Ludwig Andreas Feuerbach (1804 – 1872)

Deutscher Philosoph und leidenschaftlicher Religionskritiker. Nach seinem Abitur im Jahre 1823 studierte er zunächst Theologie in Heidelberg und ab 1824 Philosophie in Berlin, wo er die Gedankenwelt Hegels kennen lernte. Seit 1828 war er Privatdozent in Erlangen, wo er Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Logik und Metaphysik hielt. 1830 gab er anonym seine Schrift »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« heraus, in der er dem Unsterblichkeitsglauben jede reale Existenzgrundlage absprach. Die Unsterblichkeit, der christliche Himmel und die dazugehörige Gottheit seien unerfüllbare, phantastische und luxuriöse Wunschgebilde der menschlichen Einbildung, die »ewig nur im Himmel der Phantasie« existieren werden. Die Schrift wurde verboten und konfisziert. Nach Aufdeckung seiner Urheberschaft, musste er seine Bemühungen um eine Professur aufgeben - und damit jeden Gedanken an eine akademische Laufbahn. Ursprünglich von Hegel ausgehend, entwickelte er im weiteren Rahmen des Junghegelianismus einen antimetaphysischen Sensualismus mit materialistischen Tendenzen, der eine die Physiologie einschließende »Anthropologie« als Universalwissenschaft vertritt. Die hieraus folgenden ethischen und religionskritischen Konsequenzen (»Das Wesen des Christentums«, 1841) hatten starken Einfluss auf die atheistischen Richtungen des 19. Jahrhunderts, den Linkshegelianismus und Marxismus-Leninismus (insbesondere die Entfremdungstheorie). Feuerbach fasst Religion und Theologie als Projektionen des menschlichen Wesens, menschlicher Wünsche und des Vollkommenheitsstrebens im Stadium der Selbstentfremdung des Menschen auf. Demgegenüber gelte es, die ursprünglich naturhafte Einheit des Menschen mit sich selbst wiederherzustellen und die Theologie in die Anthropologie als »menschgerechte Philosophie« aufzulösen. Er wollte, dass die Menschen ihre Aufmerksamkeit und Tatkraft ganz ausschließlich dem Diesseits zuwenden, anstatt sie an ein jenseitiges Phantasiegebilde zu verschwenden. Theologen wollte er zu Anthropologen und Theophile zu Philanthropen machen. Aus den »Kandidaten des Jenseits« sollten »Studenten des Diesseits« werden, die sich mit ganzer Seele und ganzem Herzen als freie, selbstbewusste Bürger dieser Erde für die diesseitigen Belange einsetzen.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexkon

Inhaltsverzeichnis

Gedanken über Tod und Unsterblichkeit
Über meine »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit«
Der Glückseligkeitstrieb als Urgrund der Religion

Das Wesen des Christentums
Vorrede
Das Wesen des Menschen im allgemeinen
Das Wesen der Religion im allgemeinen
Gott als Wesen des Verstandes
Das Geheimnis des leidenden Gottes
Das Mysterium der Dreieinigkeit
Das Geheimnis des Mystizismus oder der Natur in Gott
Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl
Grundsätze der Pilosophie der Zukunft

Christus
Die Liebe bewährt sich durch Leiden
Das Geheimnis der Auferstehung und übernatürlichen Geburt
Das Geheimnis des persönlichen Gottes
Der Unterschied des Christentums vom Heidentum
Der Widerspruch von Glaube und Liebe


Geschichte der neuern Philosophie
Über die Cartesischen Beweise vom Dasein Gottes
Ausbildung der Cart. Philosophie durch Arnold Geulincx

Gedanken über Tod und Unsterblichkeit
Die wesentliche Bedeutung des Lebens nach dem Tode in dem allgemeinen oder volkstümlichen Glauben an die Unsterblichkeit ist nur die, daß es die ununterbrochene Fortsetzung dieses Lebens ist, oder daß dieses Leben als endlos vorgestellt wird. Nicht der Vervollkommnungstrieb, sondern der Selbsterhaltungstrieb ist der Grund des Glaubens. Der Mensch will, was er gern hat, ist und treibt, nicht fahren lassen, will es ewig haben, sein und treiben. Und diese Ewigkeit ist eine subjektiv notwendige Vorstellung. ,,Wir können“, sagt Fichte, ,,keinen Gegenstand lieben, ohne ihn für ewig zu halten!“ Richtig; aber wir können überhaupt nichts unternehmen, ohne die Vorstellung der Dauer damit zu verbinden.
[…] S.23-24


So wie es nun eine Notwendigkeit für den Menschen ist, die Bündnisse der Liebe, die er während des Lebens schließt, — sei es nun mit Göttern oder Menschen, mit Personen oder Dingen — als unauflöslich sich zu denken, wenn sie auch gleich mit der Zeit sich auflösen; so ist es auch für ihn eine Notwendigkeit, sich sein Leben überhaupt ewig vorzustellen; denn er verliert alle Lebenslust, es erscheint ihm alles, was ihm das Leben wert und teuer macht, eitel, umsonst, zwecklos, wenn er sich vorstellt: morgen ist alles, wenigstens für mich, nichts. Aber aus dieser Notwendigkeit des Gedankens einer ewigen Existenz, d. h. einer unbegrenzten Lebensdauer, folgt nichts weniger, als die gegenständliche Notwendigkeit und Wirklichkeit derselben. Denn warum ist mir dieser Gedanke notwendig? weil ich ohne Notwendigkeit, ohne Grund, weil ich voreilig, unzeitig an mein Ende denke. Natürlich erscheint mir so mein Ende als eine gewaltsame Vernichtung, als ein unerträglicher Gedanke; ich muß also die Vorstellung meines Endes aufgeben, mich wieder als seiend denken.

Wie anders ist dagegen das wirkliche Lebensende! Es kommt, wenn es wenigstens ein normales ist, allmählig; es kommt, wenn bereits das Lebensfeuer erloschen, das Leben für uns höchstens nur noch den Wert und Reiz einer alten Gewohnheit hat, wo also der Tod nichts weniger als eine gewaltsame, brutale, unmotivierte Vernichtung, sondern der Schluß des vollendeten Lebens ist. Selbst wenn der Gedanke an meinen Tod, d. h. an mein Nichtsein ein der Zeit nach begründeter ist, so ist er doch immer noch logisch ein unbegründeter; und wenn ich mich daher genötigt sehe, den unerträglichen Gedanken meines Nichtseins durch den Gedanken eines nach dem Tode fortgesetzten Seins zu überwinden, so bestätige ich dadurch nur die Wahrheit der naturgemäßen, freilich nicht christlichen, spekulativen Logik, daß es ein unvernünftiger Widerspruch ist, mit dem Sein den Gedanken des Nichtseins zu verbinden, seiend nicht als nicht seiend, lebend sich als tot zu denken. Die Unsterblichkeit ist daher eigentlich nur eine Angelegenheit für Träumer und Müßiggänger.

Der tätige, mit den Gegenständen des menschlichen Lebens beschäftigte Mensch hat keine Zeit, an den Tod zu denken, und folglich kein Bedürfnis der Unsterblichkeit; denkt er ja an den Tod, so erblickt er in ihm nur die Mahnung, das ihm zu Teil gewordene Lebenskapital weise anzulegen, die kostbare Zeit nicht an nichtswürdige Dinge zu verschwenden, sondern nur auf Vollendung der Lebensaufgabe, die er sich gesetzt, zu verwenden. Wer dagegen seine Zeit nur dazu verwendet, um an sein Nichtsein zu denken, wer über diesem nichtsnutzigen Gedanken das wirkliche Sein vergißt und verliert, der muß freilich sein vorgestelltes Nichtsein durch ein wieder vorgestelltes, erträumtes Sein ergänzen, sein Leben, sei‘s nun als gläubiger oder spekulativer Tor, nicht mit Beweisen wirklichen Lebens, sondern mit Beweisen des zukünftigen Lebens hinbringen.

Nirgends zeigt sich daher die Unvernunft und Verderblichkeit des Christentums deutlicher, als darin, daß es die Unsterblichkeit, die selbst den träumerischsten Weisen des Altertums immer etwas Zweifelhaftes, Ungewisses blieb, für etwas Gewisses, ja das Allergewisseste ausgegeben, und so den Gedanken an ein künftiges, besseres Leben zum angelegentlichen Gedanken der Menschheit gemacht hat. Der Mensch soll allerdings nicht, wenigstens wenn ihm dieser Gedanke das Leben verbittert, an sein Ende, sein Nichtsein denken; aber töricht, ja verderblich ist es, dem Menschen ein besseres Leben nach dem Tode zu versprechen; denn ,,das Bessere ist der größte Feind des Guten.“ Genießt das Gute des Lebens und verringert nach Kräften die Übel desselben! Glaubt, dass es besser sein kann auf der Erde, als es ist; dann wird es auch besser werden. Erwartet das Bessere nicht von dem Tode, sondern von euch selbst! Nicht den Tod schafft aus der Welt; die Übel schafft weg — die Übel, die aufhebbar sind, die Übel, die nur in der Faulheit, Schlechtigkeit und Unwissenheit der Menschen ihren Grund haben, und gerade diese Übel sind die schrecklichsten.

Der naturgemäße Tod, der Tod, als Resultat der vollendeten Lebensentwicklung ist kein Übel; aber wohl der Tod, der eine Folge der Not, des Lasters, des Verbrechens, der Unwissenheit, der Rohheit ist. Diesen Tod schafft aus der Welt, oder sucht ihn wenigstens so viel als möglich zu beschränken! So spricht die Vernunft zum Menschen. Anders das Christentum, welches, um ein
eingebildetes Übel zu beseitigen, die wirklichen Übel des Lebens unangefochten bestehen ließ; welches, um den Tod zum Leben zu machen, das Leben uns zum Tode gemacht hat, welches, um übernatürliche, phantastische, luxuriöse Wünsche des Menschen zu befriedigen, den Menschen gegen die Befriedigung der nächsten, notwendigsten natürlichen Bedürfnisse und Wünsche gleichgü1tig gemacht hat. Das Christentum hat dem Menschen mehr geben wollen, als er selber in Wahrheit verlangt; es hat sich die Erfüllung der unerreichbaren Wünsche zum Ziel gesetzt, aber eben deswegen nicht die erreichbaren Wünsche erfüllt.

Das Christentum ist so wenig der klassische, vollendete Ausdruck der menschlichen Natur, daß es vielmehr nur auf den Schein derselben, nur auf dem Widerspruch des menschlichen Bewußtseins mit dem menschlichen Wesen gegründet ist. Die Unsterblichkeit ist ein Wunsch der menschlichen Einbildung, aber nicht des menschlichen Wesens. Das Christentum hat mit der Unsterblichkeit dem Menschen eine Schmeichelei gesagt, an die — abnorme Fälle und solche Menschen abgerechnet, bei welchen die Macht der Einbildung die Stimme der menschlichen Natur übertäubt hat — im Grunde seines Wesens, d. h. in der Tat und Wahrheit, kein Mensch glaubt, wie unter anderem die Tatsache beweist, das die Unsterblichkeitsgläubigen ebenso ungern sterben, als die Todesgläubigen, dieses Leben solange als möglich zu behaupten und festzuhalten sich bestreben.

Es gibt Wünsche, deren geheimer Wunsch ist, nicht erfüllt zu werden, denn die Erfüllung würde sie kompromittieren, sie entlarven, zeigen, daß sie bloß auf Täuschung beruhen, Wünsche also, die nichts anderes sein und bleiben wollen, als Wünsche. Ein solcher Wunsch ist vor allen der Wunsch eines ewigen Lebens. Es hat nur Wert in der Einbildung; würde es wirklich, so würde der Mensch inne werden, daß er es nur im Widerspruch mit seiner wahren Natur verlangt, daß er sich in und über sich getäuscht, daß er sich, selbst mißverstanden hat; denn es würde das ewige Leben, wenn es auch von anderer Beschaffenheit wäre, als dieses, endlich, satt bekommen; es ist daher nur eingebildeter, illusorischer, kein ernstlich gemeinter Wunsch.

Lediglich in Beziehung auf die Zeit gedacht, ist die Vorstellung des ewigen Lebens dem Menschen ein Bedürfnis im Gegensatz gegen die Vorstellung der Kürze dieses Lebens. Aber auch diese Vorstellung steht mit der Wahrheit und Wirklichkeit in Widerspruch. Das Leben ist lang, aber erscheint
uns in der Vorstellung kurz. Warum? weil wir die Vergangenheit nicht mehr zu uns rechnen, vergangenes Sein gleich Nichtsein anschlagen.

Unsere Selbstliebe interessiert nur die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Wir machen es mit unserer Lebenszeit, wie der Geizhals, der, während er in der Wirklichkeit die Kästen voll Geld, in seiner Vorstellung doch nichts hat; denn die Vorstellung ist unbeschränkt; in der Vorstellung kann ich immer noch mehr haben, als ich wirklich habe; die Wirk1ichkeit bleibt immer hinter ihr zurück. So ist auch das wirkliche Leben immer kurz gegen die Vorstellung gehalten; wir können es uns unbegrenzt denken; wir vergessen über dem Möglichen das Wirkliche.

Wenn daher auch dem Menschen sein Wunsch gewährt würde, wenn er Jahrtausende, ja ewig fortlebte, so würde er doch damit nichts gewinnen; Jahrtausende würden in seiner Erinnerung in Tage, in Stunden, in Minuten zusammenschmelzen; er würde die Vergangenheit immer als verloren betrachten, sich selbst eben so, wie jetzt, als eine Ephemere, als ein Tagesgeschöpf erscheinen. Wie wir der Natur der Abstraktion, des Geistes gemäß alles abrevieren, verkürzen, verallgemeinern, das Wirkliche mit Weglassung seiner unendlichen Einzelheiten und Verschiedenheiten in ein Bild, eine Vorstellung, einen Begriff zusammenfassen; so fassen wir auch in der Vorstellung das unendlich reiche, langwierige und oft sehr langweilige Leben in ein verschwindendes Nu zusammen, und ergänzen daher diese eingebildete Kürze durch eine eben so eingebildete Dauer.
[...] S.26-31

Sie sehen nicht, die Toren, daß das Jenseits der Gegenwart schon in das Diesseits fällt, daß der Mensch, um über ihre Schranken sich zu erheben, nicht nötig hat, sich ein himmlisches Jenseits zu erträumen; daß er nur einen Blick in seine eigene, in die menschliche Zukunft zu werfen braucht, daß der Gedanke der menschlich-geschichtlichen Fortdauer und Unsterblichkeit unendlich mehr geeignet ist, den Menschen zu großen Gesinnungen und Taten zu begeistern, als der Traum der theologischen himmlischen Unsterblichkeit. Ja, es ist nicht einmal notwendig, über den Lebenskreis des Individuums in das Gebiet der Geschichte auszuschweifen: das Leben des einen und selben Individuums ist selbst schon so reichhaltig, daß in seine eigene Zukunft die Verneinung der Schranken seiner Gegenwart fällt. Was der Mensch noch einst im Laufe seines Lebens wird, das ist ebensogut ein Gegenstand der Einbildung, - der Ahnung, der Poesie, liegt ebenso, ja noch mehr jenseits seines gegenwärtigen Bewußtseins und Gesichtskreises, als das himmlische Jenseits; denn eben weil unsere irdische Zukunft unbekannt und ungewiß ist, weil wir jeden Moment als unseren letzten vorstellen können und nach den Lehren des wahren Christentums vorstellen sollen, setzen wir an die Stelle dieser dunklen Zukunft die gemalte Zukunft des Jenseits.
[...] S.33-34

Der Christ will Gott sein; er erklärt ja ausdrücklich die Gottheit als sein Vor- und Urbild; er will unter anderen Eigenschaften der Gottheit daher auch die der Allwissenheit haben; er selbst will alles wissen; das andere Menschen wissen, was er nicht weiß, daß die Zukunft immer die unaufgelösten Probleme der Gegenwart löst, das kümmert ihn nicht. Diesem überschwänglichen, ungebührlichen Wunsche des Christen, allwissend, Gott überhaupt zu sein, dieser seiner eingebildeten Gottheit widerspricht nun aber die Wirklichkeit, die Wirklichkeit. Er fordert und glaubt daher ein Jenseits, wo diese seine eingebildete Gottheit zur Wirklichkeit wird.

So beweisen uns selbst noch die modernen Christen, daß die Mysterien des christlichen Glaubens nur in dem unglaublichsten, unbegrenztesten, übernatürlichsten Dünkel und Egoismus des Menschen (scilicet christlichen Menschen) ihren Grund haben. Sie beweisen uns zugleich, daß die Interessen der Kunst und Wissenschaft, auf die sie die Notwendigkeit einen überirdischen Jenseits gründen, nur ein freilich unbewußter Vorwand ihrer Selbstliebe sind. Denn wer wirklich sich für Kunst und Wissenschaft interessiert, der appelliert mit seinen Wünschen an die Nachwelt, der ist eben im Interesse der Kunst oder Wissenschaft vollkommen zufrieden, wenn nur überhaupt ein für jetzt unauflösliches Problem gelöst wird, sollte ihm auch nicht mehr das Glück zuteil werden, ihre Lösung selbst zu erleben.

Wer sich einmal auf den Standpunkt von Kunst und Wissenschaft erhebt, ihre Interessen verficht, der muß auch für seine Person auf Allwissenheit und Allmacht verzichten, ja er hat schon unbewußt im voraus darauf verzichtet; denn Künste und Wissenschaften gedeihen nur in der Zusammenwirkung der Menschen; sie sind nicht ein Privateigentum; sie sind ein Gemeingut der Menschheit; sie sind die Stätten, wo der verschriene Kommunismus bereits eine Wahrheit ist. Auch ist diese Resignation keine unnatürliche und schmerzhafte, denn der Mensch wendet sich ja mit vorherrschender Neigung einem bestimmten Gebiete der Künste oder Wissenschaften zu, und ist daher vollkommen befriedigt, wenn er nur in einer Wissenschaft, einer Kunst etwas Tüchtiges weiß und leistet; er ist es um so mehr, als alle Künste und Wisenschaften mit einander zusammenhängen, jeder spezielle Teil daher gewissermaßen das Ganze abspiegelt, jedes spezielle Wissen daher, wenn auch nicht der Ausdehnung, doch der Kraft nach universelles Wissen ist.

Der Rationalist verspricht übrigens als ein weltlicher Christ, welcher der Gottheit die Natur, dem Jenseits das Diesseits, dem Supranaturalismus den Naturalismus unterschiebt, dem Menschen nach dem Tode oder im Jenseits nicht, wie wir bereits sahen, eine mit einem Mal fertige, sondern sukzessive, keine ewige, sondern zeitliche, keine seiende, sondern werdende Gottheit. Er nähert sich immer mehr Gott an, d. h. eben er wird immer mehr Gott, aber er kommt nie zum wirklichen Gottsein; es bleibt beim Werden. Der Rationalismus schwebt zwischen Himmel und Erde, zwischen Christentum und Menschentum; er verneint das Christentum, indem er es bekennt, bejaht. Der Mensch ist ihm zugleich ein himmlisches, supranaturalistisches, göttliches, phantastisches Wesen, denn er ist Christ, aber auch zugleich ein irdisches, menschliches, zeitliches Wesen, denn er ist ebensoviel Nichtchrist, als Christ.

Der sinnfällige, gegenständliche Ausdruck dieses Widerspruchs ist sein Jenseits, wo er Gott ist, aber auf nicht göttliche, sondern auf menschliche Weise, ewig, aber auf zeitliche, unendlich, aber auf endliche, vollkommen, aber auf unvollkommene Weise. Er dichtet daher dem Menschen eine unendliche, eine unerschöpfliche, eine nie zu befriedigende, nie zu realisierende Vervollkommnungsfähigkeit an — eine Fähigkeit, die daher notwendig auch ein unendliches, ein nie ans Ziel kommendes, ein von Jahrtausenden zu Jahrtausenden, von Ewigkeit zu Ewigkeit fortgehendes Leben erfordert. Aber nirgends zeigt sich die Phantastik des Jenseitsglaubens und seine Unkenntnis der wirklichen Menschennatur mehr, als eben gerade darin, daß er an dieselben alten Individuen die Fortschritte der Zukunft anknüpft. Neue Tugenden, neue Einsichten, neue Geister entstehen nur, weil immer neue Körper, neue Menschen entstehen. Fortschritte macht die Menschheit in dem Diesseits nur deswegen, weil an die Stelle der alten unverbesserlichen Stockgelehrten und Stockphilister überhaupt neue, frischere, bessere Wesen treten, denn die Jugend ist immer besser, als das Alter, wie die Kronprinzen immer, solange sie wenigstens Kronprinzen sind, besser als ihre königlichen Väter, weil die Jungen die Fehler der Alten bemerken und daher das Gegenteil von ihnen tun und sind, bis sie selbst wieder in die Fehler des Alters fallen.

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 26, Ludwig Feuerbach, Die Unsterblichkeitsfrage (S.23-24, 26-30, 33-34, 95-97) Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Über meine ,,Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“
Der Hauptvorwurf, den man den „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ gemacht, reduziert sich darauf, daß sie absolut negativ wären, die Persönlichkeit, die Individualität vernichteten. Dieser Vorwurf ist aber nur ein von der Oberfläche abgeschöpfter. Wenn ich einem Menschen beweise, daß er das nicht in Wirklichkeit ist, was er in seiner Einbildung ist, so bin ich allerdings negativ, gegen ihn, ich tue ihm wehe, ich enttäusche ihn; aber ich bin nur negativ gegen sein eingebildetes, nicht gegen sein wirkliches Wesen; was er außerdem ist, anerkenne ich mit Freuden, ja ich nehme ihm nur seine Einbildung, damit er sich erkenne und sein Denken und Wollen auf einen seinem wirklichen Wesen entsprechenden, seine Kräfte nicht übersteigenden Gegenstand richte. Ich kenne, erzählt Castiglione in seinem Cortegiano, einen ausgezeichneten Musiker, welcher sie Musik aufgegeben und sich gänzlich aufs Versmachen verlegt hat, und sich für den größten Dichter hält, obgleich er bei jedermann sich mit seinen Gedichten nur lächerlich macht. Ein anderer, einer der ersten Maler von der Welt, verachtet diese Kunst, worin er Meister ist, und hat sich dafür auf das Studium der Philosophie gelegt, in welcher er aber nur die tollsten Einfälle und Chimären ausbrütet. Wenn ich nun diesem Maler die Eigenschaft eines Philosophen, jenem Musiker die Eigenschaft eines Dichters abspreche, bin ich negativ, grausam gegen sie? Bin ich nicht vielmehr ihr Wohltäter, ihr Heiland, selbst wenn ich mit den Waffen des bittersten Spottes ihre Narrheit bekämpfe, um sie zur Vernunft und Hinwendung ihrer wahren Talente zurückzuführen?

Seht! gerade so ist es mit der Unsterblichkeit, nur mit dem Unterschied, das was außer der Religion für eine Offenbarung der menschlichen Torheit und Verrücktheit gilt, in der Religion — die Unsterblichkeit ist ja aber eine Sache derselben — für Offenbarung göttlicher Wahrheit und Weisheit gilt. Der Verfasser spricht dem Individuum nur das eingebildete Talent zum unsterblichen Leben ab, damit es sein wirkliches Talent, das Talent zu diesem Leben geltend mache, nicht einer Einbildung aufopfere; denn überall, wo der Glaube an ein Jenseits Tat und Wahrheit wird, wo die Lebensklugheit sich nicht ins Mittel zwischen den Glauben und seine Konsequenzen schlägt, entzieht er dem Menschen die Fähigkeiten und Mittel zu diesem Leben, wie wir dies auf eine höchst sinnfällige Weise bei den Völkern sehen, welche dem religiösen Wahne einer Existenz nach dem Tode Gut und Blut aufopfern, dem Verstorbenen nicht nur sein Mobiliarvermögen, sondern auch seine Frauen, seine Diener mit ins Jenseits, d. h. ins Grab mitgeben. Bei den Christen ist es ebenso, nur daß diese nicht den Leib, sondern die Seele, die Vernunft, die Tatkraft an das Jenseits verschwenden. Der Verfasser negiert also nur die eingebildete, supranaturalistische aufgeblasene Persönlichkeit, um die wirkliche, lebendige Persönlichkeit um so energischer bejahen zu können; verwirft die Ansprüche auf den Himmel nur, um die Ansprüche auf die Erde zu steigern, den Wert des irdischen Lebens und Menschen zu erhöhen. Er will, daß die Menschen nicht mehr auf Tauben warten, die ihnen gebraten vom oder im Himmel in den Mund fliegen, sondern selbst sich Tauben fangen und braten, wiewohl er sich deswegen nicht etwa mit der Hoffnung schmeichelt, daß sie den christlichen Himmel je auf der Erde bekommen werden und können, denn dieser bleibt ewig nur im Himmel der Phantasie. Er will nur, daß sie über den himmlischen Tauben nicht die irdischen aus den Augen und Händen verlieren, und eine mäßige, aber wirkliche Glückseligkeit einer maßlosen, aber eingebildeten Seligkeit vorziehen.

