Ludwig Feuerbach (1804 – 1872)

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Inhaltsverzeichnis

Die Liebe bewährt sich durch Leiden
Das Geheimnis der Auferstehung und übernatürlichen Geburt
Das Geheimnis des christlichen Christus oder des persönlichen Gottes
Der Unterschied des Christentums vom Heidentum
Der Widerspruch von Glaube und Liebe

Die Liebe bewährt sich durch Leiden
Eine Wesensbestimmung des menschgewordnen oder, was eins ist, des menschlichen Gottes, also Christi, ist die Passion. Die Liebe bewährt sich durch Leiden. Alle Gedanken und Empfindungen, die sich zunächst an Christus anschließen, konzentrieren sich in dem Begriffe des Leidens. Gott als Gott ist der Inbegriff aller menschlichen Vollkommenheit, Gott als Christus der Inbegriff alles menschlichen Elends. Die heidnischen Philosophen feierten die Tätigkeit, insbesondre die Selbsttätigkeit der Intelligenz als die höchste, die göttliche Tätigkeit; die Christen heiligten das Leiden, setzten das Leiden selbst in Gott Wenn Gott als Actus purus, als reine Tätigkeit der Gott der abstrakten Philosophie, so ist dagegen Christus, der Gott der Christen, die Passio pura, das reine Leiden - der höchste metaphysische Gedanke, das Être supréme des Herzens. Denn was macht mehr Eindruck auf das Herz als Leiden? und zwar das Leiden des an sich Leidlosen, des über alles Leiden Erhabenen, das Leiden des Unschuldigen, des Sündenreinen, das Leiden lediglich zum Besten anderer, das Leiden der Liebe, der Selbstaufopferung? Aber eben deswegen, weil die Leidensgeschichte der Liebe die ergreifendste Geschichte für das menschliche Herz oder überhaupt für das Herz ist - denn es wäre ein lächerlicher Wahn des Menschen, sich ein andres Herz als das menschliche vorstellen zu wollen -, so folgt daraus aufs unwidersprechlichste, daß in ihr nichts ausgedrückt, nichts vergegenständlicht ist als das Wesen des Herzens, daß sie zwar nicht eine Erfindung des menschlichen Verstandes oder Dichtungsvermögens, aber doch des menschlichen Herzens ist. S.115 [...]

Gott leidet - Leiden ist Prädikat -, aber für die Menschen, für andere, nicht für sich. Was heißt das auf deutsch? Nichts andres als: Leiden für andere ist göttlich; wer für andere leidet, seine Seele läßt, handelt göttlich, ist den Menschen Gott.
Das Leiden Christi repräsentiert jedoch nicht nur das sittliche, selbsttätige Leiden, das Leiden der Liebe, der Kraft, sich selbst zum Wohle anderer aufzuopfern; es repräsentiert auch das Leiden als solches, das Leiden, inwiefern es ein Ausdruck der Leidensfähigkeit überhaupt ist. Die christliche Religion ist so wenig eine übermenschliche, daß sie selbst die menschliche Schwachheit heiligt. Wenn der heidnische Philosoph selbst bei der Nachricht von dem Tode des eignen Kindes die Worte ausruft: »Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt«, so vergießet dagegen Christus - wenigstens der biblische, aber von dem vor- und unbiblischen Christus wissen wir nichts - Tränen über den Tod des Lazarus - einen Tod, der doch in Wahrheit nur ein Scheintod war. Wenn Sokrates mit unbewegter Seele den Giftbecher leert, so ruft dagegen Christus aus: »Wenn es möglich, so gehe dieser Kelch vorüber.« Christus ist in dieser Beziehung das Selbstbekenntnis der menschlichen Empfindlichkeit. Der Christ hat, im Gegensatz gegen das heidnische, namentlich stoische Prinzip mit seiner rigorosen Willensenergie und Selbständigkeit, das Bewußtsein der eignen Reizbarkeit und Empfind-lichkeit in das Bewußtsein Gottes aufgenommen; in Gott findet er sie, wenn sie nur keine sündliche Schwachheit, nicht verneint, nicht verdammt.
Leiden ist das höchste Gebot des Christentums - die Geschichte des Christentums selbst die Leidensgeschichte der Menschheit.
S.116f [...]

