Arnold Gehlen (1904 – 1976)

Deutscher Philosoph, der ein Hauptvertreter der modernen philosophischen Anthropologie war. Gehlen betrachtete den Menschen als instinktunsicheres biologisches »Mängelwesen«, das auf die Entlastung durch Institutionen und die Umarbeitung von Natur zur Kultur angewiesen ist.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Anthropologische Forschung
Zur Geschichte der philosophischen Anthropologie

Mängelwesen oder Prometheus
Die übernatürliche Technik: Magie



Zur Geschichte der philosophischen Anthropologie
Eine Theorie oder eine Idee vom Menschen hatte die europäische Philosophie selbstverständlich und im Sinne der Geschichte unserer Kultur zwangsläufig mit der Theologie sehr lange gemeinsam, ja so lange, als beide Disziplinen noch zusammengingen und sich die Philosophie von der Theologie noch gar nicht emanzipiert hatte, also bis in das 17. Jahrhundert. Bis dahin gibt es keine philosophische Anthropologie, es gibt aber natürlich innerhalb der Theologie eine Frage nach dem Menschen. Hier handelt es sich also ausdrücklich nicht um Erfahrungswissenschaft. Ich darf Ihnen diese Ansicht kurz ins Gedächtnis zurückrufen: Der Mensch nach theologischer Ansicht und so, wie er in der scholastischen Philosophie von der Theologie her gesehen wurde, ist ein Geschöpf Gottes. Gott hat den Menschen unmittelbar geschaffen, indem er mit einem materiellen Leib eine geistige, individuelle und unsterbliche Seele vereinigt hat. Von den so erschaffenen Stammeltern stammen alle Menschen dem Leibe nach ab, während die Seele jedes einzelnen Menschen auch weiterhin unmittelbar erschaffen wird. Das ist die dogmatische christliche Ansicht.

Sie sehen sofort, dass das nicht irgendwelche Erfahrungssätze sind, die hier ausgesagt werden, und solange die Philosophie eigentlich nur als interpretierender Teil der Theologie Bestand hatte, war sie selbstverständlich an diese Ansicht gebunden. Aber die Philosophie hat sich nun doch im 17. Jahrhundert mit Descartes von der theologischen Bindung emanzipiert, ohne atheistisch zu werden, und zwar so, daß dieser das Schöpfungsthema, ohne es zu bestreiten, gar nicht ausdrücklich aufwarf und nicht behandelte, es sozusagen in die Klammer setzte, und indem er im Sinne der neuentdeckten Naturwissenschaften den Leib des Menschen als einen Körper unter anderen Körpern interpretierte.

Man kam auf diese Weise zu einem strengen Dualismus: der Mensch ist eine Maschine, von einem Geiste beseelt. Auf die Frage, wie das zustande komme, ging Descartes, wie gesagt, gar nicht ausdrücklich ein. Aber diese dualistische cartesische Lehre, die für uns zunächst bedeutsam ist, weil sie die Emanzipation der Philosophie von der Theologie bezeichnet, sie hat noch ein zweites Interesse: das Schema war nämlich ungemein dauerhaft, weil es dualistisch war und deswegen — ich möchte sagen — eine gewisse empfehlenswerte Primitivität hatte. Es ließ sich nämlich ganz von theologischen Gedankengängen, denen Descartes noch in mancher Hinsicht gefolgt war, ablösen, und dann gewann man ein wundervoll brauchbares einfaches Modell. Auf der Innenseite konnte man auf die Psychologie und die Geisteswissenschaften hinweisen: jawohl, der Mensch hat eine Seele, damit beschäftigt sich die Psychologie, mit ihren Ausdrucksformen beschäftigen sich Sprachwissenschaften, Logik und andere Geisteswissenschaften. Soweit diese psychologisiert werden konnten, war es möglich, sie auf der einen Seite dieses Dualismus zusammenzufassen, und den Leib überließ man den Medizinern, den Biologen, den Physiologen und Chemikern. Dann konnte man die ganze Universität in diesem Schema unterbringen, mit Ausnahme der theologischen Fakultät, die hatte man ja ausdrücklich schon lange ausgegliedert.