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 26, Ludwig Feuerbach, Die Unsterblichkeitsfrage (S.114-116) Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Der Glückseligkeitstrieb als Urgrund der Religion
Aus den »Vorlesungen über das Wesen der Religion«, Vorl. 22 u. 23. (Sämtliche Werke, herausg. von Wilh. Bolin, Bd. VIIL) Erstmalig gedruckt 1851
Der Mensch glaubt Götter nicht nur, weil er Phantasie und Gefühl hat, sondern auch, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein seliges Wesen, nicht nur weil er eine Vorstellung der Seligkeit hat, sondern weil er selbst selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst nicht zu sterben wünscht. Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen; ein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen.

Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er trotz Phantasie und Gefühl keine Religion, keine Götter. Und so verschieden die Wünsche, so verschieden sind die Götter, und die Wünsche so verschieden, wie es die Menschen selbst sind. Wer zum Gegenstande seiner Wünsche nicht Weisheit und Verständigkeit hat, wer nicht weise und verständig sein will, der hat auch keine Göttin der Weisheit zum Gegenstande seiner Religion. Wir haben bei dieser Gelegenheit wieder in Erinnerung zu bringen, daß wir, um die Religion zu erfassen, alle einseitigen, beschränkten Erklärungsgründe vermeiden, oder diesen Gründen keine andere Stelle in der Religion einräumen dürfen, als sie wirklich in ihr einnehmen.

Inwiefern die Götter Mächte sind, und zwar ursprünglich Naturmächte, die die menschliche Einbildungskraft in menschenähnliche Wesen umgeformt hat
, so wirft sich der Mensch vor ihnen in den Staub nieder; er fühlt vor ihnen sein Nichtsein; sie sind Gegenstände des Nichtigkeitsgefühles, der Furcht, Ehrfurcht, Anstaunung, Bewunderung, furchtbare oder herrliche, majestätische Wesen, die auf den Menschen alle die Eindrücke machen, die überhaupt ein mit den Zauberkräften der Phantasie ausgestattetes Wesen oder Bild auf den Menschen macht; insofern sie aber Mächte sind, welche die Wünsche der Menschen erfüllen, welche dem Menschen geben, was er wünscht und bedarf, sind sie Gegenstände des menschlichen Egoismus.

Kurz, die Religion hat wesentlich einen praktischen Zweck und Grund; der Trieb, aus dem die Religion hervorgeht, ihr letzter Grund ist der Glückseligkeitstrieb, und wenn dieser Trieb etwas Egoistisches ist, also der Egoismus. Wer dieses verkennt oder leugnet, der ist blind; denn die Religionsgeschichte bestätigt dies auf jedem ihrer Blätter, sie bestätigt es auf den niedrigsten, wie auf den höchsten Standpunkten der Religion. Man erinnere sich hierbei nur an die Zeugnisse, die ich in einer früheren Vorlesung aus den christlichen, griechischen und römischen Schriftstellern anführte. Es ist dieser Punkt der praktisch und theoretisch wichtigste; denn wenn es erwiesen ist, daß der Gott nur dem Glückseligkeitstrieb des Menschen seine Existenz verdankt, daß aber die Religion nicht diesen Trieb, außer in der Einbildung, befriedigt, so ist es notwendige Folge, daß der Mensch auf andere Weise als religiöse, durch andere Mittel als religiöse diesen Trieb zu befriedigen sucht. Also noch einige Belegstellen.

Während früher meine Aufgabe war, zu beweisen, daß die Selbstliebe der letzte Grund der Religion sei, so ist jetzt bestimmter meine Aufgabe, zu beweisen, daß die Religion die menschliche Glückseligkeit zu ihrem Zwecke hat, daß der Mensch die Götter nur deswegen verehrt und anbetet, damit sie seine Wünsche erfüllen, damit er durch sie glücklich sei.

»Bittet«, heißt es in der Bibel, »so wird euch gegeben; wer da bittet, der ernpfahet. Welcher ist unter euch Menschen, so ihn bittet sein Sohn ums Brot, der ihm einen Stein bietet? So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnet dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten«. »Wer nun also könnte«, sagt Luther in seiner Kirchenpostille, »Gott und ihm selbst sein Herz nehmen, daß er einen solchen Wahn und Muth gegen Gott dürfte tragen und von Herzen zu ihm sagen: Du bist mein lieber Vater; was sollte er nicht dürfen bitten? und was könnte ihm Gott versagen? sein eigen Herz wird's ihm sagen, daß ja sein soll, was er nur bittet«. Gott wird also dargestellt als ein die Wünsche erfüllendes, die Bitten erhörendes Wesen. Man betet, damit man Gutes empfange, damit man erlöst werde „aus Gefährlichkeiten, aus Nöten und allerlei Widerwärtigkeiten«.

Je größer aber die Not, die Gefahr, die Furcht, desto mächtiger regt sich auch der Selbsterhaltungstrieb, desto lebhafter ist der Wunsch errettet zu werden, desto brünstiger das Gebet. So wenden sich die Indianer bei der Annäherung eines Sturmes oder Ungewitters an den Manitto der Luft, (d. h. an den Gott der Luft, an die als ein persönliches Wesen vorgestellte Luft), daß er alle Gefahr von ihnen abwende; so beten die Chippewäer an den Seen von Canada zu dem Manitto der Gewässer, daß er dem zu hohen Anschwellen der Wogen wehren wolle, während sie über das Wasser fuhren....

Der Mensch hat nicht den Erfolg seines Unternehmens in seiner Hand. Zwischen dem Wunsch und seiner Ver wirklichung, zwischen dem Zweck und seiner Ausführung liegt eine Kluft von Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die seinen Zweck vereiteln können. Mag mein Schlachtplan noch so vortrefflich sein, allerlei, sowohl natürliche als menschliche Vorfälle, ein Wolkenbruch, ein Beinbruch, zufällig verspätete Ankunft eines Hilfskorps und der gleichen Fälle können meinen Plan vereiteln. Der Mensch füllt daher durch die Phantasie diese Kluft zwischen dem Zweck und seiner Ausführung, zwischen dem Wunsche und der Wirklichkeit mit einem Wesen aus, von dessen Willen er alle diese Umstände abhängig denkt, dessen Gunst er daher nur zu erflehen braucht, um in seiner Vorstellung des glücklichen Ausganges seines Vorhabens, der Erfüllung seiner Wünsche, versichert zu sein.

Der Mensch hat nicht sein Leben in seiner Hand, wenigstens nicht unbedingt; irgend eine äußere oder innere Ursache, sei es auch nur das Zerreißen eines Äderchens in meinem Kopfe, kann plötzlich mein Leben enden, kann mich wider Wissen und Willen von Weib und Kindern, von Freunden und Verwandten trennen. Aber der Mensch wünscht zu leben; das Leben ist ja der Inbegriff aller Güter! Der Mensch verwandelt daher kraft seines Selbsterhaltungstriebes oder auf Grund seiner Lebensliebe unwillkürlich diesen Wunsch in ein Wesen, das ihn erfüllen kann, in ein Wesen, das Augen hat, wie der Mensch, um seine Tränen zu sehen, und Ohren, wie der Mensch, um seine Klage zu hören; denn die Natur kann diesen Wunsch nicht erfüllen; die Natur, wie sie in Wirklichkeit ist, ist kein persönliches Wesen, hat kein Herz, ist blind und taub für die Wünsche und Klagen des Menschen....

Ein Glaube, eine Vorstellung, die aber nur deswegen festgehalten wird, nur deswegen, wenn auch nicht den Worten, doch der Tat nach für wahr gilt, weil sie tröstlich, gemütlich ist, weil sie dem Egoismus, der Selbstliebe des Menschen schmeichelt, ist auch nur aus dem Gemüte, aus dem Egoismus, aus der Selbstliebe entsprungen.

Aus dem Eindruck, den eine Lehre auf den Menschen macht, ist sicher der Schluß auf den Ursprung derselben. Worauf ein Ding, d. h. hier ein eingebildetes, vorgestelltes Ding wirkt, daher stammt es auch. Was das Herz, wie man sagt, kalt läßt, für dasselbe gleichgültig ist, das hat auch in keinem herzlichen oder egoistischen Interesse des Menschen seinen Grund. Nun ist es aber eine der Selbstliebe des Menschen zusagende Vorstellung, daß die Natur nicht mit unabänderlicher Notwendigkeit wirkt, sondern daß über der Notwendigkeit der Natur ein menschenliebendes, menschenähnliches Wesen steht, ein Wesen mit Willen und Verstand, welches die Natur lenkt und regiert, so wie es dem Menschen zuträglich, welches den Menschen in seinen besonderen Schutz nimmt, den Menschen vor den Gefahren schützt, die ihn jeden Augenblick von der rücksichtslos und blind wirkenden Natur bedrohen.

Ich gehe ins Freie hinaus; in demselben Augenblick fällt ein Stein vom Himmel herab; nach der Naturnotwendigkeit fällt er auf meinen Kopf und schlägt mich tot; denn ich bin ge¬rade in die Richtung des Falles dieses Steines gekommen, und die Schwere, kraft welcher der Stein herabfällt, hat keinen Respekt vor mir, ich mag noch so vornehm, noch so gescheit sein. Aber ein Gott lähmt die Kraft der Schwere, hebt ihre Wirkung auf, um mich zu retten, weil ein Gott mehr Achtung vor dem Leben des Menschen, als vor den Gesetzen der Natur hat, oder er weiß wenigstens, wenn er kein Wunder tun will, so gescheit und klug, so rationalistisch pfiffig die Umstände zu drehen und zu wenden, daß der Stein, ohne die Naturgesetze zu verletzen, vor welchen die Rationalisten einen gewaltigen Respekt haben, mir keinen Schaden tut.

Wie gemütlich ist es daher, unter dem Obdach des himmlischen Schutzes einherzuwandeln, wie gemütlos und trostlos, sich unmittelbar, wie der Ungläubige, den impertinenten Meteorsteinen, Hagelschlägen, Regengüssen und Sonnenstichen der Natur auszusetzen! Ich muß aber sogleich den Gang der Entwicklung durch die Bemerkung unterbrechen, daß, wenngleich diese Vorstellung der göttlichen Vorsehung und andere religiöse Vorstellungen wegen ihrer Gemütlichkeit und Herzlichkeit, wegen ihrer der Selbstliebe des Menschen zusagenden Beschaffenheit aus der Selbstliebe, aus dem Herzen entspringen, sie doch daraus nur entspringen, so lange das Herz im Dienste der Einbildungskraft steht und eben deswegen auch nur in religiösen Einbildungen seinen Trost findet.

Denn so wie der Mensch seine Augen öffnet, so wie er ungeblendet durch religiöse Vorstellungen die Wirklichkeit ansieht, wie sie ist, so empört sich das Herz gegen die Vorstellung einer Vorsehung wegen ihrer Parteilichkeit, mit der sie den Einen rettet, den Anderen untergehen läßt, die Einen zum Glück und Reichtum, die Anderen zum Unglück und Elend bestimmt, wegen ihrer Grausamkeit oder Untätigkeit wenigstens, mit der sie Millionen von Menschen den gräßlichsten Leiden und Martern unterworfen. Wer kann die Gräuel der Despotie, die Gräuel der Hierarchie, die Gräuel des religiösen Glaubens und Aberglaubens, die Gräuel der heidnischen und christlichen Kriminaljustiz, die Gräuel der Natur, wie den schwarzen Tod, die Pest, die Cholera mit dem Glauben an eine göttliche Vorsehung zusammenreimen?

Die gläubigen Theologen und Philosophen haben zwar allen ihren Verstand aufgeboten, um diese augenfälligen Widersprüche der Wirklichkeit mit der religiösen Einbildung einer göttlichen Vorsehung auszugleichen; aber es verträgt sich weit mehr mit einem wahrheitliebenden Herzen, weit mehr selbst mit der Ehre Gottes oder eines Gottes, sein Dasein geradezu zu leugnen, als durch die schändlichen und albernen Kniffe und Pfiffe, welche die gläubigen Theologen und Philosophen zur Rechtfertigung der göttlichen Vorsehung ausgeheckt haben, sein Dasein kümmerlich zu fristen. Es ist besser, ehrenvoll zu fallen, als ehrlos zu bestehen. Der Atheist läßt aber Gott ehrenvoll fallen, der Theist, der Rationalist dagegen ehrlos, à tout prix bestehen!

Die Religion hat also einen praktischen Zweck.
Sie will dadurch, daß sie die Naturwirkungen zu Handlungen, die Naturprodukte zu Gaben, sei's nun eines oder mehrerer persönlicher, menschenähnlicher Wesen macht, die Natur in die Hand des Menschen bringen, dem Glückseligkeitstrieb des Menschen dienstbar machen. Die Abhängigkeit des Menschen von der Natur ist daher wohl, wie ich im Wesen der Religion sage, der Grund und Anfang der Religion, aber die Freiheit von dieser Abhängigkeit, sowohl im vernünftigen, als unvernünftigen Sinne, ist der Endzweck der Religion. Oder: die Gottheit der Natur ist wohl die Grundlage der Religion, aber die Gottheit des Menschen ist der Endzweck der Religion. Was daher der Mensch auf dem Standpunkt der Vernunft durch Bildung, durch Kultur der Natur erreichen will: ein schönes, glückliches, von den Rohheiten und blinden Zufälligkeiten der Natur geschütztes Dasein, das will der Mensch auf dem Standpunkt der Unkultur durch die Religion erreichen.

Das Mittel, die Natur den menschlichen Zwecken und Wünschen angenehm zu machen, ist im Anfang der menschlichen Geschichte daher einzig die Religion. Der hilf- und ratlose, der mittellose Mensch weiß sich nicht anders zu helfen, als durch Bitten und mit ihnen verbundene Gaben, Opfer, wodurch er den Gegenstand, vor dem er sich fürchtet, von dem er sich bedroht und abhängig fühlt, sich geneigt zu machen sucht, oder durch Zauberei, welche aber eine irreligiöse Form der Religion ist; denn die Zauberkraft, d. h. die durch bloße Worte, durch den bloßen Willen die Natur beherrschende Macht, welche der Zauberer sich zuschreibt oder selbst ausübt, versetzt der religiöse Mensch in den Gegenstand außer sich.

Übrigens kann auch Beten und Zaubern verbunden sein, so daß die Gebete nichts Anderes sind, als Beschwörungs- und Zauberformeln, wodurch man die Götter auch wider ihren Willen zwingen kann, die Wünsche des Menschen zu erfüllen. Selbst auch bei den frommen Christen hat das Gebet nicht immer den Charakter religiöser Demut, sondern es tritt auch oft gebieterisch auf.

»Wenn wir«, sagt z. B. Luther in seiner Auslegung des ersten Buchs Mose, »in der Not und Anfechtung sind, da haben wir nicht sonderliche Acht auf die hohe Majestät (Gottes), sondern sagen stracks: Hilf lieber Gott! Nun hilf Gott! Laß Dich das erbarmen im Himmel. Da machen wir keine lange Vorrede«.

Gebet und Opfer sind also Mittel, wodurch der rat- und hilflose Mensch aller Not abzuhelfen und die Natur zu bezwingen sucht.....

Unzählige Übel, die sonst der Mensch durch religiöse Mittel beseitigen wollte, aber nicht beseitigen konnte, hat die Bildung, die menschliche Tätigkeit durch Anwendung natürlicher Mittel gehoben oder doch gemildert. Die Religion ist daher das kindliche Wesen des Menschen. Oder: in der Religion ist der Mensch ein Kind. Das Kind kann nicht durch eigene Kraft, durch Selbsttätigkeit seine Wünsche erfüllen, es wendet sich mit Bitten an die Wesen, von denen es sich abhängig fühlt und weiß, an seine Eltern, um vermittelst derselben zu erhalten, was es wünscht.

Die Religion hat ihren Ursprung, ihre wahre Stellung und Bedeutung nur in der Kindheitsperiode der Menschheit, aber die Periode der Kindheit ist auch die Periode der Unwissenheit, Unerfahrenheit, Unbildung oder Unkultur. Die in späteren Zeiten entstandenen Religionen, wie die christliche, die man als neue bezeichnet, waren keine wesentlich neue Religionen; sie waren kritische Religionen; sie haben die aus den ältesten Zeiten der Menschheit stammenden religiösen Vorstellungen nur reformiert, vergeistigt, dem fortgeschrittenen Standpunkt der Menschheit angepaßt. Oder wenn wir auch die späteren Religionen als wesentlich neue fassen, so ist doch die Periode, wo eine neue Religion entspringt, im Verhältnis zu der späteren Zeit die Periode der Kindheit. Gehen wir nur auf das uns Nächste, auf die Zeit zurück, wo der Protestantismus entstanden. Welche Unwissenheit, welcher Aberglaube, welche Rohheit herrschten damals! kindische, rohe, pöbelhafte, abergläubische Vorstellungen hatten selbst unsere gotterleuchteten Reformatoren! Aber eben deswegen hatten sie auch gar nichts Anderes im Sinne, als nur eine religiöse Reformation, ihr ganzes Wesen; namentlich Luther's, war nur von dem religiösen Interesse in Beschlag genommen.

Die Religion entspringt also nur in der Nacht der Unwissenheit, der Not, der Mittellosigkeit, der Unkultur, in Zuständen, wo eben deswegen die Einbildungskraft alle anderen Kräfte beherrscht, wo der Mensch in den überspanntesten Vorstellungen, den exaltiertesten Gemütsbewegungen lebt; aber sie entspringt zugleich aus dem Bedürfnis des Menschen nach Licht, nach Bildung oder wenigstens nach den Zwecken der Bildung, sie ist selbst nichts Anderes, als die erste, aber selbst noch rohe, pöbelhafte Bildungsform des Menschenwesens; daher eben jede Epoche, jeder gewichtige Abschnitt in der Kultur der Menschheit mit der Religion beginnt. S
.164-172
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925

Das Wesen des Christentums
Vorrede
Die Spekulation lässt die Religion nur sagen, was sie selbst gedacht und weit besser gesagt, als die Religion; sie bestimmt die Religion, ohne sich von ihr bestimmen zu lassen; sie kommt nicht aus sich heraus. Ich aber lasse die Religion sich selbst aussprechen; ich mache nur ihren Zuhörer und Dolmetscher, nicht ihren Souffleur. Nicht zu erfinden — zu entdecken, »Dasein zu enthüllen« war mein einziger Zweck; richtig zu sehen, mein einziges Bestreben. Die Religion selbst sagt: Gott ist Mensch, der Mensch Gott; nicht ich, die Religion selbst verleugnet und verneint den Gott, der nicht Mensch, sondern nur ein Ens rationis ist, indem sie Gott Mensch werden läßt und nun erst diesen menschlich gestalteten, menschlich fühlenden und gesinnten Gott zum Gegenstande ihrer Anbetung und Verehrung macht. Ich habe nur das Geheimnis der christlichen Religion verraten, nur entrissen dem widerspruchvollen Lug und Truggewebe der Theologie - dadurch aber freilich ein wahres Sakrilegium begangen. Wenn daher meine Schrift negativ, irreligiös, atheistisch ist, so bedenke man, daß der Atheismus - im Sinne dieser Schrift wenigstens - das Geheimnis der Religion selbst ist, daß die Religion selbst zwar nicht auf der Oberfläche, aber im Grunde, zwar nicht ihrer Meinung und Einbildung, aber in ihrem Herzen, ihrem wahren Wesen an nichts andres glaubt als an die Wahrheit und Gottheit des menschlichen Wesens. Oder man beweise mir, daß sowohl die historischen als rationellen Argumente meiner Schrift falsch, unwahr sind — widerlege sie — aber ich bitte mir aus — nicht mit juristischen Injurien oder theologischen Jeremiaden oder abgedroschenen spekulativen Phrasen oder namenlosen Miserabilitäten, sondern mit Gründen, und zwar solchen Gründen, die ich nicht selbst bereits gründlichst widerlegt habe. S.21-22 [...]

Das Wesen des Menschen im allgemeinen
Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eignes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist daher die Macht seines eignen Wesens. So ist die Macht des Gegenstands des Gefühls die Macht des Gefühls, die Macht des Gegenstands der Vernunft die Macht der Vernunft selbst, die Macht des Gegenstands des Willens die Macht des Willens. S.43 [...]

Alles daher, was im Sinne der übermenschlichen Spekulation und Religion nur die Bedeutung des Abgeleiteten, des Subjektiven oder Menschlichen, des Mittels, des Organs hat, das hat im Sinne der Wahrheit die Bedeutung des Ursprünglichen, des Göttlichen, des Wesens, des Gegenstandes selbst. Ist z. B. das Gefühl das wesentliche Organ der Religion, so drückt das Wesen Gottes nichts andres aus, als das Wesen des Gefühls. Der wahre, aber verborgene Sinn der Rede: »das Gefühl ist das Organ des Göttlichen«, lautet: das Gefühl ist das Nobelste, Trefflichste, d. h. Göttliche im Menschen. Wie könntest du das Göttliche vernehmen durch das Gefühl, wenn das Gefühl nicht selbst göttlicher Natur wäre? Das Göttliche wird ja nur durch das Göttliche, »Gott nur durch sich selbst erkannt«. Das göttliche Wesen, welches das Gefühl vernimmt, ist in der Tat nichts als das von sich selbst entzückte und bezauberte Wesen des Gefühls — das wonnetrunkene, in sich selige Gefühl.

Es erhellt dies schon daraus, daß da, wo das Gefühl zum Organ des Unendlichen, zum subjektiven Wesen der Religion gemacht wird, der Gegenstand derselben seinen objektiven Wert verliert. So ist, seitdem man das Gefühl zur Hauptsache der Religion gemacht, der sonst so heilige Glaubensinhalt des Christentums gleichgültig geworden. Wird auch auf dem Standpunkt des Gefühls dem Gegenstand noch Wert eingeräumt, so hat er doch diesen nur um des Gefühls willen, welches sich vielleicht nur aus zufälligen Gründen mit ihm verknüpft; würde ein anderer Gegenstand dieselben Gefühle erregen, so wäre er ebenso willkommen. Der Gegenstand des Gefühls wird aber eben nur deswegen gleichgültig, weil, wo einmal das Gefühl als das subjektive Wesen der Religion ausgesprochen wird, es in der Tat auch das objektive Wesen derselben ist, wenn es gleich nicht als solches, wenigstens direkt, ausgesprochen wird. Direkt sage ich, denn indirekt wird dies allerdings dadurch eingestanden, daß das Gefühl als solches für religiös erklärt, also der Unterschied zwischen eigentümlich religiösen und irreligiösen oder wenigstens nicht religiösen Gefühlen aufgehoben wird — eine notwendige Konsequenz von dem Standpunkt, wo nur das Gefühl für das Organ des Göttlichen gilt. Denn warum anders als wegen seines Wesens, seiner Natur machst du das Gefühl zum Organ des unendlichen, des göttlichen Wesens? Ist aber nicht die Natur des Gefühis überhaupt auch die Natur jedes speziellen Gefühls, sein Gegenstand sei nun welcher er wolle? Was macht also dieses Gefühl zum religiösen? der bestimmte Gegenstand? Mitnichten, denn dieser Gegenstand ist selbst nur ein religiöser, wenn er nicht ein Gegenstand des kalten Verstandes oder Gedächtnisses, sondern des Gefühls ist. Was also? die Natur des Gefühls, an der jedes Gefühl, ohne Unterschied des Gegenstandes, teilhat. Das Gefühl ist also heiliggesprochen, lediglich weil es Gefühl ist; der Grund seiner Religiosität ist die Natur des Gefühls, liegt in ihm selbst. Ist aber dadurch nicht das Gefühl als das Absolute, als das Göttliche selbst ausgesprochen? Wenn das Gefühl durch sich selbst gut, religiös, d. h. heilig, göttlich ist, hat das Gefühl seinen Gott nicht in sich selbst?
S.48-49 [...]
Gott ist das reine, das unbeschränkte, das freie Gefühl. Jeder andre Gott, den du hier setzest, ist ein von außen deinem Gefühl aufgedrungener Gott. Das Gefühl ist atheistisch im Sinne des orthodoxen Glaubens, als welcher die Religion an einen äußern Gegenstand anknüpft; es leugnet einen gegenständlichen Gott - es ist sich selbst Gott. Die Verneinung des Gefühls nur ist auf dem Standpunkt des Gefühls die Verneinung Gottes.
S.50 [...]

Das Wesen der Religion im allgemeinen
Der Gegenstand des Menschen ist nichts andres als sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: soviel Wert der Mensch hat, soviel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst du den Menschen und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochne Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse. S.52-53 [...]

Jeder Religion sind die Götter der andern Religionen nur Vorstellungen von Gott, aber die Vorstellung, die sie von Gott hat, ist ihr Gott selbst, Gott, wie sie ihn vorstellt, der echte, wahre Gott, Gott, wie er an sich ist. Die Religion begnügt sich nur mit einem ganzen, rückhaltslosen Gott; sie will nicht eine bloße Erscheinung von Gott; sie will Gott selbst, Gott in Person. Die Religion gibt sich selbst auf, wenn sie das Wesen Gottes aufgibt; sie ist keine Wahrheit mehr, wo sie auf den Besitz des wahren Gottes verzichtet. Der Skeptizismus ist der Erzfeind der Religion. Aber die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Vorstellung, zwischen Gott an sich und Gott für mich ist eine skeptische, also irreligiöse Unterscheidung.