Das Geheimnis der Auferstehung und übernatürlichen Geburt
Wer die Auferstehung leugnet, leugnet die Auferstehung Christi, wer Christi Auferstehung leugnet, leugnet Christus, wer aber Christus leugnet, leugnet Gott. So machte das »geistige« Christentum eine geistige Sache zu einer geistlosen Sache! Den Christen war die Unsterblichkeit der Vernunft, des Geistes viel zu »abstrakt« und »negativ«; ihnen lag nur die persönliche, gemütliche Unsterblichkeit am Herzen; aber die Bürgschaft dieser liegt nur in der fleischlichen Auferstehung. Die Auferstehung des Fleisches ist der höchste Triumph des Christentums über die erhabene, aber allerdings abstrakte Geistigkeit und Objektivität der Alten. Darum wollte auch die Auferstehung den Heiden durchaus nicht in den Kopf.
Aber wie die Auferstehung, das Ende der heiligen Geschichte - eine Geschichte, die aber nicht die Bedeutung einer Historie, sondern der Wahrheit selber hat - ein erfüllter Wunsch, so ist es auch der Anfang derselben, die übernatürliche Geburt, obgleich diese sich nicht auf ein unmittelbar persönliches Interesse, sondern mehr nur auf ein absonderliches, subjektives Gefühl bezieht.
S.217f [...]

Der dogmatische Widerspruch der jungfräulichen Mutter oder mütterlichen Jungfrau ist hier nur als ein praktischer Widerspruch verwirklicht. Aber gleichwohl ist diese wunderbare, der Natur und Vernunft widersprechende, dem Gemüte und der Phantasie aber im höchsten Grade entsprechende Verknüpfung der Jungferschaft und Mutterschaft kein Produkt des Katholizismus; sie liegt selbst schon in der zweideutigen Rolle, welche die Ehe in der Bibel, namentlich im Sinne des Apostels Paulus spielt. Die Lehre von der übernatürlichen Zeugung und Empfängnis Christi ist eine wesentliche Lehre des Christentums, eine Lehre, die sein inneres dogmatisches Wesen ausspricht, die auf demselben Fundament, wie alle übrigen Wunder und Glaubensartikel beruht. So gut die Christen an dem Tode, den der Philosoph, der Naturforscher, der freie, unbefangne Mensch überhaupt für eine natürliche Notwendigkeit erkennt, überhaupt an den Grenzen der Natur, welche dem Gemüte Schranken, der Vernunft aber vernünftige Gesetze sind, Anstoß nahmen und sie daher durch die Macht der Wundertätigkeit beseitigten, so gut mußten sie auch an dem Naturprozeß der Zeugung Anstoß nehmen und ihn durch die Wundermacht aufheben. Und wie die Auferstehung, so kommt auch die übernatürliche Geburt allen, nämlich Gläubigen, zugute; denn die Empfängnis der Maria, als unbefleckt durch das männliche Sperma, welches das eigentliche Kontagium
[Ansteckungsstoff] der Erbsünde ist, war ja der erste Reinigungsakt der sünden-, d. i. naturbeschmutzten Menschheit. Nur weil der Gottmensch nicht angesteckt war von der Erbsünde, konnte Er, der Reine, die Menschheit reinigen in den Augen Gottes, welchen der natürliche Zeugungsprozeß ein Greuel, weil er selbst nichts andres als das übernatürliche Gemüt ist.

Selbst die trocknen, so willkürlich kritischen protestantischen Orthodoxen betrachteten noch die Empfängnis der gottgebärenden Jungfrau als ein großes, verehrungs- und anstaunungswürdiges, heiliges, übervernünftiges Glaubensmysterium. Aber bei den Protestanten, welche den Christen nur auf den Glauben reduzierten und beschränkten, im Leben aber Mensch sein ließen, hatte auch dieses Mysterium nur dogmatische, nicht mehr praktische Bedeutung. Sie ließen sich durch dieses Mysterium in ihrer Heiratslust nicht irremachen. Dagegen bei den Katholiken, überhaupt den alten unbedingten, unkritischen Christen war, was ein Mysterium des Glaubens, auch ein Mysterium des Lebens, der Moral. Die katholische Moral ist christlich, mystisch, die protestantische Moral war schon von Anfang an rationalistisch. Die protestantische Moral ist und war eine fleischliche Vermischung des Christen mit dem Menschen — dem natürlichen, politischen, bürgerlichen, sozialen Menschen oder wie ihr ihn sonst im Unterschiede vom christlichen nennen wollt —, die katholische Moral bewahrte auf ihrem Herzen das Geheimnis der unbefleckten Jungfräulichkeit. Die katholische Moral war die Mater dolorosa, die protestantische eine wohlbeleibte, kindergesegnete Hausfrau.
S.220-221 [...]