Diese Tatsache, dass der Kosmos der Wissenschaften sich auf ein einfaches, dualistisches Schema verteilen ließ, machte dieses Schema außerordentlich langlebig und brauchbar. Man konnte das Ganze auch noch zu einem Vulgärdualismus vereinfachen, der heutzutage weltanschauungsähnlich sehr verbreitet ist, der Ihnen auf Schritt und Tritt entgegenkommt, und wenn Sie versuchen, sich von ihm zu emanzipieren, dann erscheint er in Form eines Einwandes. Durchbrochen wurde diese Entwicklung nur zeitweise und kurzfristig, in Deutschland durch den deutschen Idealismus, jene philosophische Epoche, die sich an die Namen Kant, Fichte, Hegel, Schelling knüpft. Sie haben nicht dualistisch philosophiert, sondern sie haben den Menschen noch einmal völlig spiritualisiert, und zwar deswegen, weil sie die Philosophie wieder an die Theologie heranführen wollten, was der spätere Fichte, Hegel und Schelling ausdrücklich als ihr Interesse in Anspruch nahmen; aber schon Schopenhauer, der letzte in der Reihe, wurde wieder Dualist, wenn auch gegen seinen Willen, und so stand die Sache am Anfang dieses Jahrhunderts.


Sie sehen, in einer einigermaßen übersehbaren Entwicklung habe Ihnen jetzt eine kurze Geschichte der philosophischen Anthropologie skizziert, die, zunächst noch unselbständiger Teil der Theologie, sich noch gar nicht so nennt. Aber in dem Augenblick, in dem die Philosophie anfängt, sich von der Theologie zu emanzipieren, wird ja die Frage: Was ist der Mensch? in neuen Kategorien aufzuwerfen und zu beantworten sein. Und das tat Descartes etwa mit der Formel »Der Mensch ist eine Maschine, in der ein unsterblicher Geist wohnt«. Mit diesem Dualismus war wenigstens eine Antwort gegeben, und sie erwies sich jetzt als anwendbar für eine dualistische Organisation aller Wissenschaften, die entweder Geistes- oder Naturwissenschaften sein konnten. Daher auch die außerordentliche Lebensdauer dieses cartesischen Schemas.
S.13f.
Aus: Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung. »rowohlts deutsche enzyklopädie« Band 138© Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. 1961 .
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Rowohlt Verlages und der Erben von Arnold Gehlen

Mängelwesen oder Prometheus
Man hat schon lange bemerkt, dass der Mensch, morphologisch angesehen, sozusagen einen Ausnahmefall darstellt. Die Fortschritte der Natur bestehen sonst in der organischen Spezialisierung ihrer Arten, also der Ausbildung immer leistungsfähigerer natürlicher Anpassungen an bestimmte Umwelten. Ein tierischer Organismus »hält sich« kraft seiner spezifischen Organisation in einem Gefüge von Bedingungen, in das er »eingepass ist, ohne dass wir hier fragen wollen, wie diese Harmonie zustande kam. Sieht man nun den Menschen theoretisch unbefangen an, so bemerkt man einige Merkmale, die zunächst einmal nur aufgezählt seien.

1. Er ist »organisch mittellos«, ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den »Spezialisten« im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne Haarkleid und ohne Anpassung an die Witterung, und auch viele Jahrhunderte Selbstbeobachtung haben ihn nicht belehrt, ob er nun eigentlich Instinkte hat und welche. Man hat dies schon lange bemerkt, und Herder (1772) sowie Kant (1784) haben darauf hingewiesen. Erst neuerdings aber ist unter Führung des verstorbenen Amsterdamer Anatomen Bolk eine Theorie zur Entwicklung gekommen, die alle besonderen menschlichen Baumerkmale unter dem Gesichtspunkt der »Primitivität« begreift. Man versteht darunter einmal die Tatsache, dass gewisse Organbesonderheiten, wie das lückenlose Gebiss, die fünfgliedrige Hand und andere »archaisch«, d.h. entwicklungsgeschichtlich alt sein müssen, dass sie nur als Ausgangspunkte von Spezialisierungen verständlich sind, wie wir sie bei Großaffen (Herausentwicklung des Eckzahnes, Verkürzung des Daumens) finden; sodann die andere, dass weitere Besonderheiten (Haarlosigkeit, Schädelwölbung mit untergesetztem Gebiß, Struktur der Beckenregion usw.) als fixierte, dauerhaft gewordene Foetalzustände zu verstehen sind.