Was dem Menschen die Bedeutung des Ansichseienden hat, was ihm das höchste Wesen ist, das, worüber er nichts Höheres sich vorstellen kann, dieses ist ihm eben das göttliche Wesen. Wie könnte er also bei diesem Gegenstande noch fragen, was er an sich sei? Wenn Gott dem Vogel Gegenstand wäre, so wäre er ihm nur als ein geflügeltes Wesen Gegenstand: der Vogel kennt nichts Höheres, nichts Seligeres, als das Geflügeltsein. Wie lächerlich wäre es, wenn dieser Vogel urteilte: mir erscheint Gott als ein Vogel, aber was er an sich ist, weiß ich nicht. Das höchste Wesen ist dem Vogel eben das Wesen des Vogels. Nimmst du ihm die Vorstellung vom Wesen des Vogels, so nimmst du ihm die Vorstellung des höchsten Wesens. Wie könnte er also fragen, ob Gott an sich geflügelt sei? Fragen, ob Gott an sich so ist, wie er für mich ist, heißt fragen, ob Gott Gott ist, heißt über seinen Gott sich erheben, gegen ihn sich empören.
S.58-59 [...]

Die Gewißheit der Existenz Gottes, von welcher man gesagt hat, daß sie dem Menschen so gewiß, ja gewisser als die eigne Existenz sei, hängt daher nur ab von der Gewißheit der Qualität Gottes - sie ist keine unmittelbare Gewißheit. Dem Christen ist nur die Existenz des christlichen, dem Heiden die Existenz des heidnischen Gottes eine Gewißheit. Der Heide bezweifelte nicht die Existenz Jupiters, weil er an dem Wesen Jupiters keinen Anstoß nahm, weil er sich Gott in keiner andern Qualität vorstellen konnte, weil ihm diese Qualität eine Gewißheit, eine göttliche Wahrheit war. Die Wahrheit des Prädikats ist allein die Bürgschaft der Existenz. [...]

Die Tempel zu Ehren der Religion sind in Wahrheit Tempel zu Ehren der Baukunst. Mit der Erhebung des Menschen aus dem Zustande der Rohheit und Wildheit zur Kultur, mit der Unterscheidung zwischen dem, was sich für den Menschen schickt und nicht schickt, entsteht auch gleichzeitig der Unterschied zwischen dem, was sich für Gott schickt und nicht schickt. Gott ist der Begriff der Majestät, der höchsten Würde, das religiöse Gefühl das höchste Schicklichkeitsgefühl. Erst die spätern gebildeten Künstler Griechenlands verkörperten in den Götterstatuen die Begriffe der Würde, der Seelengröße, der unbewegten Ruhe und Heiterkeit. Aber warum waren ihnen diese Eigenschaften Attribute, Prädikate Gottes? weil sie für sich selbst ihnen für Gottheiten galten. Warum schlossen sie alle widrigen und niedrigen Gemütsaffekte aus? eben weil sie dieselben als etwas Unschickliches, Unwürdiges, Unmenschliches, folglich Ungöttliches erkannten. Die Homerischen Götter essen und trinken — das heißt: Essen und Trinken ist ein göttlicher Genuß. Körperstärke ist eine Eigenschaft der Homerischen Götter: Zeus ist der stärkste der Götter. Warum? weil die Körperstärke an und für sich selbst für etwas Herrliches, Göttliches galt. Die Tugend des Kriegers war den alten Deutschen die höchste Tugend; dafür war aber auch ihr höchster Gott der Kriegsgott: Odin — der Krieg »das Urgesetz oder älteste Gesetz«. Nicht die Eigenschaft der Gottheit, sondern die Göttlichkeit oder Gottheit der Eigenschaft ist das erste wahre göttliche Wesen. Also das, was der Theologie und Philosophie bisher für Gott, für das Absolute, Wesenhafte galt, das ist nicht Gott; das aber, was ihr nicht für Gott galt, das gerade ist Gott — d. i. die Eigenschaft, die Qualität, die Bestimmtheit, die Wirklichkeit überhaupt. Ein wahrer Atheist, d. h. ein Atheist im gewöhnlichen Sinne, ist daher auch nur der, welchem die Prädikate des göttlichen Wesens, wie z. B. die Liebe, die Weisheit, die Gerechtigkeit Nichts sind, aber nicht der, welchem nur das Subjekt dieser Prädikate Nichts ist. Und keineswegs ist die Verneinung des Subjekts auch notwendig zugleich die Verneinung der Prädikate an sich selbst. Die Prädikate haben eine eigne, selbständige Bedeutung; sie dringen durch ihren Inhalt dem Menschen ihre Anerkennung auf; sie erweisen sich ihm unmittelbar durch sich selbst als wahr; sie betätigen, bezeugen sich selbst. Güte, Gerechtigkeit, Weisheit sind dadurch keine Chimären, daß die Existenz Gottes eine Chimäre, noch dadurch Wahrheiten, daß diese eine Wahrheit ist. Der Begriff Gottes ist abhängig vom Begriffe der Gerechtigkeit, der Güte, der Weisheit — ein Gott, der nicht gütig, nicht gerecht, nicht weise, ist kein Gott — aber nicht umgekehrt. Eine Qualität ist nicht dadurch göttlich, daß sie Gott hat, sondern Gott hat sie, weil sie an und für sich selbst göttlich ist, weil Gott ohne sie ein mangelhaftes Wesen ist. Die Gerechtigkeit, die Weisheit, überhaupt jede Bestimmung, welche die Gottheit Gottes ausmacht, wird durch sich selbst bestimmt und erkannt, Gott aber durch die Bestimmung, die Qualität; nur in dem Falle, daß ich Gott und die Gerechtigkeit als dasselbe, Gott unmittelbar als die Wirklichkeit der Idee der Gerechtigkeit oder irgendeiner andern Qualität denke, bestimme ich Gott durch sich selbst. Wenn aber Gott als Subjekt das Bestimmte, die Qualität, das Prädikat aber das Bestimmende ist, so gebührt ja in Wahrheit dem Prädikat, nicht dem Subjekt der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit. S.61-65 [...]

Der Mensch gibt seine Person auf, aber dafür ist ihm Gott, das allmächtige, unbeschränkte Wesen ein persönliches Wesen; er verneint die menschliche Ehre, das menschliche Ich; aber dafür ist ihm Gott ein selbstisches, egoistisches Wesen, das in allem nur sich, nur seine Ehre, seinen Nutzen sucht, Gott eben die Selbstbefriedigung der eignen, gegen alles andere mißgünstigen Selbstischkeit, Gott der Selbstgenuß des Egoismus. S.73 [...]

Gott als Wesen des Verstandes
Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist - der Mensch nicht, - was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.
Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eignes geheimes Wesen. Es muß also nachgewiesen werden, daß dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt von Gott und Mensch, womit die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eignen Wesen ist.

Die innere Notwendigkeit dieses Beweises ergibt sich schon daraus, daß, wenn wirklich das göttliche Wesen, welches Gegenstand der Religion ist, ein andres wäre als das Wesen des Menschen, eine Entzweiung, ein Zwiespalt gar nicht stattfinden könnte. Ist Gott wirklich ein andres Wesen, was kümmert mich seine Vollkommenheit? Entzweiung findet nur statt zwischen Wesen, welche miteinander zerfallen sind, aber eins sein sollen, eins sein können, und folglich im Wesen, in Wahrheit eins sind. Es muß also schon aus diesem allgemeinen Grunde das Wesen, mit welchem sich der Mensch entzweit fühlt, ein ihm eingebornes Wesen sein, aber zugleich ein Wesen von anderer Beschaffenheit, als das Wesen oder die Kraft, welche ihm das Gefühl, das Bewußtsein der Versöhnung, der Einheit mit Gott, oder, was eins ist, mit sich selbst gibt.

Dieses Wesen ist nichts andres als die Intelligenz — die Vernunft oder der Verstand. Gott als Extrem des Menschen, als nicht menschliches, d. i. persönlich menschliches Wesen gedacht ist das vergegenständlichte Wesen des Verstandes. Das reine, vollkommne, mangellose göttliche Wesen ist das Selbstbewußtsein des Verstandes, das Bewußtsein des Verstandes von seiner eignen Vollkommenheit. Der Verstand weiß nichts von den Leiden des Herzens; er hat keine Begierden, keine Leidenschaften, keine Bedürfnisse und eben darum keine Mängel und Schwächen, wie das Herz. Reine Verstandesmenschen, Menschen, die uns das Wesen des Verstandes, wenn auch nur in einseitiger, aber eben deswegen charakteristischer Bestimmtheit versinnbildlichen und personifizieren, sind enthoben den Gemütsqualen, den Passionen, den Exzessen der Gefühlsmenschen; sie sind für keinen endlichen, d. i. bestimmten Gegenstand leidenschaftlich eingenommen; sie »verpfänden« sich nicht; sie sind frei. »Nichts bedürfen und durch diese Bedürfnislosigkeit den unsterblichen Göttern gleichen«, »nicht sich den Dingen, sondern die Dinge sich unterwerfen«, »alles ist eitel« —diese und ähnliche Aussprüche sind Mottos abstrakter Verstandesmenschen. Der Verstand ist das neutrale, gleichgültige, unbestechliche, unverblendete Wesen in uns — das reine, affektlose Licht der Intelligenz. Er ist das kategorische, rücksichtslose Bewußtsein der Sache als Sache, weil er selbst objektiver Natur — das Bewußtsein des Widerspruchslosen, weil er selbst die widerspruchslose Einheit, die Quelle der logischen Identität — das Bewußtsein des Gesetzes, der Notwendigkeit, der Regel, des Maßes, weil er selbst die Tätigkeit des Gesetzes, die Notwendigkeit der Natur der Dinge als Selbsttätigkeit, die Regel der Regeln, das absolute Maß, das Maß der Maße ist. Nur durch den Verstand kann der Mensch im Widerspruch mit seinen teuersten menschlichen, d. i. persönlichen Gefühlen urteilen und handeln, wenn es also der Verstandesgott, das Gesetz, die Notwendigkeit, das Recht gebietet. Der Vater, welcher seinen eignen Sohn, weil er ihn für schuldig erkennt, als Richter zum Tode verurteilt, vermag dies nur als Verstandes-, nicht als Gefühlsmensch. Der Verstand zeigt uns die Fehler und Schwächen selbst unsrer Geliebten — selbst unsre eignen. Er versetzt uns deswegen so oft in peinliche Kollision mit uns selbst, mit unserm Herzen. Wir wollen nicht dem Verstande Recht lassen: wir wollen nicht aus Schonung, aus Nachsicht das wahre, aber harte, aber rücksichtslose Urteil des Verstandes vollstrecken. Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen; das Herz vertritt die besonderen Angelegenheiten, die Individuen, der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten; er ist die übermenschliche, das heißt: die über- und unpersönliche Kraft oder Wesenheit im Menschen. Nur durch den Verstand und in dem Verstande hat der Mensch die Kraft, von sich selbst, d. h. von seinem subjektiven, persönlichen Wesen zu abstrahieren, sich zu erheben zu allgemeinen Begriffen und Verhältnissen, den Gegenstand zu unterscheiden von den Eindrücken, die er auf das Gemüt macht, ihn an und für sich selbst, ihn ohne Beziehung auf den Menschen zu betrachten. Die Philosophie, die Mathematik, die Astronomie, die Physik, kurz die Wissenschaft überhaupt ist der tatsächliche Beweis, weil das Produkt, dieser in Wahrheit unendlichen und göttlichen Tätigkeit. Dem Verstande widersprechen daher auch die religiösen Anthropomorphismen; er spricht sie Gott ab, verneint sie. Aber dieser anthropomorphismenfreie, rücksichtslose, affektlose Gott ist eben nichts andres, als das eigne gegenständliche Wesen des Verstandes.

Gott als Gott, d.h. als nicht endliches, nicht menschliches, nicht materiell bestimmtes, nicht sinnliches Wesen ist nur Gegenstand des Denkens. Er ist das unsinnliche, gestaltlose, unfaßbare, bildlose - das abstrakte, negative Wesen; er wird nur durch Abstraktion und Negation (via negationis) erkannt, d.i. Gegenstand. Warum? Weil er nichts ist als das gegenständliche Wesen der Denkkraft, überhaupt der Kraft oder Tätigkeit, man nenne sie nun, wie man wolle, wodurch sich der Mensch der Vernunft, des Geistes, der Intelligenz bewußt wird. [...]

Gott, sagten die Scholastiker, die Kirchenväter und lange vor ihnen schon die heidnischen Philosophen, Gott ist immaterielles Wesen, Intelligenz, Geist, reiner Verstand. Von Gott als Gott kann man sich kein Bild machen; aber kannst du dir von dem Verstande, von der Intelligenz ein Bild machen? Hat sie eine Gestalt? Ist ihre Tätigkeit nicht die unfaßbarste, die undarstellbarste? Gott ist unbegreiflich; aber kennst du das Wesen der Intelligenz? Hast du die geheimnisvolle Operation des Denkens, das geheime Wesen des Selbstbewußtseins erforscht? Ist nicht das Selbstbewußtsein das Rätsel der Rätsel? Haben nicht schon die alten Mystiker, Scholastiker und Kirchenväter die Unfaßlichkeit und Undarstellbarkeit des göttlichen Wesens mit der Unfaßlichkeit und Undarstellbarkeit des menschlichen Geistes erläutert, verglichen? nicht also in Wahrheit das Wesen Gottes mit dem Wesen des Menschen identifiziert? Gott als Gott - als ein nur denkbares, nur der Vernunft gegenständliches Wesen - ist also nichts andres als die sich gegenständliche Vernunft. [...]

Gott ist die als das höchste Wesen sich aussprechende, sich bejahende Vernunft. Für die Einbildung ist die Vernunft die oder eine Offenbarung Gottes; für die Vernunft aber ist Gott die Offenbarung der Vernunft, indem, was die Vernunft ist, was sie vermag, erst in Gott Gegenstand ist. Gott, heißt es hier, ist ein Bedürfnis des Denkens, ein notwendiger Gedanke - der höchste Grad der Denkkraft. »Die Vernunft kann nicht bei den sinnlichen Dingen und Wesen stehenbleiben«; erst, wenn sie bis auf das höchste, erste, notwendige, nur der Vernunft gegenständliche Wesen zurückgeht, ist sie befriedigt. Warum? Weil sie erst bei diesem Wesen bei sich selbst ist, weil erst im Gedanken des höchsten Wesens das höchste Wesen der Vernunft gesetzt, die höchste Stufe des Denk- und Abstraktionsvermögens erreicht ist und wir überhaupt so lange eine Lücke, eine Leere, einen Mangel in uns fühlen, folglich unglücklich und unzufrieden sind, solange wir nicht an den letzten Grad eines Vermögens kommen, an das, quo nihil majus cogitari potest, nicht die uns angeborne Fähigkeit zu dieser oder jener Kunst, dieser oder jener Wissenschaft bis zur höchsten Fertigkeit bringen. Denn nur die höchste Fertigkeit der Kunst ist erst Kunst, nur der höchste Grad des Denkens erst Denken, Vernunft. Nur wo du Gott denkst, denkst du, rigoros gesprochen; denn erst Gott ist die verwirklichte, die erfüllte, die erschöpfte Denkkraft. Erst indem du Gott denkst, denkst du also die Vernunft, wie sie in Wahrheit ist, ob du dir gleich wieder dieses Wesen als ein von der Vernunft unterschiednes vermittelst der Einbildungskraft vorstellst, weil du als ein sinnliches Wesen gewohnt bist, stets den Gegenstand der Anschauung, den wirklichen Gegenstand von der Vorstellung desselben zu unterscheiden, und nun vermittelst der Einbildungskraft diese Gewohnheit auch auf das Vernunftwesen überträgst, und dadurch der Vernunftexistenz, dem Gedachtsein die sinnliche Existenz, von der du doch abstrahiert hast, verkehrterweise wieder unterschiebst.

Gott als metaphysisches Wesen ist die in sich selbst befriedigte Intelligenz, oder vielmehr umgekehrt: die in sich selbst befriedigte, die sich als absolutes Wesen denkende Intelligenz ist Gott als metaphysisches Wesen. Alle metaphysischen Bestimmungen Gottes sind daher nur wirkliche Bestimmungen, wenn sie als Denkbestimmungen, als Bestimmungen der Intelligenz, des Verstandes erkannt werden.
S.80-85 [...]

Das Geheimnis des leidenden Gottes
Gott leidet, heißt aber in Wahrheit nichts andres als: Gott ist ein Herz. Das Herz ist die Quelle, der Inbegriff aller Leiden. Ein Wesen ohne Leiden ist ein Wesen ohne Herz. Das Geheimnis des leidenden Gottes ist daher das Geheimnis der Empfindung; ein leidender Gott ist ein empfindender, empfindsamer Gott. Aber der Satz: Gott ist ein empfindendes Wesen, ist nur der religiöse Ausdruck des Satzes: Die Empfindung ist göttlichen Wesens. [...]

Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst. Was ist, hat notwendig einen Gefallen, eine Freude an sich selbst, liebt sich und liebt sich mit Recht; tadelst du, daß es sich liebt, so machst du ihm einen Vorwurf darüber, daß es ist. Sein heißt sich behaupten, sich bejahen, sich lieben; wer des Lebens überdrüssig, nimmt sich das Leben. Wo daher die Empfindung nicht zurückgesetzt und unterdrückt wird, wie bei den Stoikern, wo ihr Sein gegönnt wird, da ist ihr auch schon religiöse Macht und Bedeutung eingeräumt, da ist sie auch schon auf die Stufe erhoben, auf welcher sie sich in sich spiegeln und reflektieren, in Gott in ihren eignen Spiegel blicken kann. Gott ist der Spiegel des Menschen. Was für den Menschen wesentlichen Wert hat, was ihm für das Vollkommne, das Treffliche gilt, woran er wahres Wohlgefallen hat, das allein ist ihm Gott. Ist dir die Empfindung eine herrliche, so ist sie dir eben damit eine göttliche Eigenschaft. Darum glaubt der empfindende, gefühlvolle Mensch nur an einen empfindenden, gefühlvollen Gott, d.h. er glaubt nur an die Wahrheit seines eignen Seins und Wesens, denn er kann nichts andres glauben, als was er selbst in seinem Wesen ist. Sein Glaube ist das Bewußtsein dessen, was ihm heilig ist; aber heilig ist dem Menschen nur, was sein Innerstes, sein Eigenstes, der letzte Grund, das Wesen seiner Individualität ist. Dem empfindungsvollen Menschen ist ein empfindungsloser Gott ein leerer, abstrakter, negativer Gott, d.h. Nichts, weil ihm das fehlt, was dem Menschen wert und heilig ist. Gott ist für den Menschen das Kollektaneenbuch [»Sammelband«] seiner höchsten Empfindungen und Gedanken, das Stammbuch, worein er die Namen der ihm teuersten, heiligsten Wesen einträgt
. S.120-121

Das Mysterium der Dreieinigkeit
Gott denkt, Gott liebt, und zwar denkt er, liebt er sich; das Gedachte, Erkannte, Geliebte ist Gott selbst. Die Vergegenständlichung des Selbstbewußtseins ist das erste, was uns in der Trinität begegnet. Das Selbstbewußtsein drängt sich notwendig, unwillkürlich dem Menschen als etwas Absolutes auf. Sein ist für ihn eins mit Selbstbewußtsein; Sein mit Bewußtsein ist für ihn Sein schlechtweg. Ob ich gar nicht bin oder bin, ohne daß ich weiß, daß ich bin, ist gleich. Selbstbewußtsein hat für den Menschen, hat in der Tat an sich selbst absolute Bedeutung. Ein Gott, der sich nicht weiß, ein Gott ohne Bewußtsein, ist kein Gott. Wie der Mensch sich nicht denken kann ohne Bewußtsein, so auch nicht Gott. Das göttliche Selbstbewußtsein ist nichts andres als das Bewußtsein des Bewußtseins als absoluter oder göttlicher Wesenheit. [...]

Gott als Gott, als einfaches Wesen ist das schlechtweg allein seiende, einsame Wesen - die absolute Einsamkeit und Selbständigkeit; denn einsam kann nur sein, was selbständig ist. Einsam sein können, ist ein Zeichen von Charakter und Denkkraft; Einsamkeit ist das , Bedürfnis des Denkers, Gemeinschaft das Bedürfnis des Herzens. Denken kann man allein, lieben nur selbander. Abhängig sind wir in der Liebe, denn sie ist das Bedürfnis eines andern Wesens; selbständig sind wir nur im einsamen Denkakt. Einsamkeit ist Autarkie, Selbstgenugsamkeit.
Aber von einem einsamen Gott ist das wesentliche Bedürfnis der Zweiheit, der Liebe, der Gemeinschaft, des wirklichen, erfüllten Selbstbewußtseins, des andern Ichs ausgeschlossen. Dieses Bedürfnis wird daher dadurch von der Religion befriedigt, daß in die stille Einsamkeit des göttlichen Wesens ein andres, zweites, von Gott der Persönlichkeit nach unterschiednes, dem Wesen nach aber mit ihm einiges Wesen gesetzt wird - Gott der Sohn, im Unterschiede von Gott dem Vater. Gott der Vater ist Ich, Gott der Sohn Du. Ich ist Verstand, Du Liebe; Liebe aber mit Verstand und Verstand mit Liebe ist erst Geist, ist erst der ganze Mensch.

Gemeinschaftliches Leben nur ist wahres, in sich befriedigtes, göttliches Leben - dieser einfache Gedanke, diese dem Menschen natürliche, eingeborne Wahrheit ist das Geheimnis des übernatürlichen Mysteriums der Trinität. Aber die Religion spricht auch diese wie jede andere Wahrheit nur indirekt, d.h. verkehrt aus, indem sie auch hier eine allgemeine Wahrheit zu einer besondern und das wahre Subjekt nur zum Prädikat macht, indem sie sagt: Gott ist ein gemeinschaftliches Leben, ein Leben und Wesen der Liebe und Freundschaft. Die dritte Person in der Trinität drückt ja nichts weiter aus als die Liebe der beiden göttlichen Personen zueinander, ist die Einheit des Sohnes und Vaters, der Begriff der Gemeinschaft, widersinnig genug selbst wieder als ein besondres, persönliches Wesen gesetzt.

Der heilige Geist verdankt seine persönliche Existenz nur einem Namen, einem Worte. Selbst die ältesten Kirchenväter identifizierten bekanntlich noch den Geist mit dem Sohne, Auch seiner spätem dogmatischen Persönlichkeit fehlt Konsistenz. Er ist die Liebe, mit der Gott sich und die Menschen, und hinwiederum die Liebe, mit welcher der Mensch Gott und den Menschen liebt. Also die Einheit Gottes und des Menschen, wie sie innerhalb der Religion dem Menschen, d. i. als ein selbst besonderes Wesen Gegenstand wird. Aber für uns liegt diese Einheit schon im Vater, noch mehr im Sohne. Wir brauchen daher den heil. Geist nicht zu einem besondern Gegenstand unsrer Analyse zu machen. Nur diese Bemerkung noch. Inwiefern der h. Geist die subjektive Seite repräsentiert, so ist er eigentlich die Repräsentation des religiösen Gemüts vor sich selbst, die Repräsentation des religiösen Affekts, der religiösen Begeisterung, oder die Personifikation, die Vergegenständlichung der Religion in der Religion. Der heilige Geist ist daher die seufzende Kreatur, die Sehnsucht der Kreatur nach Gott.

Daß es nun aber im Grunde nicht mehr als zwei Personen sind, denn die dritte repräsentiert, wie gesagt, nur die Liebe, liegt darin, daß dem strengen Begriffe der Liebe das Zwei genügt. Zwei ist das Prinzip und eben damit der Ersatz der Vielheit. Würden mehrere Personen gesetzt, so würde nur die Kraft der Liebe geschmälert sie würde sich zerstreuen. Aber Liebe und Herz sind eins; das Herz ist kein besondres Vermögen — das Herz ist der Mensch, der und sofern er liebt. Die zweite Person ist daher die Selbstbejahung des menschlichen Herzens als des Prinzips der Zweiheit, des gemeinschaftlichen Lebens — die Wärme; der Vater das Licht, obwohl das Licht hauptsächlich ein Prädikat des Sohnes war, weil in ihm die Gottheit erst dem Menschen licht, klar, verständlich wird. Aber dessenungeachtet können wir dem Vater, als dem Repräsentanten der Gottheit als solcher, des kalten Wesens der Intelligenz, das Licht als überirdisches Wesen, dem Sohne die Wärme als irdisches Wesen zuschreiben. Gott als Sohn erwärmt erst den Menschen; hier wird Gott aus dem Gegenstand des Auges, des indifferenten Leichtsinns ein Gegenstand des Gefühls, des Affekts, der Begeisterung, der Entzückung, aber nur, weil der Sohn selbst nichts andres ist, als die Glut der Liebe, der Begeisterung. Gott als Sohn ist die ursprüngliche Inkarnation, die ursprüngliche Selbstverleugnung Gottes, die Verneinung Gottes in Gott; denn als Sohn ist er endliches Wesen, weil er ab alio, von einem Grunde, der Vater dagegen grundlos, von sich selbst, a se ist. Es wird also in der zweiten Person die wesentliche Bestimmung der Gottheit, die Bestimmung des von sich selbst Seins aufgegeben. Aber Gott der Vater zeugt selbst den Sohn; er resigniert also auf seine rigorose, ausschließliche Göttlichkeit; er demütigt, erniedrigt sich, setzt das Wesen der Endlichkeit, des von einem Grunde Seins in sich; er wird im Sohne Mensch, zwar zuvörderst nicht der Gestalt, aber dem Wesen nach. Aber eben dadurch wird auch Gott erst als Sohn Gegenstand des Menschen, Gegenstand des Gefühls, des Herzens.
S.123-127 [...]

