Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

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Inhaltsverzeichnis

Gedichte über Jesus
Der ewige Jude

Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi
Das Widerwärtigste unter der Sonne
(aus dem Brief vom 9. 6. 1831 an Carl Friedrich Zelter)
Das Märchen von Christus
Wenn er käme, man würde ihn zum zweiten Mal kreuzigen
>>> Gott

Zwei Gedichte über Jesus
Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
Kränkte seinen heilgen Willen.

Aus: West-Östlicher Divan, (Insel Verlag, Goethe Werke Erster Band, S.557)

Vom Himmel steigend, Jesus bracht
Des Evangeliums ewige Schrift,
Den Jüngern las er sie Tag und Nacht;
Ein göttlich Wort, es wirkt und trifft.
Er stieg zurück, nahm's wieder mit;
Sie aber hatten's gut gefühlt,
Und jeder schrieb, so Schritt vor Schritt,
Wie er's in seinem Sinn behielt,
Verschieden. Es hat nichts zu bedeuten:
Sie hatten nicht gleiche Fähigkeiten;
Doch damit können sich die Christen
Bis zu dem Jüngsten Tage fristen.

Aus: West-Östlicher Divan, (Insel Verlag, Goethe Werke Erster Band, S.389)

Der ewige Jude
Ein Fragment
Des ewigen Juden erster Fetzen
Um Mitternacht wohl fang ich an,
Spring aus dem Bette wie ein Toller;
Nie war mein Busen seelevoller,
Zu singen den gereisten Mann,
Der Wunder ohne Zahl gesehn,
Die trutz der Lästrer Kinderspotte
In unserm unbegriffnen Gotte
Per omnia tempora in einem Punkt geschehn.
Und hab ich gleich die Gabe nicht
Von wohlgeschliffnen, leichten Reimen,
So darf ich doch mich nicht versäumen,
Denn es ist Drang, und so ist's Pflicht.
Und wie ich dich, geliebter Leser, kenne,
Den ich von Herzen Bruder nenne,
Willst gern vom Fleck und bist so faul,
Nimmst wohl auch einen Ludergaul,
Und ich, mir fehlt zu Nacht der Kiel,
Ergreif wohl einen Besenstiel.
Drum hör es denn, wenn dir's beliebt,
So kauderwelsch, wie mir der Geist es gibt.

In Judäa, dem heiligen Land,
War einst ein Schuster, wohlbekannt
Wegen seiner Herzfrömmigkeit
Zur gar verdorbnen Kirchenzeit.
War halb Essener, halb Methodist,
Herrnhuter, mehr Separatist,
Denn er hielt viel auf Kreuz und Qual,
Genug, er war original,
Und aus Originalität
Er andern Narren gleichen tät.

Die Priester vor so vielen Jahren
Waren, als wie sie immer waren
Und wie ein jeder wird zuletzt,
Wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt.
War er vorher wie ein Ameis krabblig
Und wie ein Schlänglein schnell und zabblig,
Wird er hernach in Mantel und Kragen
In seinem Sessel sich wohl behagen.
Und ich schwöre bei meinem Leben,
Hätte man Sankt Paulen ein Bistum geben,
Pollrer wär worden ein fauler Bauch
Wie coeteri confratres auch.

Der Schuster aber und seinesgleichen
Verlangten täglich Wunder und Zeichen,
Daß einer pred'gen sollt für Geld,
Als hätt der Geist ihn hingestellt.
Nickten die Köpfe sehr bedenklich
Über die Tochter Zion kränklich,
Daß, ach, auf Kanzel und Altar
Kein Moses und kein Aaron war,
Daß es dem Gottesdienste ging,
Als wär's ein Ding wie ein ander Ding,
Das einmal nach dem Lauf der Welt
Im Alter dürr zusammenfällt.

»O weh der großen Babylon!
Herr, tilge sie von deiner Erden,
Laß sie im Pfuhl gebraten werden,
Und, Herr, dann gib uns ihren Thron.«

So sang das Häuflein, kroch zusammen,
Teilten so Geists- als Liebesflammen,
Gafften und langeweilten nun,
Hätten das auch können im Tempel tun.
Aber das Schone war dabei,
Es kam an jeden auch die Reih,
Und wie sein Bruder welscht' und sprach,
Durft er auch welschen eins hernach.
Denn in der Kirche spricht erst und letzt
Der, den man hat hinaufgesetzt,
Und gläubigt euch und tut so groß
Und schließt euch an und macht euch los,
Und ist ein Sünder wie andre Leut,
Ach, und nicht einmal so gescheut.

