Friedrich Gundolf, eigtl. Friedrich Leopold Gundelfinger (1880 – 1931)

Deutsch-jüdischer Literaturwissenschaftler und Dichter, der zum Kreis um Stefan George gehörte, den er als Meister verehrte. George widmete ihm folgenden aufschlussreichen Reim:

An Gundolf

Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen
Wenn selber du ein wort erfinden kannst dass einst es heisse:
Auf kurzem pfad bin ich dir dies und du mir so gewesen!
Ist das nicht licht und lösung über allem fleisse?


Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Hölderlins Auffassung vom Göttlichen
Stefan Georges Bedeutung in sprachschöpferischer Hinsicht
Klopstocks Gottesgedanke

Hölderlins Auffassung vom Göttlichen
Aus: Hölderlins Archipelagus
Der griechische Wille und Weg aus dunkelstem Rausch zu klarstem Traum war auch der Hölderlins. So stiegen ihm aus orphischer Besessenheit homerische Bilder empor und lockten ihn als das höchste Wünschbare. Diese Bilder waren ihm allerdings durch die Historie als eine schöne Vergangenheit gegeben, er hatte sie nicht erst zu erschaffen, wie die Alten selbst - obwohl ja auch den perikleischen Athenern die homerische Welt schon ein ferner Mythus erschien. Was Hölderlin von jener Romantik trennt, ist seine angeborene Orphik. Sie befähigte ihn den überkommenen Mythus in seinen eigenen, morgendlich neuen zu verwandeln, alles Historische, Vergangene daran umzuschmelzen in seinem gegenwärtigsten Feuer. Nicht was er meinte und dachte geht uns an, sondern wie er schaute und formte. Daß er aber echter Orphiker war, dafür ist die Art wie er die Natur als solche, als Urphänomen ergriff, ein Zeugnis.

Wenn er den Archipelagus anruft, als den Alten, den Gewaltigen, den Vater, seine Inseln mit rhythmischer Inbrunst als die Heroenmütter beschwört, wenn er aus einem lang ausgehaltenen trunkenen Atem heraus immer neue Verkörperungen seines bewegten Gefühls hebt, so ist das Unterscheidende dieser Naturansicht die neue Art der Allbeseelung - nicht im Sinn der Stimmung, das heißt der Umdeutung der Landschaft in Seelenzustände, sondern im Sinn des antiken Naturmythus, als Vermenschlichung der Kräfte des Webens und Wachsens, die den Menschen in und mit der Landschaft durchdringen. Diese vermenschlichten Kräfte sind nicht literarisch-dekorativ aus der antiken Mythologie übernommen, keine Barock- oder Rokoko-Gottheiten, als Staffage in eine gepflegte Kulturlandschaft gestellt: dieser Meergott ist kein bärtiger Greis mit Dreizack, das heilige Mondlicht keine schlanke Luna, die »Sonne, des Orients Kind« kein fackel- oder bogentragender Phöbus: nein, die sichtbare Natur, in Hölderlins Wesen als eine bewegte, wirkende empfangen, ist hier wiedergeboren als ein Kreis von vergötterten, d. h. für Hellenen : leibgewordnen Kräften.

Dasselbe Erleben das dem antiken Naturmythus zugrunde liegt ist hier wirksam, ein später Bruder der Hellenen ist hier in eine christianisierte, ja in eine entgötterte Welt wieder emporgetaucht. Hellenisch ist, daß Hölderlin die schaffenden und zeugenden Gewalten in sich und draußen, die Erregung und Erschütterung die ihn ergreift beim Anhauch der Natur oder des Schicksals, nur erleben und aussprechen kann unter der Form menschlich bewegter Leiber. »Empfindet er nur irgendeine Freude, so ahnt er einen Bringer dieser Freude«. Unwillkürlich verdichtet er alle inneren Vorgänge zu bewegten Gestalten und empfindet er das Gestaltete, das er schaut, als Sinnbild von Bewegungen oder Kräften. Dieses Hin- und Widerfluten von Formen zu Kräften, von Kräften zu Formen ist heidnisch-hellenischer Pantheismus, das heißt Pananthropismus. Denn nur unter der Form des Menschen nahm der Hellene - und Hölderlin - das wahr. Darum war aber für ihn das Menschliche nicht entgöttert, der menschliche Leib das oberste Sinnbild alles Lebens.

Dem Christen hat alles Leben nur Wert, insofern es von Gott geschaffen oder gewollt ist. Der Grieche sieht das Göttliche gerade im Leben selbst und in seinen Gestaltungen oder Bewegungen, vor allem im Leib. Denn der Leib ist beides: Gestalt und Bewegung, oder Maß und Kraft. Er gehört der Zeit, dem Werden an, und gehört dem Raum, dem Sein an. Hölderlin war darin orphisch daß er das Sichtbare las als ein Sinnbild des Werdens. Das Sein nahm er nur wahr als Bewegung .. den Akten der Schöpferkräfte dringt er von innen heraus durch eine brüderliche Sympathie nach - nicht die gesonderten Figuren der Berge und Bäume, Felsen und Blumen umreißt er: nicht das ruhende Dasein seiner Inseln und Flüsse beschreibt er, sondern ihre Aktion oder Funktion:

»Delos erhebt ihr begeistertes Haupt, von trunkenen Hügeln quillt der Cypriertrank und von Kalauria fallen silberne Bäche.«

So wie er sich selbst nicht als isoliertes Geschöpf weiß, sondern als Organ derselben Gewalten die den Reigen der Elemente und Gestirne führen und füllen, so ist ihm die Natur nicht ein Prospekt schaubarer, genießbarer, nutzbarer Bereiche, sondern wahrhaft wieder Natura, ein Werdendes, ihm, dem Kind des Werdens verschwistertes. Das ist die dionysische Empfindungsweise. Dionysos selbst ist ja nur das oberste Sinnbild des Weltgefühls das uns, aktiv oder passiv, einbezieht in alles was da schwillt und reift, wird und welkt. Die besondre Farbe worin Hölderlin die so gefüllte Welt sah wird, wie gesagt, bestimmt durch Vorstellungen seiner apollinischen Bildung. S. 11-13 […]

Wie seine griechische Natur keine Ferne, ist seine griechische Kultur keine Vergangenheit. Beide sind ihm die gegenwärtigsten Kräfte, Offenbarungen seiner geglaubtesten Götter, Verwirklichungen seines lebendigen Willens, keine leeren Schatten seiner Phantasie, sondern Visionen, Geburten seines eignen Bluts - und seine Sehnsucht nach den hohen Bildern ist nicht die nach Verlorenem, sondern nach liebender Verschmelzung . . die Sehnsucht der Fülle, nicht die der Armut. In der griechischen Landschaft vergötterte er die Grundkräfte des elementaren Lebens, hier preist er menschliche Urtätigkeiten, Grundtypen der Kultur: den Kaufmann, den kühnen tätigstrebenden Völkervermittler, und den sinnenden Jüngling der zu Großem heranreift, nicht die verschollenen, historischen Formen - nein, Ideale menschlicher Haltung überhaupt, Notwendigkeiten oder Möglichkeiten des Menschentums die er nicht einfürallemal vergangen, sondern jederzeit realisierbar sieht. Aber freilich, die Griechen waren es, welche die menschlichen Urtriebe und Berufe, das Wandern und das Sinnen, das Beherrschen und das Pflegen der Erde, am reinsten verkörpert haben, für alle den einfachsten und schönsten Vollzug fanden, weil sie alles Menschliche so groß schauten und übten, daß sie das Göttliche, Unsichtbare nicht würdiger versinnbilden konnten als in menschlichen Formen. Der vollkommene Mensch ist das Maß aller Dinge, und also göttlich. Diesen Sinn haben auch Goethes Verse:

So war Apoll den Hirten zugestaltet,
Daß ihm der schönsten einer glich.
Denn wo Natur im reinen Kreise waltet,
Ergreifen alle Welten sich.


d. h. Götter und Menschen sind nicht geschieden .. eine Stufenfolge flutender Übergänge eint sie. Und darum weil es nicht des Dichters Sache ist die idealen Sinnbilder zu erfinden, wird er die einmal erreichten Vollkommenheiten im eigentlichen Sinn verewigen:

»den Leib vergotten und den Gott verleiben«.


Das ist der Sinn der Geschichte für den Dichter - sie zeigt ihm wo die höchsten Möglichkeiten einmal Wirklichkeiten waren. S. 14-15 […]

Hölderlin hat das Göttliche in der einen Menschwerdung und Volkwerdung geschaut und erlebt: wie sollte er nicht fühlen daß seine Zeit dieses heidnisch Göttlichen entbehrte! Eben weil ihm Hellas Religion, nicht Historie ist, weil es ihm göttliche Offenbarung ist, muß er alles daran messen. Das Göttliche aber, einmal offenbart, verpflichtet den der es geschaut und bestimmt seine Forderungen an alles was ihm begegnet. Seher sein ist ein strenger Beruf. Dies Wissen ist die Mitte von Hölderlins Leben und Gedicht, das Wissen um ein unverlierbar Göttliches, die Qual in seiner Zeit nimmer die Offenbarung dieses Göttlichen an einer begeisteten Gesamtheit zu erleben, Jahrtausende getrennt zu sein von jener hellenischen Offenbarung. Mit seinem Sehertum ist er in eine entgötterte Welt gestellt, das ist Ahnung eines tragischen Untergangs:

Denn oft ergreifet das Irrsal
Unter den Sternen mir, wie schaurige Lüfte, den Busen,
Daß ich spähe nach Rat ...
Stumm ist der delphische Gott.

Aber trotzdem ist seine Elegie und sein Zürnen voll von fast entzückter Zuversicht, als sei er nicht umsonst bei den heiligen Schatten drunten gewesen, als hätten ihm die Versunkenen tröstliche Kunde gebracht. Denn wer die Götter einmal geschaut, wer, wie Hölderlin durch die Hellenische Offenbarung, ihres Waltens versichert ist, der kann am Schicksal der Welt nimmer verzweifeln.

Jede Offenbarung gewährleistet dem Gläubigen die Wirklichkeit seiner Götter. So weiß auch Hölderlin: da das Göttliche war, so ist es noch.. denn es gehört ja zum Wesen der Gottheit daß sie unsterblich ist. Um die Welt ist ihm also nicht bange, was er auch um sich sieht - und was gilt dem heroischen Menschen sein Privatschicksal! ..