Das Geheimnis des christlichen Christus oder des persönlichen Gottes
Gott als Gott ist noch das verschlossene, verborgne Gemüt; das aufgeschlossene, offne, sich gegenständliche Gemüt oder Herz ist erst Christus. Erst in Christus ist das Gemüt vollkommen seiner selbst gewiß und versichert, außer allem Zweifel über die Wahrhaftigkeit und Göttlichkeit seines eignen Wesens; denn Christus schlägt nichts dem Gemüte ab; er erfüllt alle seine Bitten. In Gott verschweigt noch das Gemüt, was ihm auf dem Herzen liegt; es seufzt nur; aber in Christus spricht es sich vollkommen aus; hier behält es nichts mehr für sich zurück. Der Seufzer ist der noch ängstliche Wunsch; er drückt sich mehr durch die Klage aus, daß das nicht ist, was er wünscht, als daß er offen, bestimmt heraussagt, was er will; im Seufzer zweifelt noch das Gemüt an der Rechtskräftigkeit seiner Wünsche. Aber in Christus ist alle Seelenangst verschwunden; er ist der in Siegesgesang über seine Erfüllung übergegangne Seufzer, die frohlockende Gewißheit des Gemüts von der Wahrheit und Wirklichkeit seiner in Gott verborgnen Wünsche, der tatsächliche Sieg über den Tod, über alle Gewalt der Welt und Natur, die nicht mehr nur gehoffte, die bereits vollbrachte Auferstehung; er ist das Herz, das aller drückenden Schranken, aller Leiden frei und ledig ist, das selige Gemüt - die sichtbare Gottheit.

Gott zu sehen, dies ist der höchste Wunsch, der höchste Triumph des Herzens. Christus ist dieser erfüllte Wunsch, dieser Triumph. Gott, nur gedacht, nur als Denkwesen, d.i. Gott als Gott ist immer nur ein entferntes Wesen, das Verhältnis zu ihm ein abstraktes, gleich dem Freundschaftsverhältnis, in welchem wir zu einem räumlich entfernten, persönlich uns unbekannten Menschen stehen. So sehr auch seine Werke, die Beweise von Liebe, die er uns gibt, uns sein Wesen vergegenwärtigen, es bleibt doch stets eine unausgefüllte Lücke, das Herz unbefriedigt; wir sehnen uns darnach, ihn zu sehen. Solange uns ein Wesen nicht von Angesicht zu Angesicht bekannt ist, sind wir doch immer noch im Zweifel, ob es wohl ist und so ist, wie wir es vorstellen; erst im Sehen liegt die letzte Zuversicht, die vollständige Beruhigung. Christus ist der persönlich bekannte Gott, Christus daher die selige Gewißheit, daß Gott ist und so ist, wie es das Gemüt will und bedarf, daß er ist. Gott als Gegenstand des Gebets ist wohl schon ein menschliches Wesen, indem er an menschlichem Elend teilnimmt, menschliche Wünsche erhört, aber er ist doch noch nicht als wirklicher Mensch dem religiösen Bewußtsein Gegenstand. Erst in Christus ist daher der letzte Wunsch der Religion verwirklicht, das Geheimnis des religiösen Gemütes aufgelöst - aufgelöst aber in der der Religion eigentümlichen Bildersprache -, denn, was Gott im Wesen ist, das ist in Christus zur Erscheinung gekommen. Insofern kann man die christliche Religion mit vollem Rechte die absolute, die vollkommne nennen. Daß Gott, der an sich nichts andres als das Wesen des Menschen ist, auch als solches verwirklicht werde, als Mensch dem Bewußtsein Gegenstand sei, das ist das Ziel der Religion. Und dieses erreichte die christliche Religion in der Menschwerdung Gottes, die keineswegs ein vorübergehender Akt ist, denn Christus bleibt auch noch nach seiner Himmelfahrt Mensch, Mensch von Herzen und Mensch von Gestalt, nur daß jetzt sein Leib nicht mehr ein irdischer, dem Leiden unterworfner Körper ist.