Diese »Retardation«, der der Mensch einen sozusagen embryonischen Habitus verdankt, ist ein höchst wertvolles Erklärungsprinzip, weil sie auch andere menschliche Eigenheiten verstehen lässt, vor allem die unverhältnismäßig verlängerte Entwicklungszeit, die lange Hilflosigkeit der Kleinkindphase, die späte Geschlechtsreifung usw. Die Gesamtheit dieser Merkmale fasst man unter dem Begriff der »Unspezialisiertheit« zusammen, und daher stammt die Berechtigung, den Menschen in einen beschreibenden und vergleichenden Gegensatz zum Tier zu bringen, vor allem zu seinen nächsten Verwandten, den ja sehr hoch spezialisierten Großaffen. Vergleicht man wissenschaftlich, d. h. undogmatisch, so wird man erwarten müssen, dass die Vorfahren des Menschen Großaffen von vergleichsweise sehr viel mehr »menschlichem« Habitus als die jetzigen gewesen sind und dass diese ganze Entwicklungslinie durch die sonst nirgends vorhandene Herrschaft eines Prinzips bestimmt ist, das sich in viel geringerem Grade auch sonst finden lässt und das unter verschiedenen Bezeichnungen (Bolks Retardation, Schindewolfs Proterogenese) näherungsweise gefunden ist: eben ein »Festhalten« entwicklungsgeschichtlich alter oder individualgenetisch früher, jugendlicher bzw. embryonaler Merkmale.

2. Wir sehen weiter, wo wir auch hinblicken, den Menschen über die Erde verbreitet und trotz seiner physischen Mittellosigkeit sich zunehmend die Natur unterwerfe
n. Es ist dabei keine »Umwelt«, kein Inbegriff natürlicher und urwüchsiger Bedingungen angebbar, der erfüllt sein muss, damit »der Mensch« leben kann, sondern wir sehen ihn überall, unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe »sich halten«. Und zwar lebt er als »Kulturwesen«, d. h. von den Resultaten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende und tätige Veränderung sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen. Man kann daher die »Kultursphäre« jeweils den Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen nennen, innerhalb deren der Mensch allein lebt und leben kann. Irgendwelche Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche Waffen, Organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und Schutzmaßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw. gehören daher zu den Beständen auch der primitivsten Kultur, und »Naturmenschen«, d. h. kulturlose gibt es überhaupt nicht.

Man muss die Resultate dieser geplanten, verändernden Tätigkeit einschließlich der dazugehörigen Sachmittel, Denk- und Vorstellungsmittel zu den physischen Existenzbedingungen des Menschen rechnen, und diese Aussage gilt für kein Tier. Die Bauten der Biber, die Vogelnester usw. sind niemals voraussehend geplant und gehen aus rein instinktiven Betätigungen hervor. Den Menschen als Prometheus zu bezeichnen hat daher einen exakten und guten Sinn.

Wenn man bemerkt, dass die Kultursphäre des Menschen in der Tat eine biologische Bedeutung hat, so liegt es nahe, den für die Zoologie bewährten Begriff der Umwelt auch hier anzuwenden, wie es meistens geschieht. Aber es besteht doch ein wesentlicher Unterschied: ohne Zweifel muss man ja die organische Mittellosigkeit des Menschen und auf der anderen Seite seine kulturschaffende Tätigkeit aufeinander beziehen und als biologisch eng sich gegenseitig bedingende Tatsachen fassen.

Von einer »Einpassung« des Menschen in einen dieser Gattung von Natur her zugeordneten speziellen Komplex natürlicher Lebensbedingungen, wie dies im exakten Begriff der Umwelt gedacht wird, kann gar keine Rede sein. So wie sich die tierische, organische Spezialisierung und die ihr jeweils zugeschnittene Umwelt zueinander verhalten, so muss man die Unspezialisiertheit und morphologische Hilflosigkeit des Menschen in seiner Kultursphäre sehen. Da diese aber ein Inbegriff urwüchsiger Tatbestände ist, die der Mensch ins Lebensdienliche verändert hat, so gibt es von vornherein gar keine natürlichen Grenzbedingungen menschlicher Lebensfähigkeit, sondern nur technische Grenzbedingungen: nicht in der Natur, sondern in den Graden der Bereicherung und Verbesserung seiner kulturschaffenden Tätigkeit, zuerst der Denkmittel und Sachmittel, liegen die Grenzen menschlicher Ausbreitung.