Die Gottheit, der Geist der Natur, muß sich also früher oder später einmal unter den Menschen, unter den Deutschen offenbaren, die schlafenden Helden und Götter werden erwachen - auch dies ist durchaus griechisch, nicht christlich gedacht, daß Götter schlafen: sie haben an allem Menschlichen Teil. Darum ist die Göttersprache für Hölderlin das Wechseln und Werden. Diese Göttersprache zu vernehmen und zu künden, ist der Vates in die Welt geschickt, er hat das doppelte Amt: die offenbar gewordne Gottheit zu preisen und die schlafende zu wecken. Das Schöne und Heroische das war festzuhalten im Lied und das Dumpfe mit dem eigenen Hauch zu beseelen, neue Formen des Göttlichen zu ermöglichen : das sind die Grundpflichten des Seherdichters, wie die Alten ihn verstanden -

Hölderlin
ist in Deutschland sein reinster Typus. All seine Dichtung will entweder schöne und große Vergangenheit verewigen oder schöne und große Zukunft vergegenwärtigen. Im Archipelagus löst er beide Aufgaben ineinander: er beschwört sein Hellas, um sein Deutschtum zu vergöttlichen.

Vergangenheit und Zukunft sind aber schon nachträgliche Begriffe, Denkformen, keine Realitäten. Für den Dichter selbst gibt es nur ewige Gegenwart, d. h. er ist an sich zeitlos: er empfängt seine Gesetze nicht von der Zeit, sondern vom Gott, von dem was Sokrates und Goethe den Dämon nannten - einem Unerforschlichen, Herkunftslosen, schlechthin Seienden, Hinzunehmenden. Aber freilich nur in einem zeitlich bedingten, irdisch beladenen Menschen wird die Gottheit Sprache. Sie geht ein in die beschränkte Materie. Und dies ist die Tragik des Sehers in einer entgötterten Zeit. Die Zeit kann den Seher nähren und tragen, wie den Pindar die seine, sie kann ihn auch hemmen und durch Leere ersticken ...

Der Seher hat sich unter keinen Umständen nach den Ansprüchen der Zeit zu richten, wie man im demokratischen Zeitalter fordert, sondern einzig nach seinem Dämon. Und der Dämon fragt nicht nach Glück und Unglück seines Verkünders, der Verkünder nicht nach Zweck und Lohn des Dämons. Er muß - er will nicht. In den dämonischen Widersachern ihrer Zeit aber liegt meist die Zukunft : sie lag in Platon, sie lag in Dante - und was Hölderlin einsam sah das sehen und wissen heute schon manche. Untergang oder Scheitern ist kein Einwand (weder gegen die Person noch gegen ihre Weisheit). Freilich ist nur ein heroisches Leben das Zeichen der dämonischen Berufung.

Nicht jeder dem's schlecht geht darf auf die Zeit schelten. Daß Hölderlin trotz seiner Einsamkeit sein hellenisches Ideal durchhielt, ohne Kompromiß und ohne böse oder stumpfe Verzweiflung, mutig und selig trotz der Verbannung aus seiner inneren Heimat, glühend inmitten des Frosts und der Öde, königlich und heilig trotz der deutschen Hauslehrer-misère : das macht ihn zu einem unsrer heroischen Menschen. Durch seinen Ton und seine Haltung im Leben bewährte er das Recht sein Volk zu richten und Hellas zu preisen - ein Recht das wir nicht jedem Geschmäckler und Phantasten, nicht jedem Schulmeister zugestehen. Es ist das Unromantische an ihm daß er war was er sang: ein schöner und heldenhafter Mensch. Drum ist das Schicksal das ihn in die Nacht führte tragisch, aber nicht traurig und sinnlos. Als tragisches, nicht als trauriges Los empfand er denn auch sein äußeres Dasein, und kannte »vor'm Schicksal wenig Klage, wenig Haß«. Der Kontrast zwischen seiner inneren und seiner äußeren Existenz, d. h. zwischen seinem Sehertum und seinem Hauslehrertum, zwischen seiner Zeitlosigkeit und seiner Zeit, war ja zugleich seine Not und sein Trost. Unter Griechen hätte er nicht zu singen brauchen. Unter Deutschen wußte er sich den Hüter des heiligen Feuers.

Und nun lesen wir seinen Archipelagus von innen nach außen. Im Zentrum des Gedichts steht das zeitlos Göttliche, der hellenische Dämon, der ihm die Zunge löst, der durchdringt die weiteren Kreise: er heißt ihn die griechische Vergangenheit wachhalten, die unsterblichen Toten suchen:

Dort. . will ich wohnen mit euch, dort oft, ihr herrlichen Namen!
Her euch rufen bei Nacht, und wenn ihr zürnend erscheinet,
Weil der Pflug die Gräber entweiht, mit der Stimme des Herzens
Will ich, mit frommem Gesang, euch sühnen, heilige Schatten!

Der zeitlose Dämon heißt ihn die Gegenwart richten, und eine strahlende Zukunft, eine Wiedergeburt der Götter vorwegnehmen, er gibt ihm die Kraft zu harren,

Bis, erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen
Aufgeht, jugendlich froh, und der Liebe segnender Odem
Wieder, wie vormals oft, bei Hellas' blühenden Kindern
Wehet in neuer Zeit, und über freierer Stirne
Uns der Geist der Natur, der fernherwandelnde, wieder
Stilleweilend der Gott in goldnen Wolken erscheinet.