Der größte Mensch bleibt stets ein Menschenkind,
Die größten Köpfe sind das nur, was andre sind,
Allein, das merkt, sie sind es umgekehrt:
Sie wollen nicht mit andern Erdentröpfen
Auf ihren Füßen gehn, sie gehn auf ihren Köpfen,
Verachten, was ein jeder ehrt,
Und was gemeinen Sinn empört,
Das ehren unbefangne Weisen.
Doch brachten sie's nicht allzuweit,
Ihr non plus ultra jederzeit
War, Gott zu lästern und den Dreck zu preisen.

Die Priester schrien weit und breit:
»Es ist, es kommt die letzte Zeit,
Bekehr dich, sündiges Geschlecht.«
Der Jude sprach: »Mir ist's nicht bang,
Ich hör vom Jüngsten Tag so lang.«

Behalten auch zu unsern Zeiten
Die Gabe, Geister zu unterscheiden,
Cap und Champagner und Burgunder
Von Hoch- nach Riedesheim hinunter.

Der Vater saß auf seinem Thron,
Da rief er seinem lieben Sohn,
Mußt zwei- bis dreimal schreien.
Da kam der Sohn ganz überquer
Gestolpert über Sterne her
Und fragt, was zu befehlen.
Der Vater fragt ihn, wo er stickt -
»Ich war im Stern, der dorten blickt,
Und half dort einem Weibe
Vom Kind in ihrem Leibe.«
Der Vater war ganz aufgebracht
Und sprach:
»Das hast du dumm gemacht,
Sieh einmal auf die Erde.
Es ist wohl schön und alles gut,
Du hast ein menschenfreundlich Blut
Und hilfst Bedrängten gerne.«


Als er sich nun hernieder schwung
Und näher die weite Erde sah
Und Meer und Länder weit und nah,
Ergriff ihn die Erinnerung,
Die er so lange nicht gefühlt,
Wie man da drunten ihm mitgespielt.
Er fühlt in vollem Himmelsflug
Der ird'schen Atmosphäre Zug,
Fühlt, wie das reinste Glück der Welt
Schon eine Ahndung von Weh enthält.
Er denkt an jenen Augeblick,
Da er den letzten Todesblick
Vom Schmerzenhügel herab getan,
Fing vor sich hin zu reden an:
»Sei, Erde, tausendmal gegrüßt!
Gesegnet all ihr meine Brüder!
Zum erstenmal mein Herz ergießt
Sich nach dreitausend Jahren wieder,
Und wonnevolle Zähre fließt
Vom nimmer trüben Auge nieder.
O mein Geschlecht, wie sehn ich mich nach dir!
Und du, mit Herz und Liebesarmen
Flehst du aus tiefem Drang zu mir.
Ich komm, ich will mich dein erbarmen.
O Welt voll wunderbarer Wirrung,
Voll Geist der Ordnung, träger Irrung,
Du Kettenring von Wonn und Wehe,
Du Mutter, die mich selbst zum Grab gebar,
Die ich, obgleich ich bei der Schöpfung war,
Im ganzen doch nicht sonderlich verstehe.
Die Dumpfheit deines Sinns, in der du schwebtest,
Daraus du dich nach meinem Tage drangst,
Die schlangenknotige Begier, in der du bebtest,
Von ihr dich zu befreien strebtest
Und dann, befreit, dich wieder neu umschlangst -
Das rief mich her aus meinem Sternensaale,
Das läßt mich nicht an Gottes Busen ruhn.
Ich komme nun zu dir zum zweiten Male;
Ich säete dann, und ernten will ich nun.«

Er auf dem Berge stille hält,
Auf den in seiner ersten Zeit
Freund Satanas ihn aufgestellt
Und ihm gezeigt die volle Welt
Mit aller ihrer Herrlichkeit.

Er sieht begierig rings sich um,
Sein Auge scheint ihn zu betrügen,
Ihm scheint die Welt noch um und um
In jener Sauce tief zu liegen,
Wie sie an jener Stunde lag,
Da sie bei hellem, lichten Tag
Der Geist der Finsternis, der Herr der Alten Welt,
Im Sonnenschein ihm glänzend dargestellt
Und angemaßt sich ohne Scheu,
Daß er hier Herr im Hause sei.
Nicht gut, nicht bös, nicht groß, nicht klein,
So scheißig, als sie sollte sein.
Doch wenn er's tät sich feste klopfen,
Das Reich Gottes hineinzupfropfen.

