperhaft, wie Gedächtnis und Wille.

Wohin sich die Seele wendet, dort ist ihr Einfluß bestimmend. Da nun die Frommen alle Kraft der Seele von den gröberen Sinnen abziehen, werden diese gleichsam stumpf und unempfindlich. Die große Masse ist gerade hier besonders geweckt, in den geistigeren Sinnen aber denkbar unentwickelt. So kommt es, daß man von manchen Heiligen hört, die Öl statt Wein getrunken hätten. Auch unter den seelischen Regungen gibt es grob körperliche, wie Brunst, Eßlust, Schlafsucht, Jähzorn, Stolz und Neid. Unversöhnlich stehen die Frommen mit ihnen auf Kriegsfuß, während der Menge das Leben ohne sie nicht lebenswert ist.

Es gibt auch gleichsam natürliche Regungen, die die Mitte halten, wie Vaterlandsliebe, Kinderliebe, Elternliebe und Freundesliebe. Auch diesen mißt die Menge einen gewissen Wert bei, die Frommen bemühen sich aber, auch sie aus ihrer Seele zu entfernen, soweit sie sich nicht ins rein Geistige erheben und der Vater nicht mehr als Vater — was hat er denn anders gezeugt als den Körper, obwohl selbst der noch von Gott geschaffen ist? —, sondern als guter Mensch erscheint, in dem das Bild jenes höchsten Geistes sichtbar wird, den sie das einzige und höchste Gut nennen und neben dem nach ihrer Behauptung nichts Liebe und Eifer verdient.

Nach diesem Maße messen sie alle anderen Aufgaben des Lebens, und wenn etwas Sichtbares noch so verdienstlich ist, geben sie dem Unsichtbaren doch ohne Bedenken den Vorzug. Sie sagen aber, daß man auch bei den Sakramenten und selbst im Frömmigkeitsleben das Körperliche vom Geistigen unterscheiden könne. Beim Fasten bedeutet es noch gar nichts nach ihrer Meinung, wenn einer sich nur vom Fleisch und der Abendmahlzeit enthält — was der gemeine Haufen ja bereits für ein vollkommenes Fasten ansieht —, wenn er nicht gleichzeitig die Begierden einschränkt, weniger rasch aufbraust als gewöhnlich und seinen Stolz mäßigt, damit der Geist freier atmet unter seiner körperlichen Last und sich zum freudigen Genuß der himmlischen Güter erhebt. Ähnlich ist bei der Eucharistie der äußere Vorgang, obwohl er keineswegs gleichgültig sei, wie sie sagen, an sich ungenügend oder gar verderblich, wenn das Geistige nicht hinzukommt, also das in jenen sichtbaren Zeichen Dargestellte.

Dargestellt wird aber der Tod Christi, den die Menschen durch Bändigung, Tilgung und gleichsam durch das Begräbnis ihrer körperlichen Leidenschaften verwirklichen müssen, damit sie zu neuem Leben auferstehen und mit ihm und unter sich eins werden. Auf solches sinnt und richtet sich der Fromme ein. Das Volk glaubt aber, daß das Opfer nichts anderes sei als der Kirchenbesuch, und zwar ein möglichst häufiger Kirchenbesuch, das Anhören beliebigen Wortgeklingels und das Zuschauen bei dergleichen Zeremonien. Doch nicht bloß in diesen Dingen, die wir nur als Beispiel angeführt haben, sondern überall im Leben hält sich der Fromme vom Körperhaften fern. Das Ewige, Unsichtbare und Geistige hält seinen Sinn gefangen. Dieser unüberbrückbare Gegensatz der Anschauungen führt dazu, daß beide Parteien einander als verrückt betrachten. Gleichwohl paßt das Wort meiner Ansicht nach besser auf die Frommen als auf die große Masse.

Das wird noch deutlicher erkennbar, wenn ich meinem Versprechen gemäß in Kürze beweise, daß jenes höchste Entzücken nichts anderes ist als eine Art Verrücktheit. Ihr werdet mir zugeben, daß Platon etwas Ähnliches gedacht hat, als er schrieb, die Liebesraserei sei das Allerseligste. Wer heftig liebt, lebt schon nicht mehr in sich, sondern im Gegenstand seiner Liebe. Je weiter er von sich selbst abkommt und in jenen eingeht, um so größer wird ständig seine Freude. Wenn die Seele von dem Körper scheiden will und ihre Werkzeuge nicht recht gebraucht, wird man ohne Zweifel von Raserei sprechen können. Was soll es denn sonst heißen, was man allgemein sagt: »Er ist nicht bei sich« und »Komm zu dir!« und »Er hat sich gefaßt«?

Je vollkommener die Liebe ist, um so heftiger und seliger ist die Raserei. Wie wird also das himmlische Leben beschaffen sein, nach dem die frommen Seelen mit solcher Inbrunst aufseufzen? Als überlegener Sieger wird der Geist den Körper aufzehren, und er wird es um so leichter tun, weil er den Körper im Leben schon längst auf diese Verwandlung hin geläutert hat, dann aber wird auch der Geist von jenem höchsten Geist auf wunderbare Weise aufgezehrt, da dieser ja unendlich mächtiger ist. Wenn so der ganze Mensch außer sich ist, erfährt er etwas Unaussprechliches von dem höchsten Gut, das alles an sich zieht. Immerhin wird diese Seligkeit erst dann vollkommen zuteil, wenn die Seelen ihren früheren Körper wieder empfangen haben und Unsterblichkeit genießen. Da aber das Leben der Frommen nur die immerwährende Betrachtung und gleichsam der Schatten jenes Lebens ist, verspüren sie gelegentlich schon einen Geschmack oder Hauch des Lohnes. Obwohl das nur ein winziges Tröpfchen ist im Vergleich zur Quelle der ewigen Seligkeit, übertrifft es doch bei weitem alle Lust des Körpers, auch wenn man alle Köstlichkeiten der Welt zusammennimmt. So hoch steht das Geistige über dem Körperlichen, das Unsichtbare über dem Sichtbaren. Das ist es, was der Prophet verheißt:

»Kein Auge hat es gesehen, und kein Ohr hat es gehört, in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben«. (Jesaja LXIV, 4)

Das ist auch der Teil der Maria, der ihr nicht genommen wird im Wandel der Dinge, sondern zur Vollendung reift. Die das fühlen durften — es wird aber ganz wenigen zuteil —, erleiden etwas, was der Entrückung sehr nahekommt, sprechen unzusammenhängende Worte und machen sich nicht nach Menschenart, sondern ohne Sinn bemerkbar, wobei sie unvermittelt den Gesichtsausdruck völlig wechseln. Bald sind sie erregt, bald niedergeschlagen, bald weinen, bald lachen und bald seufzen sie. Kurz gesagt, sie sind ganz außer sich. Wenn sie wieder zu sich kommen, wollen sie nicht wissen, wo sie gewesen sind, ob im Körper, ob außerhalb des Körpers oder im Schlaf. Sie erinnern sich nur nebelhaft und wie nach einem Traum, was sie gehört, gesehen, gesagt und getan haben, und wissen nur so viel, daß sie in tiefster Seligkeit waren, als sie so entrückt wurden. Deshalb bedauern sie auch, daß sie wieder zur Besinnung gekommen sind, und möchten am liebsten auf immer in solcher Verrücktheit von Sinnen sein. Trotzdem ist es nur eine dürftige Kostprobe der künftigen Seligkeit.
S.106-111
Aus: Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit. Encomium Moriae. Übersetzt und herausgegeben von J. Gail
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