Egon Friedell, eigentl. Egon Friedmann (1878 – 1938 Selbstmord)

Österreichischer Schauspieler, Dramatiker, Kritiker, Schriftsteller und Kulturphilosoph jüdischer Abstammung, der sich nach dem Studium der Philosophie u. a. als Kabarettleiter, Theaterkritiker, Schauspieler betätigte. Gemeinsam mit Alfred Polgar (1873-1955) schrieb er Schwänke und Parodien, ferner zahlreiche Essays und geistreiche Aphorismen sowie eine dreibändige »Kulturgeschichte der Neuzeit« (1927—32) und eine zweibändige »Kulturgeschichte des Altertums« (1936-38).

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Inhaltsverzeichnis

Alle Dinge sind Philosophie
Die Überwindung der Physik
Geschichte und Religion
Das höchste Ziel der Geschichte

Alle Dinge sind Philosophie
Der Fortschritt der Menschheit besteht in der Zunahme ihres problematischen Charakters. Je polychromer (bunter, vielfältiger) die Ideale einer Zeit sind, je dehnbarer ihre Werte, desto vergeistigter erscheint sie uns. Der Pegel der Kultur steht am tiefsten, wenn sie am eindeutigsten ist.

Alles Ganze, Vollendete ist eben vollendet, fertig und daher abgetan, gewesen; das Halbe ist entwicklungsfähig, fortschreitend, immer auf der Suche nach seinem Komplement (Vervollständigungsmittel). Vollkommenheit ist steril
(unfruchtbar).

Die wirklichen Erlebnisse liegen im Gebiet des Unausgesprochenen und Unaussprechlichen. Was sich sagen lässt, kann niemals ganz wahr sein. Kleide einen Gedanken in Worte, und er verliert alle Bewegungsfreiheit. Unser Wissen ist allemal besser als unsere Rede.

Ja noch mehr: alle Dinge sind Philosophie. Alle Menschen, Gegenstände und Ereignisse sind einfache Verkörperungen eines bestimmten Naturgedankens, einer eigentümlichen Weltabsicht. Aber die Dinge pflegen oft erst spät einem einzigen dazu Berufenen ihren Sinn zu enthüllen. Wie lange hat es gedauert, bis der magnetische Stahl dem sehenden Auge Gilberts seine wunderbaren wirksamen Kräfte enthüllte! Wie lange hat es gedauert, bis die einfache und elementare Tatsache der menschlichen Seele von einem galiläischen Wanderprediger entdeckt wurde! Wie viele geheime Naturkräfte warten noch immer geduldig, bis einer kommt und den Gedanken in ihnen erlöst! Dass die Dinge geschehen, ist nichts: dass sie gewusst werden, ist alles. Der Mensch hatte seinen schlanken, ebenmäßigen Körperbau, seinen aufrechten, edlen Gang, sein weltumspannendes Auge seit Jahrtausenden und Jahrtausenden: in Indien und Peru, in Memphis und Persepolis; aber schön wurde er erst in dem Augenblick, wo die griechische Kunst seine Schönheit entlarvte und abbildete.

Und darum scheint es uns auch immer, als ob über Pflanzen und Tiere eine eigentümliche Melancholie (Traurigkeit) gebreitet sei: sie alle sind schön, sie alle sind Sinnbilder irgendeines tiefen Schöpfungsgedankens, aber sie wissen es nicht, und darum sind sie traurig.

Gott regiert die Welt nicht von außen, nicht mit Schwerkraft und chemischer Affinität, sondern im Herzen der Menschen: wie deine Seele ist, genau so ist das Schicksal der Welt, in der du lebst und handelst. Nichts ist draußen.

Im Grunde können wir den anderen nur sagen, was sie schon wissen. Wir vermögen einem Menschen nur diejenigen Dinge mitzuteilen, die er immer schon latent in sich gehabt hat. Im anderen Falle wird er sie entweder rundweg ablehnen oder so lange »auf seine Art« auslegen, bis sie ihm ähnlich sind und nicht mehr uns. Es hätte wenig Sinn, einem Esel Eidotter aufdrängen zu wollen, indem man ihm erklärte, es sei ein höchst nahrhaftes, wohlschmeckendes und bekömmliches Gericht. Er würde es uns einfach nicht glauben. Aber nehmen wir selbst an, es gelänge uns, seinen Abscheu zu überwinden, was wäre die Folge? Er würde aus den Eidottern machen, was er bisher aus Disteln und Kohl gemacht hat: einen Esel.