Der Mensch ist also organisch »Mängelwesen« (Herder), er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und so muss er sich eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. Er lebt sozusagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdienliche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist. Man kann auch sagen, dass er biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen ist.
S.46ff.
Aus: Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung. »rowohlts deutsche enzyklopädie« Band 138 © Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. 1961 .
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Rowohlt Verlages
und der Erben von Arnold Gehlen

Die übernatürliche Technik: Magie
Der stürmische Fortschritt der modernen Technik ist also in engstem Zusammenhang mit den Naturwissenschaften und mit der kapitalistischen Produktionsweise erfolgt, die sich in ähnlich schnellem Tempo ausbreiteten — diese Faktoren stimulierten sich gegenseitig. Niemand wird erwarten, daß diese geschichtlich einmaligen und weltumgestaltenden Vorgänge das Bewusstsein, den Geist der darin verwickelten Menschen unbeeinflusst gelassen haben. Eine praktischpositivistische Einstellung, wie sie im Sinne dieses »Industriesystems« liegt, hat sich daher mit eindrucksvoller Unbeirrbarkeit auch über die Grenzen jenes Systems hinaus verbreitet, innerhalb dessen sie entwickelt worden war, z. B. in die politischen und, in noch weiterem Sinne, in die zwischenmenschlichen Bereiche hinein. Mit diesen Erscheinungen werden wir uns im weiteren Verlaufe noch zu beschäftigen haben, hier liegen ja die eigentlich sozialpsychologischen Probleme der industriellen Gesellschaft. Zuerst müssen wir aber noch einen neuen Gedanken entwickeln, der die in der Technik wirksamen menschlichen Antriebe betrifft und der uns eine nicht unwichtige anthropologische Einsicht vermitteln soll.

Über den unvergleichlich größten Teil ihrer bisherigen Geschichte hinweg hat die Menschheit, wie wir sahen, sich mit ziemlich bescheidenen technischen Hilfsmitteln begnügt, wenn auch diese elementaren Erfindungen jeweils in hohem Grade geistreich waren. Diese im Grunde recht einfachen Werkzeuge und Apparaturen konnten, wie die Erfindung des Streitwagens, der Feuerwaffe, des Pfluges zeigen, ganz außerordentliche geschichtliche und soziale Auswirkungen haben, aber die Technik rückte nicht bis in den Mittelpunkt der menschlichen Weltauslegung und damit auch seiner Selbstauffassung vor, so wie das heute möglich ist, wo wir von der »Kybernetik«, der Theorie der Regelungstechnik, Aufschlüsse über das Funktionieren unserer eigenen Gehirn- und Nerventätigkeit erwarten. Auf die Frage: warum nicht? gibt es eine überraschende Antwort. Seit Jahrzehntausenden war der Mensch aller primitiven Kulturen und aller Hochkulturen, wie der ägyptischen, antiken usw. von einer sehr anderen Vorstellung besetzt, nämlich von der Idee der Möglichkeit einer »übernatürlichen Technik« — von dem, was wir Magie nennen. Die Magie hat seit prähistorischen Zeiten in der Welt- und Selbstauffassung des Menschen eine geradezu zentrale Rolle gespielt, selbst in den monotheistischen Kulturen, die sie im Grundgedanken ausschlossen, hat sie sich, an den Rand gedrängt, mit Zähigkeit gehalten, wie die Hexen- und Zauberprozesse des Mittelalters beweisen, und erst die eigentlich moderne, technisch-naturwissenschaftliche Kultur hat ihr das Rückgrat gebrochen.

Maurice Pradines nennt die Magie ein »Unternehmen, Veränderungen zum Vorteil des Menschen hervorzubringen, indem man die Dinge von ihren eigenen Wegen zu unserem Dienst hin ablenkte«. Wenn man sich diese Definition ansieht, so bemerkt man, dass sie sowohl die Magie als auch die eigentliche Technik umfasst, also die übernatürliche Technik und die natürliche.

