Jean Gebser (1905 – 1973)

Deutschsprachiger philosophischer Schriftsteller, der am Institut für angewandte Psychologie in Zürich lehrte. In dem - während der Jahre 1949-53 entstandenen - Werk »Ursprung und Gegenwart« versucht sich Gebser in einer Analyse des modernen Bewusstseins, die in dem Resultat gipfelt, dass die Menschheit im Verlaufe ihrer bisherigen Entwicklung vier verschiedene Bewusstseinsphasen durchlaufen hat, die er als archaische, magische, mythische und mentale Bewusstseinsstufen bezeichnet. Der Übergang von einer Bewusstseinsphase in die andere soll durch Mutation stattfinden, wobei die vorangegangene ins Unbewusste verdrängt wird. Nach Gebser wird zur Zeit das »mentale« Bewusstsein durch das »arationale-integrale« ersetzt. Im nachfolgenden Beitrag, der aus dem Anthologieband »Asien lächelt anders« stammt, versucht Gebser mystische und meditative Erfahrungen mit dem »unerschaffenen, übernatürlichen Licht«, in dem Gott wohnen soll, in Einklang mit seinen Thesen zu bringen.

Siehe auch Wikipedia


Das unerschaffene Licht der Urspungsgegenwärtigkeit

Worum handelt es sich? Auch und vor allem um die Einsicht, die dem Westen weitgehend verlorengegangen war, daß nämlich dieser Bereich mehr ist als ein bloßer, den Glauben und das Denken überragender Bereich; daß dieses Geistige, das gottheitliche Ganze, alles: Mensch, Welt, All und Außer-All durchwirkt als eine gleichsam immerwährende Bewahrung und Läuterung der Schöpfung und damit auch des Menschen, sofern er sich ihm zu öffnen vermag.

Hin und wieder ist es einigen Europäern selbst unserer Tage gelungen, im heutigen Menschen das Bewusstsein von seiner immerwährenden Teilhabe am Geistigen zu wecken. Gelingt es, so ist dies gleichbedeutend mit der »Großen Befreiung«, dank derer sich das Leben und Sterben des einzelnen zu erfüllen vermag.

Alles verstandesmäßig Denkbare hat nur dann Wirklichkeitswert, wenn es Beweiskraft hat. Alles geistig Wahrnehmbare hat nur dann Gültigkeit, wenn es Evidenzcharakter hat. Das, wovon hier zu sprechen gewagt wird, vollzieht sich im Übergedanklichen. Damit bleibt es für jene, welche die Grenzen des Denkens nicht zu überschreiten wagen, bloße Vermutung, während es für die Wahrnehmenden die
Transparenz des »Letztwirklichen« ist. Dieser Transparenz kann man nicht ansichtig werden, sie kann man nicht sehen, wohl aber kann sie in der unangestrengtesten Überwachheit wahrnehmbar, kann im eigensten Sinne des Wortes »gewahrt« werden. Sie ist mehr als Klarheit oder Leuchten, mehr als Verklärung oder Strahlung. Möglicherweise könnte man von ihr als dem Durchglänztsein des Ganzen sprechen. Wer ihrer teilhaftig wird, ist gleichsam geläutert, wie umgeschmolzen, von den Schlacken der Seele und den Begrenztheiten des Denkens befreit, ohne in mindester Weise etwa dem Hiesigen rauschhaft entrückt zu sein; ist »in der Ordnung«, im tiefsten Vertrauen und durchpulst von nüchtern-heiliger Ursprungsgegenwärtigkeit. Und dies alles, ohne daß er der klar sich weiterhin ereignenden und vorhandenen Umwelt verlustig ginge, wobei zudem zu bemerken ist, daß alles Gegenständliche desgleichen in die Transparenz erhoben ist und sich damit in das Gegenüberlose wandelt. Und noch eines muß erwähnt werden, was der einzelne je nach Einstellung als bloße Vermutung oder als unbeweisbare Evidenz werten wird: Diese Transparentwerdung oder diese vollzogene Aufnahme in die Transparenz sind in keiner Weise ein bewusstseinsschwächendes Ereignis magischer Einigung; es ist kein billig-emotionales oder trancehaftes Einswerden (mit dem sogenannten All oder der Welt), sondern die überklare Gewissheit, dass die Aufnahme in die Transparenz des Ganzen, dass das ihrer Teilhaftigwerden in der Nicht-Zweiheit des Geistigen gründet. Es ist also keine »unio mystica«, sondern »Advaita«, um dieses Sanskritwort zu gebrauchen, das oft fälschlich mit »Nicht-Dualität« übersetzt wird. Hier zeigt sich übrigens, dass es förderlich ist, ein klar unterscheidendes Denken geübt zu haben, um sich nachträglich Rechenschaft davon ablegen zu können, daß die Erfahrung der Transparenz nichts mit dem mystisch-schwärmerischen Unifikationsrausch irrationalen Gepräges zu tun hat. Davon wird nachher noch zu sprechen sein.