Das Geheimnis des Mystizismus oder der Natur in Gott
Einen interessanten Stoff zur Kritik der kosmo- und theogonischen Phantasien liefert die von Schelling aufgefrischte, aus Jakob Böhme geschöpfte Lehre von der ewigen Natur in Gott.

Gott ist reiner Geist, lichtvolles Selbstbewußtsein, sittliche Persönlichkeit; die Natur dagegen ist, wenigstens stellenweise, verworren, finster, wüste, unsittlich oder doch nicht sittlich. Es widerspricht sich aber, daß das Unreine aus dem Reinen, die Finsternis aus dem Lichte komme. Wie können wir also aus Gott diese offenbaren Instanzen gegen eine göttliche Abkunft ableiten? Nur dadurch, daß wir dieses Unreine, dieses Dunkle in Gott setzen, in Gott selbst ein Prinzip des Lichtes und der Finsternis unterscheiden. Mit andern Worten: nur dadurch können wir den Ursprung des Finstern erklären, daß wir überhaupt die Vorstellung eines Ursprungs aufgeben, die Finsternis als seiend von Anbeginn an voraussetzen.
Es liegt außer unserm Zwecke, diese kraß mystische Ansicht zu kritisieren. Es werde hier nur bemerkt, daß die Finsternis nur dann erklärt wird, wenn sie aus dem Lichte abgeleitet wird, daß aber nur dann die Ableitung des Dunkeln in der Natur aus dem Lichte als eine Unmöglichkeit erscheint, wenn man so blind ist, daß man nicht auch in der Finsternis noch Licht erblickt, nicht bemerkt, daß das Dunkel der Natur kein absolutes, sondern gemäßigtes, durch das Licht temperiertes Dunkel ist.
Das Finstere in der Natur ist aber das Irrationelle, Materielle, die eigentliche Natur im Unterschiede von der Intelligenz. Der einfache Sinn dieser Lehre ist daher: die Natur, die Materie kann nicht aus der Intelligenz erklärt und abgeleitet werden; sie ist vielmehr der Grund der Intelligenz, der Grund der Persönlichkeit, ohne selbst einen Grund zu haben; der Geist ohne Natur ist ein bloßes Gedankenwesen; das Bewußtsein entwickelt sich nur aus der Natur. Aber diese materialistische Lehre wird dadurch in ein mystisches, aber gemütliches Dunkel gehüllt, daß sie nicht allgemein, nicht mit den klaren, schlichten Worten der Vernunft ausgesprochen, sondern vielmehr mit dem heiligen Empfindungsworte: Gott betont wird. Wenn das Licht in Gott aus der Finsternis in Gott entspringt, so entspringt es nur, weil es in dem Begriffe des Lichts überhaupt liegt, daß es Dunkles erhellt, also das Dunkle voraussetzt, aber nicht macht. Wenn du also einmal Gott einem allgemeinen Gesetze unterwirfst — was denn nicht anders als notwendig ist, wofern du nicht Gott zum Tummelplatz der sinnlosesten Einfälle machen willst —, wenn also ebensogut in Gott, als an und für sich, als überhaupt, das Selbstbewußtsein durch ein natürliches Prinzip bedingt ist, warum abstrahierst du nicht von Gott? Was einmal Gesetz des Bewußtseins an sich, ist Gesetz für das Bewußtsein jedes persönlichen Wesens, es sei Mensch, Engel, Dämon, Gott oder was du nur immer dir sonst noch als Wesen einbilden magst. Worauf reduzieren sich denn, bei Lichte besehen, die beiden Prinzipien in Gott? Das eine auf die Natur, wenigstens die Natur, wie sie in deiner Vorstellung existiert, abgezogen von ihrer Wirklichkeit, das andere auf Geist, Bewußtsein, Persönlichkeit. Nach seiner einen Hälfte, nach seiner Rück- und Kehrseite nennst du Gott nicht Gott, sondern nur von seiner Vorderseite, sein Gesicht, wornach er dir Geist, Bewußtsein zeigt: also ist sein charakteristisches Wesen, das, wodurch er Gott ist, Geist, Intelligenz, Bewußtsein, Warum machst du denn aber, was das eigentliche Subjekt in Gott als Gott, d. i. als Geist ist, zu einem bloßen Prädikat, als wäre Gott als Gott auch ohne Geist, ohne Bewußtsein Gott? Warum anders, als weil du denkst als Sklave der mystisch religiösen Einbildungskraft, weil es dir nur wohl und heimlich ist im trügerischen Zwielicht des Mystizismus?

Mystizismus ist Deuteroskopie. Der Mystiker spekuliert über das Wesen der Natur oder des Menschen, aber in und mit der Einbildung, daß er über ein anderes, von beiden unterschiedenes, persönliches Wesen spekuliert. Der Mystiker hat dieselben Gegenstände, wie der einfache, selbstbewußte Denker; aber der wirkliche Gegenstand ist dem Mystiker nicht Gegenstand als er selbst, sondern als ein eingebildeter, und daher der eingebildete Gegenstand ihm der wirkliche Gegenstand. So ist hier, in der mystischen Lehre von den zwei Prinzipien in Gott, der wirkliche Gegenstand die Pathologie, der eingebildete die Theologie; d. h. die Pathologie wird zur Theologie gemacht. Dagegen ließe sich nun eigentlich nichts sagen, wenn mit Bewußtsein die wirkliche Pathologie als Theologie erkannt und ausgesprochen würde; unsre Aufgabe ist es ja eben, zu zeigen, daß die Theologie nichts ist als eine sich selbst verborgene, als die esoterische Patho-, Anthropo- und Psychologie, und daß daher die wirkliche Anthropologie, die wirkliche Pathologie, die wirkliche Psychologie weit mehr Anspruch auf den Namen: Theologie haben, als die Theologie selbst, weil diese doch nichts weiter ist, als eine eingebildete Psychologie und Anthropologie. Aber es soll der Inhalt dieser Lehre oder Anschauung — und darum ist sie eben Mystik und Phantastik —nicht Pathologie, sondern Theologie, Theologie im alten oder gewöhnlichen Sinne des Wortes sein; es soll hier das Leben eines andern von uns unterschiednen Wesens aufgeschlossen werden, und es wird doch nur unser eignes Wesen aufgeschlossen, aber zugleich wieder verschlossen, weil es das Wesen eines andern Wesens sein soll. Bei Gott, nicht bei uns menschlichen Individuen — das wäre eine viel zu triviale Wahrheit — soll sich die Vernunft erst nach der Leidenschaft der Natur einstellen, nicht wir, sondern Gott soll sich aus dem Dunkel verworrner Gefühle und Triebe zur Klarheit der Erkenntnis emporringen, nicht in unsrer Vorstellungsweise, sondern in Gott selbst soll der Nervenschrecken der Nacht eher sein, als das freudige Bewußtsein des Lichtes; kurz, es soll hier nicht eine menschliche Krankheitigeschichte, sondern die Entwicklungs-, d. i. Krankheitsgeschichte Gottes — Entwicklungen sind Krankheiten — dargestellt werden.

Wenn daher der weltschaffende Unterscheidungsprozeß in Gott uns das Licht der Unterscheidungskraft als eine göttliche Wesenheit zur Anschauung bringt, so repräsentiert uns dagegen die Nacht oder Natur in Gott die Leibnizschen Pensées confuses als göttliche Kräfte oder Potenzen. Aber die Pensées confuses, die verworrnen, dunkeln Vorstellungen und Gedanken, richtiger Bilder repräsentieren das Fleisch, die Materie; eine reine, von der Materie abgesonderte Intelligenz hat nur lichte, freie Gedanken, keine dunkeln, d. i. fleischlichen Vorstellungen, keine materielle, die Phantasie erregende, das Blut in Aufruhr bringende Bilder. Die Nacht in Gott sagt daher nichts andres aus, als: Gott ist nicht nur ein geistiges, sondern auch materielles, leibliches, fleischliches Wesen; aber wie der Mensch Mensch ist und heißt nicht nach seinem Fleisch, sondern seinem Geist, so auch Gott.

Aber die Nacht spricht dies nur in dunkeln, mystischen, unbestimmten, hinterhaltigen Bildern aus. Statt des kräftigen, aber eben deswegen präzisen und pikanten Ausdrucks: Fleisch setzt sie die vieldeutigen, abstrakten Worte: Natur und Grund. »Da nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben. Das sagen alle Philosophien, aber sie reden von diesem Grund als einem bloßen Begriff, ohne ihn zu etwas Reellem und Wirklichem zu machen. Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz. Er ist die Natur — in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiednes Wesen. Analogisch (?) kann dieses Verhältnis durch das der Schwerkraft und des Lichts in der Natur erläutert werden.« Aber dieser Grund ist das Nichtintelligente in Gott. »Was der Anfang einer Intelligenz (in ihr selber) ist, kann nicht wieder intelligent sein.« »Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Kreatur.« »Mit solchen abgezognen Begriffen von Gott als Actus purissimus, dergleichen die ältere Philosophie aufstellte, oder solchen, wie sie die neuere, aus Fürsorge, Gott ja recht weit von aller Natur zu entfernen, immer wieder hervorbringt, läßt sich überall nichts ausrichten. Gott ist etwas Realeres, als eine bloße moralische Weltordnung und hat ganz andre und lebendigere Bewegungskräfte in sich, als ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten zuschreibt.

— Der Idealismus, wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis erhält, wird ein ebenso leeres und abgezognes System als das Leibnizische, Spinozische oder irgendein anderes dogmatisches.« »Solange der Gott des modernen Theismus das einfache, rein wesenhaft sein sollende, in der Tat aber wesenlose — Wesen bleibt, das er in allen neuem Systemen ist, solange nicht in Gott eine wirkliche Zweiheit erkannt und der bejahenden, ausbreitenden Kraft eine einschränkende, verneinende entgegengesetzt wird, so lange wird die Leugnung eines persönlichen Gottes wissenschaftliche Aufrichtigkeit sein.« »Alles Bewußtsein ist Konzentration, ist Sammlung, ist Zusammennehmen, Zusammenfassen seiner selbst. Diese verneinende, auf es selbst zurück-gehende Kraft eines Wesens ist die wahre Kraft der Persönlichkeit in ihm, die Kraft der Selbstheit, der Egoität.« »Wie sollte eine Furcht Gottes sein, wenn keine Stärke in ihm wäre? Daß aber etwas in Gott sei, das bloß Kraft und Stärke sei, kann nicht befremden, wenn man nur nicht behauptet, daß er allein dieses und sonst nichts andres sei.«

Aber was ist denn nun Kraft und Stärke, die nur Kraft und Stärke ist, anders als die leibliche Kraft und Stärke? Kennst du im Unterschiede von der Macht der Güte und Vernunft eine andere dir zu Gebote stehende Kraft als die Muskelkraft? Wenn du durch Güte und Vernunftgründe nichts ausrichten kannst, so mußt du zur Stärke deine Zuflucht nehmen. Kannst du aber etwas »ausrichten« ohne kräftige Arme und Fäuste? Kennst du im Unterschiede von der Macht der moralischen Weltordnung »andere und lebendigere Bewegungskräfte« als die Hebel der peinlichen Halsgerichtsordnung? Ist nicht die Natur ohne Leib auch ein »leerer, abgezogner« Begriff, eine »dürftige Subtilität«? nicht das Geheimnis der Natur das Geheimnis des Leibes? nicht das System eines »lebendigen Realismus« das System des organischen Leibes? Gibt es überhaupt eine andere der Intelligenz entgegengesetzte Kraft, als die Kraft von Fleisch und Blut, eine andere Stärke der Natur, als die Stärke der sinnlichen Triebe? Ist aber nicht der stärkste Naturtrieb der Geschlechtstrieb? Wer erinnert sich nicht an den alten Spruch: Amare et Sapere vix Deo competit? Wenn wir also eine Natur, ein dem Lichte der Intelligenz entgegengesetztes Wesen in Gott setzen wollen, können wir uns einen lebendigeren, einen realeren Gegensatz denken, als den Gegensatz von Denken und Lieben, von Geist und Fleisch, von Freiheit und Geschlechtstrieb? Du entsetzest dich über diese Deszendenzen und Konsequenzen? Oh! sie sind die legitimen Sprossen von dem heiligen Ehebündnis zwischen Gott und Natur. Du selbst hast sie gezeugt unter den günstigen Auspizien der Nacht. Ich zeige sie dir jetzt nur im Lichte.
Persönlichkeit, »Egoität«, Bewußtsein ohne Natur ist Nichts oder, was eins, ein hohles, wesenloses Abstraktum. Aber die Natur ist, wie bewiesen und von selbst klar ist, nichts ohne Leib. Der Leib ist allein jene verneinende, einschränkende, zusammenziehende, beengende Kraft, ohne welche keine Persönlichkeit denkbar ist. Nimm deiner Persönlichkeit ihren Leib — und du nimmst ihr ihren Zusammenhalt. Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit. Nur durch den Leib unterscheidet sich die wirkliche Persönlichkeit von der eingebildeten eines Gespenstes. Was wären wir für abstrakte, vage, leere Persönlichkeiten, wenn uns nicht das Prädikat der Undurchdringlichkeit zukäme, wenn an demselben Orte, in derselben Gestalt, worin wir sind, zugleich andere sich befinden könnten? Nur durch die räumliche Ausschließung bewährt sich die Persönlichkeit als eine wirkliche. Aber der Leib ist nichts ohne Fleisch und Blut. Fleisch und Blut ist Leben, und Leben allein die Wirklichkeit des Leibes. Aber Fleisch und Blut ist nichts ohne den Sauerstoff des Geschlechtsunterschieds. Der Geschlechtsunterschied ist kein oberflächlicher oder nur auf gewisse Körperteile beschränkter; er ist ein wesentlicher; er durchdringt Mark und Bein. Das Wesen des Mannes ist die Männlichkeit, das des Weibes die Weiblichkeit. Sei der Mann auch noch so geistig und hyperphysisch — er bleibt doch immer Mann; ebenso das Weib. Die Persönlichkeit ist daher nichts ohne Geschlechtsunterschied; die Persönlichkeit unterscheidet sich wesentlich in männliche und weibliche Persönlichkeit. Wo kein Du, ist kein Ich; aber der Unterschied von Ich und Du, die Grundbedingung aller Persönlichkeit, alles Bewußtseins, ist nur ein wirklicher, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib. Das Du zwischen Mann und Weib hat einen ganz andern Klang, als das monotone Du zwischen Freunden.

Natur im Unterschiede von Persönlichkeit kann gar nichts anderes bedeuten als Geschlechtsunterschied. Ein persönliches Wesen ohne Natur ist eben nichts andres als ein Wesen ohne Geschlecht, und umgekehrt. Natur soll Gott zugesprochen werden »in dem Sinne, wie von einem Menschen gesagt wird, er sei eine starke, eine tüchtige, eine gesunde Natur«. Aber was ist krankhafter, was unausstehlicher, was naturwidriger als eine Person ohne Geschlecht oder eine Person, die in ihrem Charakter, ihren Sitten, ihren Gefühlen ihr Geschlecht verleugnet? Was ist die Tugend, die Tüchtigkeit des Menschen als Mannes? die Männlichkeit. Des Menschen als Weibes? die Weiblichkeit. Aber der Mensch existiert nur als Mann und Weib. Die Tüchtigkeit, die Gesundheit des Menschen besteht demnach nur darin, daß er als Weib so ist, wie er als Weib sein soll, als Mann so, wie er als Mann sein soll. Du verwirfst »den Abscheu gegen alles Reale, der das Geistige durch jede Berührung mit demselben zu verunreinigen meint«. Also verwirf vor allem deinen eignen Abscheu vor dem Geschlechtsunterschied. Wird Gott nicht durch die Natur verunreinigt, so wird er auch nicht durch das Geschlecht verunreinigt. Deine Scheu vor einem geschlechtlichen Gott ist eine falsche Scham — falsch aus doppeltem Grunde. Einmal, weil die Nacht, die du in Gott gesetzt, dich der Scham überhebt; die Scham schickt sich nur für das Licht; dann, weil du mit ihr dein ganzes Prinzip aufgibst. Ein sittlicher Gott ohne Natur ist ohne Basis; aber die Basis der Sittlichkeit ist der Geschlechtsunterschied. Selbst das Tier wird durch den Geschlechtsunterschied aufopfernder Liebe fähig. Alle Herrlichkeit der Natur, all ihre Macht, all ihre Weisheit und Tiefe konzentriert und individualisiert sich in dem Geschlechtsunterschied. Warum scheust du dich also, die Natur Gottes bei ihrem wahren Namen zu nennen? Offenbar nur deswegen, weil du überhaupt eine Scheu vor den Dingen in ihrer Wahrheit und Wirklichkeit hast, weil du alles nur durch den trügerischen Nebel des Mystizismus erblickst. Aber eben deswegen, weil die Natur in Gott nur ein trügerischer, wesenloser Schein, ein phantastisches Gespenst der Natur ist — denn sie stützt sich, wie gesagt, nicht auf Fleisch und Blut, nicht auf einen realen Grund — also auch diese Begründung eines persönlichen Gottes eine fehlgeschossene ist; so schließe auch ich mit den Worten: »die Leugnung eines persönlichen Gottes wird so lange wissenschaftliche Aufrichtigkeit«, ich setze hinzu: wissenschaftliche Wahrheit sein, als man nicht mit klaren, unzweideutigen Worten ausspricht und beweist, erstens a priori, aus spekulativen Gründen, daß Gestalt, Örtlichkeit, Fleischlichkeit, Geschlechtlichkeit nicht dem Begriffe der Gottheit widersprechen, zweitens a posteriori — denn die Wirklichkeit eines persönlichen Wesens stützt sich nur auf empirische Gründe — was für eine Gestalt Gott hat, wo er existiert — etwa im Himmel — und endlich welchen Geschlechtes er ist, ob ein Männlein oder Weiblein oder gar ein Hermaphrodit. Übrigens hat schon anno 1682 ein Pfarrer die kühne Frage aufgeworfen: »Ob Gott auch ehelich sei und ein Weib habe? Und wieviel er Weisen (modos) habe, Menschen zuwege zu bringen?« Mögen sich daher die tiefsinnigen spekulativen Religions-Philosophen Deutschlands diesen ehrlichen, schlichten Pfarrherrn zum Muster nehmen! Mögen sie den genannten Rest von Rationalismus, der ihnen noch im schreiendsten Widerspruch mit ihrem wahren Wesen anklebt, mutig von sich abschütteln und endlich die mystische Potenz der Natur Gottes in einem wirklich potenten, zeugungskräftigen Gott realisieren Amen.

Die Lehre von der Natur in Gott ist Jakob Böhmen entnommen. Aber im Original hat sie eine weit tiefere und interessantere Bedeutung, als in ihrer zweiten kastrierten und modernisierten Auflage. J. Böhme ist ein tiefinniges, tiefsinniges religiöses Gemüt; die Religion ist das Zentrum seines Lebens und Denkens. Aber zugleich hat sich die Bedeutung, welche die Natur in neuerer Zeit erhielt — im Studium der Naturwissenschaften, im Spinozismus, Materialismus, Empirismus — seines religiösen Gemütes bemächtigt. Er hat seine Sinne der Natur geöffnet, einen Blick in ihr geheimnisvolles Wesen geworfen; aber sie erschreckt ihn; und er kann diesen Schrecken vor der Natur nicht zusammenreimen mit seinen religiösen Vorstellungen. »Als ich anschauete die große Tiefe dieser Welt, darzu die Sonne und Sternen, sowohl die Wolken, darzu Regen und Schnee, und betrachtete in meinem Geiste die ganze Schöpfung dieser Welt; darinnen ich dann in allen Dingen Böses und Gutes fand, Liebe und Zorn, in den unvernünftigen Kreaturen, als in Holz, Steinen, Erden und Elementen, sowohl als in Menschen und Tieren ... Weil ich aber befand, daß in allen Dingen Böses und Gutes war, in den Elementen sowohl als in den Kreaturen und daß es in der Welt dem Gottlosen so wohl ginge als dem Frommen, auch die barbarischen Völker die besten Länder innehätten und daß ihnen das Glück noch wohl mehr beistünde als den Frommen: ward ich derowegen ganz melancholisch und hoch betrübet und konnte mich keine Schrift trösten, welche mir doch fast wohl bekannt war: darbei dann gewißlich der Teufel nicht wird gefeiret haben, welcher mir dann oft heidnische Gedanken einbleuete, deren ich allhie verschweigen will« Aber so sehr sein Gemüt das finstre, nicht mit den religiösen Vorstellungen eines himmlischen Schöpfers zusammenstimmende Wesen der Natur erschreckt, so sehr entzückt ihn andrerseits die Glanzseite der Natur. J. Böhme hat Sinn für die Natur. Er ahndet, ja empfindet die Freuden des Mineralogen, die Freuden des Botanikers, des Chymikers, kurz die Freuden der »gottlosen Naturwissenschaft«. Ihn entzückt der Glanz der Edelsteine, der Klang der Metalle, der Geruch und Farbenschmuck der Pflanzen, die Lieblichkeit und Sanftmut vieler Tiere. »Ich kann es« (nämlich die Offenbarung Gottes in der Lichtwelt, den Prozeß, wo »aufgehet in der Gottheit die wunderliche und schöne Bildung des Himmels in mancherlei Farben und Art und erzeiget sich jeder Geist in seiner Gestalt sonderlich«), »ich kann es«, schreibt er an einer andern Stelle, »mit nichts vergleichen als mit den alleredelsten Steinen als Jerubin, Schmaragden, Delfin, Onyx, Saphir, Diamant, Jaspis, Hyazinth, Amethyst, Beryll, Sardis, Karfunkel und dergleichen.« Woanders: »Anlangend aber die köstlichen Steine, als Karfunkel, Jerubin, Schmaragden, Delfin, Onyx und dergleichen, die die allerbesten seind, die haben ihren Ursprung wo der Blitz des Lichtes in der Liebe aufgangen ist. Dann derselbe Blitz wird in der Sanftmut geboren und ist das Herze im Centro der Quellgeister, darum seind dieselben Steine auch sanfte, kräftig und lieblich.« Wir sehen: J. Böhm[e] hatte keinen übeln mineralogischen Geschmack. Daß er aber auch an den Blumen Wohlgefallen, folglich botanischen Sinn hatte, beweisen unter anderm folgende Stellen: »Die himmlischen Kräfte gebären himmlische freudenreiche Früchte und Farben, allerlei Bäume und Stauden, darauf wächst die schöne und liebliche Frucht des Lebens: Auch so gehen in diesen Kräften auf allerlei Blumen mit schönen himmlischen Farben und Geruch. Ihr Schmack ist mancherlei, ein jedes nach seiner Qualität und Art, ganz heilig, göttlich und freudenreich.« »So du nun die himmlische göttliche Pomp und Herrlichkeit willst betrachten, wie die sei, was für Gewächse, Lust oder Freude da sei, so schaue mit Fleiß an diese Welt, was für Früchte und Gewächse aus dem Salniter der Erden wächst von Bäumen, Stauden, Kraut, Wurzeln, Blumen, Öle, Weine, Getreide und alles, was da ist und dein Herz nur forschen kann: Das ist alles ein Vorbild der himmlischen Pomp.«