Oft beobachte ich von meinem Fenster aus die gegenüberliegenden Fenster. Ganz gleichgültige, fremde, unbedeutende Menschen tun dort drüben fremde, unbedeutende und gleichgültige Dinge: sie öffnen Schränke und schließen sie, machen sich rätselhafte Handreichungen, gehen ab und auf, flüstern miteinander oder sitzen bloß unbeweglich da. Da war zum Beispiel ein junges Mädchen: sie zog des Morgens, in der kühlen Frische des noch unberührten Tages, die Fenstervor­hänge in die Höhe, warf einen kurzen, forschenden Blick auf die Straße und verschwand im Dunkel des Zimmers. Später ließ sie die Vorhänge wieder herab: am Abend, wenn bereits graue Nebel aus den Gassen emporstiegen, oder an drückend heißen Sommernachmittagen, wenn alles Leben stillzustehen schien. Sie war weder ungewöhnlich schön noch ungewöhnlich anmutig; aber während sie diese Dinge tat, umfloss sie stets eine unbeschreibliche Schönheit und Anmut. Darin war da eine einfache Familie, die des Mittags wie ein Bild um den weißgedeckten Tisch saß und des Abends eine große geheimnisvolle Lampe anzündete, die aussah wie der Heilige Gral; ferner ein Mann, der den ganzen Tag in Hemdärmeln über einen wackeligen Tisch gebeugt war und schrieb, immerzu schrieb, und eine junge Köchin, die unbekannte Dinge zerschnitt und in einen Topf warf, bisweilen aber plötzlich starr wurde und mit leerem Blick lange vor sich hin spähte, in eine weite, unsichtbare Ferne, und ein kleines Mädchen, das an einer Puppe nähte, und ein anderes kleines Mädchen mit sinnenden Augen, das gar nichts tat: lauter mysteriöse Märchendramen, romantische Schauspiele in zahllosen Fortsetzungen. Man glaubt beim Anblick dieser Phantome unmittelbar den lautlosen Pendelschlag der Schicksalsuhr zu vernehmen. Man erfährt nie, worum es sich handelt, und weiß doch mehr, als man je erfahren könnte. Es sind die vollkommensten Theatervorstellungen der Welt. Sind wir in solchen Blicken dem wahren Kern des Lebens, dem Herzen seines Geheimnisses, nicht näher, als wenn wir uns in seine betäubenden und verwirrenden Bewegungen mischen?

Man wird wohl sagen dürfen, dass das letzte Menschenalter von einem so vollkommenen Skeptizismus erfüllt war, wie er vielleicht noch niemals vorher erblickt worden ist. Frühere Zeiten lehrten die Skepsis, diese Menschen aber lebten sie. Zweifel an jeglicher Realität war das geheime Vorzeichen, das alle ihre Handlungen begleitete. Solange man noch über Sein und Nichtsein philosophiert, ist es nicht schlimm. Diese aber hatten bereits aufgehört zu philosophieren; und das war das Gefährliche. Ein neuer Menschentypus war höchst bedrohlich in die Erscheinung getreten: der »Skeptiker des Lebens«. Aber indem wir immer tiefer in die dunkeln Kammern des Schicksals eindrangen, ereignete sich plötzlich etwas Sonderbares: unser Auge, an die Dunkelheit gewöhnt, empfand einen schwachen Lichtschimmer, der von der entgegengesetzten Richtung her kam und uns anzeigte, dass auch in den Gegenden, die wir betreten hatten, nicht völlige Finsternis herrschte. Die Dinge hatten wir abgetan, aber nun erschien es uns auf einmal, als sei noch irgendein Licht hinter den Dingen, ein Licht, das wir niemals erblicken werden, das sich uns aber doch als vorhanden ankündigt: So entstand eine neue Gewissheit, die unklarer ist als die früheren, aber dafür um so sicherer; unaussprechlich, aber darum auch nicht mit Worten widerlegbar; unfassbarer als jede andere, aber eben deshalb um so unantastbarer. Der Zweifel wurde zur Wurzel einer neuen sublimierten (erhabenen) Gewissheit.

Jeder Skeptizismus muss in einen neuen Dogmatismus münden. Dies ist seine innere Legitimation
(Berechtigung), seine natürliche Aufgabe, sein einziger Sinn. Nihilismus ist bisweilen wohltätig und notwendig, doch nur als Vorstufe zu einer neuen, höheren Ordnung. Aus dem Chaos der Völkerwanderung erstand die wunderbare Stufenordnung der mittelalterlichen Gotteswelt. Aus der moralischen Anarchie des Römerreichs erhob sich das Christentum. Ein ähnlicher Vorgang vollzieht sich auch heute.

