Jakob Ludwig Karl Grimm (1785 – 1863)

   Deutscher Philologe und Germanist, der als der eigentliche Begründer der germanistischen Philologie gilt, weil er die vorhandenen Ansätze - mit Unterstützung seines Bruders Wilhelm Karl Grimm (1786 – 1859) und Karl Lachmann (1793 – 1851) – systematisch ordnete und nach wissenschaftlichen Grundsätzen konsequent weiter entwickelte. Mit seinem Bruder sammelte und gab er die »Kinder- und Hausmärchen« (1812-1822) und die »Deutschen Sagen« (1816-1818) heraus. In seiner »Deutschen Grammatik« (1819-1837) wurde die historische germanistische Sprachforschung begründet. U. a. erkannte er auch die Gesetzmäßigkeit des Lautwandels.

Siehe auch Wikipedia und Projekt Gutenberg

 

Über den Ursprung der Sprache
Nein, die Sprache ist dem Menschen weder angeboren noch anerschaffen, und in allen ihren Leistungen wie Erfolgen kann sie mit der Tierstimme nicht gleichgesetzt [vergleichbar machen, auf eine Stufe stellen] werden; nur eins müssen beide miteinander einigermaßen gemein haben, die ihnen unterliegende, notwendig durch den erschaffenen Leib bedingte Grundlage.

Jeder Laut geht hervor durch eine Bewegung und Erschütterung der Luft, selbst jenes elementarische Rauschen des Wassers oder Knistern des Feuers war im gewaltsamen Aneinanderschlagen der Wellen, die ihren Druck auf die Luft übten, oder im Verzehren der Brennstoffe, welche die Luft erregten, bedingt.

Dem Tier wie dem Menschen sind Stimmwerkzeuge von Natur eigen, mittelst welcher sie in mannigfacher Weise Eindrücke auf die Luft bewirken können, deren unmittelbare Folge ein regelrechter, gleichartig wirkender Schall ist. Das Tier bringt damit einzelne ähnliche Laute wie der Mensch hervor, dieser vermag sie weit reicher und allseitiger zu entfalten. Das geordnete Entfalten heißt uns Gliedern, Artikulieren, und die Menschensprache erscheint eine gegliederte … Wesentlich hängt aber diese Lautgliederung ab von dem aufrechten Gang und Stand der Menschen, vermöge dessen sie die einzelnen Laute ruhig und gemessen vernehmen lassen, während die Tiere zur Erde gebückt sind:

pronaque quum sectent animalia caetera terram,
os homimini sublime dedit caelumque tueri
jussit, et erectos ad sidera tollere vultus.

Ovid. Met. 1, 84
  Während die anderen Tiere vorgeneigt die Erde betrachten,
Gab sie
(die Natur) dem Menschen das erhabne Antlitz, und den Himmel anzuschaun
Gebot sie ihm, und das aufgerichtete Gesicht zu den Gestirnen emporzuheben.

Die notwendige Reihe und das Maß dieser Laute und Schälle ist natürlich bedingt, wie die Tonleiter in der Musik und Abstufung der Farben, ihrem Gesetz kann nichts hinzugetan werden. Denn außer den sieben Grundfarben, die unendliche Mischung dargeben, sind keine andern denkbar, und ebenso wenig lässt sich den drei Vokalen a i u, aus welchen e und o samt allen übrigen Diphthongen [aus zwei Vokalen gebildeter Laut] und deren Verdichtung zur bloßen Länge entspringen, das geringste hinzufügen, noch die Ordnung der Halbvokale und Konsonanten, die sich in zahlloser Mannigfaltigkeit der Verbindungen erzeigen, dem Grunde nach erweitern.