Der Dämon in ihm verbürgt ihm die Ewigkeit seiner Götter, die Wahrheit seiner Gesichte und seiner Ahnungen überhaupt: war Hellas wirklich, so ist es auch lebendig. Und ist es lebendig, so muß es erwachen. So wächst ihm die Vergangenheit und die Zukunft zu einem gegenwärtigen Schicksal zusammen. Und zeitlos wie sein innerer Dämon ist ja auch die Natur, die andre große Offenbarung um derenwillen er das Leben erträgt und segnet. Um alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schließt sich noch dieser wandellose Kreis, der unsterbliche Raum für die unsterbliche Zeit, das göttliche Sein im göttlichen Werden.. all dies sind ja nur Formen von Hölderlins Gottheit, verschiedene Offenbarungen desselben Lebens: sein eigenes Herz, das menschliche Geschehen in Vergangenheit und Zukunft, und die sinnliche Natur. Die Natur gibt die erste Bewegung und die letzte Ruhe.. sie ist der unverrückbare Horizont vor dem alle inneren und äußeren Schicksale sich abspielen, und so kehrt Hölderlins Lied im Kreise zurück zum alten wandellosen Meergott, mit dessen Beschwörung er anhob:

Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang schon
Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Wogen, o Meergott!
Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern
Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken
Frischem Glück sich üb, und die Göttersprache, das Wechseln
Und das Werden versteh; und wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift, und die Not und das Irrsal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken!
S. 18-22
Aus: Dichter und Helden von Friedrich Gundolf, Heidelberg 1921, Weiss’sche Universitätsbuchhandlung
Stefan Georges Bedeutung in sprachschöpferischer Hinsicht
Aus: Stefan George und seine Zeit
In jedem Menschen kreuzen sich die Natur und die Zeit, Blut und Geist, Eigenschaften und Eindrücke. Jeder geschichtliche Charakter ist die bewußt oder unbewußt geformte Auswahl die ein bestimmtes Naturwesen aus seiner jeweiligen Umwelt trifft: die gestaltete Zeitwerdung überzeitlicher Kräfte - göttlicher oder natürlicher, wie man sie nennen mag. Wir Heutigen, beladen mit historischem Sinn und berückt durch den Entwicklungsgedanken, fragen das Vergangene, danach wie es geworden ist und vergessen darüber was es gewesen ist.. und wenn uns ein Mitlebender auffällt, so forschen wir zunächst woher er kommt, eh wir uns darüber klar werden wer er ist: wie er sich zu uns stellt, ist uns wichtiger als wie er in sich steht. Der Mensch bedeutet für uns nur noch ein Stück Geschichte, ein Stück Zeit, ein Bündel historischer Kausalitäten, und daß er erst einmal sein muß, eh er wirken und bewirkt werden kann, dies Gefühl kommt selten in die Theorie, seltener in die Praxis.

Das Sein, das Wesen eines Menschen, seine Natur, ist aber mehr und tiefer als seine Geschichte, oder vielmehr erst als Ausfluß, als Anwendung dieser seiner Natur kann seine Geschichte verstanden werden. Erst aus der Anschauung seiner Natur kann seine Beziehung zur Zeit begriffen werden, nicht umgekehrt.

An einem Punkt müssen wir, wie weit wir auch von Ursache zu Ursache schreiten mögen, halt machen, und einfach schauen, einfach erleben, einfach hinnehmen, ohne weiter zu erklären: dieser Punkt ist die wesenhafte (göttliche oder natürliche) Grundform des Menschen, sein So-und-nicht-anders-sein, sein wirkendes Selbst, unabhängig von seinen Beziehungen zum Stoff den er vorfindet und von den Spiegeln in die er fällt. Je wesenhafter nun ein Mensch seiner Zeit begegnet, desto mehr hebt er sich ab, und je mehr er sich abhebt. je mehr er anders wirkt, desto mehr wird man diese Abgrenzung, dies »Anders«, diesen Gegensatz als sein Eigentliches empfinden. Man wird seine Wirkung nach außen verwechseln mit seinem inneren Sein, man wird für Zweck halten was Folge ist und als Inhalt nehmen was nur der Umriß dieses Ich gegen seinen Zeithintergrund ist. Was der Außenstehende zuerst erfährt hält er gern für das Erste in der Erscheinung die ihn befremdet.

Vom Anderssein aus ist Stefan George fast immer aufgefaßt und gezeichnet worden. Man hat ihn erklärt, begrüßt oder abgelehnt fast immer als Widerspruch gegen diese oder jene Richtung der Zeit, als Erneuerung von Kunstmitteln, als Veränderung des Niveaus, als eine besondre Nuance von Schönheit oder Narrheit. Um ihn zu verstehen, hat man auf das geschaut was er nicht war. . um sich ihm einzufühlen, hat man zuerst gesucht wogegen er sich wendet.S. 59-60 […]

Weil George durch sein Dasein eine neue Forderung stellt, wird er geschmäht und wird er verehrt: die Forderung daß der Mensch das Maß der Zeit, nicht die Zeit das Maß des Menschen sei. Diese Forderung darf freilich nur gestellt werden, wenn sie von wenigstens einem erfüllt wird, von einem der auch im Heute eine Wirklichkeit jenseits der bloßen Zeit verbürgt. Solch tröstliche Gewähr könnte uns kein Rückblick auf Hellas und Rom, auf Cäsar und Goethe geben, keine Verheißung Nietzsches und keine dumpfe Sehnsucht ahnungsvoller Zeitgenossen, keine Philosophie und keine Eschatologie, sondern nur die Gegenwart in einem leibhaftigen Mann.