Die Menschwerdungen Gottes bei den Orientalen, wie namentlich den Indern, haben keine so intensive Bedeutung, als die christliche. Eben weil sie oft geschehen, werden sie gleichgültig, verlieren sie ihren Wert. Die Menschheit Gottes ist seine Persönlichkeit; Gott ist ein persönliches Wesen, heißt: Gott ist ein menschliches Wesen, Gott ist Mensch. Die Persönlichkeit ist ein Gedanke, der nur als wirklicher Mensch Wahrheit hat.
Hieraus erhellt die Unwahrhaftigkeit und Eitelkeit der modernen Spekulation über die Persönlichkeit Gottes. Schämt ihr euch nicht eines persönlichen Gottes, so schämt euch auch nicht eines fleischlichen Gottes. Eine abstrakte farblose Persönlichkeit, eine Persönlichkeit ohne Fleisch und Blut ist ein hohles Gespenst.
Der Sinn, der den Menschwerdungen Gottes zugrunde liegt, ist daher unendlich besser erreicht durch eine Menschwerdung, eine Persönlichkeit. Wo Gott in mehreren Personen nacheinander erscheint, da sind diese Persönlichkeiten verschwindende. Aber es handelt sich eben um eine bleibende Persönlichkeit, eine ausschließende Persönlichkeit. Wo viele Inkarnationen vorkommen, da ist Raum gegeben für noch unzählig viele andere; die Phantasie ist nicht beschränkt; da treten auch die bereits wirklichen in die Kategorie der nur möglichen oder vorstellbaren, in die Kategorie von Phantasien oder von bloßen Erscheinungen. Wo aber ausschließlich eine Persönlichkeit als die Inkarnation der Gottheit geglaubt und angeschaut wird, da imponiert diese sogleich mit der Macht einer historischen Persönlichkeit; die Phantasie ist abgetan, die Freiheit, noch andere sich vorzustellen, aufgegeben. Diese eine Persönlichkeit nötigt mir den Glauben an ihre Wirklichkeit auf. Der Charakter der wirklichen Persönlichkeit ist eben die Ausschließlichkeit — das Leibnizsche Prinzipium des Unterschieds, daß nichts Existierendes dem andern vollkommen gleich ist. Der Ton, der Nachdruck, mit dem die Eine Persönlichkeit ausgesprochen wird, macht einen solchen Eindruck auf das Gemüt, daß sie unmittelbar als eine wirkliche sich darstellt, aus einem Gegenstand der Phantasie zu einem Gegenstand der gemeinen historischen Anschauung wird.

Die Sehnsucht ist die Notwendigkeit des Gemüts; und das Gemüt sehnt sich nach einem persönlichen Gott. Aber diese Sehnsucht nach der Persönlichkeit Gottes ist nur eine wahre, ernste, tiefe, wenn sie die Sehnsucht nach einer Persönlichkeit ist, wenn sie sich mit einer begnügt. Mit der Mehrheit der Personen schwindet die Wahrheit des Bedürfnisses, wird die Persönlichkeit zu einem Luxusartikel der Phantasie. Was aber mit der Gewalt der Notwendigkeit, das wirkt mit der Gewalt der Wirklichkeit auf den Menschen. Was namentlich dem Gemüt ein notwendiges, das ist ihm unmittelbar auch ein wirkliches Wesen. Die Sehnsucht sagt: es muß ein persönlicher Gott sein, d. h. er kann nicht nicht sein, das befriedigte Gemüt: er ist. Die Bürgschaft seiner Existenz liegt für das Gemüt in der Notwendigkeit seiner Existenz — die Notwendigkeit der Befriedigung in der Gewalt des Bedürfnisses. S.228-231 [...]