»Wo!« rief der Heiland, »ist das Licht,
Das hell von meinem Wort entbronnen!
Weh! und ich seh den Faden nicht,
Den ich so rein vom Himmel 'rab gesponnen.
Wo haben sich die Zeugen hingewandt,
Die weis' aus meinem Blut entsprungen,
Und ach, wohin der Geist, den ich gesandt -
Sein Wehn, ich fühl's, ist all verklungen.
Schleicht nicht mit ew'gem Hungersinn,
Mit halbgekrümmten Klauenhänden,
Verfluchten, eingedorrten Lenden
Der Geiz nach tückischem Gewinn,
Mißbraucht die sorgenlosen Freuden
Des Nachbars auf der reichen Flur
Und hemmt in dürren Eingeweiden
Das liebe Leben der Natur.
Verschließt der Fürst mit seinen Sklaven
Sich nicht in jenes Marmorhaus
Und brütet seinen irren Schafen
Die Wölfe selbst im Busen aus.
Ihm wird zu grillenhafter Stillung
Der Menschen Mark herbeigerafft,
Verspritzt in ekler Überfüllung
Von Tausenden die Nahrungskraft.
In meinem Namen weiht dem Bauche
Ein Armer seiner Kinder Brot,
Mich schmäht auf diesem faulen Schlauche
Das goldne Zeichen meiner Not.

Er war nunmehr der Länder satt,
Wo man so viele Kreuze hat
Und man für lauter Kreuz und Christ
Ihn eben und sein Kreuz vergißt.
Er trat in ein benachbart Land,
Wo er sich nur als Kirchfahn fand,
Man aber sonst nicht merkte sehr,
Als ob ein Gott im Lande wär.
Wie man ihm denn auch bald beteuert,
Aller Sauerteig sei hier ausgescheuert,
Befurcht' er, daß das Brot so lieb
Wie ein Matzkuchen sitzen blieb'.«


Davon sprach ihm ein geistlich Schaf,
Das er auf hohem Wege traf,
Das eine macklige Frau im Bett,
Viel Kinder und viel Zehnden hätt,
Der also Gott ließ im Himmel ruhn
Und sich auch was zugute tun.

Unser Herr fühlt' ihm auf den Zahn,
Fing etlichmal von Christo an.
Da war der ganze Mensch Respekt,
Hätte fast nie das Haupt bedeckt.
Aber der Herr sah ziemlich klar,
Daß er drum nicht im Herzen war,
Daß er dem Mann im Hirne stand
Als wie ein Holzschnitt an der Wand.

Sie waren bald der Stadt so nah,
Daß man die Türne klärlich sah.
»Ach«, sprach mein Mann, »hier ist der Ort,
Aller Wünsche sichrer Friedensport,
Hier ist des Landes Mittelthron;
Gerechtigkeit und Religion
Spedieren, wie der Selzerbrunn
Petschiert, ihren Einfluß ringsherum.«


Sie kamen immer näher an,
Sah immer der Herr nichts Seinigs dran.
Sein innres Zutraun war gering,
Als wie er einst zum Feigbaum ging;
Wollt aber doch eben weitergehn
Und ihm recht unter die Äste sehn.

So kamen sie denn unters Tor,
Christus kam ihnen ein Fremdling vor,
Hätt ein edel Gesicht und einfach Kleid,
Sprachen: »Der Mann kommt gar wohl weit.«
Fragt' ihn der Schreiber, wie er hieß'?
Er gar demütig die Worte ließ:
»Kinder, ich bin des Menschen Sohn
Und ganz gelassen ging davon.
Seine Worte hatten von jeher Kraft,
Der Schreiber stande wie vergafft,
Der Wache war, sie wußt nicht wie,
Fragt keiner: Was bedienen Sie?
Er ging grad durch und war vorbei.
Da fragten sie sich überlei,
Als in Rapport sie's wollten tragen:
»Was tät der Mann Kurioses sagen?
Sprach er wohl unsrer Nase Hohn?
Er sagt: er wär des Menschen Sohn!«

Sie dachten lang, doch auf einmal
Sprach ein branntwein'ger Korporal:
»Was mögt ihr euch den Kopf zerreißen,
Sein Vater hat wohl Mensch geheißen.«

Christ sprach zu seinem G'leiter dann:
»So führet mich zum Gottesmann,
Den Ihr als einen solchen kennt
Und ihn Herr Oberpfarrer nennt.«

Dem Herren Pfaff das krabbeln tät,
War selber nicht so hoch am Brett.
Hätt so viel Häut ums Herze ring,
Daß er nicht spürt', mit wem er ging,
Auch nicht einmal einer Erbse groß.
Doch war er gar nicht liebelos
Und dacht, kommt alles ringsherum,
Verlangt er ein Viaticum.