Diese Urlaute sind uns angeboren, da sie durch Organe unseres Leibs bedingt, entweder aus voller Brust und Kehle gestoßen und gehaucht, oder mit Hilfe des Gaumens, der Zunge, Zähne und Lippen hervorgebracht werden. Einige ihrer Bedingungen sind auch so greif- oder fassbar, dass es nicht völlig misslingen konnte, sie durch künstliche, mechanische Vorrichtungen bis auf einen gewissen Grad nachzuahmen und scheinbar darzustellen. Da nun aber die Leibesorgane mehrer Tierarten den menschlichen gleichen, so darf nicht befremden, dass gerade unter den Vögeln, deren sonstiger Bau weiter als der der Säugtiere von uns absteht, die uns aber in aufrechter Haltung des Halses näher kommen, darum auch wohllautige Gesangsstimmen haben, dass vorzugsweise Papageien, Raben, Stare, Elstern, Spechte* imstand sind, menschliche Wörter fast vollkommen zu erfassen und nachzusprechen.
*Der Specht (wörtlich der spähende, weissagende Vogel) hieß darum in der griechischen Sprache »gleich dem Menschen«; und in altrömischer wie in altdeutscher Sage verweben sich Pikus und Bienenwolf mit Heldengeschlechtern. Bemerkenswert scheint, dass Papageien und Raben auch die Höhe des Menschenalters erlangen.

Von den Säugetieren dagegen vermag kein einziges, zumal die nicht in andern Stücken uns zum Erschrecken ähnlichen Affen, welche, obgleich sie uns manche Gebärden abzusehen suchen, nie darauf verfallen, unsere Sprache nachzuäffen. Man sollte denken, den Affenarten, welche aufrecht zu gehen lernen, müsste es gelingen, Vokale, Zungen- und Zahnlaute zu erreichen, wenn ihnen auch Lippenlaute, weil ihre Zähne blecken, unmöglich fielen: aber keine Spur, dass sie sich des Sprechens unterfangen.

Johannes Müller
hat uns neulich die Kehlen einiger Singvögel scharf untersucht und darin nachgewiesen, was ihren Gesang hebe und zeuge. Ich weiß nicht, ob es möglich wäre, dass die Zergliederung auch in den ausgebildeten Kehlen menschlicher Sänger Eindrücke gewahrte, die eine große Entwicklung der Gesangsfähigkeit verkündigten; oder um noch stärkeres zu fragen, ob es dem Anatom gelänge, in den Sprachorganen solcher Völker, die entschieden harte Gutturale pflegen oder, wie die Slaven, schwere Zischlautverbindungen eingeübt haben, äußere Spuren davon aufzuweisen. Wäre das der Fall, so würde ich nicht abgeneigt sein, weil solche Eigentümlichkeiten sich vererben können, wie einzelne Gebärden und Schulterdrehungen unbewusst vom Vater auf den Sohn übergehen oder Geschwister häufig dieselbe Anlage zum Gesang empfangen haben; ich würde also geneigt sein, schon in den Kinderkehlen einzelner Völker eingeprägte Anlage für die Aussprache eigner Lautbestimmungen vorhanden zu glauben, so dass jenem in Deutschland zur Welt gekommenen Russen- oder Franzosenkind immer noch einige unserer Laute schwer gefallen wären.


Dies ergäbe das Gegenstück zur tierischen Beschränkung der Notwendigkeit durch die Freiheit, insofern hier umgekehrt die menschliche Sprachfreiheit durch einen Zug der Notwendigkeit beeinträchtigt schiene, den sie doch leicht überwindet. Die Anatomie wird noch lange zu lernen haben, ehe sie die Sprachwerkzeuge eines auf der Ebene eingewohnten Norddeutschen von denen eines süddeutschen Alpenhirten unterscheidet. Unserem Hauptergebnis aber, dass die menschliche Sprache unangeboren sei, wird nichts dadurch benommen. Die natürliche Lautgrundlage, deren sie gleich der tierischen Stimme bedarf und die sie voraussetzt, wie unsere Seele den menschlichen Schädelbau, ist nichts als das Instrument, auf dem die Sprache gespielt wird, und dies Spiel erzeigt sich beim Menschen in einer Mannigfaltigkeit, die den unveränderbaren Tierlauten völlig entgegensteht. Den Physiologen wird doch mehr das Instrument selbst, den Philologen das Spiel darauf anziehen.