J. Böhmen konnte ein despotischer Machtspruch als Erklärungsgrund der Natur nicht genügen; die Natur lag ihm zu sehr im Sinne und auf dem Herzen; er versuchte daher eine natürliche Erklärung der Natur; aber er fand natürlicher- und notwendigerweise keine andern Erklärungsgründe, als eben die Qualitäten der Natur, die den tiefsten Eindruck auf sein Gemüt machten. J. Böhme — dies ist seine wesentliche Bedeutung — ist ein mystischer Naturphilosoph, ein theosophischer Vulkanist und Neptunist, denn im »Feuer und Wasser urständen nach ihm alle Dinge«. Die Natur hatte Jakobs religiöses Gemüt bezaubert — nicht umsonst empfing er von dem Glanze eines zinnernen Geschirres sein mystisches Licht —, aber das religiöse Gemüt webt nur in sich selbst; es hat nicht die Kraft, nicht den Mut, zur Anschauung der Dinge in ihrer Wirklichkeit zu dringen; es erblickt alles durch das Mittel der Religion, alles in Gott, d. h. alles im entzückenden, das Gemüt ergreifenden Glanze der Einbildungskraft, alles im Bilde und als Bild. Aber die Natur affizierte sein Gemüt entgegengesetzt; er mußte diesen Gegensatz daher in Gott selbst setzen — denn die Annahme von zwei selbständig existierenden entgegengesetzten Urprinzipien hätte sein religiöses Gemüt zerrissen —, er mußte in Gott selbst unterscheiden ein sanftes, wohltätiges und ein grimmiges, verzehrendes Wesen. Alles Feurige, Bittere, Herbe, Zusammenziehende, Finstere, Kalte kommt aus einer göttlichen Herbigkeit, Bitterkeit, Kulte und Finsternis, alles Milde, Glänzende, Erwärmende, Weiche, Sanfte, Nachgiebige aus einer milden, sanften, erleuchtenden Qualität in Gott. Kurz, der Himmel ist so reich, als die Erde. Alles was auf der Erde, ist im Himmel, was in der Natur, in Gott. Aber hier ist es göttlich, himmlisch, dort irdisch, sichtbarlich, äußerlich, materiell, aber doch dasselbe. »Wann ich nun schreibe von Bäumen, Stauden und Fruchten, so mußt du es nicht irdisch, gleich dieser Welt verstehen, dann das ist nicht meine Meinung, daß im Himmel wachse ein toter harter hölzerner Baum oder Stein, der in irdischer Qualität stehet. Nein, sondern meine Meinung ist himmlisch und geistlich, aber doch wahrhaftig und eigentlich, also ich meine kein ander Ding, als wie ich‘s in Buchstaben setze«, d. h., im Himmel sind dieselben Bäume und Blumen, aber die Bäume im Himmel sind die Bäume, wie sie in meiner Einbildungskraft duften und blühen, ohne grobe materielle Eindrücke auf mich zu machen; die Bäume auf Erden, die Bäume in meiner sinnlichen, wirklichen Anschauung. Der Unterschied ist der Unterschied zwischen Einbildung und Anschauung. »Nicht ist das mein Fürnehmen«, sagt er selbst, »daß ich wollte aller Sternen Lauf, Ort oder Namen beschreiben oder wie sie jährlich ihre Konjunktion oder Gegenschein oder Quadrat und dergleichen haben, was sie jährlich und stündlich wirken. Ich habe dasselbe auch nicht gelernet und studieret und lasse dasselbe die Gelehrten handeln: sondern mein Fürnehmen ist, nach dem Geist und Sinne zu schreiben, und nicht nach dem Anschauen.«

Die Lehre von der Natur in Gott will durch den Naturalismus den Theismus, namentlich den Theismus, welcher das höchste Wesen als ein persönliches Wesen betrachtet, begründen. Der persönliche Theismus denkt sich aber Gott als ein von allem Materiellen abgesondertes persönliches Wesen; er schließt von ihm alle Entwickelung aus, weil diese nichts andres ist, als die Selbstabsonderung eines Wesens von Zuständen und Beschaffenheiten, die seinem wahren Begriffe nicht entsprechen. Aber in Gott findet dies nicht statt, weil in ihm Anfang, Ende, Mitte sich nicht unterscheiden lassen, weil er mit einem Mal ist, was er ist, von Anbeginn an so ist, wie er sein soll, sein kann; er ist die reine Einheit von Sein und Wesen, Realität und Idee, Tat und Wille. Deus suum Esse est. Der Theismus stimmt hierin mit dem Wesen der Religion überein. Alle auch noch so positiven Religionen beruhen auf Abstraktion; sie unterscheiden sich nur durch den Gegenstand der Abstraktion. Auch die Homerischen Götter sind bei aller Lebenskräftigkeit und Menschenähnlichkeit abstrakte Gestalten; sie haben Leiber wie die Menschen, aber Leiber, von denen die Schranken und Beschwerlichkeiten des menschlichen Leibes weggelassen sind. Die erste Bestimmung des göttlichen Wesens ist: es ist ein abgesondertes, destilliertes Wesen. Es versteht sich von selbst, daß diese Abstraktion keine willkürliche, sondern durch den wesentlichen Standpunkt des Menschen bestimmte ist. So wie er ist, sowie er überhaupt denkt, so abstrahiert er.

Die Abstraktion drückt ein Urteil aus — ein bejahendes und verneinendes zugleich, Lob und Tadel. Was der Mensch lobt und preist, das ist ihm Gott was er tadelt, verwirft, das Ungöttliche. Die Religion ist ein Urteil. Die wesentlichste Bestimmung in der Religion, in der Idee des göttlichen Wesens ist demnach die Abscheidung des Preiswürdigen vom Tadelhaften, des Vollkommnen vom Unvollkommnen, kurz des Wesenhaften vom Nichtigen. Der Kultus selbst besteht in nichts anderm, als in der fortwährenden Erneuerung des Ursprungs der Religion — in der kritischen, aber feierlichen Sonderung des Göttlichen vom Ungöttlichen.

Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen

Das göttliche Wesen ist das durch den Tod der Abstraktion verklärte menschliche Wesender abgeschiedene Geist des Menschen. In der Religion befreit sich der Mensch von den Schranken des Lebens; hier läßt er fallen, was ihn drückt, hemmt, widerlich affiziert; Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen; frei, glücklich, selig fühlt sich der Mensch nur in seiner Religion, weil er nur hier seinem Genius lebt, seinen Sonntag feiert. Die Vermittlung, die Begründung der göttlichen Idee liegt für ihn außer dieser Idee — die Wahrheit derselben schon im Urteil, schon darin, daß alles, was er von Gott ausschließt, die Bedeutung des Ungöttlichen, das Ungöttliche aber die Bedeutung des Nichtigen hat. Würde er die Vermittlung dieser Idee in die Idee selbst aufnehmen, so würde sie ihre wesentlichste Bedeutung, ihren wahren Wert, ihren beseligenden Zauber verlieren. Der Prozeß der Absonderung, der Scheidung des Intelligenten vom Nicht-Intelligenten, der Persönlichkeit von der Natur, des Vollkommnen vom Unvollkommnen fällt daher notwendig in den Menschen, nicht in Gott, und die Idee der Gottheit nicht an den Anfang, sondern das Ende der Sinnlichkeit, der Welt, der Natur - »wo die Natur aufhört, fängt Gott an« -, weil Gott die letzte Grenze der Abstraktion ist. Das, wovon ich nicht mehr abstrahieren kann, ist Gott - der letzte Gedanke, den ich zu fassen fähig bin -, der letzte, d.i. der höchste. Id quo majus nihil cogitari potest, Deus est. Daß nun dieses Omega der Sinnlichkeit auch das Alpha wird, ist leicht begreiflich, aber das Wesentliche ist, daß es das Omega ist. Das Alpha ist erst die Folge; weil es das Letzte, so ist es auch das Erste. Und das Prädikat: das erste Wesen hat keineswegs sogleich schöpferische Bedeutung, sondern nur die Bedeutung des höchsten Ranges. Die Schöpfung in der mosaischen Religion hat den Zweck, Jehova das Prädikat des höchsten und ersten, des wahren, ausschließlichen Gottes im Gegensatz zu den Götzen zu sichern.

Dem Bestreben, die Persönlichkeit Gottes durch die Natur begründen zu wollen, liegt daher eine unlautere, heillose Vermischung der Philosophie und Religion, eine völlige Kritik- und Bewußtlosigkeit aber die Entstehung des persönlichen Gottes zugrunde. Wo die Persönlichkeit für die wesentliche Bestimmung Gottes gilt, wo es heißt: ein unpersönlicher Gott ist kein Gott, da gilt die Persönlichkeit schon an und für sich für das Höchste und Wirklichste, da liegt das Urteil zugrunde: was nicht Person, ist tot, ist Nichts; nur persönliches Sein ist Leben und Wahrheit; die Natur ist aber unpersönlich, also ein nichtiges Ding. Die Wahrheit der Persönlichkeit stützt sich nur auf die Unwahrheit der Natur. Die Persönlichkeit von Gott aussagen, heißt nichts andres, als die Persönlichkeit für das absolute Wesen erklären; aber die Persönlichkeit wird nur im Unterschiede, in der Abstraktion von der Natur erfaßt. Freilich ist ein nur persönlicher Gott ein abstrakter Gott; aber das soll er sein, das liegt in seinem Begriffe; denn er ist nichts andres, als das sich außer allen Zusammenhang mit der Welt setzende, sich von aller Abhängigkeit von der Natur freimachende persönliche Wesen des Menschen. In der Persönlichkeit Gottes feiert der Mensch die Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit, Unabhängigkeit und Unbeschränktheit seiner eignen Persönlichkeit.

Das Bedürfnis eines persönlichen Gottes hat überhaupt darin seinen Grund, daß der persönliche Mensch erst in der Persönlichkeit bei sich ankommt, erst in ihr sich findet. Substanz, reiner Geist, bloße Vernunft genügt ihm nicht, ist ihm zu abstrakt, d. h. drückt nicht ihn selbst aus, führt ihn nicht auf sich zurück. Befriedigt, glücklich ist aber der Mensch nur, wo er bei sich, bei seinem Wesen ist. Je persönlicher daher ein Mensch, desto stärker ist für ihn das Bedürfnis eines persönlichen Gottes. Der abstrakt freie Geist kennt nichts Höheres, als die Freiheit; er braucht sie nicht an ein persönliches Wesen anzuknüpfen; die Freiheit ist ihm durch sich selbst, als solche, ein wirkliches, wahres Wesen. Ein mathematischer, astronomischer Kopf, ein reiner Verstandesmensch, ein objektiver Mensch, der nicht in sich befangen ist, der frei und glücklich sich nur fühlt in der Anschauung objektiv vernünftiger Verhältnisse, in der Vernunft, die in den Dingen selbst liegt, ein solcher wird die Spinozische Substanz oder eine ähnliche Idee als sein höchstes Wesen feiern, voller Antipathie gegen einen persönlichen, d. i. subjektiven Gott. Jacobi war darum ein klassischer, weil (in dieser Beziehung wenigstens) konsequenter, mit einiger Philosoph. Wie sein Gott, so war seine Philosophie — persönlich, subjektiv. Der persönliche Gott kann nicht anders wissenschaftlich begründet werden, als wie ihn Jacobi und seine Schüler begründeten. Die Persönlichkeit bewährt sich nur auf selbst persönliche Weise.

Sicherlich läßt sich, ja soll sich die Persönlichkeit auf natürlichem Wege begründen; aber nur dann, wenn ich aufhöre, im Dunkeln des Mystizismus zu munkeln, wenn ich heraustrete an den hellen lichten Tag der wirklichen Natur und den Begriff des persönlichen Gottes mit dem Begriff der Persönlichkeit überhaupt vertausche. Aber in den Begriff des persönlichen Gottes, dessen Wesen eben die befreite, abgeschiedene, von der einschränkenden Kraft der Natur erlöste Persönlichkeit ist, eben diese Natur wieder einzuschwärzen, das ist ebenso verkehrt, als wenn ich in den Nektar der Götter Braunschweiger Mumme mischen wollte, um dem ätherischen Trank eine solide Grundlage zu geben. Allerdings lassen sich nicht aus dem himmlischen Safte, der die Götter nährt, die Bestandteile des animalischen Blutes ableiten. Allein die Blume der Sublimation entsteht nur durch Verflüchtigung der Materie; wie kannst du also in der sublimierten Substanz eben die Stoffe vermissen, von welchen du sie geschieden? Allerdings läßt sich das unpersönliche Wesen der Natur nicht aus dem Begriffe der Persönlichkeit erklären. Erklären heißt Begründen; aber wo die Persönlichkeit eine Wahrheit oder vielmehr die höchste, einzige Wahrheit ist, da hat die Natur keine wesenhafte Bedeutung und folglich auch keinen wesenhaften Grund. Die eigentliche Schöpfung aus Nichts ist hier allein der zureichende Erklärungsgrund; denn sie sagt nichts weiter als: die Natur ist Nichts, spricht also präzis die Bedeutung aus, welche die Natur für die absolute Persönlichkeit hat.
S.152-169
Aus: Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums,
Reclams Universalbibliothek Nr. 4571 (S. 21-22, 43, 48-50, 52-53, 58-59, 61-65, 73, 80, 82-85, 120-121, 123-127, 152-169)
© für diese Ausgabe 1969 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Grundsätze der Philosophie der Zukunft

§ 1 Die Aufgabe der neueren Zeit war die Verwirklichung und Vermenschlichung Gottes — die Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthropologie.

§ 2 Die religiöse oder praktische Weise dieser Vermenschlichung war der Protestantismus. Der Gott, welcher Mensch ist, der menschliche Gott also: Christus — dieser nur ist der Gott des Protestantismus. Der Protestantismus kümmert sich nicht mehr, wie der Katholizismus, darum, was Gott an sich selber ist, sondern nur darum, was er für den Menschen ist; er hat deshalb keine spekulative oder kontemplative Tendenz mehr wie jener; er ist nicht mehr Theologie — er ist wesentlich nur Christologie, d. i. religiöse Anthropologie.

§ 3 Der Protestantismus negierte jedoch den Gott an sich oder Gott als Gott — denn Gott an sich ist erst eigentlicher Gott — nur praktisch; theoretisch ließ er ihn bestehen; er ist, aber nur nicht für den Menschen, d. h. den religiösen Menschen — er ist ein jenseitiges Wesen, ein Wesen, das einst erst dort im Himmel ein Gegenstand für den Menschen wird. Aber was jenseits der Religion, das liegt diesseits der Philosophie, was kein Gegenstand für jene, das ist gerade der Gegenstand für diese.

§ 4 Die rationelle oder theoretische Verarbeitung und Auflösung des für die Religion jenseitigen, ungegenständlichen Gottes ist die spekulative Philosophie.

§ 5 Das Wesen der spekulativen Philosophie ist nichts andres als das rationalisierte, realisierte, vergegenwärtigte Wesen Gottes. Die spekulative Philosophie ist die wahre, die konsequente, die vernünftige Theologie.

§ 6 Gott als Gott — als geistiges oder abstraktes, d. i. nicht menschliches, nicht sinnliches, nur der Vernunft oder Intelligenz zugängliches und gegenständliches Wesen — ist nichts anderes als das Wesen der Vernunft selbst, welches aber von der gemeinen Theologie oder vom Theismus vermittels der Einbildungskraft als ein von der Vernunft unterschiedenes, selbständiges Wesen vorgestellt wird. Es ist daher eine innere, eine heilige Notwendigkeit, daß das von der Vernunft unterschiedene Wesen der Vernunft endlich mit der Vernunft identifiziert, das göttliche Wesen also als das Wesen der Vernunft erkannt, verwirklicht und vergegenwärtigt werde. Auf dieser Notwendigkeit beruht die hohe geschichtliche Bedeutung der spekulativen Philosophie.

Der Beweis, daß das göttliche Wesen das Wesen der Vernunft oder Intelligenz ist, liegt darin, daß die Bestimmungen oder Eigenschaften Gottes — so weit natürlich diese vernünftige sind, nicht Bestimmungen der Sinnlichkeit oder Einbildungskraft — Eigenschaften der Vernunft sind.

,,Gott ist das unendliche Wesen, das Wesen ohne alle Einschränkungen.“ Aber was keine Grenze oder Schranke Gottes, das ist auch keine Schranke der Vernunft. Wo z. B. Gott ein über die Schranken der Sinnlichkeit erhabenes Wesen ist, da ist es auch die Vernunft. Wer keine andere Existenz denken kann als eine sinnliche, wer also eine durch die Sinnlichkeit beschränkte Vernunft hat, der hat auch ebendeswegen einen durch die Sinnlichkeit beschränkten Gott. Die Vernunft, welche Gott als ein unbeschränktes Wesen denkt, die denkt in Gott nur ihre eigene Unbeschränktheit. Was der Vernunft das göttliche, das ist ihr auch erst das vernünftige Wesen, das affirmative Wesen der Vernunft — d. h. das erst vollkommen die Vernunft ausdrückende und repräsentierende Wesen und ebendeswegen befriedigende Wesen. Das aber, worin sich ein Wesen befriedigt, ist nichts andres als sein gegenständliches Wesen. Wer sich in einem Dichter befriedigt, ist selbst eine dichterische, wer in einem Philosophen, selbst eine philosophische Natur, und daß er es ist, das wird ihm und andern erst in dieser Befriedigung Gegenstand. Die Vernunft bleibt aber nicht bei den sinnlichen, endlichen Dingen stehen; sie befriedigt sich nur in dem unendlichen Wesen — also ist uns erst in diesem Wesen das Wesen der Vernunft aufgeschlossen.

,,Gott ist das notwendige Wesen.“
Aber diese seine Notwendigkeit beruht darauf, daß er ein vernünftiges, intelligentes Wesen ist. Die Welt, die Materie hat den Grund, warum sie ist und so ist, wie sie ist, nicht in sich, denn es ist ihr völlig einerlei, ob sie ist oder nicht ist, ob sie so oder anders ist. Sie setzt daher notwendig als Ursache ein anderes Wesen voraus, d. h. ein verständiges, selbstbewußtes, nach Gründen und Zwecken wirkendes Wesen. Denn nimmt man von diesem andern Wesen die Intelligenz weg, so entsteht von neuem die Frage nach dem Grund desselben: Die Notwendigkeit des ersten, höchsten Wesens beruht darum auf der Voraussetzung, daß der Verstand allein das erste und höchste, das notwendige und wahre Wesen ist. Wie überhaupt die metaphysischen oder ontotheologischen Bestimmungen erst Wahrheit und Realität haben, wenn sie auf psychologische oder vielmehr anthropologische Bestimmungen zurückgeführt werden, so hat also auch die Notwendigkeit des göttlichen Wesens in der alten Metaphysik oder Ontotheologie erst Sinn und Verstand, Wahrheit und Realität in der psychologischen oder anthropologischen Bestimmung Gottes als eines intelligenten Wesens. Das notwendige Wesen ist das notwendig zu denkende, schlechterdings zu bejahende, schlechterdings unleugbare oder unaufhebbare Wesen, aber nur als ein selbst denkendes Wesen. In dem notwendigen Wesen beweist und zeigt also die Vernunft nur ihre eigene Notwendigkeit und Realität.

,,Gott ist das unbedingte, allgemeine — ,Gott ist nicht dies und das‘ — unveränderliche, ewige oder zeitlose Wesen.“ Aber Unbedingtheit, Unveränderlichkeit, Ewigkeit, Allgemeinheit sind selbst nach dem Urteil der metaphysischen Theologie auch Eigenschaften der Vernunftwahrheiten oder Vernunftgesetze, folglich Eigenschaften der Vernunft selbst; denn was sind diese unveränderlichen, allgemeinen, unbedingten, schlechthin immer und überall gültigen Vernunftwahrheiten anderes als Ausdrücke von dem Wesen der Vernunft?

,,Gott ist das unabhängige, selbständige Wesen, welches keines andern Wesens zu seiner Existenz bedarf, folglich von und durch sich selbst ist.“ Aber auch diese abstrakte metaphysische Bestimmung hat nur Sinn und Realität als eine Definition von dem Wesen des Verstandes, und sagt daher nichts weiter aus, als daß Gott ein denkendes, intelligentes Wesen oder umgekehrt nur das denkende Wesen das göttliche ist; denn nur ein sinnliches Wesen bedarf zu seiner Existenz andere Dinge außer ihm. Luft bedarf ich zum Atmen, Wasser zum Trinken, Licht zum Sehen, pflanzliche und tierische Stoffe zum Essen, aber nichts, wenigstens unmittelbar, zum Denken. Ein atmendes Wesen kann ich nicht denken ohne die Luft, ein sehendes nicht ohne Licht, aber das denkende Wesen kann ich für sich isoliert denken. Das atmende Wesen bezieht sich notwendig auf ein Wesen außer ihm, hat seinen wesentlichen Gegenstand, das, wodurch es ist, was es ist, außer sich; aber das denkende Wesen bezieht sich auf sich selbst, ist sein eigner Gegenstand, hat sein Wesen in sich selbst, ist, was es ist, durch sich selbst.

§ 7 Was im Theismus Objekt, das ist in der spekulativen Philosophie Subjekt, was dort das nur gedachte, vorgestellte Wesen der Vernunft, ist hier das denkende Wesen der Vernunft selbst.

Der Theist stellt sich Gott als ein außer der Vernunft, außer dem Menschen überhaupt existierendes, persönliches Wesen vor — er denkt als Subjekt über Gott als Objekt. Er denkt Gott als ein dem Wesen, d. h. seiner Vorstellung nach geistiges, unsinnliches, aber der Existenz, d. h. der Wahrheit nach sinnliches Wesen; denn das wesentliche Merkmal einer objektiven Existenz außer dem Gedanken oder der Vorstellung ist die Sinnlichkeit. Er unterscheidet Gott von sich in demselben Sinne, in welchem er die sinnlichen Dinge und Wesen als außer ihm existierende von sich unterscheidet; kurz, er denkt Gott vom Standpunkt der Sinnlichkeit aus. Der spekulative Theologe oder Philosoph dagegen denkt Gott vom Standpunkt des Denkens aus; er hat daher nicht zwischen sich und Gott in der Mitte die störende Vorstellung eines sinnlichen Wesens; er identifiziert somit ohne Hindernis das objektive, gedachte Wesen mit dem subjektiven, denkenden Wesen.

Die innere Notwendigkeit, daß Gott aus einem Objekt des Menschen zum Subjekt, zum denkenden Ich des Menschen wird, ergibt sich aus dem bereits Entwickelten näher so: Gott ist Gegenstand des Menschen, und nur des Menschen, nicht des Tiers. Was aber ein Wesen ist, das wird nur aus seinem Gegenstande erkannt; der Gegenstand, auf den sich ein Wesen notwendig bezieht, ist nichts anderes als sein offenbares Wesen. So ist der Gegenstand der pflanzenfressenden Tiere die Pflanze; aber durch diesen Gegenstand unterscheiden sich wesentlich dieselben von den andern, den fleischfressenden Tieren. So ist der Gegenstand des Auges das Licht, nicht der Ton, nicht der Geruch. Im Gegenstand des Auges ist uns aber sein Wesen offenbar. Ob einer nicht sieht oder kein Auge hat, ist darum einerlei. Wir benennen daher auch im Leben die Dinge und Wesen nur nach ihren Gegenständen. Das Auge ist das ,,Lichtorgan“. Wer den Boden bebaut, ist ein Bauer; wer die Jagd zum Objekt seiner Tätigkeit hat, ist ein Jäger; wer Fische fängt, ein Fischer usw. Wenn also Gott — und zwar, wie er es ja ist, notwendig und wesentlich — ein Gegenstand des Menschen ist, so ist in dem Wesen dieses Gegenstandes nur das eigne Wesen des Menschen ausgesprochen. Stelle dir vor, ein denkendes Wesen auf einem Planeten oder Kometen bekäme zu Gesichte die paar Paragraphen einer christlichen Dogmatik, welche von dem Wesen Gottes handeln. Was würde dieses Wesen aus diesen Paragraphen folgern? Etwa die Existenz eines Gottes im Sinne einer christlichen Dogmatik? Nein, es würde nur daraus folgern, daß auch auf der Erde denkende Wesen sind; es würde in den Definitionen der Erdbewohner von ihrem Gotte nur Definitionen von ihrem eignen Wesen, z. B. in der Definition: Gott ist ein Geist, nur den Beweis und Ausdruck ihres eignen Geistes finden; kurz, es würde aus dem Wesen und den Eigenschaften des Objekts auf das Wesen und die Eigenschaften des Subjekts schließen. Und mit vollem Rechte; denn die Unterscheidung zwischen dem, was der Gegenstand an sich selbst, und dem, was er für den Menschen ist, fällt bei diesem Objekt weg. Diese Unterscheidung ist nur an ihrem Platze bei einem unmittelbar sinnlich und ebendeswegen auch noch andern Wesen außer der Menschen gegebenen Gegenstande. Das Licht ist nicht nur für den Menschen da, es affiziert auch die Tiere, auch die Pflanzen, auch die unorganischen Stoffe: es ist ein gemeines Wesen. Um zu erfahren, was das Licht ist, betrachten wir darum nicht nur die Eindrücke und Wirkungen desselben auf uns, sondern auch auf andere, von uns unterschiedne Wesen. Notwendig, objektiv begründet ist daher hier die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand an sich selbst und dem Gegenstande für mich, namentlich zwischen dem Gegenstande in der Wirklichkeit und dem Gegenstand in meinem Denken und Vorstellen. Gott aber ist nur ein Gegenstand des Menschen. Die Tiere und Sterne preisen Gott nur im Sinne des Menschen. Es gehört also zum Wesen Gottes selbst, daß er keinem dem Wesen außer dem Menschen Gegenstand, daß er ein spezifisch menschlicher Gegenstand, ein Geheimnis des Menschen ist. Wenn aber nur im Menschen Gott offenbar ist, was offenbart sich uns im Wesen Gottes? Nichts andres als das Wesen des Menschen. Denn worin liegt der Grund, daß er nur dem Menschen Gegenstand ist? In der Natur Gottes, aber ebenso in der Natur des Menschen — also in der Identität der göttlichen und menschlichen Natur. Wem das höchste Wesen Gegenstand ist, das ist selbst das höchste Wesen. Je mehr den Tieren vom Menschen Gegenstand wird, desto höher stehen sie, desto mehr nähern sie sich dem Menschen. Ein Tier, dem der Mensch als Mensch, das eigentliche menschliche Wesen Gegenstand wäre, das wäre kein Tier mehr, sondern selber Mensch. Nur ebenbürtige Wesen sind sich Gegenstand, und zwar so, wie sie an sich sind. Die Identität des göttlichen und menschlichen Wesens fällt nun allerdings auch in das Bewußtsein des Theismus. Aber weil er Gott, ungeachtet daß er das wesentliche Sein Gottes im Menschen findet, doch zugleich als ein außer dem Menschen existierendes, sinnliches Wesen vorstellt, so ist ihm auch diese Identität nur als sinnliche Identität, als Ähnlichkeit oder Verwandtschaft Gegenstand. Verwandtschaft drückt dasselbe aus als Identität, aber es ist mit ihr zugleich verbunden die sinnliche Vorstellung, daß die verwandten Wesen zwei selbständige, d. i. sinnliche, außereinander existierende Wesen sind.