Kamen an's Oberpfarrers Haus,
Stand von uralters noch im Ganzen.
Reformation hätt ihren Schmaus
Und nahm den Pfaffen Hof und Haus,
Um wieder Pfaffen 'nein zu pflanzen,
Die nur in allem Grund der Sachen
Mehr schwätzen, wen'ger Grimassen machen.
Sie klopften an, sie schellten an,
Weiß nicht bestimmt, was sie getan.
Genug, die Köchin kam hervor,
Aus der Schürz ein Krauthaupt verlor,
Und sprach: »Der Herr ist im Konvent,
Ihr heut nicht mit ihm sprechen könnt.«

»Wo ist denn das Konvent?« sprach Christ.
»Was hilft es Euch, wenn Ihr's auch wißt«,
Versetzt' die Köchin porrisch drauf,
»Dahin geht nicht eines jeden Lauf.«
»Möcht's doch gern wissen!«
tät er fragen.
Sie hätt nicht Herz, es zu versagen,
Wie er den Weg zur Weiblein Brust
Von alten Zeiten wohl noch wußt.
Sie zeigt's ihm an, und er tät gehn,
Wie ihr's bald weiter werdet sehn.
Werke: Der ewige Jude, S. 2 ff.Digitale Bibliothek Band 4: Goethe, S. 2282ff. (vgl. Goethe-BA Bd. 3, S. 413 ff.)

Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Christi
Auf Verlangen entworfen von J. W. G.
Welch ungewöhnliches Getümmel!
E in Jauchzen tönet durch die Himmel.
Ein großes Heer zieht herrlich fort.
Gefolgt von tausend Millionen
Steigt Gottes Sohn von Seinen Thronen
Und eilt an jenen finstern Ort.
Er eilt, umgeben von Gewittern;
Als Richter kommt Er und als Held.
Er geht, und alle Sterne zittern.
Die Sonne bebt. Es bebt die Welt.

Ich seh Ihn auf dem Siegeswagen,
Von Feuerrädern fortgetragen,
Den, der für uns am Kreuze starb.
Er zeigt den Sieg auch jenen Fernen,
Weit von der Welt, weit von den Sternen,
Den Sieg, den Er für uns erwarb.
Er kommt, die Hölle zu zerstören,
Die schon Sein Tod darnieder schlug;
Sie soll von Ihm ihr Urteil hören. Hört!
Jetzt erfüllet sich der Fluch.

Die Hölle sieht den Sieger kommen,
Sie fühlt sich ihre Macht genommen.
Sie bebt und scheut Sein Angesicht.
Sie kennet Seines Donners Schrecken.
Sie sucht umsonst sich zu verstecken.
Sie sucht zu fliehn und kann es nicht.
Sie eilt vergebens, sich zu retten
Und sich dem Richter zu entziehn,
Der Zorn des Herrn, gleich ehrnen Ketten,

Hält ihren Fuß, sie kann nicht fliehn.
Hier lieget der zertretne Drache,
Er liegt und fühlt des Höchsten Rache,
Er fühlet sie und knirscht vor Wut.
Er fühlt der ganzen Hölle Qualen,
Er ächzt und heult bei tausend Malen:
»Vernichte mich, o heiße Glut!«
Da liegt er in dem Flammenmeere,
Ihn foltern ewig Angst und Pein.
Er flucht, daß ihn die Qual verzehre,
Und hört, die Qual soll ewig sein.

Auch hier sind jene große Scharen,
Die mit ihm gleichen Lasters waren,
Doch lange nicht so bös als er.
Hier liegt die ungezählte Menge,
In schwarzem, schröcklichen Gedränge,
Im Feuerorkan um ihn her.
Er sieht, wie sie den Richter scheuen,
Er sieht, wie sie der Sturm zerfrißt.
Er sieht's und kann sich doch nicht freuen,
Weil seine Pein noch größer ist.