Nun aber wurde außer der eben verworfenen Angeborenheit der Sprache noch eine andere Annahme als denkbar vorausgesetzt, dass sie von des Menschengeschlechts Urheber diesem zwar nicht unmittelbar im Akt der Schöpfung mitgeteilt, vielmehr nach der Schöpfung mitgeteilt, durch das menschliche Gedächtnis aufgefasst und dann von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt und ausgearbeitet worden sei, mit allem Wechsel und aller Verderbnis, die sie unter des Menschen Hand habe erfahren müssen.

Jene göttliche Mitteilung oder Offenbarung der Sprache, vergleichbar der eines göttlichen Gesetzes, müsste dennoch früher als dieses fast alsogleich nach vollbrachter Schöpfung des ersten Menschenpaares eingetreten sein, weil ein solches der Sprache beinah keinen Augenblick hätte entraten können und mit der schöpferischen Allmacht unvereinbar schiene, dass ihrer fertigen, edelsten Kreatur im Anfang gebrochen habe, was ihr später zuteil werden sollte.

Diese Auffassung würde von der im Verfolg entgegenzusetzenden eines menschlichen Ursprungs der Sprache sich zwar in der Grundlage wesentlich, in Bezug auf die Fortpflanzung einer so kostbaren Gabe scheinbar wenig unterscheiden. Eine solche Fortpflanzung erfolgt von Geschlecht auf Geschlecht, da niemals alle Menschen zugleich sterben, wie sie allmählich zur Welt kommen, folglich die Überlebenden den Nachlebenden hinterlassen, was sie selbst von ihren Vorfahren empfangen haben, gleichviel ob eine von Gott offenbarte oder von den ersten Menschen frei erworbene Sprache weitergetragen worden sei. Die Offenbarung brauchte nur einmal erfolgt zu sein, vorausgesetzt, dass sie nie wieder ganz erloschen war, sondern ihren Schein immer, wenn auch schwächer, von sich geworfen hätte; die Menschenerfindung könnte sich öfter wiederholt haben.

Im Fall der offenbarten Sprache wäre gleichwohl anzunehmen, dass die ersten ihr näher gestandenen Menschen gegenüber den späteren von der göttlichen Macht bevorzugt, diese nachteiliger gestellt worden seien, was Gottes Gerechtigkeit widerstritte.

Die Vorstellung einer offenbarten Sprache, dünkt mich, muss denen willkommen sein, welche in den Anfang aller menschlichen Geschichte einen Stand paradiesischer Unschuld setzen, hernach durch den Sündenfall die edelsten Gaben und Fähigkeiten des Menschen zerrüttet werden, folglich auch die gottähnliche Sprache von ihrem Gipfel herabsinken und dann nur geschwächt den Nachkommen zustehen lassen mögen. Solch eine Ansicht könnte zusagen und Halt gewinnen, weil die ganze Geschichte der Sprache, soweit wir in sie gedrungen sind, in der Tat ihren Abfall von einer vollendeten Gestalt zur minder vollkommenen zu verraten, somit anzudeuten scheint, dass auch für die Sprache wie für die gesamte menschliche Natur eine Herstellung und Erlösung eintreten und nach dem verlorenen Zustand anfänglicher Vollkommenheit und Reinheit auf geistigem Wege allmählich müsse zurückgekehrt werden.

Dennoch finden wir diese Deutung schon im Widerspruch mit den Urkunden unserer Heiligen Schrift, welche einer stattgefundnen göttlichen Offenbarung der Sprache an den Menschen nirgends gedenkt, vielmehr das von ihr selbst unerklärt gelassene Dasein der Sprache voraussetzt und deren Verwirrung erst lange Zeit nach dem Sündenfall eintreten lässt. Sinnreich und ergreifend wird aller Sprachenzwiespalt aus einem gewaltsamen Frevel übermütiger Menschen abgeleitet, die den Himmel stürmenden Titanen des griechischen Mythus ähnlich der Gottheit durch einen törichten Turmbau näher zu rücken wähnten und darüber die Einfachheit ihrer Sprache verloren, welche sie nun von dieser Stätte verworren in alle Teile des Erdbodens austrugen.