§ 8 Die gemeine Theologie macht den Standpunkt des Menschen zum Standpunkt Gottes; die spekulative dagegen macht den Standpunkt Gottes zum Standpunkt des Menschen oder vielmehr des Denkers.

Gott ist der gemeinen Theologie Objekt, und zwar gerade so, wie irgendein anderes sinnliches Objekt; aber zugleich ist er ihr wieder Subjekt, und zwar Subjekt, gerade wie das menschliche Subjekt: Gott bringt Dinge außer sich hervor, hat Beziehungen zu sich selbst und zu andern, außer ihm existierenden Wesen, liebt und denkt sich zugleich und andere Wesen. Kurz, der Mensch macht seine Gedanken und selbst Affekte zu Gedanken und Affekten Gottes, sein Wesen, seinen Standpunkt zum Wesen und Standpunkt Gottes. Die spekulative Theologie aber kehrt dies um, und diese Umkehrung ist vollkommen begründet und gerechtfertigt. Wenn ich Gott menschliche Gedanken, menschliche Eigenschaften überhaupt beilege, warum soll ich nicht göttliche Eigenschaften dem Menschen beilegen? Wenn Gott denkt wie oder vielmehr als ein Mensch, warum sollte der Mensch nicht denken wie oder als ein Gott? In der gemeinen Theologie ist daher Gott ein vom Menschen gedachtes Wesen, in der spekulativen dagegen der Mensch ein von Gott gedachtes Wesen. In der gemeinen Theologie ist Gott ein Widerspruch mit sich selbst, denn er soll ein nicht-, ein übermenschliches Wesen sein, aber ist doch allen seinen Bestimmungen nach in Wahrheit ein menschliches; in der spekulativen Theologie oder Philosophie ist dagegen Gott ein Widerspruch mit dem Menschen — er soll ein Wesen im Menschen — wenigstens in der Vernunft — sein, und ist doch in Wahrheit ein nicht-, ein übermenschliches, d. i. abstraktes Wesen. Der übermenschliche Gott ist in der gemeinen Theologie nur eine erbauliche Floskel, eine Vorstellung, ein Spielzeug der Phantasie, in der spekulativen Philosophie dagegen Wahrheit, bittrer Ernst. Der heftigste Widerspruch, den die spekulative Philosophie gefunden, hat nur darin seinen Grund, daß sie den Gott, welcher im Theismus nur ein Wesen der Phantasie, ein ferngehaltenes, unbestimmtes, nebuloses Wesen ist, zu einem gegenwärtigen, bestimmten Wesen gemacht und dadurch den illusorischen Zauber zerstört hat, den ein entferntes Wesen im blauen Dunst der Vorstellung hat. So haben die Theisten sich darüber skandalisiert, daß die Logik nach Hegel die Darstellung Gottes in seinem ewigen, vorweltlichen Wesen sei und doch, z. B. in der Lehre von der Quantität, von der extensiven und intensiven Größe, den Brüchen, den Potenzen, den Maßverhältnissen usw. handle. Wie, riefen sie entsetzt aus, dieser Gott soll unser Gott sein? Und doch, was ist dieser Gott der Hegelschen Logik anders als der aus dem Nebel der unbestimmten Vorstellung an das Licht des bestimmenden Gedankens hervorgezogene, der, sozusagen, ad coram, beim Wort genommene Gott des Theismus, welcher alles nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen und geordnet hat? Wenn Gott alles nach Zahl und Maß geordnet und geschaffen, also Maß und Zahl, ehe sie an den außergöttlichen Dingen zur Wirklichkeit kamen, im Verstand und folglich im Wesen Gottes — denn zwischen Gottes Verstand und seinem Wesen ist kein Unterschied — enthalten waren und heute noch sind, gehört denn nicht auch die Mathematik zu den Mysterien der Theologie? Aber freilich sieht ein Wesen ganz anders in der Einbildung und Vorstellung aus, als in der Wahrheit und Wirklichkeit; kein Wunder, daß denen, die nur nach dem Aussehen, nach dem Schein sich richten, das eine und selbe Wesen als zwei ganz verschiedene Wesen erscheint.

§ 9 Die wesentlichen Eigenschaften oder Prädikate des göttlichen Wesens sind die wesentlichen Eigenschaften oder Prädikate der spekulativen Philosophie.

§ 10 Gott ist reiner Geist, reines Wesen, reine Tätigkeit — actus purus — ohne Leidenschaften, ohne Bestimmungen von außen, ohne Sinnlichkeit, ohne Materie. Die spekulative Philosophie ist dieser reine Geist, diese reine Tätigkeit, verwirklicht als Denkakt — das absolute Wesen als absolutes Denken.

Wie einst die Abstraktion von allem Sinnlichen und Materiellen die notwendige Bedingung der Theologie war, so war sie auch die notwendige Bedingung der spekulativen Philosophie, nur mit dem Unterschiede, daß die Abstraktion der Theologie, weil ihr Gegenstand, obwohl ein abstraktes Wesen, doch zugleich wieder als ein sinnliches Wesen vorgestellt wurde, selbst eine sinnliche Abstraktion, Asketik war, während die Abstraktion der spekulativen Philosophie nur eine geistige, denkende ist, nur eine szientifische oder theoretische, keine praktische Bedeutung hat. Der Anfang der Cartesischen Philosophie, die Abstraktion von der Sinnlichkeit, von der Materie, ist der Anfang der neuem spekulativen Philosophie. Aber Cartesius und Leibniz betrachteten diese Abstraktion nur als eine subjektive Bedingung, das immaterielle göttliche Wesen zu erkennen, sie stellten sich die Immaterialität Gottes als eine von der Abstraktion, vom Denken unabhängige, objektive Eigenschaft vor; sie standen noch auf dem Standpunkt des Theismus, machten das immaterielle Wesen nur zum Objekt, aber nicht zum Subjekt, zum Prinzip, zum wirklichen Wesen der Philosophie selbst. Allerdings ist auch bei C[artesisus] und L[eibniz] Gott Prinzip der Philosophie, aber nur als ein vom Denken unterschiedenes Objekt — darum Prinzip nur im allgemeinen, nur in der Vorstellung, nicht in der Tat und Wahrheit. Gott ist nur die erste und allgemeine Ursache der Materie, der Bewegung und Tätigkeit; aber die besondern Bewegungen und Tätigkeiten, die bestimmten wirklichen materiellen Dinge werden unabhängig von Gott betrachtet und erkannt. L. und C. sind nur im allgemeinen Idealisten, im besondern bloße Materialisten. Gott nur ist der konsequente, der vollständige, wahre Idealist, denn er nur stellt alle Dinge ohne Dunkelheit sich vor, d. h. im Sinne der Leibnizschen Pbilosophie ohne Sinne und Einbildungskraft; er ist reiner, d. i. von aller Sinnlichkeit und Materialität abgesonderter Verstand; für ihn sind daher die materiellen Dinge pure Verstandeswesen, pure Gedanken; für ihn existiert gar keine Materie, denn diese beruht nur auf dunkeln, d. i. sinnlichen Vorstellungen. Aber gleichwohl hat bei L. auch der Mensch schon eine gute Portion Idealismus in sich — wie wäre es auch möglich, sich ein immaterielles Wesen vorzustellen, ohne ein immaterielles Vermögen und folglich ohne immaterielle Vorstellungen zu haben? —, denn er hat außer den Sinnen und der Einbildungskraft Verstand, und der Verstand ist eben immaterielles, reines, weil denkendes Wesen; nur ist der Verstand des Menschen nicht ganz so rein, nicht in der Unbeschränktheit und Ausdehnung rein, wie der göttliche Verstand oder das göttliche Wesen. Der Mensch, respektive dieser Mensch: Leibniz, ist also ein partialer, halber Idealist, Gott nur ein ganzer Idealist, Gott nur ,,der vollkommene Weltweise“, wie er ausdrücklich von Wolff genannt wird; d. h., Gott ist die Idee des vollendeten, des bis ins Spezielle durchgeführten, des absoluten Idealismus der spätern spekulativen Philosophie. Denn was ist der Verstand, was das Wesen Gottes überhaupt? Nichts andres als der Verstand, als das Wesen des Menschen, abgesondert von den Bestimmungen, die zu einer bestimmten Zeit Schranken des Menschen sind, seien es nun wirkliche oder vermeintliche. Wer keinen mit seinen Sinnen entzweiten Verstand hat, die Sinne nicht für Schranken hält, der stellt sich auch nicht einen Verstand ohne Sinne als den höchsten, den wahren Verstand vor. Was ist aber die Idee einer Sache anders als ihr Wesen, gereinigt von den Beschränkungen und Verdunklungen, die sie in der Wirklichkeit, wo sie im Zusammenhange mit andern Dingen steht, erdrückt? So liegt die Schranke des menschlichen Verstandes nach Leibniz darin, daß er mit dem Materialismus, d. i. mit dunkeln Vorstellungen, behaftet ist; aber diese dunkeln Vorstellungen entspringen selbst wieder nur daraus, daß das menschliche Wesen im Zusammenhange mit andern Wesen, mit der Welt überhaupt steht. Aber diese Verbindung gehört nicht zum Wesen des Verstandes, sie steht vielmehr im Widerspruch mit demselben, denn er ist an sich, d. i. in der Idee ein immaterielles, d. i. für sich selbst seiendes, isoliertes Wesen. Und diese Idee, dieser also von allen materialistischen Vorstellungen gereinigte Verstand ist eben der göttliche Verstand. Was aber bei Leibniz nur Idee war, das wurde in der spätem Philosophie Wahrheit und Wirklichkeit. Der absolute Idealismus ist nichts anderes als der realisierte göttliche Verstand des Leibnizschen Theismus, der systematisch durchgeführte reine Verstand, der alle Dinge ihrer Sinnlichkeit entkleidet, sie zu puren Verstandeswesen, zu Gedankendingen macht, der mit nichts Fremdartigem behaftet, nur mit sich selbst, als dem Wesen der Wesen beschäftigt ist.

§ 11 Gott ist ein denkendes Wesen, aber die Gegenstände, die er denkt, in sich begreift, sind, wie sein Verstand, nicht unterschieden von seinem Wesen, so daß er, indem er die Dinge denkt, nur sich selbst denkt, also in ununterbrochner Einheit mit sich selbst bleibt. Diese Einheit des Denkenden und Gedachten ist aber das Geheimnis des spekulativen Denkens.

So sind z. B. in der Hegelschen Logik die Gegenstände des Denkens nicht unterschieden vom Wesen des Denkens. Das Denken ist hier in ununterbrochner Einheit mit sich selbst; die Gegenstände desselben sind nur Bestimmungen des Denkens, sie gehen rein im Gedanken auf, haben nichts für sich, was außer dem Denken bliebe. Aber was das Wesen der Logik, ist auch das Wesen Gottes. Gott ist ein abstraktes Wesen, denn alle Bestimmungen wirklicher Wesen sind als Beschränkungen von ihm ausgeschlossen; sie werden ihm wohl beigelegt, aber abstrahiert von der Bestimmtheit, die sie in der Wirklichkeit haben. Aber er ist zugleich das Wesen der Wesen, das alle Wesen in sich faßt, und zwar in Einheit mit diesem seinem abstrakten Wesen. Aber was sind die mit einem abstrakten, geistigen Wesen identischen Wesen? selber abstrakte Wesen — Gedanken. Die Dinge, wie sie in Gott sind, sind nicht so, wie sie außer Gott sind; sie sind vielmehr ebenso unterschieden von den wirklichen Dingen, als die Dinge, wie sie Gegenstand der Logik, von den Dingen, wie sie Gegenstand der wirklichen Anschauung sind. Worauf reduziert sich also der Unterschied zwischen dem göttlichen und dem metaphysischen Denken? Nur auf einen Unterschied der Einbildung, auf den Unterschied zwischen dem nur vorgestellten und wirklichen Denken.

§ 12 Der Unterschied zwischen dem Wissen oder dem Denken Gottes, welches als Urbild den Dingen vorausgeht, sie schafft, und dem Wissen des Menschen, welches den Dingen nachfolgt als Abbild derselben, ist nichts anderes als der Unterschied zwischen dem apriorischen oder spekulativen und dem aposteriorischen oder empirischen Wissen.

Der Theismus stellt sich Gott, obwohl als ein denkendes, doch zugleich als ein sinnliches Wesen vor. Er verbindet daher mit dem Denken und Willen Gottes unmittelbar sinnliche, materielle Wirkungen — Wirkungen, die mit dem Wesen des Denkens und Willens in Widerspruch stehen, die nichts weiter als die Macht der Natur ausdrücken. Eine solche materielle Wirkung — folglich ein bloßer Ausdruck sinnlicher Macht — ist vor allem die Schöpfung oder Hervorbringung der wirklichen, materiellen Welt. Die spekulative Theologie dagegen verwandelt diesen dem Wesen des Denkens widersprechenden sinnlichen Akt in einen logischen oder theoretischen Akt, die materielle Hervorbringung des Gegenstandes in die spekulative Erzeugung aus dem Begriffe. Im Theismus ist die Welt ein zeitliches Produkt Gottes — die Welt existiert seit einigen Jahrtausenden, und ehe sie wurde, war Gott; in der spekulativen Theologie dagegen ist die Welt oder Natur nach Gott nur dem Range, der Bedeutung nach: das Akzidenz setzt die Substanz, die Natur die Logik voraus, dem Begriffe, aber nicht dem sinnlichen Dasein, folglich nicht der Zeit nach.

Der Theismus verlegt jedoch in Gott nicht nur das spekulative, sondern auch das sinnliche, empirische Wissen und zwar in seiner höchsten Vollendung. Wie aber das vorweltliche, vorgegenständliche Wissen Gottes in dem apriorischen Wissen der spekulativen Philosophie, so hat auch das sinnliche Wissen Gottes erst in den empirischen Wissenschaften der neueren Zeit seine Realisation, seine Wahrheit und Wirklichkeit gefunden. Das vollkommenste und also göttliche sinnliche Wissen ist nämlich nichts andres als das allersinnlichste Wissen, das Wissen der allergrößten Kleinigkeiten und unmerklichsten Einzelheiten — ,,Gott ist deswegen der Allwissende“, sagt der h[eilige] Thomas A[quino], ,,weil er die allereinzelsten Dinge weiß“ — das Wissen, welches die Haare am Haupte des Menschen nicht indiskret in einen Schopf zusammenfaßt, sondern sie zählt, alle, Haar für Haar, kennt. Aber dieses göttliche Wissen, welches in der Theologie nur eine Vorstellung, eine Phantasie ist, wurde vernünftiges, wirkliches Wissen in dem teleskopischen und mikroskopischen Wissen der Naturwissenschaft. Sie hat die Sterne am Himmel gezählt, z. B. in dem einzigen Orion 2000 Sterne, die Eier in den Leibern der Fische und Schmetterlinge, die Tüpfelchen auf den Flügeln der Insekten, um sie voneinander zu unterscheiden; sie hat allein in der Raupe des Weidenspinners am Kopfe 288, am Körper 1 647, am Magen und den Gedärmen 2 186 Muskeln anatomisch nachgewiesen. Was will man mehr verlangen? Hier haben wir daher ein sinnfälliges Beispiel von der Wahrheit, daß die Vorstellung des Menschen von Gott nichts andres ist als eine Vorstellung des menschlichen Individuums von seiner Gattung, daß Gott als der Inbegriff aller Realitäten oder Vollkommenheiten nichts andres ist als der zum Nutzen des beschränkten Individuums kompendiarisch zusammengefaßte Inbegriff der unter die Menschen verteilten, im Laufe der Weltgeschichte sich realisierenden Eigenschaften der Gattung. Das Gebiet der Naturwissenschaften ist seinem quantitativen Umfang nach für den einzelnen Menschen ein völlig unübersehbares, unermeßliches. Wer kann zugleich die Sterne am Himmel und die Muskeln und Nerven am Leibe der Raupe zählen? Lyonet verlor sein Gesicht über der Anatomie der Weidenraupe. Wer kann zugleich die Unterschiede der Höhen und Vertiefungen im Monde und zugleich die Unterschiede der zahllosen Ammoniten und Terebrateln beobachten? Aber was nicht der einzelne Mensch weiß und kann, das wissen und können die Menschen zusammen. So hat das göttliche Wissen, das alles Einzelne zugleich weiß, seine Realität im Wissen der Gattung.

Wie mit der göttlichen Allwissenheit, ist es aber auch mit der göttlichen Allgegenwart, die sich gleichfalls im Menschen realisiert hat. Während der eine Mensch bemerkt, was auf dem Monde oder Uranus vorgeht, ist ein andrer auf der Venus oder in den Eingeweiden der Raupe oder sonst an einem Orte, wohin weiland unter der Herrschaft des allwissenden und allgegenwärtigen Gottes kein menschliches Auge gedrungen ist. Ja, während der Mensch diesen Stern vom Standpunkte Europas aus beobachtet, beobachtet er zugleich denselben Stern vom Standpunkte Amerikas aus. Was einem Menschen allein absolut unmöglich, ist zweien möglich. Aber Gott ist ja an allen, allen Orten zugleich, und weiß alles, alles ohne Unterschied zugleich. Freilich; aber nur ist zu bemerken, daß diese Allwissenheit und Allgegenwart bloß in der Vorstellung, Einbildung existieren, und also nicht zu übersehen der schon mehrmals erwähnte wichtige Unterschied zwischen dem nur eingebildeten und dem wirklichen Ding. In der Einbildung kann man allerdings die 4 059 Muskeln einer Raupe mit einem Blicke überschauen, in der Wirklichkeit aber, wo sie außereinander existieren, nur nacheinander. So kann auch das beschränkte Individuum in seiner Einbildung sich den Umfang des menschlichen Wissens als beschränkt vorstellen, während es doch, wenn es wirklich sich dieses Wissen aneignen wollte, nun und nimmermehr an ein Ende desselben kommen würde. Man stelle sich als Beispiel nur eine Wissenschaft, die Historie z. B., vor, und löse im Gedanken die Weltgeschichte auf in die Geschichte der einzelnen Länder, diese in die Geschichte der einzelnen Provinzen, diese wieder in die Stadtchroniken, die Stadtchroniken in Familiengeschichten, in Biographien. Wie käme je ein einzelner Mensch an den Punkt, wo er ausrufen könnte: Hier bin ich am Ende des historischen Wissens der Menschheit! So erscheint uns auch in der Einbildung unsre Lebenszeit, sowohl die vergangene als die mögliche zukünftige, sollten wir auch diese noch sosehr verlängern, außerordentlich kurz, und wir fühlen uns daher in den Momenten solcher Einbildung gedrungen, diese vor unserer Vorstellung verschwindende Kürze durch ein unübersehbares, endloses Leben nach dem Tode zu ergänzen; aber wie lange dauert in der Wirklichkeit auch nur ein Tag, auch nur eine Stunde! Woher dieser Unterschied? Daher: die Zeit in der Vorstellung ist die leere Zeit, also nichts zwischen dem Anfangs- und Endpunkt unsrer Rechnung; aber die wirkliche Lebenszeit ist die erfüllte Zeit, wo Berge von Schwierigkeiten aller Art zwischen dem Jetzt und dem Dann in der Mitte liegen.

§ 13 Die absolute Voraussetzungslosigkeit — der Anfang der spekulativen Philosophie ist nichts andres als die Voraussetzungs- und Anfangslosigkeit, die Aseität [die absolute Unabhängigkeit, das reine Aus-sich-selbst-Bestehen] des göttlichen Wesens. Die Theologie unterscheidet zwischen tätigen und ruhenden Eigenschaften Gottes. Die Philosophie aber verwandelt auch die ruhenden Eigenschaften in tätige — das ganze Wesen Gottes in Tätigkeit, aber menschliche Tätigkeit. Dies gilt auch von dem Prädikat dieses Paragraphen. Die Philosophie setzt nichts voraus — dies heißt nichts weiter als: sie abstrahiert von allen unmittelbar, d. i. sinnlich gegebnen, vom Denken unterschiednen Objekten, kurz von allem, wovon man abstrahieren kann, ohne aufzuhören zu denken, und macht diesen Akt der Abstraktion von aller Gegenständlichkeit zum Anfang von sich. Was ist aber das absolute Wesen anders als das Wesen, dem nichts vorausgesetzt, dem kein Ding außer ihm gegeben und notwendig ist, das von allen Objekten, allen von ihm unterschiedenen und unterscheidbaren sinnlichen Dingen abgezogne Wesen, welches daher dem Menschen auch nur durch die Abstraktion von ebendiesen Dingen Gegenstand wird? Wovon Gott frei ist, davon muß du dich selbst frei machen, wenn du zu Gott kommen willst, und machst dich also wirklich frei, wenn du ihn dir vorstellst. Denkst du dir folglich Gott als ein Wesen ohne Voraussetzung irgendeines andern Wesens oder Objekts, so denkst du selbst ohne Voraussetzung eines äußerlichen Objektes; die Eigenschaft, die du in Gott verlegst, ist eine Eigenschaft deines Denkens. Nur ist im Menschen Tun, was in Gott Sein ist oder als solches vorgestellt wird. Was ist also das Ich Fichtes, welches sagt: ,,Ich bin schlechthin, weil ich bin“, was das reine, voraussetzungslose Denken Hegels anderes als das in das gegenwärtige, aktive, denkende Wesen des Menschen verwandelte göttliche Wesen der alten Theologie und Metaphysik?

§ 14 Die spekulative Philosophie ist, als die Verwirklichung Gottes, zugleich die Position, zugleich die Aufhebung oder Negation Gottes, zugleich Theismus, zugleich Atheismus, denn Gott ist nur solange Gott — Gott im Sinne der Theologie —, als er ein vom Wesen des Menschen und der Natur unterschiednes, selbständiges Wesen vorgestellt wird. Der Theismus, welcher als die Position Gottes zugleich die Negation Gottes ist, oder, umgekehrt, als die Verneinung Gottes zugleich noch die Bejahung desselben, ist der Pantheismus. Der eigentliche oder theologische Theismus aber ist nichts andres als der imaginäre Pantheismus, dieser nichts andres als der reelle wahre Theismus.