Oberflächlich ist es, wenn man gesagt, das Christentum sei nicht die Religion von einem persönlichen Gott, sondern von drei Persönlichkeiten. Diese drei Persönlichkeiten haben allerdings in der Dogmatik Existenz; aber auch hier ist die Persönlichkeit des heiligen Geistes nur ein willkürlicher Machtspruch, welcher durch die unpersönlichen Bestimmungen, wie z.B. die, daß der heil. Geist die Gabe, das donum des Vaters und Sohnes sei, widerlegt wird. Schon der Ausgang des heil. Geistes stellt seiner Persönlichkeit ein ungünstiges Prognostikon, denn nur durch die Zeugung, nicht aber durch das unbestimmte Aus- und Hervorgehen oder durch das Hauchen, die Spiratio wird ein persönliches Wesen hervorgebracht. Und selbst der Vater, als Repräsentant des rigorosen Begriffes der Gottheit, ist nur der Einbildung und Behauptung nach, aber nicht seinen Bestimmungen nach ein persönliches Wesen: er ist ein abstrakter Begriff, ein nur gedachtes Wesen. Die plastische Persönlichkeit ist nur Christus. Zur Persönlichkeit gehört Gestalt; die Gestalt ist die Wirklichkeit der Persönlichkeit. Christus allein ist der persönliche Gott - er der wahre, wirkliche Gott der Christen, was nicht oft genug wiederholt werden kann. In ihm allein konzentriert sich die christliche Religion, das Wesen der Religion überhaupt. Nur er entspricht der Sehnsucht nach einem persönlichen Gott; nur er ist eine dem Wesen des Gemüts entsprechende Existenz; nur auf ihn häufen sich alle Freuden der Phantasie und alle Leiden des Gemüts; nur in ihm erschöpft sich das Gemüt und erschöpft sich die Phantasie. Christus ist die Einheit von Gemüt und Phantasie. S.233f [...]

Der Unterschied des Christentums vom Heidentum
Christus ist die Allmacht der Subjektivität, das von allen Banden und Gesetzen der Natur erlöste Herz, das mit Ausschluß der Welt nur auf sich allein konzentrierte Gemüt, die Erfüllung aller Herzenswünsche, die Himmelfahrt der Phantasie, das Auferstehungsfest des Herzens - Christus daher der Unterschied des Christentums vom Heidentum. S.236 [...]

Der unzweideutigste Ausdruck, das charakteristische Symbolum dieser unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität im Christentum ist Christus, der wirkliche Gott der Christen. Christus ist das Urbild, der existierende Begriff der Menschheit, der Inbegriff aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten, mit Ausschluß alles Negativen, Mangelhaften, reiner, himmlischer, sündloser Mensch, Gattungsmensch, der Adam Kadmon, aber nicht angeschaut als die Totalität der Gattung, der Menschheit, sondern unmittelbar als ein Individuum, als eine Person. Christus, d.h. der christliche, religiöse Christus ist daher nicht der Mittelpunkt, sondern das Ende der Geschichte. Dies geht ebenso aus dem Begriffe als der Historie hervor. Die Christen erwarteten das Ende der Welt, der Geschichte. Christus selbst prophezeit in der Bibel, allen Lügen und Sophismen unserer Exegeten zum Trotz, klar und deutlich das nahe Weltende. Die Geschichte beruht nur auf dem Unterschiede des Individuums von der Gattung. Wo dieser Unterschied aufhört, hört die Geschichte auf, geht der Verstand, der Sinn der Geschichte aus. Es bleibt dem Menschen nichts weiter übrig als die Anschauung und Aneignung dieses verwirklichten Ideals und der leere Ausbreitungstrieb - die Predigt, daß Gott erschienen und das Ende der Welt gekommen ist. S.242f [...]

Der Widerspruch von Glaube und Liebe
Was Gott verdammt, verdammt der Glaube, und umgekehrt. Der Glaube ist ein sein Gegenteil schonungslos verzehrendes Feuer. Dieses Feuer des Glaubens als gegenständliches Wesen angeschaut ist der Zorn Gottes, oder, was eins ist, die Hölle, denn die Hölle hat offenbar ihren Grund im Zorn Gottes. Aber diese Hölle hat der Glaube in sich selbst, in seinem Verdammungsurteil. Die Flammen der Hölle sind nur die Funken von dem vertilgenden, zornglühenden Blick, den der Glaube auf die Ungläubigen wirft.

Der Glaube ist also wesentlich parteiisch. Wer nicht für Christus ist, der ist wider Christus. Für mich oder wider mich. Der Glaube kennt nur Feinde oder Freunde, keine Unparteilichkeit; er ist nur für sich eingenommen. Der Glaube ist wesentlich intolerant - wesentlich, weil mit dem Glauben immer notwendig der Wahn verbunden ist, daß seine Sache die Sache Gottes sei, seine Ehre die Ehre Gottes. Der Gott des Glaubens ist an sich nichts andres als das gegenständliche Wesen des Glaubens, der Glaube, der sich Gegenstand ist. Es identifiziert sich daher auch im religiösen Gemüte und Bewußtsein die Sache des Glaubens mit der Sache Gottes. Gott selbst ist beteiligt; das Interesse der Gläubigen ist das innerste Interesse Gottes selbst. »Wer euch antaste, heißt es beim Propheten Sacharja, »der tastet seinen (des Herrn) Augapfel an.« Was den Glauben verletzt, verletzt Gott, was den Glauben verneint, verneint Gott selbst.