Darauf, dass Transparenz keine Lichterscheinung im Sinne hiesig sichtbaren Lichtes ist, gibt es viele Hinweise. So benützt
Graf Dürckheim die alte Umschreibung: das »Übernatürliche Licht«. Das gleiche Wissen bringt Meister Eckhart zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Alles was man von Gott zu denken vermag, das ist alles Gott nicht. Was Gott in sich selber sei, dazu kann niemand kommen, er werde denn in ein Licht gerückt, das Gott selber ist.« Schon der Apostel Paulus weist im ersten Timotheusbrief (6, 16) auf den überweltlichen Charakter dieses Lichtes hin, wenn er davon spricht, daß Gott »in einem unzugänglichen Lichte« wohne. Im gleichen Sinne äußert sich auch Angelus Silesius in zwei seiner Vierzeiler (in denen er die manchmal fast ins Blasphemische abgleitende und anmaßende Mensch-Gott-Identifikation vermeidet). Diese zwei Vierzeiler lauten:


»Gott wohnt in seinem Licht,
Zu dem die Bahn gebricht.
Wer es nicht selber wird,
Der sieht Ihn ewig nicht.«


Und der andere:

»Ich selbst muß Sonne sein
Und muß mit meinen Strahlen
Im farbenlosen Meer
Der ganzen Gottheit malen.«

Immer finden wir dort, wo die Befreiung aus dem Gefängnis des mental-rationalen Bewusstseins vollzogen wird, wo wir der »Welt ohne Gegenüber«, also der transparenten Welt des Ganzen, teilhaftig werden, Umschreibungen, die stets auf den übernatürlichen Lichtcharakter hinweisen, der diesem Ereignis oder dieser Erfahrung die umgestaltende Prägung gibt. »Nur wenn die Vollkommenheit der Erleuchtung erreicht ist, in der alle Farben verschmelzen und im höchsten Glanze integriert sind«, dürfte von »Samadhi« gesprochen werden, schreibt Lama Anagarika Govinda. Und der Sinn des asketischen Lebens der Mönche vom Berge Athos war es, sich in jene überweltliche Wirklichkeit einzustimmen, die dann erreicht war, wenn es ihnen gelang, des »Unerschaffenen Lichtes« ansichtig zu werden, jenes »Lichtes« also, das dank seines geistigen Transparenzcharakters ungegenständlich und somit im hiesigen weltlichen Sinne unerschaffen ist.

In diesem Zusammenhange müssen zwei Warnungen erwähnt werden. Es sind Hinweise, die uns der sogenannte Zufall, die Fügung, zuspielte. Sie erhalten zu haben, verpflichtet vielleicht dazu, sie mitzuteilen. Sie betreffen den Vollzug und den Charakter der Transparentwerdung und damit die innere Bereitung und Haltung des einzelnen für den »Durchbruch zum Wesen«; oder um es mit den anderen Umschreibungen auszudrücken: für die »Erleuchtung«, für die »Große Erfahrung«, für die »Große Befreiung«, die im Buddhismus und Hinduismus »Samadhi«, im japanischen Zen-Buddhismus »Satori« genannt werden. Es handelt sich um die Warnung vor jedweder Absicht, und es handelt sich um die Warnung vor jedweder bewußtseinsmäßiger Regression. Beide dürften besonders für den westlichen Menschen von entscheidendem Werte sein.

Ein Freund von mir, der vor einigen Jahren verstorbene Soziologe Walther Tritsch, hatte das Glück, in den dreißiger Jahren sechs Monate lang als Gast — und nicht als Einsiedler — in einem Athos-Kloster leben zu dürfen. Er erzählte mir von der tragischen Komponente des Lebens jener Mönche. Wenn sie das »Unerschaffene Licht« nach jahre-, ja manchmal erst jahrzehntelangem asketischem Einsiedlerleben glaubten »erblickt« zu haben, begannen sie zu zweifeln, ja zu verzweifeln: War es das wahre Licht gewesen, oder war es nur eine gleichsame seelische, phantasmagorische Lichterscheinung, ein, wie sie sagten, vom »Teufel« ihnen vorgegaukeltes Irrlicht, das sie sich infolge ihres unablässigen Bemühens und Wünschens selber suggeriert hatten? Jedwede Evidenz zerrann in Vermutungen.