Ich spreche hier von einem Glauben der sich an George knüpft und weiß daß ich ihn nicht beweisen kann - kein Glaube ist beweisbar. Ich will versuchen ihn zu begründen, und vielleicht ist schon ein Spuk gebannt, ein Verständnis ermöglicht, wenn das Gefühl dafür dämmert daß es George und seinen Folgern nicht um ästhetisches Spiel, um selbstgefällige Bespiegelung und esoterischen Sprachgenuß zu tun ist, sondern um des Dichters ernsteste Pflicht: um Formung von Mensch und Volk.

Den großen Willen spricht man ihm ja gerade ab, seltener das Können und die technische Meisterschaft. Es gehört zu seinem Bilde und sollte nachdenklich machen, daß er Glauben überhaupt weckt, einerlei in wievielen. Ein bloßer Ästhet vermöchte dies nicht. Wer nur Genuß und Reize verschafft weckt keinen Glauben und wenn George nichts wäre als ein Erweiterer unseres Genußbereichs, der Bringer neuer Klänge und Farben - es wäre heut kein Wort mehr über ihn zu verlieren. Darauf kommt nichts mehr an.

Hexenmeister und Seelen-Akrobaten brauchen wir nimmer, sie treiben an allen Ecken ihr Wesen und sollen nicht gescholten werden. Für uns aber handelt es sich um vorbildliche Menschen, um solche deren bloßes Dasein unsre Verantwortlichkeit steigert, unser Gewissen weckt und unsern Charakter bildet, Menschen die man nicht lieben kann, ohne ein neues Maß von Gut und Bös, von Schön und Häßlich, von Würde, Pflicht und Schmach zu bekommen. Nicht neuen Stoff fürs Hirn, nicht neue Reize für die Nerven wallen wir unsren Dichtern danken, sondern neuen Gehalt unsres ganzen Daseins. Solche Gewalt geht nicht von der bloßen Begabung aus, nur vom Charakter, d. h. beim Dichter: von seiner in Sprache gewirkten Gestalt.

Alles Dichten das nicht Charakter, Gestalt, ganzen Menschen darstellt ist bloßes Gered (ob Urbrunst ob Zierschwulst), und wenn es sich um die tiefsten Probleme drehte. Aller Dichtercharakter der nicht völlig Wort geworden, nicht restlos in Sprachform aufgesogen ist, geht uns, weil Privatsache, nichts an, und wäre es das goldenste Herz, der sinnvollste Kopf. In der Dichtung wie in der Religion, gilt nur das Wort das Fleisch wird, nur das Fleisch das Wort wird. Daß Sprache die Essenz des Menschtums ist, eine kosmische Grundkraft: eben das hat George unsrer Zeit wieder vergegenwärtigt: Er hat die Kluft zwischen der Dichtung, als dem Sprachausdruck gehobnen Menschtums, und der Litteratur, als dem Mittel der Unterhaltung und Belehrung, wieder aufgerissen, mit einer Schroffheit die ihm von den Grenzverwischern nie verziehen werden kann. Er hat mit einem fast grausamen Nachdruck die Sprache der Dichtung wieder zurückerobert, nachdem sie bereits, zwei Generationen seit Goethes Tod, eine unrettbare Beute der Litteratur schien, und er hat damit zugleich dem großen Begriff »Dichter«, der in der Vergangenheit mythisch, in der Gegenwart komisch geworden war, wieder Gehalt und Würde gesichert. Seine allererste Aufgabe, noch eh er seinen Willen und sein Weltbild herausstellen durfte, war erst wieder eine Dichtersprache zu erschaffen aus wirk¬lich durchgelebten, ganz gefüllten Worten. Denn die er vorfand waren von Blut und Geist entleert.

Dann fleckt auf jedem wort der menge stempel,
Der toren mund macht süße laute schal.


Dies Wiederauffüllen der Worte, dieser Umguß abgegriffnen Metalls, dies Ringen um den rhythmischen Ausdruck eines neuen Menschen, dies leidenschaftliche Läutern, Schmelzen, Hämmern der Sprache hat George den Vorwurf des leeren Formalismus eingebracht - als ob die Sprache leere Form Wäre! Nein, sie ist die Substanz der menschlichen Seele selbst, sie ist im Geistigen was im Leiblichen das Blut ist, und Sprachkraft ist die Zeugungskraft der Seele. Dies Blut der deutschen Seele zu reinigen, zur Zeugung echter Geschöpfe fähiger zu machen, das war Georges dringlichster Wille, noch eh er weitergreifen konnte. Nur wer den Gehalt der Sprache erneuert verdient den Namen des Dichters, oder des Propheten - darin sind beide verwandt, und wesentlich unterschieden vom Schriftsteller, auch vom genialsten. Denn diesem bleibt Sprache Mitteilung, Suggestion, Spiegelung oder Erregung: dem Dichter ist sie Zeugung, wie denn Sprache überhaupt zwei Reichen angehört: sie ist Mittel des Geistes zur Verständigung, und sie ist leibliche Funktion, kosmisches Geschehn, kurz Zeugung. Sie ist ein Gesellschaftsphänomen und ist ein Naturphänomen. Der Schriftsteller hat es mit dem ersten, der Dichter mit dem letzten zu tun, und je ursprünglicher ein Mensch aus der Natur spricht, je kosmischer sein Wille ist, desto leidenschaftlicher wird er nach Sprachgestaltung ringen.