An dieser Stelle können wir eine speziellere Analyse der Magie nicht vornehmen, aber wir müssen nachdrücklich auf ihre enorme Verbreitung über den ganzen Erdball hinweg und zu allen Zeiten hinweisen — es muss in ihr etwas anthropologisch Fundamentales liegen, zumal wenn man an die merkwürdige, von Kulturstufen und Rassen unabhängige Stereotypie der magischen Praktiken denkt. Der »Wetterzauber« z. B., die Lenkung oder Provokation der Witterung, meistens des Regens, lässt sich aus der klassischen Antike belegen — nach Diogenes Laertius konnte das Empedokles —, der »Hexenhammer« (1487) gibt ausführliche Anweisungen für Gegenzauber gegen magisch erzeugte Unwetter, die Eingeborenen von Neubritannien kennen ebensogut Wetterzauber wie die Omaha-lndianer, die Bantu der Delagoabai oder die Chinesen. Sieht man sich nun die unglaublich zahlreichen Berichte und Dokumentationen genauer an, so findet man ein ganz zentrales Anliegen der magischen »Künste« — es besteht nämlich in dem Bedürfnis, die »Gleichförmigkeit des Naturverlaufes« sicherzustellen und den Rhythmus der Welt zu »stabilisieren«, indem man gegen Unregelmäßigkeiten und Ausnahmefälle angeht. Wenn daher Missgeburten oder Mond- und Sonnenfinsternisse und beliebige andere auffallende Ereignisse als ungünstige »Vorzeichen« gelten, die man magisch abwehren muß, so handelt es sich dabei genauso um die Wiederherstellung der gewohnten Naturgleichförmigkeit, wie in den oben genannten Fällen, da man die ausbleibenden normalen Regenfälle oder Winde durch »Zauberei« heranholt. Und ebenso gehört hierher die geradezu uferlose Kasuistik des »Fruchtbarkeitszaubers«, wo es sich darum handelt, den großen Perioden der Vegetation, der Vermehrung der Tiere und Pflanzen »nachzuhelfen«, wobei es besonders auf die Einhaltung genauer Termine ankommt, auf Jahres- und Tageszeiten oder periodische Anlässe, wie den Beginn der Bodenbearbeitung, der Aussaat oder Ernte.

Dieses elementare menschliche Interesse an der
Gleichförmigkeit des Naturverlaufes ist höchst bemerkenswert, es entspricht einem instinktähnlichen Bedürfnis nach Umweltstabilität, denn in einer zeitunterworfenen und notwendig wandelbaren Wirklichkeit besteht das Maximum an Stabilität in einer automatischen, periodischen Wiederholung des Gleichen, wie sie die Natur ja auch annähernd zeigt. Die erste und ursprüngliche, noch durch keinerlei Wissenschaft hindurchgegangene, insofern also »apriorische« (vorgegebene) Auffassung sieht die Welt samt dem in sie eingegliederten Menschen als einen rhythmischen, selbstbewegten Kreisproze
ss, also als einen Automatismus, und zwar als einen irgendwie beseelten. Auch die magischen Kräfte, welche diese Welt durchziehen, sind weder willkürlich noch spontan, sondern man kann sie mit der rechten und genau repetierten Formel in Gang bringen, sie wirken sich dann notwendig und automatisch von selbst aus. Ein durchaus nicht belangloser Rest dieser uralten, angeborenen Idee liegt natürlich auch heute noch vor Augen, trotz aller »Rationalisierung« durch das neue wissenschaftliche Weltbild, und zwar in der Astrologie. Viele von uns würden staunen, wenn sie aus der Praxis der Astrologen wüssten, wie zahllose Geschäftsleute und Politiker an den ungeheueren, rotierenden Automatismus der Sterne und ihren zwangsläufigen Zusammenhang mit den Schicksalen der einzelnen Menschen glauben, ein Zusammenhang, der wie in der Metaphysik der Naturvölker ebenso seelenartig wie notwendig ist — das widerspricht sich hier nicht. Wie tief mag so etwas im Menschen sitzen, wenn es sich allen Herausforderungen der beleidigten Vernunft zum Trotze so hartnäckig hält!