Atheismus ist endgültig unmöglich geworden, Glaube, Verehrung, Bejahung zieht wieder in die Welt ein. Aber wir werden die Atheisten nicht mehr verbrennen, nicht mehr mit Gesetzen verfolgen, nicht einmal mehr beschimpfen. Wir werden sie nur noch lächerlich finden.

Die Seele alles Handelns ist Blindheit. Wer einmal weiß, kann nicht mehr handeln. Wissen heißt die Tat wegwerfen und die Leidenschaft verleugnen.

Es gibt manche Erlebnisse in unserem Dasein, die uns nichts zu sagen haben, solange wir sie anrufen; und wir halten sie für stumm. Aber wenn wir nur die Geduld haben, ein wenig zuzuwarten und stillzuhalten, so hallt uns mit einem Male ihr drei- und vierfaches Echo donnernd zurück.

Wenn ich auf einem Berge stehe und von dort aus einen entlegenen Punkt fixiere, so sagen die Resultate meiner Beobachtung von diesem Punkt nicht übermäßig viel aus, wohl aber sehr viel von meiner Sehkraft, der Art meines Standortes, der Atmosphäre, die mich umgibt. Mit anderen Worten: Psychologie und Geschichte sind die Wissenschaft von der Seele - dessen, der sie betreibt.

Immer wiederholt sich die alte Geschichte vom Scherbengericht, die wir alle so oft aus dem Deutschen ins Lateinische und , wenn wir Pech hatten, sogar ins Griechische übersetzen mussten. Die Griechen, die ein für allemal den Kanon des menschlichen Körpers aufgestellt haben, sind auch in dieser Frage des Kanons der menschlichen Seele vorbildlich gewesen. Sie haben auch diese Elementartatsache der menschlichen Natur klassisch ausgedrückt, nämlich gesund, naiv und mit lapidarer Klarheit: die Stellung, die die Menschen zu jeder geistigen Überlegenheit einnehmen: »Wir brauchen dich, Genie, aber du bist uns lästig. Wir möchten deine Bildsäulen um keinen Preis entbehren, Phidias, aber, eigentlich ist es eine Frechheit von dir, ein so großer Künstler zu sein, und von dir Themistokles, ein so großer Feldherr zu sein, und von dir Aristides, so gerecht zu sein, und von dir, Sokrates, so weise zu sein, denn das alles sind wir nicht; und wir, das Volk, die Masse, der Durchschnitt, die Gewöhnlichen, sind doch eigentlich diejenigen, auf die es ankommt. Jede eurer Taten ist für uns eine Beleidigung, denn jede beweist uns aufs Neue, dass in euch mehr Schönheit, Edelmut und Verstand ist als in uns allen zusammengenommen. Wir wissen recht wohl, dass wir ohne euch nicht auskommen können, aber das hindert nicht, dass wir in euch nichts anderes erblicken als ein notwendiges Übel, das wir nur genau so lange ertragen werden, als wir es ertragen müssen.« So dachten die Griechen, und so denken, wenn auch weniger bewusst und plastisch, alle Völker, und wer darüber klagt, dass das Genie verkannt werde, der ist selber ein Verkenner des Genies. Denn wäre es allgemein beliebt und anerkannt, so wäre es eben kein Genie. Der große Mann ist eine Naturkraft, ein Elementarereignis, eine Umwälzung, eine Katastrophe, und solche Erscheinungen nimmt man hin, aber man liebt sie nicht.

Alle die Schreckensherrscher, von denen die Historie erzählt, die »Scheusale« der Weltgeschichte: Caligula und Tiberius, Danton und Robespierre, Cesare Borgia und Torquemada, was waren sie anderes als in die Realität verschlagene Künstler? Und alle die Künstler und Gestalter: Shakespeare und Michelangelo, Dante und Poe, Nietzsche und Dostojewskij, was waren sie anderes als in die Kunst gerettete Menschenfresser?


»Ich habe niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können«,
sagte Goethe. Er brauchte keine Verbrechen zu begehen, weil er sie künstlerisch gestalten konnte. Und Nero, der Kaiser mit der großen Künstlerambition, wäre kein »Bluthund« geworden, wenn er die Kraft der dichterischen Gestaltung besessen hätte. »Qualis artifex pereo« - vielleicht ist es erlaubt, zu übersetzen: »Was für eine merkwürdige Art Künstler stirbt in mir.«