Des Menschen Sohn steigt im Triumphe
Hinab zum schwarzen Höllensumpfe
Und zeigt dort Seine Herrlichkeit.
Die Hölle kann den Glanz nicht tragen,
Seit ihren ersten Schöpfungstagen
Beherrschte sie die Dunkelheit.
Sie lag entfernt von allem Lichte,
Erfüllt von Qual im Chaos hier.
Den Strahl von Seinem Angesichte
Verwandte Gott auf stets von ihr.

Jetzt siehet sie in ihren Grenzen
Die Herrlichkeit des Sohnes glänzen,
Die fürchterliche Majestät.
Sie sieht mit Donnern Ihn umgeben,
Sie sieht, daß alle Felsen beben,
Wie Gott im Grimme vor ihr steht.
Sie sieht's, Er kommet, sie zu richten,
Sie fühlt den Schmerzen, der sie plagt;
Sie wünscht umsonst, sich zu vernichten.
Auch dieser Trost bleibt ihr versagt.

Nun denkt sie an ihr altes Glücke,
Voll Pein an jene Zeit zurücke,
Da dieser Glanz ihr Lust gebar;
Da noch ihr Herz im Stand der Tugend,
Ihr froher Geist in frischer Jugend
Und stets voll neuer Wonne war.
Sie denkt mit Wut an ihr Verbrechen,
Wie sie die Menschen kühn betrog.
Sie dachte sich an Gott zu rächen,
Jetzt fühlt sie, was es nach sich zog.

Gott ward ein Mensch. Er kam auf Erden.
»Auch dieser soll mein Opfer werden«,
Sprach Satanas und freute sich.
Er suchte Christum zu verderben,
Der Welten Schöpfer sollte sterben.
Doch weh dir, Satan, ewiglich!
Du glaubtest, Ihn zu überwinden,
Du freutest dich bei Seiner Not.
Doch siegreich kommt Er, dich zu binden.
Wo ist dein Stachel hin, o Tod?

Sprich, Hölle, sprich, wo ist dein Siegen?
Sieh nur, wie deine Mächte liegen.
Erkennst du bald des Höchsten Macht?
Sieh, Satan, sieh dein Reich zerstöret!
Von tausendfacher Qual beschweret,
Liegst du in ewig finstrer Nacht.
Da liegst du wie vom Blitz getroffen.
Kein Schein vom Glück erfreuet dich.
Es ist umsonst. Du darfst nichts hoffen,
Messias starb allein für mich!

Es steigt ein Heulen durch die Lüfte,
Schnell wanken jene schwarze Grüfte,
Als Christus sich der Hölle zeigt.
Sie knirscht aus Wut; doch ihren Wüten
Kann unser großer Held gebieten;
Er winkt, die ganze Hölle schweigt.
Der Donner rollt vor Seiner Stimme.
Die hohe Siegesfahne weht.
Selbst Engel zittern vor dem Grimme,
Wann Christus zum Gerichte geht.

Jetzt spricht Er; Donner ist Sein Sprechen,
Er spricht, und alle Felsen brechen.
Sein Atem ist dem Feuer gleich.
So spricht Er: »Zittert, ihr Verruchte!
Der, der in Eden euch verfluchte,
Kommt und zerstöret euer Reich.
Seht auf! Ihr waret Meine Kinder,
Ihr habt euch wider Mich empört.
Ihr fielt und wurdet freche Sünder,
Ihr habt den Lohn, der euch gehört.

Ihr wurdet Meine größten Feinde,
Verführtet Meine liebsten Freunde.
Die Menschen fielen so wie ihr.
Ihr wolltet ewig sie verderben,
Des Todes sollten alle sterben,
Doch, heulet! Ich erwarb sie Mir.
Für sie bin Ich herabgegangen,
Ich litt, Ich bat, Ich starb für sie.
Ihr sollt nicht euren Zweck erlangen.
Wer an Mich glaubt, der stirbet nie.

Hier lieget ihr in ew'gen Ketten,
Nichts kann euch aus dem Pfuhl erretten,
Nicht Reue, nicht Verwegenheit.
Da liegt, krümmt euch in Schwefelflammen!
Ihr eiltet, euch selbst zu verdammen,
Da liegt und klagt in Ewigkeit!
Auch ihr, so Ich Mir auserkoren,
Auch ihr verscherztet Meine Huld;
Auch ihr seid ewiglich verloren.
Ihr murret? Gebt Mir keine Schuld.