Was den Theismus vom Pantheismus scheidet, ist einzig die Einbildung, die Vorstellung Gottes als eines persönlichen Wesens. Alle Bestimmungen Gottes — und Gott wird notwendig bestimmt, sonst ist er nichts, gar nicht Objekt einer Vorstellung — sind Bestimmungen der Wirklichkeit, entweder der Natur oder des Menschen, oder beiden gemeine, also pantheistische Bestimmungen; denn was Gott nicht unterscheidet vom Wesen der Natur oder des Menschen, ist Pantheismus. Gott ist also nur seiner Persönlichkeit oder Existenz nach, aber nicht seinen Bestimmungen oder Wesen nach von der Welt — dem Inbegriff der Natur und Menschheit — unterschieden, d. h., er wird nur vorgestellt als ein anderes Wesen, er ist aber in Wahrheit kein andres Wesen. Der Theismus ist der Widerspruch zwischen Schein und Wesen, Vorstellung und Wahrheit, der Pantheismus die Einheit beider — der Pantheismus die nackte Wahrheit des Theismus. Alle Vorstellungen des Theismus, wenn sie ins Auge gefaßt, ernstlich genommen, wenn sie durchgeführt, realisiert werden, führen notwendig zum Pantheismus. Der Pantheismus ist der konsequente Theismus. Der Theismus denkt sich z. B. Gott als Ursache, und zwar als eine lebendige, persönliche Ursache, als den Schöpfer der Welt: Gott hat die Welt durch seinen Willen hervorgebracht. Aber der Wille reicht nicht aus. Wo einmal Wille ist, da muß auch Verstand sein: was man will, das ist nur eine Sache des Verstandes. Ohne Verstand kein Gegenstand. Die Dinge, die Gott hervorbrachte, waren daher vor ihrer Hervorbringung in Gott, als Objekt seines Verstandes, als Verstandeswesen. Der Verstand Gottes ist der Inbegriff aller Dinge und Wesenheiten. Woher wären sie auch sonst entsprungen als aus dem Nichts? Und es ist gleichgültig, ob du dir dieses Nichts in deiner Einbildung selbständig vorstellst oder es in Gott verlegst. Aber Gott enthält oder ist alles nur auf ideale Weise, in der Weise der Vorstellung. Dieser ideale Pantheismus führt nun aber notwendig zum realen oder wirklichen; denn vom Verstande Gottes ist nicht weit bis zum Wesen und vom Wesen nicht weit bis zur Wirklichkeit Gottes. Wie sollte sich der Verstand vom Wesen, das Wesen von der Wirklichkeit oder Existenz Gottes trennen lassen? Sind die Dinge im Verstande Gottes, wie sollen sie außer seinem Wesen sein? Sind sie Folgen seines Verstandes, warum nicht Folgen seines Wesens? Und wenn in Gott sein Wesen unmittelbar mit seiner Wirklichkeit identisch ist, vom Begriffe Gottes die Existenz desselben sich nicht absondern läßt, wie sollte sich im Begriff Gottes von den Dingen der Begriff des Dinges und das wirkliche Ding trennen lassen, wie also in Gott der Unterschied stattfinden, welcher nur die Natur des endlichen, ungöttlichen Verstandes konstituiert, der Unterschied zwischen dem Ding in der Vorstellung und dem Ding außer der Vorstellung? Haben wir aber einmal keine Dinge mehr außer dem Verstande Gottes, so haben wir bald auch keine mehr außer dem Wesen und endlich auch keine mehr außer der Existenz Gottes — alle Dinge sind in Gott, und zwar in der Tat und Wahrheit, nicht in der Vorstellung nur; denn wo sie nur in der Vorstellung — sowohl Gottes als des Menschen —, also nur ideal oder vielmehr imaginär in Gott sind, da existieren sie zugleich außer der Vorstellung, außer Gott. Haben wir aber einmal keine Dinge, keine Welt mehr außer Gott, so haben wir auch keinen Gott mehr außer der Welt — kein nur ideales, vorgestelltes, sondern ein reales Wesen; so haben wir mit einem Worte den Spinozismus oder Pantheismus. Was aber von dem Verstande Gottes, das gilt noch weit mehr von andern Bestimmungen, wie z. B. von der Allgegenwart, von der Unendlichkeit — Bestimmungen, die erst im Pantheismus realisiert werden. Selbst die Bestimmung Gottes als der Ursache der Welt oder Materie ist im Theismus eine Vorstellung ohne Realität, eine bloße Phantasie. Der Theismus stellt sich Gott als ein pur immaterielles Wesen vor. Gott aber als immateriell bestimmen heißt nichts andres, als die Materie als ein nichtiges Ding, als ein Unwesen bestimmen; denn Gott nur ist das Maß des Wirklichen, Gott nur Sein, Wahrheit, Wesen; nur was von und in Gott gilt, das ist; was von Gott verneint wird, ist nicht. Die Materie aus Gott ableiten heißt daher nichts andres, als durch ihr Nichtsein ihr Sein begründen wollen; denn Ableitung ist Angabe eines Grundes, Begründung. Gott hat die Materie gemacht. Aber wie, warum woraus? Darauf gibt der Theismus keine Antwort. Die Materie ist für ihn ein rein unerklärliches Dasein, d. h., sie ist die Grenze, das Ende der Theologie, an ihr scheitert sie, wie im Leben, so im Denken. Wie kann ich also aus der Theologie, ohne sie zu negieren, das Ende, die Negation der Theologie ableiten? Wie da, wo ihr der Verstand ausgeht, einen Erklärungsgrund, eine Auskunft suchen? Wie aus der Verneinung der Materie oder Welt, welche das Wesen der Theologie ist, aus dem Satze: die Materie ist nicht, die Bejahung der Materie, den Satz: sie ist, und zwar dem Gotte der Theologie zum Trotz, herausbringen? Wie anders als durch bloße Fiktionen? Die materiellen Dinge können nur aus Gott abgeleitet werden, wenn Gott selbst als ein materialistisches Wesen bestimmt wird. So nur wird Gott aus einer nur vorgestellten, eingebildeten Ursache zur wirklichen Ursache der Welt. Wer sich nicht schämt, Schuhe zu machen, der schäme sich auch nicht, ein Schuster zu sein und zu heißen. Hans Sachs war wohl Schuster und Dichter zugleich. Aber seine Schuhe waren die Werke seiner Hände, seine Gedichte die Werke seines Kopfes. Wie die Wirkung, so die Ursache. Aber die Materie ist nicht Gott, sie ist vielmehr das Endliche, das Ungöttliche, das Gott Verneinende — die unbedingten Verehrer und Anhänger der Materie sind Atheisten. Der Pantheismus verbindet daher mit dem Theismus den Atheismus — mit Gott die Negation Gottes: Gott ist ein materielles, in Spinozas Sprache ein ausgedehntes Wesen.

§ 15 Der Pantheismus ist der theologische Atheismus, der theologische Materialismus, die Negation der Theologie, aber selbst auf dem Standpunkte der Theologie; denn er macht die Materie, die Negation Gottes, zum einem Prädikat oder Attribut des göttlichen Wesens. Wer aber die Materie zu einem Attribut Gottes macht, der erklärt die Materie für ein göttliches Wesen. Die Verwirklichung Gottes hat überhaupt zur Voraussetzung die Göttlichkeit, d. i. Wahrheit und Wesenhaftigkeit des Wirklichen. Die Vergötterung des Wirklichen, des materiell Existierenden — der Materialismus, Empirismus, Realismus, Humanismus —, die Negation der Theologie ist aber das Wesen der neuern Zeit. Der Pantheismus ist daher nichts andres als das zum göttlichen Wesen, zu einem religionsphilosophischen Prinzip erhobene Wesen der neuern Zeit.

Der Empirismus oder Realismus, worunter hier überhaupt die sogenannten realen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften verstanden werden, negiert die Theologie aber nicht theoretisch, sondern praktisch — durch die Tat, indem der Realist das, was die Negation Gottes oder wenigstens nicht Gott ist, zur wesentlichen Angelegenheit seines Lebens, zum wesentlichen Gegenstand seiner Tätigkeit macht. Wer aber Geist und Herz nur auf das Materielle, das Sinnliche konzentriert, der spricht dem Übersinnlichen tatsächlich seine Realität ab; denn nur das ist, für den Menschen wenigstens, wirklich, was ein Objekt reeller, wirklicher Tätigkeit ist. ,,Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Die Rede, man könne vom Übersinnlichen nichts wissen, ist nur eine Ausrede. Man weiß nur dann nichts mehr von Gott und göttlichen Dingen, wenn man von ihnen nichts mehr wissen mag. Wie vieles wußte man von Gott, wie vieles von den Teufeln, wie vieles von den Engeln, solange noch diese Wesen Gegenstand eines wirklichen Glaubens waren! Wofür man sich interessiert, dazu hat man auch Fähigkeit. Die Mystiker und Scholastiker des Mittelalters hatten nur darum keine Fähigkeit und Geschicklichkeit zur Naturwissenschaft, weil sie kein Interesse für die Natur hatten. Wo der Sinn nicht fehlt, da fehlen auch nicht die Sinne, die Organe. Wofür das Herz offen, das ist auch dem Verstand kein Geheimnis. So verlor denn auch die Menschheit in neuerer Zeit nur deswegen die Organe für die übersinnliche Welt und ihre Geheimnisse, weil sie mit dem Glauben an sie auch den Sinn für sie verlor, weil ihre wesentliche Tendenz eine antichristliche, antitheologische, d. h. eine anthropologische, realistische, materialistische Tendenz war. Spinoza traf daher mit seinem paradoxen Satz: Gott ist ein ausgedehntes, d. i. materielles Wesen, den Nagel auf den Kopf. Er fand den, für seine Zeit wenigstens, wahren philosophischen Ausdruck für die materialistische Tendenz der neuern Zeit; er legimitierte, sanktionierte sie: Gott selbst ist Materialist. Spinozas Philosophie war Religion; er selbst ein Charakter. Nicht stand bei ihm, wie bei unzähligen andern, der Materialismus im Widerspruch mit der Vorstellung eines immateriellen, antimaterialistischen Gottes, der konsequent auch nur antimaterialistische, himmlische Tendenzen und Beschäftigungen dem Menschen zur Pflicht macht; denn Gott ist nichts andres als das Ur- und Vorbild des Menschen: wie und was Gott ist, so und das soll, so und das will der Mensch sein oder hofft er wenigstens, einst zu werden. Aber nur, wo die Theorie nicht die Praxis, die Praxis nicht die Theorie verleugnet, ist Charakter, Wahrheit und Religion. Spinoza ist der Moses der modernen Freigeister und Materialisten.

§ 16 Der Pantheismus ist die Negation der theoretischen, der Empirismus die Negation der praktischen Theologie — der Pantheismus negiert das Prinzip, der Empirismus die Konsequenzen der Theologie.

Der Pantheismus macht Gott zu einem gegenwärtigen, wirklichen, materiellen Wesen; der Empirismus, wozu auch der Rationalismus gehört, zu einem abwesenden, fernen, unwirklichen, negativen Wesen. Der Empirismus spricht Gott nicht die Existenz ab, aber alle positiven Bestimmungen, weil ihr Inhalt nur ein endlicher empirischer, das Unendliche daher kein Gegenstand für den Menschen sei. Je mehr Bestimmungen ich aber einem Wesen abspreche, desto mehr setze ich es außer Zusammenhang mit mir, desto weniger räume ich ihm Macht und Einfluß auf mich ein, desto freier mache ich mich von ihm. Je mehr Qualitäten ich habe, desto mehr bin ich auch für andere, desto größer ist auch der Umfang meiner Wirkungen, meines Einflusses. Und je mehr einer ist, desto mehr weiß man auch von ihm. Jede Negation einer Eigenschaft Gottes ist daher ein partialer Atheismus, eine Sphäre der Gottlosigkeit. Soweit ich die Eigenschaft wegnehme, soweit nehme ich Gott das Sein weg. Ist z. B. Teilnahme, Barmherzigkeit keine Eigenschaft Gottes, so bin ich in meinen Leiden allein für mich — Gott ist nicht da als mein Tröster. Ist Gott die Negation alles Endlichen, so ist konsequent auch das Endliche die Negation Gottes. Nur wenn Gott an mich denkt — so schließt der Religiöse —, habe ich auch Grund und Ursache, an ihn zu denken; nur in seinem Für-mich-Sein liegt der Grund meines Für-ihn-Seins. Dem Empirismus ist daher in Wahrheit das theologische Wesen nichts mehr, d. h. nichts Wirkliches, aber er verlegt dieses Nichtsein nicht in den Gegenstand, sondern nur in sich, in sein Wissen. Er spricht Gott nicht das Sein ab, d. h. das tote, gleichgültige Sein, aber er spricht ihm das Sein ab, das sich als Sein beweist, das wirksame, fühlbare, ins Leben eingreifende Sein. Er bejaht Gott, aber negiert alle Konsequenzen, die mit dieser Bejahung notwendig verbunden sind. Er verwirft die Theologie, gibt sie auf, aber nicht aus theoretischen Gründen, sondern aus Widerwillen, aus Abneigung gegen die Gegenstände der Theologie, d. h. aus einem dunkeln Gefühl von ihrer Unrealität. Die Theologie ist nichts, denkt der Empiriker bei sich, aber er setzt noch hinzu: für mich, d. h. sein Urteil ist ein subjektives, pathologisches; denn er hat nicht die Freiheit, aber auch nicht die Lust und den Beruf, die Gegenstände der Theologie vor das Forum der Vernunft zu ziehen. Dies ist der Beruf der Philosophie. Die Aufgabe der neueren Philosophie war daher keine andere, als das pathologische Urteil des Empirismus, daß es mit der Theologie nichts sei, zu einem theoretischen, objektiven Urteil zu erheben — die indirekte, unbewußte, negative Negation der Theologie in eine direkte, positive, bewußte Negation zu verwandeln. Wie lächerlich ist es darum, den ,,Atheismus“ der Philosophie unterdrücken zu wollen, ohne zugleich den Atheismus der Empirie zu unterdrücken! Wie lächerlich, die theoretische Negation des Christentums zu verfolgen, und doch zugleich die tatsächlichen Negationen des Christentums, von denen die neuere Zeit wimmelt, bestehen zu lassen! Wie lächerlich, mit dem Bewußtsein, d. h. dem Symptom des Übels, auch zugleich die Ursache des Übels aufheben zu wollen! Ja, wie lächerlich! Und doch, wie reich an solchen Lächerlichkeiten ist die Geschichte! Sie wiederholen sich in allen kritischen Zeiten. Kein Wunder; in der Vergangenheit läßt man sich alles gefallen, anerkennt man die Notwendigkeit der vorgefallenen Veränderungen; aber gegen die Anwendung auf den gegenwärtigen Fall sträubt man sich immer mit Händen und Füßen; die Gegenwart macht man aus Kurzsichtigkeit oder Bequemlichkeit zu einer Ausnahme von der Regel.

§ 17 Die Erhebung der Materie zu einer göttlichen Wesenheit ist unmittelbar zugleich die Erhebung der Vernunft zu einer göttlichen Wesenheit. Was der Theist aus Gemütsbedürfnis, aus Verlangen nach unbegrenzter Glückseligkeit vermittelst der Einbildungskraft von Gott verneint, das bejaht der Pantheist von Gott aus Vernunftbedürfnis. Die Materie ist der wesentliche Gegenstand der Vernunft. Wäre keine Materie, so hätte die Vernunft keinen Reiz und Stoff zum Denken, keinen Inhalt. Die Materie kann man nicht aufgeben, ohne die Vernunft aufzugeben, nicht anerkennen, ohne die Vernunft anzuerkennen. Materialisten sind Rationalisten. Aber der Pantheismus bejaht die Vernunft als eine göttliche Wesenheit nur indirekt — nur so, daß er Gott aus einem Wesen der Einbildungskraft, welches er im Theismus ist, zu einem Vernunftgegenstande, einem Vernunftwesen macht; die direkte Apotheose [Vergöttlichung] der Vernunft ist der Idealismus. Der Pantheismus führt notwendig zum Idealismus. Der Idealismus verhält sich zum Pantheismus gerade wie dieser zum Theismus.

Wie das Objekt, so das Subjekt. Nicht die Sinne, sondern nur der Verstand nimmt nach Cartesius das Wesen der körperlichen Dinge, den Körper als Substanz wahr; aber ebendeswegen ist auch nicht der Sinn, sondern der Verstand nach Cartesius das Wesen des wahrnehmenden Subjekts, des Menschen. Nur dem Wesen ist Wesen als Objekt gegeben. Die Meinung hat nach Plato nur die unbeständigen Dinge zum Objekt, aber darum ist sie selbst das unbeständige, veränderliche Wissen — eben nur Meinung. Das Wesen der Musik ist dem Musiker das höchste Wesen — darum das Gehör das höchste Organ; er verliert lieber die Augen als die Ohren; der Naturforscher dagegen lieber die Ohren als die Augen, weil sein objektives Wesen das Licht. Vergöttere ich den Ton, so vergöttere ich das Ohr. Sage ich also wie der Pantheist: Die Gottheit oder, was eins ist, das absolute Wesen, die absolute Wahrheit und Realität ist nur für die Vernunft, nur der Vernunft Gegenstand, so erkläre ich Gott selbst für ein Vernunftding oder Vernunftwesen und spreche dadurch nur indirekt die absolute Wahrheit und Realität der Vernunft aus. Und es ist daher notwendig, daß die Vernunft auf sich selbst zurückgeht, diese verkehrte Selbstanerkennung umkehrt, sich direkt als die absolute Wahrheit ausspricht, sich selbst unmittelbar, ohne das Zwischenglied eines Objekts, als die absolute Wahrheit Gegenstand wird. Der Pantheist sagt dasselbe, was der Idealist, nur spricht jener objektiv oder realistisch aus, was dieser subjektiv oder idealistisch. Jener hat seinen Idealismus im Gegenstande — außer der Substanz, außer Gott ist nichts, alle Dinge sind nur Bestimmungen Gottes —, dieser hat seinen Pantheismus im Ich — außer dem Ich ist nichts, alle Dinge sind nur als Objekte des Ich. Aber gleichwohl ist der Idealismus die Wahrheit des Pantheismus; denn Gott oder die Substanz ist nur das Objekt und als Objekt der Vernunft, des Ich, des denkenden Wesens; glaube, denke ich keinen Gott, so habe ich keinen Gott, er ist für mich nur durch mich, für die Vernunft nur durch die Vernunft; das Apriori, das erste Wesen ist also nicht das gedachte, sondern das denkende Wesen, nicht das Objekt, sondern das Subjekt. So notwendig die Naturwissenschaft vom Lichte auf das Auge, so notwendig ging die Philosophie von den Gegenständen des Denkens auf das ,,Ich denke“ zurück. Was ist das Licht als erleuchtendes, hell machendes Wesen, als Objekt der Optik, ohne das Auge? Nichts. Und so weit geht die Naturwissenschaft. Aber, was ist — so fragt nun weiter die Philosophie - das Auge ohne Bewußtsein? Gleichfalls nichts — ob ich sehe ohne Bewußtsein oder nicht sehe, ist identisch. Erst das Bewußtsein des Sehens ist die Wirklichkeit des Sehens oder wirkliches Sehen. Aber warum glaubst du, daß etwas ist außer dir? Weil du etwas siehst, hörst, fühlst. Also ist dieses Etwas erst als Objekt des Bewußtseins ein wirkliches Etwas, ein wirkliches Objekt — also das Bewußtsein die absolute Realität oder Wirklichkeit, das Maß aller Existenz. Alles, was ist, ist nur als seiend für das Bewußtsein, als Bewußtes; denn Bewußtsein ist erst Sein. So verwirklicht sich im Idealismus das Wesen Gottes, das Wesen der Theologie im Ich, im Bewußtsein. Ohne Gott kann nichts sein, nichts gedacht werden; das heißt im Sinne des Idealismus:
alles ist nur als, sei es nun wirklicher oder möglicher, Gegenstand des Bewußtseins; Sein heißt Gegenstand sein, setzt also Bewußtsein voraus. Die Dinge, die Welt überhaupt ist ein Werk, ein Produkt des absoluten Wesens, Gottes; aber dieses absolute Wesen ist ein Ich, ein bewußtes, denkendes Wesen — also ist die Welt, wie Cartesius vortrefflich vom Standpunkte des Theismus aus sagt, ein ens rationis divinae, ein Hirngespinst, ein Gedankending Gottes. Aber dieses Gedankending ist im Theismus, in der Theologie selbst wieder nur eine vage Vorstellung. Realisieren wir daher diese Vorstellung, führen wir, sozusagen, praktisch aus, was im Theismus nur Theorie ist, so haben wir die Welt als Produkt des Ich (Fichte) oder — wenigstens so, wie sie uns erscheint, wie wir sie anschauen — als ein Werk oder Produkt unserer Anschauung, unsers Verstandes (Kant). ,,Die Natur wird von den Gesetzen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt abgeleitet.“ ,,Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“ Der Kantsche Idealismus, wo sich die Dinge nach dem Verstande, nicht der Verstand nach den Dingen richtet, ist also nichts anderes als die Verwirklichung der theologischen Vorstellung vom göttlichen Verstande, der nicht von den Dingen bestimmt wird, sondern umgekehrt diese bestimmt. Wie töricht ist es darum, den Idealismus im Himmel, d. h. den Idealismus der Einbildung, als eine göttliche Wahrheit anzuerkennen, aber den Idealismus auf Erden, d. h. den Idealismus der Vernunft, als einen menschlichen Irrtum zu verwerfen! Leugnet ihr den Idealismus, nun, so leugnet auch Gott! Gott nur ist der Urheber des Idealismus. Wollt ihr die Konsequenzen nicht, so wollt auch das Prinzip nicht! Der Idealismus ist nichts als der rationelle oder rationalisierte Theismus. Aber, der Kantsche Idealismus ist noch ein beschränkter Idealismus — der Idealismus auf dem Standpunkte des Empirismus. Dem Empirismus ist Gott, der schon oben gegebenen Entwicklung zufolge, nur noch ein Wesen in der Vorstellung, in der Theorie — Theorie im gewöhnlichen, schlechten Sinne —, aber nicht in der Tat und Wahrheit, ein Ding an sich, aber nicht mehr ein Ding für ihn; denn die Dinge für ihn sind allein die empirischen, wirklichen Dinge. Die Materie ist die einzige Materie seines Denkens — er hat daher keine Materialien mehr für Gott:

Gott ist, aber er ist für uns eine tabula rasa, ein leeres Wesen, ein bloßer Gedanke. Gott — Gott, wie wir ihn vorstellen, denken — ist unser Ich, unser Verstand, unser Wesen, aber dieser Gott ist nur eine Erscheinung von uns für uns, nicht Gott an sich. Kant ist der noch im Theismus befangene Idealismus. Wir sind oft längst von einer Sache, einer Lehre, einer Idee der Tat nach frei, aber gleichwohl sind wir es noch nicht im Kopfe; sie ist keine Wahrheit mehr in unserm Wesen — sie war es vielleicht nie —, aber sie ist noch eine theoretische Wahrheit, d. h. eine Schranke unsers Kopfes. Der Kopf, weil er die Dinge am gründlichsten nimmt, wird auch am spätesten frei. Die theoretische Freiheit ist, wenigstens in vielen Dingen, die letzte Freiheit. Wie viele sind Republikaner von Herzen, von Gesinnung, aber im Kopfe können sie nicht über die Monarchie hinaus; ihr republikanisches Herz scheitert an den Einwürfen und Schwierigkeiten, welche der Verstand macht. So ist es denn auch mit dem Theismus Kants. Kant hat die Theologie in der Moral, das göttliche Wesen im Willen realisiert und negiert. Der Wille ist Kant das wahre, ursprüngliche, unbedingte, von sich selbst anfangende Wesen. Kant vindiziert also in der Tat die Prädikate der Gottheit dem Willen; sein Theismus hat daher nur noch die Bedeutung einer Schranke seines Kopfes. Der von der Schranke des Theismus freie Kant ist Fichte — der ,,Messias der spekulativen Vernunft“. Fichte ist der Kantsche Idealismus, aber auf dem Standpunkte des Idealismus. Nur auf dem empirischen Standpunkte gibt es nach Fichte einen von uns unterschiedenen, außer uns seienden Gott, aber in Wahrheit, auf dem Standpunkte des Idealismus ist das Ding an sich, ist Gott — denn Gott ist das eigentliche Ding an sich — nur das Ich an sich, d. h. das vom Individuum, vom empirischen Ich unterschiedene Ich. Außer dem Ich gibt es keinen Gott: ,,Unsere Religion ist die Vernunft.“ Aber der Fichtesche Idealismus ist nur die Negation und Realisation des abstrakten und formalen Theismus, des Monotheismus, nicht des religiösen, materiellen, inhaltserfüllten Theismus, des Tritheismus, dessen Realisation erst der ,,absolute“, der Hegelsche Idealismus ist. Oder: Fichte hat nur den Gott des Pantheismus, inwiefern er ein denkendes Wesen, aber nicht, wiefern er ein ausgedehntes, materielles Wesen ist, realisiert. Fichte ist der theistische Idealismus, Hegel der pantheistische Idealismus.

§ 18 Die neuere Philosophie hat das von der Sinnlichkeit, der Welt, dem Menschen abgesonderte und unterschiedene göttliche Wesen verwirklicht und aufgehoben — aber nur im Denken, in der Vernunft, und zwar einer gleichfalls von der Sinnlichkeit, der Welt, dem Menschen abgesonderten und unterschiedenen Vernunft. Das heißt, die neuere Philosophie hat nur die Gottheit des Verstandes bewiesen — nur den, und zwar abstrakten Verstand als das göttliche, das absolute Wesen erkannt. Die Definition des Cartesius von sich, als Geist: Mein Wesen besteht einzig darin, daß ich denke — ist die Definition der neuern Philosophie von sich. Der Wille des Kantschen und Fichteschen Idealismus ist selbst ein pures Verstandeswesen, und die Anschauung, die Schelling, im Gegensatz zu Fichte, mit dem Verstande verband, nur Phantasie, keine Wahrheit, kommt also nicht in Betracht.