Fast jeder Mensch könnte den übrigen nützen: durch die Feststellung irgendeiner neuen Tatsache, die nur er kennt, die Richtigstellung irgendeines Irrtums, den nur er durchschaut, die Lösung irgendeines Rätsels, das nur er versteht. Aber er vergräbt diese Dinge in Schweigen, falscher Scham und bornierter Diskretion. Er hält diese Dinge für Privatangelegenheiten, mit denen man Unbeteiligte nicht behelligen dürfe. Aber keine Wahrheit ist eine Privatangelegenheit, niemand hat das Recht, sie dazu zu machen. Keine menschliche Beziehung verdient in Schweigen erstickt zu werden, und wenn sie in die finsteren und verborgenen Abgründe der menschlichen Seele hinunterreicht - gerade dann verdient sie es am meisten, ans Licht gebracht, von allen betrachtet, studiert, verstanden, aufgehellt zu werden. Diskret sein heißt: die Entwicklung der Wahrheit aufhalten, Stücke der großen allgemeinen Realität, die zu kennen jeder Lebende das Recht hat, perfid eskamotieren (hinterhältig verschwinden zu lassen).

Der Philister (kleinbürgerlich-engstirniger Mensch) hat immer ein schlechtes Gewissen. Das allein aber ist das Schlechte an ihm. In dem Augenblick, wo man über die schlechteste Sache von der Welt spricht, ehrlich spricht, ist sie fast schon gut, ist sie aus einer hässlichen Verirrung eine wertvolle Lebenswahrheit geworden, an der die anderen lernen können.

Man kann auch als Immoralist (jemand der überlieferte moralische Grundsätze ablehnt) noch immer ein Philister sein. Jeder Mensch, der von der Ansicht ausgeht, dass die Gesetze, die für ihn gut sind, auch für andere gelten müssen, ist ein Philister. Die Freiheit hingegen besteht darin, dass jeder tut, was seine Individualität ihm vorschreibt. Wenn mich jemand zum Beispiel zur Freiheit in erotischen Angelegenheiten zwingen will, während es in meiner Natur liegt, diese Beziehungen als vorwiegend unfreie und gebundene aufzufassen, dann beschränkt er meine Freiheit. Wenn jemand mir verbieten will, in moralischen Dingen ein Philister zu sein, obgleich gerade dies mir entspricht, so stellt er an mich ein philiströses (spießiges) Verlangen.

Der Mensch schwankt im Verkehr mit seinen Brüdern zwischen zwei falschen Extremen: zwischen kalter Distanz und stilloser Fraternität. Wenn du kein Herz hast, so wirst du einem andern niemals etwas bedeuten können; aber wenn du ihm nicht wenigstens so fern bleibst, dass er dich sehen kann, so wirst du ihm auch nichts bedeuten.

Religion ist niemals eine Sache der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft. Religion ist eine aristokratische Angelegenheit. Man kann in Massen Steine klopfen und im Varieté sitzen, man kann in Massen fressen und saufen, politisieren und Menschen umbringen, aber man kann nicht in Massen Gott verehren, sowenig wie man in Massen lieben kann. Der unsinnige Glaube, dass alle menschlichen Lebensäußerungen gemeinsam verrichtet werden können, ja sollen, hat in unserer heutigen Kultur seinen Gipfelpunkt erreicht, wir betreiben alles in Rotten, Riegen, Kompanien: Kunst, Wissenschaft, Naturgenuss, Religion. Das ganze Leben soll nichts sein als ein dankbares Objekt für Formen, Formeln, Paragraphen, Reglements. Der Wille unserer Zeit, der aus der ganzen Menschheit eine Fabrik, eine Kaserne, ein Riesenhotel, einen Trust, eine Korrektionsanstalt machen will, verbindet folgerichtig das Massentreiben mit der Uniformierungstendenz. Dies endet schließlich allemal im Jakobinertum (geistige Haltung der Jakobiner). Kultus eines abstrakten und leeren »etre suprême«, alles andere ist dann »suspekt«, heimliches Aristokratenwesen. Der große Rückschlag gegen alle diese Dinge muss von der Religion ausgehen, von einem neuen Verhältnis zu Gott, wie alles von Gott her seinen Anfang nehmen muss.

Das ist die Frage: Wem von beiden sollen wir dienen? Sollen wir dem »Licht« opfern oder der »Finsternis«? Die hellen Gipfel besiedeln, wo alles klar, luftig, sonnig, durchsichtig, einfach und schön ist? Oder in die dunklen Tiefen hinab graben, wo alles schwankend, brauend, unterirdisch, rotglühend, höllisch ist? Wo soll unser Reich sein? Sind es die Höhen des Geistes oder die Höhlen des Geistes? Was ist für uns vorteilhafter? - Aber diese Frage ist müßig. Damit, dass eine Sache für uns »vorteilhafter« ist, ist sie noch nicht unsere Sache. Wir können immer nur tun, was wir müssen. Und wir von heute müssen »hinunter« und dürfen nicht »hinauf«. Wir haben leider keine Wahl. Auch der Weg nach oben würde für uns ganz von selber ein abschüssiger Weg. Wie Odysseus müssen wir schon bei Lebzeiten die Hadesfahrt tun. Aber lieber Odysseus als Ikarus! So ist es ehrlicher, so ist es vielleicht auch für uns vorteilhafter.