Neulich hat ein gewandter Maler in reicher Komposition diese vielleicht aus bloßem Missverstand des hebräischen Wortes babal, welches vermischen, mengen bezeichnet, erwachsene Sage veranschaulichen wollen. Hier aber kann die Kunst nur spielen, nichts ausrichten; da die Zersplitterung der Sprache über die ganze Erde und ihr endlose Mannigfaltigkeit höchst naturgemäß war und die größten Zwecke der Menschheit förderte, darf sie bloß wohltätig und notwendig, keineswegs verwirrend heißen und sie ist sicher auf ganz andere Weise erfolgt, als uns diese einem lauten Einspruch der Sprachgeschichte überhaupt ausgesetzten Erzählung zu verstehen gibt.

Hier reicht nun meine Untersuchung an einen theologischen Standpunkt, vor dem sie nicht zu schrecken braucht.

Unter Offenbarung denken wir eine Kundtuung oder Manifestation, die Griechen nennen sie »Enthüllung«, die Römer »Entschleierung« (revelatio), und alle laufen auf denselben Begriff hinaus, das Offengemachte war vorher verschlossen, das Enthüllte bedeckt oder verschleiert. Niemand kann bezweifeln, dass eine schaffende Urkraft unablässig ihr Werk fortdurchdringe und forterhalte: das Wunder der Weltdauer kommt dem ihrer Schöpfung vollkommen gleich. Diese sich unausgesetzt kundtuende göttliche Kraft ist keinem als dem Verstehenden eine kennbare Offenbarung. Da sie die gesamte Natur durchdringt und in allen Dingen enthalten ist, liegt sie zugleich offen und verborgen da und mag bloß durch das Mittel der Dinge selbst erforscht werden. Denn sie ist in allen Dingen, eben darum nicht außer ihnen. Unverstanden redet die Natur, solange der Suchende nicht auf ihre Spur kommt und sie ihm verständlich wird.

Des Altertums kindliche Vorstellung pflegte aber unmittelbaren Verkehr der Gottheit mit den Menschen anzunehmen, dessen Wirklichkeit unserer Vernunft unbegreiflich und so unzulässig ist, wie die meisten anderen Mythen. Dann hat die Gottheit anfangs sichtbar sich gezeigt, warum sollte sie je nachher aufgehört haben, es zu tun? Dies ist dem ihr notwendig beiwohnenden Begriff der Stetigkeit entgegen, das Unerschaffne kann keine Geschichte haben, muss sich ewig gleich bleiben. Man fühlt sich in einen Kreis von Widersprüchen gebannt, die, wenn überall vortretend, kaum irgend greller obwalten, als wo ein göttlicher Ursprung der Sprache behauptet werden soll.

Der griechischen Poesie verursacht es nicht den mindesten Anstoß, dass die Götter erscheinen und in der Sprache des Landes reden, so wenig es heute auf unserer Schaubühne befremdet, dass Helden und Männer aller Länder sich einstimmig in der jetzigen Sprache ausdrücken, da sie nur durch das Mittel unserer eigenen Vorstellungen uns anschaubar werden. Es muss aber ein Grund vorhanden gewesen sein, warum bei Homer wie noch bei den Tragikern zwar
Apollo, Hermes, Athene und noch andere Götter und Göttinnen, niemals Zeus selbst den Menschen leiblich erscheint und redend vorgeführt wird; gleichsam stellen sich jene nur als seine Boten dar, die den höchsten, an sich unaussprechlichen Willen in Menschenworte zu kleiden und zu fassen beauftragt sind, und in der wuchernden Vielgötterei treten lauter unterwürfige Handlanger des höchsten Wesens auf, dessen Geheiß sie verkünden und ausrichten, wie die katholischen Engel oder Heiligen.

Im alten Testament erscheint Gott gleich von Anfang leibhaft und redet mit
Adam, Eva, Noah, Abraham, Moses, Josua, die seine Rede selbst verstehend und darauf antwortend dargestellt werden; nirgends ist gesagt, dass eine erste Eröffnung dieses Verständnisses eingetreten oder nötig befunden worden sei. Doch schon zu Moses Zeit beginnt sich Gott ferner zu stellen, nur auf dem Berg zu erscheinen, nur in der Wolke zu reden aus welcher Donner und Blitz fahren, ganz wie der donnernde Zeus im Gewölk sich erzeigt. Allmählich pflegt er gar nicht mehr selbst, sondern der Engel des Herrn aufzutreten, und bereits Moses gegenüber wird es einige Mal zweifelhaft, ob ihm des Herrn Stimme oder die eines Boten erschollen sei. Später redet Gott zu den Menschen nur durch der Weissager und Engel Mund, deren höhere Gabe von einem näheren Verhältnis zu Gott abgeleitet werden könnte, wie die Ausschüttung des Geistes in der Apostelgeschichte (10, 44 - 46) unmittelbar die Zungen löst, daraus lässt sich aber der einfache Ursprung der längst bestandenen Menschensprache nicht begreifen, wenn man auch jenem Ausguss über das Bild hinaus die wirkliche Eingebung menschlicher Sprachpraxis beilegen will.

Das Buch, von jenem wir den Namen Apokalypsis entnehmen, wurde zu Johannes durch einen Engel des Herrn gesandt, und der Apostel Paulus redet von Zungen der Menschen und Engel, wie Plato den Verkehr zwischen Göttern und Menschen durch Dämonen vermitteln lässt, aber alle Vorstellung von Dämonen und Engeln ist in der Natur der Welt unbezeugt, in der Geschichte, so glaublich man sie zu machen gestrebt hat, unbegründet.

Wie soll unsere Vernunft der menschlichen Sprache Ursprung aus göttlicher Offenbarung, die doch notwendig keine heftige Inspiration, sondern einfache Rede gewesen ist und mittels dieser Rede weitergetragen sein müsste, fassen? Waren die ersten Menschen fähig, Gottes Worte zu vernehmen, d. h. zu verstehen, so scheint nicht notwendig, ihnen eine Sprache zu enthüllen, die als jenes Verständnisses Bedingung sie bereits besitzen mussten. Vorhin jedoch haben wir erwiesen, dass ihnen keine Sprache anerschaffen war, folglich dass sie gar nicht im Bereich eines Mittels standen, von welchem das Verstehen, dessen sie unerlässlich bedurften, abhing. Die Natur des Menschen war zur Zeit der Schöpfung nicht anders, als sie heute ist, sie vermochte lediglich durch ihre Sinne und die Vernunft, womit sie ausgestattet war, Eindrücke zu empfangen, die auf anderem Wege ihr gar nicht zuteil werden konnten. Nirgends steigt eine Lehre so gewaltsam auf die Menschen herab, dass ihr nicht ein inneres Lernen entgegen kommen müsste.

Noch mehr, sollen und
dürfen wir uns Gott redend denken? Redete, d. h. spräche er menschliche Worte, so müssten wir ihm auch menschlichen Leib, zumal alle jene leiblichen Organe beilegen, von welchen gegliederte Rede abhängt. Es scheint mir aber gleich widersinnig, einen vollkommenen Menschenleib ohne eins seiner Gliedmaße, z. B. ohne Zähne, als die Gottheit mit Zähnen, folglich essend sich vorzustellen, da die Zähne nach unserer weisen Natur zwar mitbeholfen sind zum Sprechen, hauptsächlich aber zum Zermalmen der Speise dienen. Auf solche Weise würde es ganz unmöglich sein, eins der anderen Glieder des Leibes, deren innerer und äußerer Einklang unsere höchste Bewunderung rege macht, irgend der schaffenden Gottheit abzusprechen oder beizulegen.


Wenn aber überhaupt ein Leib, mindestens ein menschlicher, der Gottheit gar nicht anstände, wie könnte Rede oder Bedürfnis der Rede ihr beigemessen werden? Was sie nur denkt, das will sie auch, was sie will, hat sie ohne Aufenthalt und Zweifel mit mehr als Blitzesschnelle vollführt. Wozu hätte sie sich eines Boten bedient, um langsamer auszurichten, was sie mit einem Wink, wenn es ihrer Weisheit gefällig gewesen wäre, vollbrächte? Rinnen in dem göttlichen Sein alle jene von uns gesondert betrachteten Eigenschaften, Allmacht, Urplan und Ausführung nicht zusammen? Ohne ihresgleichen, doch uneinsam waltet die Gottheit allenthalben in der unendlichen Naturfülle, des Behelfs einer der menschlichen Sprache bedarf sie nicht, wie ihre Gedanken nicht den Weg des Menschendenkens gehen.

Dass an eines Menschen Ohr jemals, solange die Welt steht, ein unmittelbares Wort Gottes gedrungen sei, kann alle menschliche Geschichte mit nichts erweisen. Seine Verlautbarung würde keiner Menschensprache nahe kommen, eine Harmonie der Sphären sein. Wo, das Gott redete, aufgezeichnet ist, hat der Geschichtsschreiber einer Sage gefolgt, die für die Dunkelheit der Vorzeit eines gangbaren Bildes sich bediente, wer wollte buchstäblich nehmen, wenn gesagt ist, dass Gott das Gesetz mit seinem Finger in die hernach von Moses zerbrochene Steintafel geschrieben habe? Die Heilige Schrift, die wir Gottes Wort nennen, ist uns ehrwürdig durch ihr hohes Altertum und die edle Einfachheit ihrer Darstellung; allein wer sie auch zuerst abfasste, stand von dem Anfang der Schöpfung bereits allzu weit ab, als dass er anderes als Bild und Sage davon mitzuteilen vermocht hätte. Was von der heidnischen Sage jeder allenthalben zugesteht, muss er auch für die des Alten Testaments einzuräumen wahrheitsliebend und besonnen sein. Arobius eifert mit schlagenden Gründen wider das Heidentum, ohne zu ahnen, dass gar manche derselben auch gegen die neue Lehre gebraucht werden können.

Das Verhältnis Gottes zur Natur beruht auf gleich festen, unerschütterbaren Gesetzen wie die Bande der Natur unter sich, und da diese ihr Geheimnis und Wunder nur in sich selbst, nicht außer sich tragen, so muss jedes nicht natürliche Mittel v on ihnen ausgeschieden sein. Ein Geheimnis, bei dem es unnatürlich zuginge, gibt es nicht.*
*Lessing (Sämtliche Schriften 10, 4, 5) bemerkt zu einem Aufsatze Jerusalems über den Ursprung der Sprache, dass die Sprache durch ein Wunder dem ersten Menschen nicht mitgeteilt sein könne, darum der Mensch sie noch nicht erfunden zu haben brauche; im Umgang mit höheren Geschöpfen, durch Herablassung des Schöpfers selbst könne sie gelernt worden sein, was einige Wahrscheinlichkeit gewinne dadurch, dass die menschliche Erfindung lange Jahrhunderte gedauert haben müsse und des Schöpfers Güte den Armen doch nicht so lange die Sprache entzogen haben werde. Alle solche Voraussetzungen sind sichtbar ohne Boden. – Der christlichen Ansicht nach offenbarte Gott nicht nur zu Anfang die Sprache, sondern er gibt auch fortwährend redenden Menschen ihre Worte ein. Es ist ganz gewöhnlich zu sagen: das Wort ließ dich Gott sprechen, gab dir Gott ein.

Es mag auffallen, dass weder das griechische noch das indische Altertum versucht haben, die Frage nach dem Ursprung und der Mannigfaltigkeit menschlicher Zungen zu stellen und darauf zu antworten. Die Heilige Schrift strebte wenigstens das eine der beiden Rätsel, das der Mannigfaltigkeit, durch den Turm von Babel zu lösen. Ich kenne nur noch eine arme estnische Volkssage, welche dieser Lösung sich etwa an die Seite stellen ließe. Der alte Gott, als den Menschen ihr erster Wohnsitz zu eng geworden war, beschloss, sie über den ganzen Erdboden auszubreiten, jedem Volk auch eine besondere Sprache zu erteilen. In dieser Absicht stellte er einen Kessel mit Wasser zum Feuer, ließ die einzelnen Stämme der Reihe nach herantreten und für sich die Töne entnehmen, welche das eingesperrte und gequälte Wasser singend hervorbrachte. Hier also wurde den Menschen, wo nicht ihre erste, wenigstens eine neue Sprache durch Naturlaute eines Elements überwiesen.