Ihr solltet ewig mit Mir leben,
Euch war hierzu Mein Wort gegeben,
Ihr sündigtet und folgtet nicht.
Ihr lebtet in dem Sündenschlafe.
Nun quält euch die gerechte Strafe,
Ihr fühlt Mein schreckliches Gericht.«
So sprach Er, und ein furchtbar Wetter
Geht von Ihm aus. Die Blitze glühn.
Der Donner faßt die Übertreter
Und stürzt sie in den Abgrund hin.

Der Gott-Mensch schließt der Höllen Pforten,
Er schwingt Sich aus den dunklen Orten
In Seine Herrlichkeit zurück.
Er sitzet an des Vaters Seiten,
Er will noch immer für uns streiten.
Er will's! O Freunde! Welches Glück?
Der Engel feierliche Chöre,
Die jauchzen vor dem großen Gott,
Daß es die ganze Schöpfung höre:
Groß ist der Herr Gott Zebaoth!

Aus: Frühe Gedichte, Gedichte der Knabenjahre, (Verlag C. H. Beck, Goethe. Gedichte, S.9-13)

Das Widerwärtigste unter der Sonne (aus dem Brief vom 9. 6. 1831 an Carl Friedrich Zelter)
... das leidige Marterholz, das Widerwärtigste unter der Sonne, sollte kein vernünftiger Mensch auszugraben und aufzupflanzen bemüht sein. Das war ein Geschäft für eine bigotte Kaiserin Mutter, wir sollten uns schämen, ihre Schleppe zu tragen. Verzeih! aber wenn du gegenwärtig wärst, müßtest du noch mehr erdulden. Mit 82 Jahren nimmt man es wirklich ernster in sich und für sich selbst, indem man die liebe leidige Welt in ihrem vieltausendjährigen Narrenleben in Gottesnamen fortwandeln läßt. Es ist schrecklich, wie sich das ein- über das andere Mal wieder in seinen Irrtümern brüstet.
Aus: Briefe 1831, 48/206, An Carl Friedrich Zelter, 9. Juni 1831 (S.239)
Digitale Bibliothek Band 10: Johann Wolfgang von Goethe: Briefe, Tagebücher, Gespräche (S. 22717)
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlags der Directmedia Publishing GmbH, Berlin


Das Märchen von Christus
Es bleibt wahr: das Märchen von Christus ist Ursache, daß die Welt noch 10/m Jahre stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt, weil es ebenso viel Kraft des Wissens, des Verstandes, des Begriffs braucht, um es zu verteidigen als es zu bestreiten. Nun gehn die Generationen durch einander, das Individuum ist ein armes Ding, es erkläre sich für welche Partei es wolle, das Ganze ist nie ein Ganzes, und so schwankt das Menschengeschlecht in einer Lumperei hin und wieder, das alles nichts zu sagen hätte, wenn es nur nicht auf Punkte, die dem Menschen so wesentlich sind, so großen Einfluß hätte. Wir wollen es gut sein lassen. Sieh du dich nur in der Römischen Kirche recht um, und ergötze dich an dem, was in ihr ergötzlich ist.
Aus: Briefe 1788, 9/2673, An Johann Gottfried Herder, 4. September 1888 (S.100)
Digitale Bibliothek Band 10: Johann Wolfgang von Goethe: Briefe, Tagebücher, Gespräche (S. 4366)
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlags der Directmedia Publishing GmbH, Berlin

Wenn er käme, man würde ihn zum zweiten Mal kreuzigen.
Mittwoch, den 12. März 1828
»Es täte not,« sagte ich, »daß ein zweiter Erlöser käme, um den Ernst, das Unbehagen und den ungeheuren Druck der jetzigen Zustände uns abzunehmen.«

»Käme er,« antwortete Goethe, »man würde ihn zum zweiten Male kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs ein so Großes. Könnte man nur den Deutschen, nach dem Vorbilde der Engländer, weniger Philosophie und mehr Tatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis beibringen, so würde uns schon ein gutes Stück Erlösung zuteil werden, ohne daß wir auf das Erscheinen der persönlichen Hoheit eines zweiten Christus zu warten brauchten. Sehr viel könnte geschehen von unten, vom Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, sehr viel von oben durch die Herrscher und ihre Nächsten. S.483
Aus: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit Einführung und Anmerkungen von Erich Ruprecht. Verlag von Moritz Schauenburg in Lahr