Wir wissen nicht nur von Jakob Böhme, sondern auch von Sri Aurobindo und von Daisetz Teitaro Suzuki, dass sie dieses »Lichtes«, dieser »Transparenz« oder »Verklärung« spontan —und das will hier besagen: ohne vorangegangene Vorbereitung und Schulung, sondern als urplötzliches Geschehen — »gewahr« wurden. Auf diese Spontaneität legt besonders die Rinzaischule des Zen-Buddhismus, der Daisetz Teitaro Suzuki angehörte, den größten Wert. Freilich: Auch jahrzehntelange Exerzitien und Askese im Kloster können zumindest zur »unio mystica«, möglicherweise zur »Erleuchtung« führen.

Wie dem auch immer sei: Erzwingen läßt sich die »Große Befreiung«, das Gewahrwerden des »Unerschaffenen Lichtes« oder der »Transparenz«, die »Erleuchtung« oder wie immer man dieses Geschehnis nennen will, nicht. Jedwede vorsätzliche Zielgerichtetheit und willensmäßige Anstrengung, selbst die bestgemeinte Absicht sind da Hindernisse. Das will keinesfalls besagen, dass man sich gehen lassen dürfe. Im Gegenteil: Es erfordert charakterlicher, also emotional-vitaler, seelischer und denkerischer Disziplinierung und Souveränität, es bedarf einer unermüdlichen und ausdauernden Arbeit an sich selber, um jene Entschlackung und Läuterung zu fördern, welche weitgehend Voraussetzungen für das Aufgenommenwerden in die Transparenz sind. Die Absicht darf also nicht auf die Transparenz selbst gerichtet sein. Es sollte überhaupt keine Absicht im Spiele sein. Die Transparenz wartet seit je in uns. Sie mit den Mitteln der uns bislang verfügbaren Bewusstseinskräfte, die nicht zu ihr hinüberreichen, »in den Griff« bekommen zu wollen, ist ein aussichtsloses Vorhaben. Unsere Aufgabe ist es, den innersten Grund unseres Wesens gewissermaßen täglich zu jäten, ohne nach der »Großen Erfahrung« zu schielen, um diesen »Durchbruch zum Wesen« vorzubereiten. Und wir dürfen es nicht um unserer selbst willen tun. Obwohl sich diese Erfahrung im einzelnen, im menschlichen Bewußtsein ereignen kann, ist sie doch ein
e Manifestation des überweltlichen Bewusstseins. Wer ihrer teilhaftig wurde, ist auch der Menschheit verpflichtet: Denn jedes Gran der durch einen Menschen verwirklichten Transparenz intensiviert die geistige Kraft der Menschheit. Dieser alles durchwirkenden Kraft auf der Erde Heimat zu geben, bewusste Heimat, ist in der heutigen Weltsekunde von durchaus entscheidender Bedeutung. Sollte die Menschheit den Absturz in die Selbstaustilgung vermeiden, so werden wir dies — sofern es vorgegeben ist — weitgehend jenen zu danken haben, die dieses Dankes weder bedürfen noch ihn wollen, welche absichtslos, unscheinend, aber bewußt die überwirkliche Transparenz verwirklichten. Man wende nicht ein, das alles sei utopisch. Es ist es nicht. Das aus dem Griechischen stammende Wort »utopisch« bedeutet, wörtlich übersetzt: »das, was keinen Ort hat«. Aber ich kenne einige Verehrungswürdige, dank derer die Transparenz im Hiesigen einen Ort gefunden hat.

Eine Stunde, nachdem die letzten Sätze des vorstehenden Absatzes geschrieben worden waren, fand ich für das in ihnen Ausgesagte eine unvermutete Bestätigung in einem mir bislang unbekannt gewesenen Buche
Wei-Langs. [Wei-Lang, Das Sutra des sechsten Patriarchen; Origo]. Es ist, wie Lama Anagarika Govinda im Vorwort schreibt, die «lebendigste aller Schriften der Chan- oder Zen-Literatur», die von dem sechsten Patriarchen im siebenten Jh. n.Chr. verfasst wurde. Das zentrale Thema ist die spontane, die plötzliche Realisierung dessen, was Wei-Lang die «Geistessenz» (wörtlich die « Selbstnatur») nennt, welche durchaus dem entspricht, was hier als «Übernatürliches Licht» und als «Transparenz» bezeichnet worden ist. Beim Weiterblättern stoße ich dann auf folgende Ausführungen des Patriarchen: «... diejenigen, die die Geistessenz erfasst haben..., erreichen Befreiung ... und Samadhi, welche sie befähigen, die schwere Aufgabe der Rettung der Welt spielend zu lösen. Dies sind die Menschen, die die Geistessenz verwirklicht haben.»