Ich habe, worauf mein Ziel sich beschränkte, dargetan, dass die Menschensprache so wenig eine unmittelbar offenbarte sein könne, als sie eine anerschaffene war; eine angeborene Sprache hätte die Menschen zu Tieren gemacht, eine geoffenbarte in ihnen Götter vorausgesetzt. Es bleibt nichts übrig, als dass sie eine menschliche, mit voller Freiheit ihrem Ursprung und Fortschritt nach von uns selbst erworbene sein müssen: nicht anders kann sie sein, sie ist unsere Geschichte, unsere Erbschaft.

Das, was wir sind, wodurch wir uns von allen Tieren unterscheiden, führt im
Sanskrit den bedeutsamen, ehrwürdigen Namen manudscha, welcher auch vorzugsweise in unserer deutschen Sprache bis auf heute sich erhalten hat, got. Manniska, ahd. Manisco, nhd. Mensch und so durch alle Mundarten; dieses Wort darf zwar mit gutem Grund auf einen mythischen Ahnen Manna, Mannus, den schon Tacitus bezeugt, auf einen indischen König Manas zurückgeführt werden, dessen Wurzel Man, d. h. denken ist und wozu unmittelbar auch manas, Mensch fallen.

Der Mensch heißt nicht nur so, weil er denkt, sondern ist auch Mensch, weil er denkt und spricht, weil er denkt, dieser engste Zusammenhang zwischen seinem Vermögen, zu denken und zu reden, bezeichnet und verbürgt uns seiner Sprache Grund und Ursprung. Vorhin sahen wir griechische Benennungen des Menschen, hergenommen von seinem emporgerichteten Antlitz, von seiner gegliederten Rede, hier ist er noch treffender nach seinem Denken genannt. Die Tiere reden nicht, weil sie nicht denken, und heißen darum die unredenden,
altn. Ômaelandi, dän. de umaelende, weil die unvernünftigen, bruta, mutae, bestiae, mutum et turpe; das griechische Wort drückt zugleich aus unredend und undenkend.

Das Kind beginnt zu reden, wie es anhebt zu denken, und die Rede wächst ihm, wie ihm der Gedanke wächst, beides nicht additiv, sondern multiplikativ. Menschen mit den tiefsten Gedanken, Weltweise, Dichter, Redner haben auch die größte Sprachgewalt; die Kraft der Sprache bildet Völker und hält sie zusammen, ohne solches Band, würden sie sich versprengen, der Gedankenreichtum bei jedem Volk ist es hauptsächlich, was seine Weltherrschaft festigt.

Die Sprache erscheint also eine fortschreitende Arbeit, ein Werk, eine zugleich rasche und langsame Errungenschaft der Menschen, die sie der freien Entfaltung ihres Denkens verdanken, wodurch sie zugleich getrennt und geeint werden. Alles, was die Menschen sind, haben sie Gott, alles, was sie überhaupt erringen in Gutem und Bösem, haben sie sich selbst zu danken. Die Inspiration der Propheten ist nur ein Bild für den in ihm erweckten und wachen Gedanken. Weil aber die Sprache anfangs unvollkommen war und ihr Wert erst steigt, kann sie nicht von Gott, der Vollendetes prägt, ausgegangen sein.

Der Schöpfer hat die Seele, d. h. die Kraft zu denken, er hat die Sprachwerkzeuge, d. h. die Kraft zu reden in uns beides als kostbare Gaben gelegt, aber wir denken erst, indem jenes Vermögen üben, wir sprechen erst, indem wir die Sprache lernen. Gedanke und Sprache sind unser Eigentum, auf beiden beruht unserer Natur sich aufwindende Freiheit, das sentire quae velis et quaes sentias dicere: Denken was man will, und sagen was man denkt; ohne sie würden wir Tieren gleich barer Notwendigkeit hingegeben sein, und mit ihr sind wir emporgeklommen.
S. 251-269
Aus den Kleineren Schriften von Jacob Grimm, bei Meijer & Jessen, Berlin 1911