Es steht nicht in unserer Macht, Irrtümer »abzulegen«, wie man Kleider ablegt, weil einem andere besser gefallen, sondern erst, wenn wir unsere Irrtümer nicht mehr brauchen, wenn sie wirklich »aufgetragen« sind, entsteht in uns die Kraft, sie abzulegen.

Keineswegs lehren uns die Marskanäle ohne weiteres eine höhere geistige Stufe der Marsbewohner. Wenn wirklich dieser ganze Stern von einem gradlinigen, geometrisch angelegten Schema und Netz überzogen ist, so würde dies eher zu dem Schluss berechtigen, dass wir es hier mit einer großen Instinkt-Organisation in der Art der Termitenbauten zu tun haben. Es gab auf unserem Planeten ein Land, das ebenfalls riesige Flächen mit einem ausgedehnten Fluss- und Kanalsystem bedeckt hat, und dieses Land ist Ägypten. Vielleicht ist es ein ganz besonderes und im Weltall nur selten in Erscheinung tretendes Vorrecht gerade der Erdbewohner, dass sie keine exakten Anpassungen vornehmen, sondern individuelle, ungenaue, unlogische, ja größtenteils falsche, mit einem Wort: dass sie denken. Vielleicht ist unser Stern der Stern der unvollkommeneren und daher individuellen Organismen. Dies wäre eine sehr sonderbare Stellung, die wir einnehmen. Der Mars wäre demnach viel weiter, als wir je sein werden, soweit zweckmäßige Organisation der Lebensbedingungen in Betracht kommt, dort gäbe es keine Krankheiten, keine faschen Züchtungsergebnisse, keine Kriege, keine Verbrechen, sondern alles verliefe in mathematischer Vollkommenheit und Ordnung. Aber dort gäbe es auch keine Fiktionen, keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Philosophie, keine Erotik: denn alles das sind bloß lebenssteigernde Irrtümer.

Und so wäre demnach das Privileg der Erdenwesen das »Recht auf Irrsinn«?

Nur der Jude Paulus konnte die Idee des Judentums in ihrem innersten Kern auflösen; nur in Luther, dem katholischen Priester, konnte der Katholizismus sich radikal verneinen; nur ein so durch und durch theologisch und moralisch orientierter Geist wie Nietzsche konnte Antichrist und Immoralist werden. Und war es nicht Graf Mirabeau, der die Französische Revolution ins Rollen brachte? Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekriegen zu können, muss man aufs tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muss man es sein.

Vom Standpunkt des Bürgerlichen Gesetzbuches oder einer platten Philistermoral betrachtet, war Jesu Leben und Tod die denkbar größte Ungerechtigkeit Gottes: der reinste, aufopferndste, gotterfüllteste Mensch wurde verachtet, verhöhnt und gekreuzigt. Dass aber Jesus gleichwohl niemals an Gott gezweifelt hat, beweist mehr als seine Predigt, wie er es gemeint hat.
List 192, Friedell: Aphorismen und Briefe, S.23-31

Die Überwindung der Physik
Hier sehen wir übrigens jene sonderbare polare Berührung von Anfang und Ende einer Kulturentwicklung, auf die Lamprecht bisweilen hinweist. Der gesetzlose Wilde berührt sich mit dem gesetzlosen Menschen der Zukunft, ebenso wie auch eine Art Mystik und Aberglauben sich auf einer höchsten Kulturstufe wieder zu entfalten pflegen. Dass alles untereinander in Beziehung steht, dass es geheimnisvolle überphysikalische Zusammenhänge gibt, die wir nur deshalb unnatürlich oder übernatürlich nennen, weil wir ihr Gesetz noch nicht entdeckt haben, dass es zwar keine Dämonen gibt, wohl aber einen Dämon, für jeden Menschen einen eigenen, der ihn regiert und hin und her bewegt, einen Dämon, der um so mächtiger, gefährlicher und magischer ist, je größer eben dieser Mensch ist, dass unser Schicksal sich zwar nicht mittels astrologischer Geheimbücher aus den Sternen ablesen lässt, dass es aber doch dort genau aufgeschrieben ist -: das alles weiß der Mensch von heute noch nicht. Er hat einige ungereimte Vorurteile abgelegt und sich einige nützliche Kenntnisse zugelegt, aber er ist viel zu eingebildet auf diese kleinen provisorischen Errungenschaften, um sich über sie stellen zu können, um zu wissen, dass es gewissermaßen nur punktierte Hilfslinien sind, nützlich und unentbehrlich wie alle Hilfslinien, aber schließlich doch nur dazu da, um eines Tages ausradiert zu werden. Die Physik ist etwas, das überwunden werden muss, und zwar - durch Physik. Dass etwas wie eine Möglichkeit, die Natur berechnen zu können, überhaupt vorhanden ist, erscheint uns als das Mirakel an sich, und darüber vergisst man die anderen Mirakel, die umfassender und tiefer sind. Ebenso ist die Tatsache der Sittlichkeit für uns ein so unfassbar großes Ereignis, dass man von ihm völlig hypnotisiert ist. Wie vermöchten wir daher einen Geist zu verstehen, der sagt: Sittlichkeit ist so selbstverständlich, dass ich mich mit ihr gar nicht mehr abgebe; das Problem des Altruismus ist für mich genau so ein Problem wie der Gebrauch der Seife: nämlich gar keines. Der ethische Parvenü ist der Gegner der individualistischen Ethik.

Jesus war genötigt, das extremste altruistische Ideal vor der Welt aufzurichten: nur durch dieses äußerste Gegenbild konnte er den tiefinnerlich auf das Unsittliche gerichteten Grundwillen seiner Zeit besiegen, einer Zeit, die zur einen Hälfte Rom hieß und zur andern Judäa. Nur Menschen, die eigentlich von Natur lasterhaft, bösartig und selbstsüchtig sind, sind Bekämpfer der individualistischen Ethik.

Die Entwicklung zum ethischen Individualismus ist, um es mit einem Wort zu sagen, eine künstlerische. Dass jeder Mensch sein eigenes Sittengesetz hat, das für ihn, nur für ihn, für ihn aber unverbrüchlich gilt, ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass jeder Mensch ein besonderer Organismus mit eigenen Lebensgesetzen, eigenen Lebensäußerungen, besonderen Farben und Konturen, kurz, dass er ein Kunstwerk ist. Für die Kunstwerke gibt es auch »keine Gesetze«, und zwar gerade deshalb, weil sie die gesetzmäßigsten Gebilde sind, die wir kennen, weil sie bis ins kleinste von einem bestimmten Geist beherrscht sind. Man nennt das Stil. Ganz denselben Sinn hat auch die neue Ethik. Seine besondere Schönheit zu verwirklichen, seine eigenen Schönheitsgesetze zu erfüllen, seinen Stil zu haben und zu leben, das ist der Mensch. Was zu einem Kunstwerk gehört, was ihm organisch ist, das pflegen wir das Schöne an ihm zu nennen; was zu einem Menschen gehört, all das ausnahmslos, aber nur das, müssen wir an ihm sittlich nennen.
List 192, Friedell: Aphorismen und Briefe, S.44/45

Geschichte und Religion
Seit Jahrtausenden streiten die Menschen darüber, ob ein Schicksal die Welt regiere und ob dieses Schicksal wohlwollend oder böse, dumm oder weise oder vielleicht auch ganz blind und indifferent sei. Es hat Denker gegeben, die allen Ernstes behauptet haben, der Teufel habe längst über Gott gesiegt und throne nun für alle Zeiten über der Erde und ihren Geschicken. Es hat andere gegeben, die die nicht minder absurde Ansicht vertraten, die Vernunft sei etwas, das nur im menschlichen Gehirn existiere und mit der Natur und ihren Gesetzen nichts zu schaffen habe. Wieder andere sind der Meinung, es gebe zwar einen Gott, aber er kümmere sich um die Welt nicht, womit allerdings der Begriff Gott, den wir uns als eine tätige, schöpferische Kraft vorstellen, so ziemlich aufgehoben wird. Wenn man sich einmal die Mühe machen wollte, alles, was jemals über dieses Problem gedacht worden ist, übersichtlich zusammenzustellen, so würde man sicher finden, dass es keine Eventualität gibt, die nicht ihre Verfechter gefunden hat.

In dieses Chaos von Hypothesen kann man aber sogleich Ordnung bringen, wenn man sich vorstellt, dass sie nichts Zufälliges, nicht Sache der persönlichen Wahl und Willkür sind, sondern nur eine Zeichensprache, durch die sich eine bestimmte seelische Veranlagung nach außen zu projizieren sucht. Jeder Mensch und jedes Volk trägt seinen Gott und seinen Teufel in sich. »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne«: dieses durch überhäufiges Zitieren bereits vollständig abgeplattete Wort ist sehr tief und aufschlussreich, wenn man es richtig versteht. »Gott regiert die Welt nicht draußen, sondern drinnen, nicht mit Schwerkraft und chemischer Affinität, sondern im Herzen der Menschen: wie deine Seele ist, genau so ist das Schicksal der Welt, in der du lebst und handelst«. Dies wird deutlicher als beim einzelnen bei ganzen Völkern. Sie alle haben ihre Welt gemacht, und so wie sie sie gemacht hatten, mussten sie sie dann erleiden. Der Mensch kann zu vielerlei Göttern beten, und zu welchen er betet, das ist entscheidend für ihn und seine Nachkommen. Der Wilde tanzt um seinen Holzklotz, den er Gott nennt, und richtig, die Welt ist auch wirklich nicht mehr als ein dummer, toter Holzklotz; die Ägypter vergötterten die Sonne, die Tiere, den Nil, die ganze heilige Natur und blieben daher dazu bestimmt, immer nur ein Stück Natur zu bleiben, fruchtbar und tätig, aber stumm und überall gleich: es gibt keine ägyptischen Individualitäten. Die Griechen, verspielt und leichtsinnig, wie sie waren, schufen sich eine Galerie von schönen, faulen, lüsternen und verlogenen Göttern und gingen an diesen Göttern zugrunde; der Inder, tief überzeugt von der Sinnlosigkeit und Unwirklichkeit des Daseins, beschloss, fortan nur noch an das Nichts zu glauben, und sein Glaube wurde Wahrheit: durch den Wandel der Geschichte blieb dieses herrliche Land innerlich unberührt.

Man sagt häufig, das Christentum habe die Völker des Abendlandes einem gemeinsamen Glauben zugeführt, aber ist dem wirklich so? An der Oberfläche mag es wohl so aussehen, aber blickt man tiefer, so muss man sagen: auch heute gibt es noch Nationalgötter und Nationalschicksale wie im Altertum. Dies ist es, was die Völker auch jetzt noch am tiefsten voneinander trennt, nicht Rasse, nicht Kostüm und äußere Sitte, nicht Staatsform und soziales Gefüge sind es. In Griechenland und Irland, in Portugal und Schweden liebt man Musik und die Straßenreinigung, hat man mehr oder weniger dieselben An schauungen über Parlamentarismus, Feldbau, gesellschaftliche Formen und anderes; aber der Gott, der Gott ist überall ein anderer.

Es ist wahr, sie sind alle Christen: aber das ist ja gerade die ungeheure Macht und Lebenskraft des Christentums, dass es jeder Zeit und jedem Volk etwas anderes zu sagen hat, dass es eine Form hat, in die sich alle Gedanken und Gefühle der Menschlichkeit einordnen lassen. Es wäre niemals Weltreligion geworden, wenn es sich in einer Bagatelle von neunzehnhundert Jahren ausleben könnte. Welche Gemeinsamkeit aber besteht zwischen dem »credo quia absurdum« Tertullians und dem fast mathematischen Rationalismus Calvins oder zwischen der Lehre der Satanisten (die nichts ist als gewendetes Christentum) und dem höchst familiären Verhältnis, das der Quäker zu seinem Gott hat? Und kann man es mit bloßem Zufall, mit der diktatorischen Laune eines Ludwigs XIV. und eines Cromwell erklären, dass Frankreich dem Papismus erhalten blieb und England reformiert wurde? Der Gott Frankreichs war eben absolutistisch und der Gott Englands puritanisch.

Das war damals, in den Zeiten der Religionskriege. Heute ist — so wird behauptet — an die Stelle der Religion die Wissenschaft getreten. Fasst man aber den Begriff Wissenschaft richtig, so ist gegen diese Behauptung auch gar nichts einzuwenden. Wenn man nämlich die Wissenschaft ernst nimmt, so ist sie ebenfalls ein Glaube, eine Religion. Nimmt man sie nicht ernst, sieht man in ihr ein bloßes Gesellschaftsspiel mit Begriffen, Beobachtungen, Kenntnissen und Tatsachenreihen, so fällt sie in eine Kategorie mit allen anderen profanen Beschäftigungen. Auf keinen Fall jedoch lässt sich Wissenschaft, soweit sie Weltanschauung ist, eher beweisen als irgendeine religiöse Überzeugung. Sonst müsste zum Beispiel der Monismus, der ja behauptet, sich lediglich auf exakte Grundlagen zu stützen, bereits alle vernünftigen Köpfe erobert haben.

Goethe konnte sich niemals zur Kantischen Lehre bekehren, der am besten fundierten unter allen Philosophien, ganz offenbar aus persönlichen, aus religiösen Gründen. Und der Darwinismus fand bezeichnenderweise die meisten Anhänger unter den Atheisten, sehr begreiflich bei einer Theorie, die in der ganzen Natur eine große Handelsgesellschaft erblickt, deren Organisation durch skrupellose Konkurrenzkämpfe bestimmt wird.
List 192, Friedell, Aphorismen und Briefe, S.95-97

Das höchste Ziel der Geschichte
Der Philologe beschäftigt sich mit dem Wunder der Sprache, der Botaniker mit dem Wunder des Pflanzenlebens, der Historiker mit dem Wunder des Weltlaufs. Lauter Geheimnisse, die noch kein Mensch zu entziffern vermocht hat. Ja, selbst der Physiker, wenn er genial ist, stößt fortwährend auf Wunder. Je tiefer eine Wissenschaft in die Sphäre des Wunderbaren einzudringen vermag, desto wissenschaftlicher ist sie. Und die Kultur einer Zeit lässt sich an der Zahl der Wunder messen, die sie exakt nachzuweisen vermocht hat. Ein Zeitalter ist umso aufgeklärter, je mehr Rätsel es entdeckt.

Hieraus ergibt sich, wie hoch die Kultur der Zeit zu bewerten ist, in der wir uns befinden. Wir kommen uns ungeheuer human und gescheit vor, wenn wir unsere Zustände mit denen des Mittelalters vergleichen. Es erscheint uns düster, beschränkt, leichtgläubig. Und in der Tat: damals glaubte man wirklich alles. Man glaubte jede Erzählung, jeden Traum, jedes Gerücht, jedes Gedicht, man glaubte an Wahres und Falsches, Weises und Wahnsinniges, an Heilige und Hexen, an Gott und an den Teufel. Aber man glaubte auch an sich. Überall sah man Realitäten, selbst dort, wo sie nicht waren: alles war wirklich. Und überall sah man die höchste aller Realitäten: Gott. Alles war göttlich. Daher trotz aller Jenseitigkeit, Dürftigkeit und Enge der prachtvolle Optimismus jener Zeiten; wer an die Dinge glaubt, ist immer voll Zuversicht und Freude. Das Mittelalter war nicht finster, das Mittelalter war hell.

Mit einer ganzen Milchstraße, die der Rationalismus in Atome aufgelöst hat, können wir nicht das geringste anfangen, aber mit einem pausbackigen Engel und einem bockfüßigen Teufel, an den wir von Herzen glauben, können wir sehr viel anfangen. Man sagt uns freilich, Fetischismus, Mythologie und dergleichen seien alberne und rohe Dinge; aber wir haben diese schlimmen Dinge ja auch noch in unserem heutigen Leben, nur in unsäglich platterer, geistloserer und gemeinerer Form; unsere Fetischtempel heißen Zeughaus und Parlament; unsere Mythologie lesen wir täglich dreimal in der Zeitung.

Es geschehen heute keine Wunder mehr, aber nicht weil wir in einer so fortgeschrittenen, und erleuchteten, sondern weil wir in einer so heruntergekommenen und gottverlassenen Zeit leben. Und was sagt Gott dazu?

Die Intensität, mit der diese Frage gestellt wird, ist in der Tat das, was jedem Zeitalter und jedem Individuum seinen Rang anweist. Die Frage selbst lebt in jedem Menschen und in jeder Zeit.

Dieselbe Kraft, die die Pflanzenwurzel Phosphor wählen lässt, treibt den Menschen zum Gottglauben und zu allem, was damit zusammenhängt. Wir können aus der Geschichte die Existenz Gottes mit derselben Stringenz (logisch überzeugenden Folgerichtigkeit) beweisen, mit der wir in der Chemie die Existenz von Eiweiß beweisen können. Gott ist für unsere Seele, was Eiweiß für unseren Körper ist: ein auf die Dauer unentbehrlicher Assimilationsstoff.

Inhalt und Zweck aller schöpferischen Tätigkeit besteht in nichts anderem als in dem Nachweis, dass das Gute, der Sinn, kurz Gott, überall vorhanden ist. Er ist die einzige Realität, die aber meist unsichtbar ist. Der Genius macht sie sichtbar: dies ist seine Funktion. Man nennt ihn daher auch gotterfüllt. Das gilt für den Genius des einzelnen Menschen, den der Völker, den der Epochen, den einer Kultur. In diesem Sinn war das vorchristliche Altertum nicht »antik«, wie überhaupt alles in der Geschichte im Grunde anders ist, als es jeweils erscheint. Die Tatsache »Gott« ist überall wieder zu finden, wieder zu erblicken, wieder zu erkennen. Dieses Wiedererkennen Gottes in der Welt ist das höchste Ziel der Geschichte.

(List 192, Friedell: Aphorismen und Briefe, S.93-94)