Der Glaube kennt keinen andern Unterschied als den zwischen Gottes- und Götzendienst. Der Glaube allein gibt Gott die Ehre; der Unglaube entzieht Gott, was am gebührt. Der Unglaube ist eine Injurie gegen Gott, ein Majestätsverbrechen. Die Heiden beten Dämone an; ihre Götter sind Teufel. »Ich sage, daß die Heiden, was sie opfern, das opfern sie den Teufeln und nicht Gott. Nun will ich nicht, daß ihr in der Teufel Gemeinschaft sein sollt.« Der Teufel ist aber die Verneinung Gottes; er haßt Gott, will, daß kein Gott sei. So ist der Glaube blind gegen das Gute und Wahre, welches auch dem Götzendienst zugrunde liegt; so erblickt er in allem, was nicht seinem Gotte, d. i. ihm selbst huldigt, Götzendienst, und im Götzendienst nur Teufelswerk. Der Glaube muß daher auch der Gesinnung nach nur verneinend sein gegen diese Verneinung Gottes: er ist also wesentlich intolerant gegen sein Gegenteil, überhaupt gegen das, was nicht mit ihm stimmt. Seine Toleranz wäre Intoleranz gegen Gott, der das Recht zu unbedingter Alleinherrschaft hat. Es soll nichts bestehen, nichts existieren, was nicht Gott, nicht den Glauben anerkennt. »Daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Sonne sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters.« (Philipper 2, 10.11.) Darum fordert der Glaube ein Jenseits, eine Welt, wo der Glaube keinen Gegensatz mehr hat oder dieser Gegensatz wenigstens nur noch dazu existiert, um das Selbstgefühl des triumphierenden Glaubens zu verherrlichen. Die Hölle versüßt die Freuden der seligen Gläubigen. »Hervortreten werden sie, die Auserwählten, um zu schauen die Qualen der Gottlosen, und bei diesem Anblick werden sie nicht von Schmerz ergriffen; im Gegenteil, indem sie die unaussprechlichen Leiden der Gottlosen sehen, danken sie freudetrunken Gott für ihre Errettung.«

Der Glaube ist das Gegenteil der Liebe. Die Liebe erkennt auch in der Sünde noch die Tugend, im Irrtum die Wahrheit. Nur seit der Zeit, wo an die Stelle der Macht des Glaubens die Macht der naturwahren Einheit der Menschheit, die Macht der Vernunft, der Humanität getreten, erblickt man auch im Polytheismus, im Götzendienst überhaupt Wahrheit oder sucht man wenigstens durch menschliche, natürliche Gründe zu erklären, was der in sich selbst befangene Glaube nur aus dem Teufel ableitet. Darum ist die Liebe nur identisch mit der Vernunft, aber nicht mit dem Glauben; denn wie die Vernunft, so ist die Liebe freier, universeller, der Glaube aber engherziger, beschränkter Natur. Nur wo Vernunft, da herrscht allgemeine Liebe; die Vernunft ist selbst nichts andres als die universale Liebe. Der Glaube hat die Hölle erfunden, nicht die Liebe, nicht die Vernunft. Der Liebe ist die Hölle ein Greuel, der Vernunft ein Unsinn. Es wäre erbärmlich, in der Hölle nur eine Verirrung des Glaubens, einen falschen Glauben erblicken zu wollen. Die Hölle steht auch schon in der Bibel. Der Glaube ist überhaupt überall sich selbst gleich, wenigstens der positiv religiöse Glaube, der Glaube in dem Sinne, in welchem er hier genommen wird und genommen werden muß, wenn man nicht die Elemente der Vernunft, der Bildung mit dem Glauben vermischen will — eine Vermischung, in welcher freilich der Charakter des Glaubens unkenntlich wird.
S.380-383
Aus: Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums,
Reclams Universalbibliothek Nr. 4571 (S.115, 116f, 217f, 228-230, 233f, 236, 242f, 380-383))
© für diese Ausgabe 1969 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags