Helmut Gollwitzer (1908 – 1993)

Deutscher evangelischer Theologe, der vor dem 2.Weltkrieg Pfarrer der »Bekennenden Kirche« in Berlin-Dahlem war. Gollwitzer war ein Schüler Karl Barths und versuchte dessen christlichen Humanismus mit marxistischer Gesellschafts- und Ideologiekritik zu vermitteln. Er bejahte eine politische Polarisierung der Kirche und engagierte sich für die Studentenbewegung und war bekannt mit Rudi Dutschke, dessen Lehrer, Förderer und Unterstützer er war.

Siehe auch Wikipedia
und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Die Sinnfrage
Gottesvorstellung
Der christliche Glaube zwischen östlichem und westlichem Materialismus

Christus
Christus ist Titel für Jesus von Nazareth


Die Sinnfrage

Die Sinnfrage ist eine metaphysische Frage. Mit ihr wird der Bereich des Sinnlich-Konstatierbaren überschritten auf den Sinn hin, der ihm vom Menschen auf geprägt wird. Dieser Sinn ist nicht aus dem Sinnlichen selbst zu erheben. Mit ihr wird aber auch der Bereich der menschlichen Einzelexistenz überschritten auf das hin, wovon sie sich für sich selbst Sinn versprechen kann. Dies Überschreiten (Transzendieren) findet kein Ende, bis es entweder Ruhe findet in einem Sinngebenden, das selbst keiner Sinngebung bedarf, oder angesichts der großen Leere, in die es gerät, resignierend auf gegeben und entweder abbrechend an einer vorläufigen Sinn-Instanz festgemacht oder verzweifelnd überhaupt als sinnlos denunziert wird.

Lange Jahrhunderte fanden eine sie befriedigende Antwort in der antik-christlichen Metaphysik, d. h. in der Weise, in der christliches Denken die antike Frage nach der Gründung des Bedingter im Unbedingten samt deren antiker Beantwortung übernommen und mit dem Inhalt des christlichen Glaubens verbunden hatte! Diese geschichtliche Denkgestalt des christlichen Glaubens wurde von Nietzsche mit seinem »Gott ist tot« totgesagt. Ihre charakteristischen Wesenszüge sind folgende:

1. Die letzten Fragen des Menschen werden als Fragen theoretischer Welterkenntnis angesehen, formuliert und beantwortet, — in großem Zutrauen zu der Möglichkeit, jedes menschliche Fragen in eine theoretische Frage zu verwandeln, also zu verobjektivieren und auf dieser Ebene dann auch mit den Mitteln der theoretischen Vernunft zu beantworten.

2.
Die biblische Gottesverkündigung wird mit der philosophischen Spekulation verbunden in einem Stufenverhältnis: wo Vernunft die natürliche Grenze ihrer Erkenntnis- und Aussagemöglichkeiten erreicht, tritt die Offenbarung überhöhend ein und führ die Vernunft zu weiteren, übernatürlichen Erkenntnissen und Aussagen. Dies bedeutet: Die biblischen Erzählungen von Begegnungen zwischen Gott und Mensch, im Zentrum von einer Geschichte Gottes mit den Menschen in Jesus Christus, werden als Quelle für eine theoretische Lehre von Gott, für Lehrsätze über Gott in der Form objektiver Lehre verwendet; damit werden sie freilich verändert und können nicht mehr in ihrem ursprünglichen Sinn verstanden werden. Ihre ursprüngliche Form als Geschichten erscheint hier nur als Illustration und Einkleidung allgemeiner objektiver Wahrheiten.

3. Was dem Menschen von sich aus zu erkennen möglich ist, und was die Offenbarung ihm sagt, bestätigt sich gegenseitig und stützt sich gegenseitig. Das hatte die positive Wirkung, dass das, was die Offenbarung sagt, nicht nur im kleineren Kreis der mit Ernst Ergriffenen und Glaubenden Geltung hatte, sondern auch weit darüber hinaus; es war von der Vernunft bestätigt und erschien als das, was die Vernunft fordert, wonach sie verlangt, und was sie doch selbst nicht zur Genüge erreichen kann. Vernunftsätze und Glaubenssätze griffen ineinander, gingen unscheidbar ineinander über, — so bekamen die Vernunftsätze ihre Verankerung im Absoluten, wie die Offenbarung enthüllte, und die Glaubenssätze wurden von der Vernunft bestätigt, so daß man sich ihnen nicht entziehen zu können schien, wenn man nicht unvernünftig sein wollte, oder wenn man nicht ohne jene Antwort bleiben wollte, die die Vernunft auf ihre Fragen sich doch nicht selbst geben kann, auf die sie aber doch auch nicht leichthin verzichten kann. Fragt die Vernunft nach dem letzten Sinn, so gibt die Offenbarung darauf eine Antwort, die ihrerseits von den Bedürfnissen und von den Normen der Vernunft und von den Ergebnissen vernünftigen Denkens bestätigt wird.


Von der Reformation wie von der Aufklärung her wurde dieses harmonische Ineinandergreifen von Vernunft und Offenbarung kritisch befragt. Es wurde enthüllt, daß hier heimlich den Vernunft-Sätzen schon eine bestimmte, vom Glauben geprägte Form gegeben worden war, daß sie so, wie sie hier formuliert wurden, schon von Glaubensentscheidungen herkamen. Nun aber wurde möglichste Scheidung der Vernunft- und der Glaubenssätze angestrebt, außerdem ihr qualitativer Unterschied — bei Kant: zwischen Sätzen der theoretischen und der praktischen Vernunft — hervorgehoben, und das Ergebnis war: Während bisher diejenigen Sätze, in denen Glaube und Vernunft zusammenstimmten, Selbstverständlichkeit hatten, verloren sie diese nun. Das waren jene Begriffe, in denen die gemäßigte Aufklärung des 18. Jahrhunderts noch einmal zusammenzufassen suchte, was auch die Vernunft vom Christentum bejahen und behalten könne: Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, — d. h. (in der Sprache unserer Überlegungen): ein letztes, absolutes, sinngebendes Sein, — eine menschliche Zukunft über den Tod hinaus, die dem Tod seinen sinnbedrohenden Charakter nimmt, — und die menschliche Verantwortung für sinnvolle, d. h. sittliche Lebensführung nach den von Gott gegebenen, d. h. vor dem Absoluten sich bewährenden Normen.


Wenn Nietzsche sagt: »Gott ist tot«, dann heißt das: die radikale Aufklärung hat über die gemäßigte Aufklärung gesiegt, sie hat die heimlichen christlichen, die heimlichen Glaubensvoraussetzungen dieser scheinbaren Vernunftideen entlarvt und hat ihnen damit die Selbstverständlichkeit — die Allgemeinverbindlichkeit dank ihrer Vernünftigkeit — genommen. Wer sich entschlossen auf die Vernunft stellt, der wird von dieser nicht dem Glauben in die Arme geführt, nicht zur Ahnung letzter ewiger Werte und zur anfänglichen Erkenntnis einer letzten göttlichen Sinngebung geleitet, die von der Offenbarung dann nur noch gefüllt und bereichert wird; dem zerbricht vielmehr dieser Vernunftglaube, der sieht weit und breit nichts von Sinn und ewigem Wert, der steht schließlich, »zur Winterwanderschaft verflucht«, nur dem Nichts und der Sinnlosigkeit gegenüber, der wird höchstens sich noch warnen lassen können, aus dieser Sinnlosigkeit wieder ein neues Absolutum, ein neues Dogma zu machen, — der wird dann also, soweit es auf ihn, auf das, was er von sich aus sagen kann, ankommt, in einer Welt ohne Antwort nur fragen und nichts als fragen können.

Damit ist aber die christliche Botschaft nicht verstummt. Es ist nur klargelegt, dass sie nichts Selbstverständliches sagt, und es ist der Unterschied ihrer Aussagen und der Vernunftaussagen freigelegt, so daß beide nicht mehr vermischt werden können. Nicht der christliche Glaube, sondern jener christliche Vernunftglaube der antik-christlichen Metaphysik gehört zu den hinter uns liegenden Glaubensgestalten. Dann, wenn die christliche Antwort auf die metaphysische Frage eine Antwort nicht aus dem Vermögen des Menschen ist, die der Mensch sich gibt, aber im Fortschritt der Geschichte seines Geistes auch transzendiert und hinter sich lässt, — dann, wenn die christliche Antwort ein Wort der Offenbarung aus dem Menschen-Unmöglichen ist, wie die biblischen Schriftsteller es freilich immer behauptet haben, dann ist damit zu rechnen, dass sie verstummt als Stimme der Vergangenheit, sondern von neuem in eigener Kraft auf uns zukommt. Auf nicht mehr kommt es jetzt an, als dass wir damit rechnen und deshalb offen fragen nach der Stellung der christlichen Botschaft zur menschlichen Sinnfrage.

Aus: Helmut Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang (S. 191-194), 5. Auflage 1972
© 1970 Chr. Kaiser Verlag München . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Gütersloher Verlaghauses

Gottesvorstellung
Der Ausdruck »persönlicher Gott« ist in höchstem Maße mißverständlich und klärungsbedürftig. Verneinung ohne Klärung ist der durchgehende Mangel des neuzeitlichen Atheismus. Zu dieser Klärung zu zwingen, ist sein Verdienst für die christliche Theologie.

Das Missverständnis, das der Ausdruck »persönlicher Gott« hervorruft, besteht in der Meinung, es handle sich um eine Beschreibung Gottes in Analogie zu menschlichen Personen, um die Vorstellung, mit »Gott« sei ein über die Welt herrschender vergrößerter Mensch gemeint, also eine Gottesvorstellung nach Art des Polytheismus (wobei dann der jüdisch-christliche Monotheismus sich vom Polytheismus nur durch die zahlenmäßige Reduktion auf einen Gott und durch die Zusammenfassung der Funktionen der vielen Götter in einem Gott unterscheide, ohne doch die polytheistische Art des Personifizierens grundsätzlich zu verlassen).

»Gott« ist ursprünglich nicht ein Name, sondern ein Prädikat, mit dem Übermenschliches bezeichnet wird, und zwar

a) übermenschliche Kräfte und Mächte verschiedener Art, bedrohende und hilfreiche (polytheistisch),

b) der letzte Seinsgrund (so in der antiken Metaphysik),

c) das, was jeweils Menschen »unbedingt angeht« (P
aul Tillich), das letztlich Fordernde und das letztlich Sinngebende.

Im biblischen Bereich bekommt dieses Prädikat
»Gott« singularische Bedeutung und wird zum (Ersatz-)Namen für diejenige Stimme, deren erste und weitergebende Hörer die Propheten Israels und Jesus von Nazareth sind, und deren Name (im Unterschied zu anderen Götternamen) zugleich gegeben und doch verborgen ist, angedeutet mit dem Tetragramm J-H-W-H, das im Alten Testament mit »Ich werde (für euch) da sein« gedeutet wird
(vgl. 2. Mos. 3,14— 15 in M. Bubers Bibelübersetzung).
Aus: Helmut Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang (S. 346), 5. Auflage 1972
© 1970 Chr. Kaiser Verlag München . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Gütersloher Verlaghauses


Der christliche Glaube zwischen östlichem und westlichem Materialismus
Es ist ein Zeichen der babylonischen Sprachverwirrung unserer Zeit, dass das Wort »Materialismus« bei uns zu Lande in einem ganz anderen Sinne gebraucht wird als wenige hundert Kilometer weiter östlich in demjenigen Teil der Erde, der heute jenseits der Elbe beginnt und sich bis Wladiwostok und Schanghai erstreckt. Einen Materialisten pflegt man bei uns in verächtlicher Weise einen Menschen zu nennen, der nichts Höheres kennt als die primitivsten sinnlichen Genüsse, Essen und Trinken, »Wein, Weib und Gesang«, einen Mammonsdiener und einen, dem der Bauch sein Gott ist; einen Idealisten dagegen nennen wir einen Menschen, dessen Leben durch höhere Werte bestimmt ist und der sieh durch selbstlosen Dienst an großen Ideen auszeichnet. In jenem östlichen Teil der Erde aber, in dem die kommunistische Partei die Macht ergriffen hat und die Weltanschauung des sogenannten »dialektischen Materialismus« propagiert, ist es genau umgekehrt: »Idealist« ist nahezu ein Schimpfwort und »Materialist« ein Wort hohen Lobes; der Vorwurf »idealistischer« Abweichung kann einem Wissenschaftler oder einem Politiker das Genick brechen, und daß ein Werk nach materialistischen Grundsätzen geschrieben sei, ist die beste Zensur, die dort ein Buch erhalten kann.

Für den oberflächlichen Blick muss es also scheinen, als würden im Osten alle sittlichen Werte verworfen, die man im Westen verherrlicht, und alle Unwerte verherrlicht, die man im Westen verwirft, — als sei also der Osten ein Bereich wüster Anbetung der niedrigsten Instinkte und rohesten Bedürfnisse. Der Ort des christlichen Glaubens scheint dann ohne weiteres klar zu sein; er gehört auf die Seite, auf der die ideellen Werte noch etwas gelten, er ist ein Bundesgenosse des Idealismus und darum des Westens gegen den östlichen Materialismus und Atheismus, der unsere heiligsten Güter bedroht. Die Geschichte der letzten hundert Jahre scheint diese Auffassung zu bestätigen: von Anfang an hat der marxistische Kommunismus die Religion als Opium verworfen, den Materialismus, also die reine Diesseitigkeit proklamiert und nach seiner Machtergreifung die verschiedenen Religionen auf mannigfaltige Weise bedrückt und verfolgt. Unser Thema müsste also eindeutig lauten: Christlicher Glaube gegen östlichen Materialismus.

Das mir gestellte, nicht von mir formulierte Thema: Der christliche Glaube zwischen östlichem und westlichem Materialismus, dem ich ganz zustimme, deutet aber schon an, daß die Dinge erheblich schwieriger liegen und dass Entscheidungen, die vom oberflächlichen Augenschein ausgehen, deshalb verhängnisvolle Fehlentscheidungen sein können. Es handelt sich freilich nicht darum, bestehende Gegensätze zu verharmlosen und zu verkleistern, wohl aber darum, sie in ihrer wahren Gestalt zu erkennen, und dafür ist nötig, dass wir nicht von vornherein schon zu wissen meinen, was Materialismus und was christlicher Glaube ist. Jeder meint das zu wissen; aber jeder muss es sich erst noch einmal klar machen.

Durch den verschiedenen Gebrauch des Wortes »Materialismus« im Westen und im Osten darf man sich nicht täuschen lassen; eine nähere Prüfung zeigt überraschende Gemeinsamkeiten. FRIEDRICH ENGELS, der Mitarbeiter von KARL MARX, schreibt einmal: »Der Philister versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz, alle die schmierigen Laster, denen er selbst im stillen frönt; und unter Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe und überhaupt eine bessere Welt, womit er vor anderen renommiert.«

ENGELS
hält also »Materialismus« in unserem üblichen Gebrauch für etwas ebenso Negatives wie wir. Ebenso verwarf es KARL MARX als »krassen Materialismus«, wenn jemand — wie er es seinem Lehrer, dem idealistischen Philosophen HEGEL, vorwarf, — die bestehenden Zustände mit ihrer ganzen Unmenschlichkeit zu rechtfertigen unternahm, und er klagte gerade die bürgerliche Gesellschaft, die er überwinden wollte, wegen ihres »verworfenen Materialismus«, das heißt wegen der Herrschaft des Geldes, wegen der Verwandlung des Menschen in eine käufliche Ware, aufs heftigste an. Gerade der Materialismus der kapitalistischen Welt trieb MARX zu seiner Absage an sie; man könnte ihn also einen großen Anti-Materialisten nennen; und dies ist die Erklärung dafür, dass es heute im Osten und im Westen auch Christen gibt, die meinen, gerade als Christen Bundesgenossen des Marxismus sein zu müssen.

Wer die Erziehungsmethoden im sowjetischen Bereich kennt, weiß, dass dort (bei allem, was sich gegen sie einwenden lässt) sehr wohl an den Idealismus des jungen Menschen, das heißt an seine Opferbereitschaft für höhere Werte, appelliert wird; und wer möchte den vielen Märtyrern des Kommunismus, die für ihre Überzeugung litten und starben, den Ehrennamen eines Idealisten verweigern? Ein aus Rußland emigrierter bedeutender Theologe der russisch-orthodoxen Kirche sagte mir einmal, nicht das sei der Fehler des Kommunismus, dass er materialistisch sei, — die Bibel sei viel materialistischer als er, — sondern dass er idealistisch sei. Er meinte damit: Der Kommunismus denkt und handelt von dem Ideal eines »neuen Menschen« aus, der kein Sünder mehr ist, der alle Fehler und Laster des bisherigen Menschen hinter sich gelassen hat; diesen neuen Menschen will er mit aller Gewalt verwirklichen; von daher rechtfertigt er die Brutalität, mit der er die Menschen seinem Zwang und Terror unterwirft; sein idealer Zweck heiligt ihm alle Mittel; und gerade dieser heimliche Idealismus macht ihn also zu einer so dämonischen, bösartigen und rücksichtslosen Erscheinung. Wir können daraus schon lernen, dass Idealismus an sich keineswegs etwas Gutes, etwas an sich Besseres als Materialismus ist. Die Menschheit hat unter vielen in ihre Ideale verliebten Idealisten bisher nicht weniger zu leiden gehabt als unter vielen Materialisten.

Warum aber bestanden dann MARX und seine Nachfolger darauf, ihre Weltanschauung »Materialismus« zu nennen? Die Gründe sind mehrere; wir können sie hier nicht alle nennen. Den Bürger damit zu erschrecken, war, wie ENGELS einmal eingestand, nicht das geringste Motiv dabei. Der Hauptgrund aber ist, dass der Marxismus entschlossen das Fazit aus der großen Geistesbewegung der Neuzeit, aus der Aufklärung und dem Aufschwung der Naturwissenschaften ziehen wollte. Mit seiner Wissenschaftsgläubigkeit gehört er ganz dem neunzehnten Jahrhundert an. Besser als der Name Materialismus scheint mir die Bezeichnung »Naturalismus« für eine Denkweise zu passen, die den Geist als ein Produkt der Materie, den Menschen nur als ein höher entwickeltes Tier, die Welt als ewig sich in immer neuen Gestalten entwickelnde Einheit von Kraft und Stoff und das Kausalgesetz als das hinreichende Erklärungsprinzip für alle Erscheinungen ansieht. Der primitivere Naturalismus eines ERNST HAECKEL, der die Zeit unserer Großväter erregte, die sehr viel geistreichere Konzeption des dialektischen Materialismus, die von NIETZSCHE bis zum Nationalsozialismus reichende Überzeugung, dass die Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren ein auch für die Menschheit geltendes Gesetz der Natur sei, aber auch der heutige amerikanische Soziologismus, für den die Sozialität, die Anpassung des Menschen an die Bedürfnisse der Gesellschaft, das höchste Ziel der Erziehung, also der Sinn des Lebens ist — sie sind alle verschiedenartige Zweige dieses gleichen Stammes, des modernen, scheinwissenschaftlichen Naturalismus. Das heißt: Der weltanschauliche Materialismus ist nicht eine Erscheinung jenseits unserer Grenzen, sondern durchaus ein westliches Gewächs; er lässt sich darum nicht mit Militär abwehren, sondern nur in einer kritischen Auseinandersetzung mit unseren eigenen geistigen Traditionen überwinden.

Man wählt sich aber nicht ungestraft die Selbstbezeichnung »Materialismus«. Weil die Kommunisten in der bürgerlichen Gesellschaft mit Abscheu die Verbindung von theoretischem Idealismus und praktischem Materialismus erlebten, wollten sie theoretischen Materialismus und praktischen Idealismus vereinigen, wollten sie Beschränkung auf ein gottlos verstandenes bloßes Diesseits mit der Aufopferung, die zum Bau einer neuen Gesellschaft nötig ist. In vierzig Jahren Sowjetherrschaft hat sich aber gezeigt, dass dem praktischen, egoistischen Materialismus, den man als bürgerlich überwinden wollte, gerade durch den theoretischen Materialismus die Tür besonders weit geöffnet wurde. Denn wie sollten die Menschen auf die Dauer Kraft zu Verzicht und Opfer behalten bei einer Weltanschauung, die ihnen predigt, dass der Sinn des Lebens allein in einem besseren diesseitigen Leben beschlossen sei? Die soziale Gleichgültigkeit der herrschenden sowjetischen Klasse, die weit verbreitete Korruption, die Verbrechen des Stalinismus hängen eng zusammen mit einer Ideologie, die im Einzelmenschen nichts anderes sehen kann als die Termite im Termitenstaat, deren Sinn nur in der Erhaltung der Gattung besteht.

Der christliche Glaube ist kein »Ismus«; er steht kritisch gegen jede Ideologie, die immer die Tendenz hat, den Menschen für die Weltanschauung zu opfern und ihn nach ihrem Programm zu formen. Der christliche Glaube ist weder idealistisch, wie die Kommunisten meinen, noch materialistisch. Er ist nicht idealistisch, weil er nüchtern ist und weiß, daß es keiner Erlösung durch Jesus Christus bedürfte, wenn es in der eigenen Macht der Menschen läge, sich selbst zu erlösen. Er ist auch deshalb nicht idealistisch, weil er weiß, daß die Materie, die Natur, der Leib nichts Schlechtes, sondern gute Geschöpfe Gottes sind. Darum meinte jener russische Theologe, die Bibel sei materialistischer als der Kommunismus. Von der biblischen Erzählung, wie Gott den Menschen aus Erde bildete, bis zum Zentralsatz des Neuen Testamentes: »Das Wort ward Fleisch«, von der vierten Bitte des Vaterunsers um das tägliche Brot bis zum Wort von der Auferstehung des Leibes im Glaubensbekenntnis geht eine Linie der Bejahung von Leib und Natur. Der christliche Glaube ist aber auch nicht materialistisch, weil er weiß, dass die Welt nicht ewig und der Mensch nicht allein in seiner allein gelassenen Welt ist und dass der Mensch den Sinn seines Lebens nicht im Diesseits hat, sondern da
ss er eine höhere Bestimmung hat, dass er bestimmt ist zur Gemeinschaft mit Gott, der in der christlichen Botschaft alle Menschen einlädt, ihm seine Liebe zu glauben und seine Liebe weiterzugeben an andere Menschen.

Der christliche Glaube passt also in die Alternative: Idealismus oder Materialismus überhaupt nicht hinein. Er ist beiden mit einer Seite seines Wesens benachbart und kann sie beide doch nur als Entstellungen der Wahrheit, unter keinen Umständen jedenfalls als zutreffenden Ausdruck der Wahrheit ansehen. Was den Materialismus anlangt, so haben wir gesehen, dass er in seiner praktischen Form allgemein menschlich ist; wir alle haben an ihm Teil, natürlich auch die Christen. Auch sie entdecken sich, wie jeder von sich selbst und anderen zur Genüge weiß, immer wieder in dem Götzendienst an Geld, Gesundheit, Vergnügen usw. und müssen täglich neu sich von dieser Abgötterei zum Gehorsam gegen den lebendigen Gott wenden. Ebenso allgegenwärtig ist aber heute der theoretische Materialismus, der NaturaIismus, in seinen verschiedenen Formen, auch bei uns im Westen. Eine seiner Formen, der dialektische Materialismus, ist im kommunistischen Machtbereich zur Staatsphilosophie erhoben worden, der in Schule und Universität, in Wissenschaft und Politik unablässig gehuldigt werden muß. Anfechtbar wie jedes philosophische System erhebt es den Anspruch, das letzte Wort der menschlichen Geistesgeschichte zu sein, obwohl dieser Anspruch schon durch philosophische Kritik an allen Ecken und Enden durchlöchert ist. Man nimmt das in der Atmosphäre der Unfreiheit, die der absolute Anspruch eines Systems immer um sich verbreitet, nicht zur Kenntnis; man ist nicht frei, die Kritik zur Kenntnis zu nehmen, weil dieses System, indem es die Religion ablösen und ersetzen sollte, damit selbst pseudoreligiösen Charakter bekam. Eine Synthese zwischen dieser sich absolut setzenden Ideologie und dem christlichen Glauben gibt es nicht; alle Versuche, sie zu schaffen, führen zu einem Verrat am christlichen Auftrag. Darum stehen die Christen im Osten in einem harten Kamm gegen den Herrschaftsanspruch dieser Weltanschauung.

Dieser Kampf, in dem wir ihnen unsere Solidarität noch viel mehr mit der Tat beweisen sollten, darf uns aber nicht selbst in der Weise totalitär machen, dass wir nur Nein sagen und blind werden für das Anliegen, das sich im marxistischen Materialismus, wenn auch auf eine gotteslästerliche und feindselige Weise, äußert. Und wir dürfen auch nicht blind werden für die Mitschuld der Christenheit in allen ihren Kirchen daran, dass der Kommunismus im Christentum schließlich nichts anderes als Betrug und Selbstbetrug erkennen zu können meinte. Zu den Fragen, die kürzlich bei einer Diskussion in einem Lager von jugendlichen Ostzonenflüchtlingen gestellt wurden, gehörte die eines jungen Arbeiters: »Warum ist das Christentum bei den wohlhabenden Leuten so beliebt, während die Schlechtgestellten sich weniger dafür interessieren?« Das ist vielleicht etwas pauschal und ungerecht, und wer sich nicht für einen Christen hält, kann sich darüber schadenfroh die Hände reiben. Jedenfalls war es im Urchristentum anders, und nach dem Sinn der christlichen Botschaft müsste es anders sein. Wenn wir daran denken, wie von Menschen, die sonntags in die Kirche gingen, primitive Völker ausgerottet, entwürdigende Rassenschranken aufgerichtet, materielle Privilegien und ungerechte Sozialordnungen zäh verteidigt wurden und werden, können wir nicht bestreiten, daß es der Mißbrauch des Christentums durch die Christen ist, der bei der Abkehr des Marxismus vom Christentum entscheidend mitgewirkt hat.


1930 schrieb Bischof
OTTO DIBELIUS: »Eine Weltordnung, in der alle Länder von Waffen klirren und der Krieg ein festgeordnetes Recht der Völker ist, ist gegen Gottes Willen. Diese Weltordnung muss umgestaltet werden. Und die Christen sind es schuldig vor Gott, daß sie dabei mit Hand anlegen.« 1947 erklärte der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland: »Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung für das Leben und Zu­sammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.«

Das ist es also, was geschehen muss. Der Kampf des christlichen Glaubens gegen den kommunistischen Materialismus kann nur ein Kampf der Buße für eigene Verschuldung der Christen sein, durch die sie ihrer Sache Schande gemacht haben; und der Gotteshaß der Kommunisten wird die Christen nicht hindern dürfen, sie bei allem Kampf gegen ihre Ideologie zu lieben, da das Evangelium ja verkündet, dass Gott uns Gottlosen seine Liebe zugewandt hat. Wir werden also das Anliegen des Marxismus, die Beseitigung von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen in der menschlichen Gesellschaft, besser aufzunehmen haben als bisher und werden zugleich seiner großen Täuschung widersprechen, man könne mit Gottlosigkeit und Terror die Menschen zu Brüdern machen.

Dies ständig vor Augen zu haben, ist heute so entscheidend, weil wir im Westen in einer Welt leben, auf die die Anklagen des Kommunismus nicht ganz, aber doch vielfach zutreffen, in der ein krasser Materialismus, der Tanz ums goldene Kalb, vielfach mit idealistischen Phrasen und christlicher Fassade verschleiert wird.

Mit Recht fragte kürzlich WILHELM RÖPKE: »Hofft man ernstlich, dem Kommunismus seine Chance dauernd entreißen zu können, indem man anstatt der Ideologie und der Pseudogemeinschaft der Partei als Füllmaterial das Motorrad, den Radioempfänger. den Kühlschrank, den Fernsehapparat, das auf Abzahlung gekaufte Kleid benutzte, mit anderen Worten die Flucht In den nackten, unmittelbaren und ungezügelten materieller Genu
ss? Und was geschieht, wenn der materielle Wohlfahrtsspiegel einmal um eine Handbreit zurückgehen sollte?«

So hält der Kommunismus, wie sehr er auch selbst im Glashaus sitzt, in dem alle Anklagen heute auf ihn selbst zurückfallen, die Frage lebendig, woran wir im Westen eigentlich glauben. Am Pfingstsonntag dieses Jahres wurde vormittags in den christlichen Kirchen aller Länder von der Kraft des heiligen Geistes gepredigt —, und am Abend dieses Tages stieg der Rauchpilz eines amerikanischen Atombombenversuchs, dieses Zeugnis von der Kraft eines höchst unheiligen Geistes, in die Höhe. So nähren wir ständig den Vorwurf, dass das Christentum nur unsere Phrase und der Materialismus unser eigentlicher Glaube sei. An welchen Geist wir nun wirklich glauben, auf welchen Gott wir uns wirklich verlassen, auf dem vom Pfingstvormittag oder auf den vom Pfingstabend —, die Antwort darauf wird uns nicht erspart werden. Ob wir an den schrecklichen Früchten des östlichen und des westlichen Materialismus zugrunde gehen oder ihnen entgehen werden, entscheidet sich vor allem an der Frage, ob und wieweit die christliche Botschaft bei Christen und Nichtchristen ungehört verhallt oder neu ernst genommen wird.
S.145ff.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 251, Christen oder Bolschewisten, Eine Vortragsreihe, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks
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