Nun wäre noch von einer dritten Warnung zu sprechen. Es gibt im Deutschen eine aufschlussreiche Redewendung, die oft dort gebraucht wird, wo es gilt, zum Ausdruck zu bringen, dass einem etwas klar- und bewusst geworden sei. Dann sagt man wohl: «Ja, jetzt ist mir ein Licht aufgegangen.» Es ist keine Verallgemeinerung, wenn wir feststellen, dass sich dort, wo in derartigen Zusammenhängen von Licht gesprochen wird, ein Hinweis auf einen Bewusstseinsvorgang, auf eine Bewusstwerdung zu erkennen gibt. Die Auflichtung und zunehmende Erhellung des Bewusstseins ist ja das entscheidende Phänomen des menschlichen und menschheitlichen Reifens. Wir, die wir erst vor kurzem — abendländisch gesehen vor etwa 2500 Jahren — den Sprung aus dem Traum- ins Wachbewusstsein, aus dem irrationalen ins mental-rationale Bewusstsein vollzogen haben, müssen doppelt achtsam sein, daß die «Große Erfahrung» sich auch tatsächlich in einer «Erleuchtung» des Bewusstseins manifestiere. Mit anderen Worten es sollte eine neumalige Erhellung und Intensivierung des Bewusstseins eintreten, das diesmal nicht aus dem Traum zur Wachheit erwacht, sondern aus der Wachheit in die Überwachheit gehoben wird. Es handelt sich um jenes umgestaltende Geschehen, vermöge dessen sich das Bewusstsein derart steigert, dass es die dem Denken, also die dem rationalen Erfassen gesetzten Grenzen zu überspringen vermag; damit wird es der Transparenz des Ganzen teilhaftig. Es ist die Mutation, also der Sprung aus dem «mentalen» ins «supramentale» (Sri Aurobindo), aus dem «mentalen» ins «nicht-mentale» Bewusstsein (D. T. Suzuki), aus dem, wie wir es, ohne Kenntnis der soeben erwähnten Formulierungen, ausgedrückt haben, «mental-rationalen» ins «arational-integrale» Bewusstsein. hier wird auch offensichtlich, dass diese heutige Mutation wiederum weltweit ist.


Es wäre nun ein Fehler, zu meinen, dass alle die zahlreichen Ausdrücke für die «Große Erfahrung», die hier namhaft gemacht worden sind, bewiesen, es handle sich um etwas irrational Unklares. Das Gegenteil ist der Fall: es handelt sich um arational Überklares, das, da es das Ganze meint, nicht durch einzelne Wörter oder Begriffe benannt oder fixiert, sondern nur durch annähernde Umschreibungen angeleuchtet werden kann. Beispielhaft für diese Art des Wahrnehmbarmachens ist Graf Dürckheims Arbeit «Auf dem Wege zur Transparenz». Der Fülle des Ganzen entsprechend, beschreibt er das Phänomen der Transparenz, indem er von immer neuen Ansatz- und Ausgangspunkten neues Licht darauf fallen lässt. Denn es sei nicht vergessen: Transparenz meint das Ganze. Sie ist keineswegs ein Einheitserlebnis. Gustav Richard Heyer spricht deshalb sehr zu Recht davon, dass man bei den «ganz Großen... die Gegensätze als für überwunden zu betrachten, und gerade dies als Zeichen des wirklich überragenden Menschen zu nehmen (habe) — als eines, der im <Letztwirklichen> gründet». Diese Überwindung der Gegensätze ist gleichbedeutend mit dem Freiwerden von der ausschließlichen Gültigkeit des mentalrationalen Bewusstseins. Nur dies kennt und setzt Gegensätze. Im «Letztwirklichen» — eine andere Umschreibung für «Transparenz» oder «Geistessenz», «Urgrund» oder «Wesen» — werden sie aufgehoben; sie bilden keine Zweiheit mehr; dort herrscht «Advaita», die «Nicht-Zweiheit», die aber keine Einheit ist. (Hier zeigt sich übrigens, dass Phänomene des überweltlichen Bewusstseins bei dem Versuch, sie mental-rational zu definieren — der immer unzulänglich bleiben muss—, durch die negative Formulierung deutlicher werden als durch eine positiv begriffliche Abstempelung. Dies gilt auch für unsere gewissermaßen advaitahafte Formulierung der «Welt ohne Gegenüber», die keinen Beziehungsverlust zum Ausdruck bringt, wohl aber das beziehungserfüllte Miteinander im Ganzen.)
Aus: Jean Gebser. Asien lächelt anders. Kleine Schriften, 13. Gemeinsamkeiten in der geistigen Haltung (S.156-163)

Gesamtausgabe Band VI im Novalis Verlag
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