Sprachschöpfung setzt die Wiedergeburt der Seele voraus. Darum sind alle religiösen Genien Sprachschöpfer gewesen, und alle Sprachschöpfung, auch die nicht geradezu religiösem Trieb entstammt, trägt den Charakter der Weihe. Der Vers, das eigentliche Symbol der Dichtung, ist liturgisch und magisch, und nur dem Litteraten wird er zufälliger Redeschmuck. Echte Dichtung, als Akt der Sprachschöpfung; ist notwendigerweise festlich. Das leichteste Liebeslied Goethes und der Prometheus des Äschylus sind gleicherweise Feiern. Georges vielgehöhnte Feierlichkeit bedeutet daß er, zugleich mit dem verschollenen Gefühl für den wiedergeburtlichen Charakter der Sprachschöpfung, auch die damit notwendig vereinte Festlichkeit des Verses erneuert hat. Auch hier hat man den unwillkürlichen Ausdruck seines Wesens, die notwendige Folge seiner Aufgabe für absichtliche Zeremonie, für künstlichen Hokuspokus oder pompöse Aufmachung gehalten. Und doch ist »unfeierlicher Dichter« so sehr Widerspruch in sich selbst wie »subalterne Herrschernatur«.

Wenn Georges Feierlichkeit mehr auffällt, so liegt es einmal daran daß er sich abhebt von einer besonders feierlosen Zeit, und sodann, daß er ausschließlicher und unbarmherziger sein Sprachschöpferamt ausübt als die Dichter früherer Zeiten. Denn gerade je mehr Pöbel (aller Stände) mitredet und Sprache mißbraucht, desto strenger muß der Dichter selbst auf ihren Adel halten. Soviel ist gewiß : niemals solange die Welt besteht ist das Wort massenhafter, törichter, leichtfertiger gemißbraucht worden als heute. Pöbel hat es immer gegeben und muß es geben, aber niemals ist er so zu Stimme gekommen wie heute, und soll Dichtung heute überhaupt noch einen Sinn haben neben der Litteratur (das wird ja oft bezweifelt) so muß es der sein: die Bewahrung der in der Sprache beschlossenen kosmischen Kräfte, des menschlichen Seelenblutes vor dem seelenlosen Geschwätz, der papiernen Reflexion und der feilen Begehrlichkeit entgeisteter Mengen und spielerischen Gesindels.S. 64-67 […]

Die Einheit von Tätertum und Traum ist Georges besonderes Zeichen: Tatkräfte, in Sprache gedrängt, ja verschlagen, unterscheiden seine Dichtung vom andern deutschen Schrifttum. Geboren mit dem Willen Welt zu verwandeln, wie alle Tatmenschen, ergriff er sie mit der ihm zugewachsenen Gewalt: dem Wort. (Das Wort enthält den Gedanken, und wer die Gedanken der Menschen über die Dinge verwandelt, der verwandelt allmählich Dinge und Menschen selbst.

Der Dichter verwirklicht seinen Traum nicht durch Umwälzung der äußeren, sondern durch Umbildung der inneren Mittel. Unter Traum verstehe ich dabei nicht das romantische Poetisieren der Welt, die Suche nach der blauen Blume, sondern die Kraft sinnliche Gegenwart selbst - ohne Aufputz und Schleier - als Zauber, als Wunder, als göttlichen Augenblick zu erfahren.. wie es jedem wohl einmal an einem italienischen Herbstabend, bei Alpenglühn oder in Stunden der ersten Liebe geschehen ist. Diesen gehobenen Zustand durchs Wort zu verewigen und zu übertragen - das heißt: Wirklichkeit in ihrem Sein zu zeigen, frei von Zwecken und Gründen, jenseits der Kausalität: dies gehört zum Wesen der Dichtung. Was der Inhalt des Traums, welcher Art die so geschaute Wirklichkeit ist, darauf kommt zunächst nichts an: den Dichter macht es aus daß er Wirklichkeit überhaupt so träumen und künden kann. Romantiker geben Erträumtes für Wirklichkeit.. die klassisch apollinischen Geister (ihr höchster Typus Shakespeare) stellen erlebte Welt als Traumwunder dar.