Die Faszination durch den Automatismus bildet den vorrationalen und überpraktischen Antrieb in der Technik, der sich zuerst viele Jahrtausende lang in der Magie, der Technik des Übersinnlichen, auswirkte, bis er erst in jüngster Zeit seine vollkommene Erfüllung in Uhren, Motoren und rotierenden Maschinen jeder Art fand. Wer als Psychologe den Zauber sieht, den die Autos auf unsere Jugend ausüben, kann keinen Zweifel daran haben, daß hier ursprünglichere Interessen ins Spiel gesetzt werden als rationale und praktische. Wem das unwahrscheinlich vorkommt, der denke daran, daß das Faszinierende des Automatismus einer Maschine ganz unabhängig von der Leistung ist: im höchsten Grade würde es ein Perpetuum mobile haben, dessen Zweck und Leistung ganz in der Reproduktion der eigenen Kreisbewegung aufginge. Keiner der zahllosen Autoren, die sich jahrhundertelang mit diesem unlösbaren Problem abmühten, hat davon einen praktischen Effekt erwartet, sie waren alle von dem merkwürdigen Reiz einer Maschine benommen, die in sich selbst zurückläuft, einer Uhr, die sich selbst aufzieht. Dieser Reiz ist kein bloß intellektueller, er liegt weitaus tiefer.

Es handelt sich nämlich um ein
Resonanzphänomen. Bedingt von der Rätselhaftigkeit seines Daseins und seines eigenen Wesens ist der Mensch schlechthin darauf angewiesen, seine Selbstdeutung über ein Nicht-Ich heranzuholen, über ein Anderes-als-Menschliches. Sein Selbstbewusstsein ist indirekt, seine Bemühung um eine Eigenformel verläuft immer so, dass er sich mit einem Nichtmenschlichen gleichsetzt und in dieser Gleichsetzung wieder unterscheidet. Es macht keine Mühe, diese Wahrheit an den Gottesbegriffen der monotheistischen und polytheistischen Hochreligionen nachzuweisen oder an den viel urtümlicheren Mythen von der Abstammung des Menschen aus Tierdämonen, die einmal eine weltweite Verbreitung hatten. Auch interpretierte man sehr lange die eigene Seele aus Erscheinungen der Außenwelt, und Schatten, Blut, Spiegelbilder und andere Sichtbarkeiten mussten zur Auslegung des eigenen Inneren herhalten. Die primitiven Religionen haben überall in der Natur wortlose Antworten auf die Frage nach dem eigenen Wesen des Menschen wahrgenommen.


In dieser Hinsicht ist man aber vor allem stets von rhythmischen, periodischen, in ihrer Unbeirrbarkeit »tendenziös« wirkenden Vorgängen beeindruckt worden, handle es sich nun um die rätselhaft genaue Wiederholung des Umschwungs der Gestirne oder um die eigensinnigen, stereotypen, unablenkbaren Gewohnheiten der Tiere. Nun ist aber der Mensch in der Tat in ganz zentralen Bereichen seiner Natur Automatismus, er ist Herzschlag und Atmung, er lebt geradezu in und von sinnvoll funktionierenden, rhythmischen Automatismen, wie sie in der Bewegung des Gehens, vor allem aber in den eigentlichen Hantierungen und Arbeitsgängen der Hand vorliegen, in dem »Handlungskreis«, der über Sache, Hand und Auge zur Sache zurücklaufend sich schließt und dauernd wiederholt. So faszinieren ihn die analogen Vorgänge der Außenwelt kraft einer »Resonanz«, die sozusagen eine Art des inneren Sinnes für das Eigenkonstitutionelle im Menschen darstellt, der auf das anspricht, was dieser Eigenkonstitution in der Außenwelt ähnelt. Und wenn wir heute noch vom »Gang« der Gestirne, vom »Gang« der Maschine reden, so sind das keine oberflächlichen Vergleiche, sondern aus der Resonanz heraus objektivierte Selbstauffassungen bestimmter Wesenszüge des Menschen — der die Welt nach seinem Bilde interpretiert und umgekehrt sich nach Weltbildern. S.12ff.
Aus: Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter . Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft.
»rowohlts deutsche enzyklopädie« Band 53 . © 1957 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Rowohlt Verlages und der Erben von Arnold Gehlen