Die neuere Philosophie ist von der Theologie ausgegangen — sie ist selbst nichts anderes als die in Philosophie aufgelöste und verwandelte Theologie. Das abstrakte und transzendente Wesen Gottes konnte daher selbst nur auf eine abstrakte und transzendente Weise verwirklicht und aufgehoben werden. Um Gott in die Vernunft zu verwandeln, mußte die Vernunft selbst die Beschaffenheit des abstrakten göttlichen Wesens annehmen. Die Sinne, sagt Cartesius, geben keine wahre Realität, kein Wesen, keine Gewißheit — nur der von den Sinnen abgezogene Verstand gibt Wahrheit. Woher dieser Zwiespalt zwischen dem Verstande und den Sinnen? Nur aus der Theologie kommt er. Gott ist kein sinnliches Wesen, er ist vielmehr die Negation aller Bestimmungen der Sinnlichkeit, wird nur erkannt durch die Abstraktion von derselben; aber er ist Gott, d. h. das allerwahrste, allerrealste, allergewisseste Wesen. Woher soll also Wahrheit in die Sinne kommen — in die Sinne, die geborene Atheisten sind? Gott ist das Wesen, bei dem sich die Existenz nicht vom Wesen, vom Begriffe absondern läßt, das gar nicht anders denn als seiend gedacht werden kann. Cartesius verwandelt dieses objektive Wesen in ein subjektives, den ontologischen Beweis in einen psychologischen, das cogitatur deus ergo est [Gott wird erkannt, also ist (existiert) er] in cogito ergo sum [Ich erkenne, also bin ich]. Wie sich in Gott nicht das Sein vom Gedachtwerden, so läßt sich in mir — als Geist, der aber mein Wesen — nicht vom Denken das Sein absondern, und wie dort, so konstituiert auch hier diese Unzertrennlichkeit das Wesen. Ein Wesen, das nur ist — gleichviel, ob an sich oder für mich — als Gedachtes, als Gegenstand der Abstraktion von aller Sinnlichkeit, realisiert und versubjektiviert sich notwendig auch nur in einem Wesen, das nur ist als denkendes, dessen Wesenheit nur das abstrakte Denken.

§ 19 Die Vollendung der neueren Philosophie ist die Hegelsche Philosophie. Die historische Notwendigkeit und Rechtfertigung der neuen Philosophie knüpft sich daher hauptsächlich an die Kritik Hegels.

§ 20 Die neue Philosophie hat, ihrem historischen Ausgangspunkte nach, dieselbe Aufgabe und Stellung der bisherigen Philosophie gegenüber, welche diese der Theologie gegenüber hatte. Die neue Philosophie ist die Realisation der Hegelschen, überhaupt bisherigen Philosophie — aber eine Realisation, die zugleich die Negation, und zwar widerspruchslose Negation, derselben ist.

§ 21 Der Widerspruch der neueren Philosophie, insbesondere des Pantheismus, daß er die Negation der Theologie auf dem Standpunkte der Theologie oder die Negation der Theologie ist, welche selbst wieder Theologie, dieser Widerspruch charakterisiert insbesondere die Hegelsche Philosophie.

Das immaterielle Wesen, das Wesen, wie es pures Verstandesobjekt, reines Verstandeswesen, ist der neueren Philosophie, so auch der Hegelschen, allein das wahre, das absolute Wesen — Gott. Selbst die Materie, die Spinoza zum Attribut der göttlichen Substanz macht, ist ein metaphysisches Ding, ein pures Verstandeswesen; denn die wesentliche Bestimmung der Materie im Unterschied von dem Verstande, der Denktätigkeit, die Bestimmung, ein leidendes Wesen zu sein, ist ihr genommen. Aber Hegel unterscheidet sich von der früheren Philosophie dadurch, daß er das Verhältnis des materiellen, sinnlichen Wesens zum immateriellen anders bestimmt. Die früheren Philosophen und Theologen dachten das wahre, das göttliche Wesen als ein von Natur, per se von der Sinnlichkeit oder Materie abgelöstes, befreites Wesen; nur in sich selbst verlegten sie die Mühe und Arbeit der Abstraktion, des Sich-Freimachens vom Sinnlichen, um zu dem zu kommen, was an sich selber davon frei ist. In dieses Freisein setzen sie die Seligkeit des göttlichen, in dieses Sich-Freimachen die Tugend des menschlichen Wesens. Hegel dagegen machte diese subjektive Tätigkeit zur Selbsttätigkeit des göttlichen Wesens. Gott selbst muß sich dieser Arbeit unterziehen, sich, wie die Heroen des Heidentums, durch Tugend seine Gottheit erkämpfen. So nur wird die Freiheit des Absoluten von der Materie, die außerdem nur Voraussetzung, nur Vorstellung ist, Tat und Wahrheit. Aber diese Selbstbefreiung von der Materie kann nur in Gott gesetzt werden, wenn zugleich die Materie in ihn gesetzt wird. Wie kann sie aber in ihn gesetzt werden? Nur dadurch, daß er sie selbst setzt. Aber in Gott ist nur Gott. Also nur dadurch, daß er sich selbst als Materie, als Nicht-Gott, als sein anderes setzt. Die Materie ist so kein dem Ich, dem Geiste auf eine unbegreifliche Weise vorausgesetzter Gegensatz: sie ist die Selbstentäußerung des Geistes. Damit bekommt die Materie selbst Geist und Verstand, sie ist aufgenommen in das absolute Wesen als ein Lebens-, Bildungs- und Entwicklungsmoment desselben; zugleich ist sie aber doch wieder als ein nichtiges, unwahres Wesen gesetzt, indem erst das aus dieser Entäußerung sich herstellende, d. h. die Materie, die Sinnlichkeit von sich abstreifende Wesen als das Wesen in seiner Vollendung, in seiner wahren Gestalt und Form ausgesprochen wird. Das Natürliche, Materielle, Sinnliche — und zwar das Sinnliche nicht im gemeinen, moralischen, sondern metaphysischen Sinne — ist also auch hier das zu Negierende, wie in der Theologie die durch die Erbsünde vergiftete Natur. Es wird zwar aufgenommen in die Vernunft, das Ich, den Geist, aber es ist das Unvernünftige in der Vernunft, das Nicht–Ich im Ich, das Negative desselben, wie bei Schelling die Natur in Gott das Nicht-Göttliche in Gott, in ihm außer ihm ist, wie in der Cartesischen Philosophie der Leib, wenngleich mit mir, mit dem Geiste verbunden dennoch außer mir ist, nicht zu mir, zu meinem Wesen gehört und es daher gleichgültig ist, ob er mit mir verbunden ist oder nicht ist. Die Materie bleibt im Widerspruch mit dem von der Philosophie als wahres Wesen vorausgesetzten Wesen.

Die Materie wird zwar in Gott gesetzt, d. h. als Gott gesetzt, und die Materie als Gott setzen ist soviel als sagen:
es ist kein Gott, also soviel als: die Theologie aufheben, die Wahrheit des Materialismus anerkennen. Aber zugleich ist doch die Wahrheit des Wesens der Theologie noch vorausgesetzt. Der Atheismus, die Negation der Theologie, wird daher wieder negiert, d. h., die Theologie durch die Philosophie wiederhergestellt. Gott ist Gott erst dadurch, daß er die Materie, die Negation Gottes, überwindet, negiert. Und erst die Negation der Negation ist nach Hegel wahre Position. Am Ende sind wir daher wieder, wovon wir anfänglich ausgegangen — im Schoße der christlichen Theologie. So haben wir schon im obersten Prinzip der Hegelschen Philosophie das Prinzip und Resultat seiner Religionsphilosophie, daß die Philosophie die Dogmen der Theologie nicht aufhebe, sondern nur aus der Negation des Rationalismus wiederherstelle, sie nur vermittele. Das Geheimnis der Hegelschen Dialektik ist zuletzt nur dieses, daß er die Theologie durch die Philosophie und dann wieder die Philosophie durch die Theologie negiert. Anfang und Ende bildet die Theologie, in der Mitte steht die Philosophie als die Negation der ersten Position, aber die Negation der Negation ist die Theologie. Erst wird alles umgeworfen, aber dann wieder alles an seinen alten Platz gestellt, wie bei Cartesius. Die Hegelsche Philosophie ist der letzte großartige Versuch, das verlorene, untergegangene Christentum durch die Philosophie wiederherzustellen, und zwar dadurch, daß, wie überhaupt in der neuern Zeit, die Negation des Christentums mit dem Christentum selbst identifiziert wird. Die vielgepriesene spekulative Identität des Geistes und der Materie, des Unendlichen und Endlichen, des Göttlichen und Menschlichen ist nichts weiter als der unselige Widerspruch der neuern Zeit — die Identität von Glaube und Unglaube, Theologie und Philosophie, Religion und Atheismus, Christentum und Heidentum auf seinem höchsten Gipfel, auf dem Gipfel der Metaphysik. Nur dadurch wird dieser Widerspruch bei Hegel den Augen entrückt, verdunkelt, daß die Negation Gottes, der Atheismus, zu einer objektiven Bestimmung Gottes gemacht — Gott als ein Prozeß und als ein Moment dieses Prozesses der Atheismus bestimmt wird. Aber sowenig der aus dem Unglauben wiederhergestellte Glaube ein wahrer, weil stets mit seinem Gegensatz behafteter Glaube ist, sowenig ist der aus seiner Negation sich wiederherstellende Gott ein wahrer, vielmehr ein sich selbst widersprechender, ein atheistischer Gott.

§ 22 Wie das göttliche Wesen nichts anders ist als das Wesen des Menschen, befreit von der Schranke der Natur, so ist das Wesen des absoluten Idealismus nichts anderes als das Wesen des subjektiven Idealismus, befreit von der, und zwar vernünftigen, Schranke der Subjektivität, d. h. von der Sinnlichkeit oder Gegenständlichkeit überhaupt. Die Hegelsche Philosophie läßt sich daher unmittelbar aus dem Kantschen und Fichteschen Idealismus ableiten. Kant sagt: ,,Wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hierdurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d. i. die Art, wie unsere Sinne von diesem unbekannten Etwas affiziert werden, kennen. Der Verstand also, ebendadurch, daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und sofern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen, nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei.“ Die Gegenstände der Sinne, der Erfahrung sind also für den Verstand bloße Erscheinung, keine Wahrheit; sie befriedigen also nicht den Verstand, d. h., sie entsprechen nicht seinem Wesen. Der Verstand ist folglich keineswegs durch die Sinnlichkeit in seinem Wesen beschränkt; sonst würde er die sinnlichen Dinge nicht für Erscheinungen, sondern für blanke Wahrheit nehmen. Was mich nicht befriedigt, begrenzt und beschränkt mich auch nicht. Und dennoch sollen die Verstandeswesen keine wirklichen Objekte für den Verstand sein! Die Kantsche Philosophie ist der Widerspruch von Subjekt und Objekt, Wesen und Existenz, Denken und Sein. Das Wesen fällt hier in den Verstand, die Existenz in die Sinne. Die Existenz ohne Wesen ist bloße Erscheinung — das sind die sinnlichen Dinge —, das Wesen ohne Existenz ist bloßer Gedanke — das sind die Verstandeswesen, die noumena; sie werden gedacht, aber es fehlt ihnen die Existenz — wenigstens die Existenz für uns — die Objektivität; sie sind die Dinge an sich, die wahren Dinge, nur sind sie keine wirklichen Dinge, und folglich auch keine Dinge für den Verstand, d. h. keine von ihm bestimm-und erkennbaren. Aber welch ein Widerspruch, die Wahrheit von der Wirklichkeit, die Wirklichkeit von der Wahrheit abzutrennen! Heben wir daher diesen Widerspruch auf, so haben wir die Identitätsphilosophie, wo die Verstandesobjekte, die gedachten Dinge als die wahren auch die wirklichen sind, wo das Wesen und die Beschaffenheit des Objekts des Verstandes dem Wesen und der Beschaffenheit des Verstandes oder Subjektes entspricht, wo also das Subjekt nicht mehr beschränkt und bedingt ist durch einen außer ihm existierenden, seinem Wesen widersprechenden Stoff. Aber das Subjekt, das kein Ding mehr außer sich und folglich keine Schranken mehr in sich hat, ist nicht mehr ,,endliches“ Subjekt — nicht mehr das Ich, dem ein Objekt gegenübersteht —, ist das absolute Wesen, dessen theologischer oder populärer Ausdruck das Wort ,,Gott“ ist. Es ist zwar dasselbe Subjekt, dasselbe Ich wie im subjektiven Idealismus — aber ohne Schranken, das Ich, das daher auch nicht mehr Ich, subjektives Wesen zu sein scheint und deswegen auch nicht mehr Ich heißt.

§ 23 Die Hegelsche Philosophie ist der umgekehrte — der theologische Idealismus, wie die Spinozische Philosophie der theologische Materialismus ist; sie hat das Wesen des Ich außer das Ich gesetzt, abgesondert vom Ich, als Substanz, als Gott vergegenständlicht, aber dadurch wieder — also indirekt, verkehrt — die Göttlichkeit des Ich ausgesprochen, daß sie dasselbe, wie Spinoza die Materie, zu einem Attribut oder zur Form der göttlichen Substanz machte:
das Bewußtsein des Menschen von Gott ist das Selbstbewußtsein Gottes. Das heißt: das Wesen gehört Gott an, das Wissen dem Menschen. Aber das Wesen Gottes ist bei Hegel in der Tat nichts andres als das Wesen des Denkens oder das Denken, abstrahiert von dem Ich, dem Denkenden. Die Hegelsche Philosophie hat das Denken, also das subjektive Wesen, aber gedacht ohne Subjekt, also als ein von demselben unterschiedenes Wesen vorgestellt, zum göttlichen, absoluten Wesen gemacht.

Das Geheimnis der ,,absoluten“ Philosophie ist daher das Geheimnis der Theologie. Wie diese die Bestimmungen des Menschen dadurch zu göttlichen Bestimmungen macht, daß sie dieselben der Bestimmtheit beraubt, in welcher sie sind, was sie sind, geradeso macht es auch die absolute Philosophie. ,,Das Denken der Vernunft ist jedem zuzumuten; um sie als absolut zu denken, um also auf den Standpunkt zu gelangen, welchen ich fordere, muß vom Denkenden abstrahiert werden. Dem, welcher die Abstraktion macht, hört die Vernunft unmittelbar auf, etwas Subjektives zu sein, wie sie von den meisten vorgestellt wird; ja, sie kann selbst nicht mehr als etwas Objektives gedacht werden, da ein Objektives oder Gedachtes nur im Gegensatz gegen ein Denkendes möglich wird, von dem hier völlig abstrahiert ist; sie wird also durch jene Abstraktion zu dem wahren An sich, welches eben in den Indifferenzpunkt des Subjektiven und Objektiven fällt.“ (Schelling.) Ebenso ist es bei Hegel, nur daß dieser an die Stellen der hohlen Phrasen Schellings bestimmte Begriffe gesetzt hat. Das seiner Bestimmtheit, in der es Denken, Tätigkeit der Subjektivität ist, beraubte Denken ist das Wesen der Hegelschen Logik. Der dritte Teil der Logik ist und heißt sogar ausdrücklich die subjektive Logik, und gleichwohl sollen die Formen der Subjektivität, welche der Gegenstand derselben sind, nicht subjektive sein. Der Begriff, das Urteil, der Schluß, ja selbst die einzelnen Schluß- und Urteilsformen, wie das problematische, assertorische Urteil, sind nicht Begriffe, Urteile, Schlüsse von uns; nein, sie sind objektive, an und für sich seiende, absolute Formen. So entäußert und entfremdet die absolute Philosophie dem Menschen sein eignes Wesen, seine eigne Tätigkeit! Daher die Gewalt, die Tortur, die sie unserm Geiste antut. Wir sollen das Unsrige nicht als Unsriges denken, sollen abstrahieren von der Bestimmtheit, in der etwas ist, was es ist, d. h., wir sollen es denken ohne Sinn, sollen es nehmen im Unsinn des Absoluten. Unsinn ist das höchste Wesen der Theologie — der gemeinen wie der spekulativen.

Was Hegel tadelnd von Fichtes Philosophie bemerkt, daß jeder das Ich in sich zu haben meint, an sich erinnert und doch nicht das Ich in sich findet, gilt von der spekulativen Philosophie überhaupt. Sie nimmt fast alle Dinge in einem Sinne, in welchem man diese Dinge nicht mehr erkennt. Und der Grund dieses Übels ist eben die Theologie. Das göttliche, das absolute Wesen muß sich unterscheiden von den endlichen, d. h. wirklichen Wesen. Aber wir haben keine Bestimmungen für das Absolute als eben die Bestimmungen der wirklichen Dinge, sei‘s nun der natürlichen oder menschlichen. Wie werden also diese Bestimmungen zu Bestimmungen des Absoluten? Nur dadurch, daß sie in einem andern Sinne als in ihrem wirklichen Sinne, d. i. einem gänzlich verkehrten Sinn genommen werden. Alles ist im Absoluten, was im Endlichen; aber dort ist es ganz anders als wie hier; dort gelten ganz andere Gesetze als bei uns; dort ist Vernunft und Weisheit, was bei uns purer Unsinn ist. Daher die grenzenlose Willkür der Spekulation, daß sie den Namen einer Sache gebraucht, ohne doch den Begriff gelten zu lassen, welcher mit diesem Namen verbunden ist. Die Spekulation entschuldigt diese ihre Willkür damit, daß sie sagt, sie wähle für ihre Begriffe aus der Sprache Namen, mit denen das ,,gemeine Bewußtsein“ Vorstellungen verknüpfe, welche eine entfernte Ähnlichkeit mit diesen Begriffen hätten; sie schiebt also die Schuld auf die Sprache. Aber die Schuld liegt in der Sache, im Prinzip der Spekulation selbst. Der Widerspruch zwischen dem Namen und der Sache, der Vorstellung und dem Begriffe der Spekulation ist nichts andres als der alte theologische Widerspruch zwischen den Bestimmungen des göttlichen und menschlichen Wesens, welche Bestimmungen in Beziehung auf den Menschen im eigentlichen, wirklichen Sinn, in Beziehung auf Gott aber nur in einem symbolischen oder analogischen Sinn genommen werden. Allerdings hat sich die Philosophie nicht zu kehren an die Vorstellungen, welche der gemeine Gebrauch oder Mißbrauch mit einem Namen verbindet, aber sie hat sich zu binden an die bestimmte Natur der Dinge, deren Zeichen Namen sind.

§ 24 Die Identität von Denken und Sein, der Zentralpunkt der Identitätsphilosophie ist nichts andres als eine notwendige Folge und Ausführung von dem Begriffe Gottes als des Wesens, dessen Begriff oder Wesen das Sein enthält. Die spekulative Philosophie hat nur verallgemeinert, nur zu einer Eigenschaft des Denkens, des Begriffes überhaupt gemacht, was die Theologie zu einer ausschließlichen Eigenschaft des Begriffes Gottes machte. Die Identität von Denken und Sein ist daher nur der Ausdruck von der Gottheit der Vernunft — der Ausdruck davon, daß das Denken oder die Vernunft das absolute Wesen, der Inbegriff aller Wahrheit und Realität ist, daß es keinen Gegensatz der Vernunft gibt, daß vielmehr die Vernunft alles ist, wie in der strengen Theologie Gott alles ist, d. i. alles Wesenhafte und wahrhaft Seiende. Aber ein vom Denken nicht unterschiedenes Sein, ein Sein, das nur ein Prädikat oder eine Bestimmung der Vernunft ist, das ist nur ein gedachtes, abstraktes Sein, in Wahrheit aber kein Sein. Die Identität von Denken und Sein drückt daher nur die Identität des Denkens mit sich selbst aus. Das heißt: das absolute Denken kommt nicht von sich weg, nicht aus sich heraus zum Sein. Sein bleibt ein Jenseits. Die absolute Philosophie hat uns wohl das Jenseits der Theologie zum Diesseits gemacht, aber dafür hat sie uns das Diesseits der wirklichen Welt zum Jenseits gemacht. Das Denken der spekulativen oder absoluten Philosophie bestimmt im Unterschiede von sich, als der Tätigkeit des Vermittelns, das Sein als das Unmittelbare, nicht Vermittelte. Für das Denken — wenigstens das Denken, was wir hier vor uns haben — ist das Sein nichts weiter als dieses. Das Denken setzt sich das Sein entgegen, aber innerhalb seiner selbst, und hebt dadurch unmittelbar ohne Schwierigkeit den Gegensatz desselben gegen sich auf; denn das Sein als Gegensatz des Denkens im Denken ist nichts andres als selbst ein Gedanke. Wenn das Sein weiter nichts ist als das Unmittelbare, die Unmittelbarkeit allein seinen Unterschied vom Denken ausmacht, wie leicht ist es, nachzuweisen, daß auch dem Denken die Bestimmung der Unmittelbarkeit, also Sein zukommt! Wenn eine bloße Gedankenbestimmtheit das Wesen des Seins ausmacht, wie sollte das Sein vom Denken unterschieden sein? [...]

§ 54 Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur als der Basis des Menschen zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie — die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft.

§ 55 Kunst, Religion, Philosophie oder Wissenschaft sind nur die Erscheinungen oder Offenbarungen des wahren menschlichen Wesens. Mensch, vollkommner, wahrer Mensch ist nur, wer ästhetischen oder künstlerischen, religiösen oder sittlichen und philosophischen oder wissenschaftlichen Sinn hat — Mensch überhaupt nur der, welcher nichts wesentlich Menschliches von sich ausschließt. Homo sum, humani nihil a me alienum puto [Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd] — dieser Satz, in seiner universellsten und höchsten Bedeutung genommen, ist der Wahlspruch des neuen Philosophen.

§ 56 Die absolute Identitätsphilosophie hat den Standpunkt der Wahrheit gänzlich verrückt. Der natürliche Standpunkt des Menschen, der Standpunkt der Unterscheidung in Ich und Du, Subjekt und Objekt ist der wahre, der absolute Standpunkt, folglich auch der Standpunkt der Philosophie.

§ 57 Die der Wahrheit gemäße Einheit von Kopf und Herz besteht nicht in der Auslöschung oder Vertuschung ihrer Differenz, sondern vielmehr nur darin, daß der wesentliche Gegenstand des Herzens auch der wesentliche Gegenstand des Kopfs ist — also nur in der Identität des Gegenstandes. Die neue Philosophie, welche den wesentlichen und höchsten Gegenstand des Herzens, den Menschen, auch zum wesentlichen und höchsten Gegenstand des Verstandes macht, begründet daher eine vernünftige Einheit von Kopf und Herz, von Denken und Leben.

§ 58 Die Wahrheit existiert nicht im Denken, nicht im Wissen für sich selbst. Die Wahrheit ist nur die Totalität des menschlichen Lebens und Wesens.

§ 59 Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten — eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.

§ 60 Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch — die Einheit von Ich und Du ist Gott.

§ 61 Der absolute Philosoph sagte oder dachte wenigstens, analog dem L‘etat c‘est moi [Der Staat bin ich] des absoluten Monarchen und L‘être c‘est moi [Das höchste Wesen bin ich] des absoluten Gottes — von sich, als Denker natürlich, nicht als Menschen: La vérité c‘est moi [Die Wahrheit hin ich]. Der menschliche Philosoph dagegen: Ich bin auch im Denken, auch als Philosoph Mensch mit Menschen.

§ 62 Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.

§ 63 Die Trinität war das höchste Mysterium, der Zentralpunkt der absoluten Philosophie und Religion. Aber das Geheimnis derselben ist, wie im ,,Wesen des Christentums“ historisch und philosophisch bewiesen wurde, das Geheimnis des gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Lebens — das Geheimnis der Notwendigkeit des Du für das Ich — die Wahrheit, daß kein Wesen, es sei und heiße nun Mensch oder Gott oder Geist oder Ich, für sich selbst allein ein wahres, ein vollkommnes, ein absolutes Wesen, daß die Wahrheit und Vollkommenheit nur ist die Verbindung, die Einheit von wesensgleichen Wesen. Das höchste und letzte Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des Menschen mit dem Menschen. Alle wesentlichen Verhältnisse — die Prinzipien verschiedener Wissenschaften — sind nur verschiedene Arten und Weisen dieser Einheit. Selbst der Denkakt kann nur aus dieser Einheit begriffen und abgeleitet werden.

§ 64 Die alte Philosophie hat eine doppelte Wahrheit — die Wahrheit für sich selbst, die sich nicht um den Menschen bekümmerte — die Philosophie —, und die Wahrheit für den Menschen die Religion. Die neue Philosophie dagegen, als die Philosophie des Menschen, ist auch wesentlich die Philosophie für den Menschen — sie hat, unbeschadet der Würde und Selbständigkeit der Theorie, ja im innigsten Einklang mit derselben, wesentlich eine praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische Tendenz; sie tritt an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion.

§ 65 Die bisherigen Reformversuche in der Philosophie unterscheiden sich mehr oder weniger nur der Art, nicht der Gattung nach von der alten Philosophie. Die unerläßlichste Bedingung einer wirklich neuen, d. i. selbständigen, dem Bedürfnis der Menschheit und Zukunft entsprechenden Philosophie ist aber, daß sie sich dem Wesen nach, daß sie sich toto genere von der alten Philosophie unterscheide.
Aus: Ludwig Feuerbach: Philosophische Kritiken und Grundsätze (193-234, 269-273)
Herausgegeben von Werner Schuffenhauer
VMA-Verlag Wiesbaden