Zu den Verherrlichern des erlebten Welttraums gehört Stefan George: doch er vereint mit dieser selbst- und zweckelosen Traumschau etwas das durch sie von vornherein aus geschlossen scheint, und allerdings mit romantischer Art nie, mit der apollinischen selten vereint gewesen ist: einen aktiven menschenverwandelnden Willen. Der Wille scheint ja ohne Zwecke nicht möglich und der Traum schließt sie aus. Erst wer diesen Widerspruch löst, begreift Georges Mitte. Sein Traum und sein Wille entspringen (wie überall dort wo Traum und Wille in der Geschichte vereint zu treffen sind) demselben Quell: seinem Eros, dem was er selbst »die weltschaffende Liebe« nennt. Es ist dieselbe Liebe aus der Platos Ideen-reich stammt, auch dies der Traum eines menschenbildenden Willens.

Wie der Traum ein Schauen ohne selbstischen Zweck ist, so ist die schöpferische Liebe - entzündet durch ein solches Schauen - ein Wille ohne selbstischen Zweck, ein Wollen-müssen, ja ein Gewolltwerden : sie strebt nicht wie die Geschlechtsliebe Einzelnes für sich zu besitzen oder sich Einzelnem hinzugeben, sondern in dem geschauten Einzel-Schönen das All selbst zu ergreifen und nach seinem Bild zu verwandeln: das heißt, die vom schöngeschauten Einzelnen ausgehende Bewegung, ausgedrückt in Farbe, Klang, Wort (oder wie die jeweiligen Kunstmittel heißen) will der so Träumende dem All mitteilen und seinen aus dem Traum gebornen Drang in Tat und Staat umsetzen.

Wenn es den meisten Dichtern genügt die schöne Schau ihres Traumes einfach auszusprechen, so messen andre an ihrer Traumschau die Umwelt und streben danach sie ihrem inneren Bilde zuzugestalten, den spröden Stoff der Zeit zu durchglühen mit dem ewigen Feuer dessen Strahlung sie selbst gefühlt haben. Sie wollen einer blödsichtigeren Welt den Blick geben auf »jenes Meer, das flutend strömt gesteigerte Gestalten«.

Sie wollen nicht nur schauen, sondern schauen machen, und schauen machen um eines edleren Tuns und Seins willen. Wer aber, gesegnet mit apollinischer Traumschau, den Blick in kosmische Wirklichkeit getan hat, der kann nimmer die gemeine Wirklichkeit der Zwecke und Gründe, seinen kausalen Tag, als maßgebend anerkennen, dem ist seine zeitliche Umwelt nur Trübung der eigentlichen Welt.. und füllt ihn noch dazu jener verwandelnde Wille der schöpferischen Liebe, so wird dieser mit der Zeit ringen, bis eins von beiden überwunden, d. h. der Wille zerbrochen oder die Zeit durchdrungen ist.

Zu neuer form und farbe wird gedeihn
Der streit von mensch mit mensch und tier und erde.


Doch die schöpferische Liebe ist zugleich das Gesetz für ihren Träger, sie ist es kraft deren er nicht anders kann, sie gibt ihm die Sicherheit im Wirrsal der Dinge, Ziele und Ursachen, sie bestätigt ihn:

Sind auch der dinge formen abertausend
Ist dir nur Eine, Meine, sie zu künden.


Diese schöpferische Liebe brennt ihm alle Eitelkeit und Begierde aus, sie macht ihn ganz zum »Dröhnen der heiligen Stimme, zum Funken des heiligen Feuers« d. h. zu einer Wirkung der Allkraft aus der sein Traum und Wille stammt. Sie zwingt ihn aber auch zu richten und zu sichten, zu formen und zu bändigen, und nötigt das gütigste Herz zur größten Härte, sie treibt ihn auf die schwere Suche nach würdigem Stoff woraus er zeugen könne. Diesen Gott in ihm selbst ruft der Dichter an:

Menschlich glück verschwor ich um dein lied
Fügte mich der not des wandertumes,
Forschte ob ich dich in ihnen fände.
Tag und nacht hab ich nur dies getan
Seit ich eignen lebens mich entsinne:
Dich gesucht auf weg und steg.

Dieser menschensuchende Eros (und nicht konventikel-frohe Eitelkeit) treibt den apollinischen Geist früher oder später zur Gemeindebildung, hält den Willen zum Staat aus neuen Menschen in ihm wach, macht ihn zum Seelenbildner, ja zum Paidagogen im engern Sinn. Und dieser Eros zuletzt gibt ihm das untrügliche Gefühl für die menschtums-bildenden und menschtums-zersetzenden Kräfte jeder Zeit, für leben-steigernde und leben-schwächende Spannungen. Wie der apollinische Goethe, so hat auch George eine pädagogische Provinz abgegrenzt: »Die Hüter des Vorhofs«.. in dies Gedicht ist alles zusammengedrängt was ein Erzieher der an die Göttlichkeit des Menschen glaubt als die irdischen Elemente höherer Menschenbildung erkennt und fordert.

Dieser Eros entspringt allerdings nicht der pflanzlich wuchernden Natur die alles wahllos wachsen und schießen läßt, sondern der Natur die sich im Menschen selbst Auswahl, Maß und Gesetz gegeben hat und für jede ihrer Wucherungen selbst das Heilmittel im Menschengeist erzeugt. Ist doch der Mensch als der ewige Erneuerer und Umgestalter der geistlos dumpfen Natur aus ihr hervorgedrungen. Und spürt sie, die dunkle Mischerin der Stoffe und Kräfte, die große Nährerin des Lebendigen sich erschlafft durch ihre eigne Überzüchtung, haben ihre allzu massenhaft gewordnen Kinder sie ausgesogen und ihre Nährkraft selbst gefährdet, so hat sie wohl noch das Geheimnis ihrer Genesung verschlossen in einem großen Herzen das ganz Natur und doch ganz Mensch, ganz Fülle und doch ganz Gesetz, ganz Blut und doch ganz Geist ist, damit dies, in ihrer Krisis als Held oder Heiland, als Weiser oder Dichter verkörpert, aus dem Gefühl ihrer ewigen Gesundheit ihr zeitliches Übel wende.

Und wenn die große Nährerin im zorne
Nicht mehr sich mischend neigt am untern borne,
In einer weltnacht starr und müde pocht:
So kann nur einer der sie stets befocht
Und zwang und nie verfuhr nach ihrem rechte
Die hand ihr pressen, packen ihre flechte,
Daß sie ihr werk willfährig wieder treibt:
Den leib vergottet und den gott verleibt
. S. 74-78
Aus: Dichter und Helden von Friedrich Gundolf, Heidelberg 1921, Weiss’sche Universitätsbuchhandlung


Klopstocks Gottesgedanke
Eingebung! das ist es: nicht mehr ein vorgeschriebener oder vorgesetzter Zweck, sondern ein unwiderstehlicher Drang des Sagens und Kündens, den Klopstock (seiner frommen Erziehung und Stimmung nach) empfand als ein Geheiß Gottes. Nicht mehr als verständiger Mensch, der verständigen Mitmenschen Wahrheiten austeilen will, nicht mehr als geselliger Mensch, der Nutzen oder Vergnügen zu verbreiten habe, fühlte sich fortan dieser Dichter, sondern als Stimme Gottes. Aus diesem Erlebnis der Inspiration stammt alles einzelne Neue in Klopstocks Haltung und Werk.

Zunächst die Weihe: das Dichten wird ihm ein heiliger Beruf. Wenn etwa die frommen Schweizer Gott besangen, so war dies ein hoher Gegenstand ihres Denkens, aber sie besangen ihn als Bürger oder Lehrer für Bürger... und so meist das geistliche Lied vor Klopstock. Er aber nahm seine Messiade als unmittelbaren Auftrag der Gottheit, seine Oden als Klänge des göttlichen Haus... sich selbst als den Träger einer Sendung und Offenbarung. Er mußte sich rein erhalten, erhoben bleiben als Gefäß einer übergesellschaftlichen Weihe in den Eingangsversen zum Messias, in der »Ode an den Erlöser« und in den »Stunden der Weihe«, hat er selbst dieses Amt gefeiert. Damit war Dichtung und Literatur, irdische Zweckrede und göttliche Drang- oder Zwangrede geschieden. Die Sprache forderte ihre Würde wieder als eine Gott-unmittelbare Äußerung der begnadeten Seele, die ihr Gesetz nicht mehr empfange von Gesellschaft, Staat oder sonstigen Mittel-anstalten, sondern vom Herrn alles Wesens. Der Gottheit allein will sie Ursprung, Form und Pflicht danken. Damit beansprucht die Dichtung eine ähnliche Autonomie wie Kant sie der Moral sichern wollte. Der Anspruch war damals neu und hob auch die soziale Stellung des Poeten, der durch Wandel und Werk ihm Nachdruck und Glauben verschaffen konnte. Mit Klopstock erscheint zum erstenmal in Deutschland der Dichter als selbständiger Seher, Sager, Vates. Vor ihm hatte nur der Gottesmann Luther im protestantischen Deutschland solch einen Fug, und man muß bis zu Dante zurückgehen, um einen Dichter zu finden, der sich so ausschließlich als Sänger heiligen Liedes weiß und will wie Klopstock, Tasso und auch Milton sind viel mehr fromme Humanisten und Lehrer... mahnende oder schmückende Mythologen.

Mit dem Genie hat das zunächst nichts zu tun.., ein Poet kann vom Pöbelspaß herkommen und zum Weltschöpfer werden wie Shakespeare... oder er kann Gottes Taten bereden und nur privater Schulmeister bleiben wie Bodmer. Doch die Stunde ist für die Geistesgeschichte wichtig, da Dichtung, die Schicksalssprache eines Volkes, einen neuen Sinn bekommt. Dies hat Klopstock bewirkt, nicht nur für Deutschland.

Corneille, Racine, Molière waren Diener oder Stammführer einer Gesellschaft. Mit der deutschen Romantik, der Klopstocks Errungenschaft zugute kommt, verbreitet sich die Idee der Dichterwürde und -freiheit wieder nach England und Frankreich: die europäischen Flucher und Mahner Byron und Victor Hugo mit ihrer unabsehbaren Wirkung folgen eher dem protestantischen Beter Klopstock als dem Vates der katholischen Christenheit, Dante: der blieb freilich ein glorreicheres Vorbild. Doch nach Dante war fast die dichterische Autonomie verschollen... Klopstock mußte sie erst wieder finden und füllen.
S.59f. […]

Was von Gott aus gesehen Eingebung, das ist von der Natur aus gedeutet Assoziation. Schlicht gesagt (doch nicht banal gemeint, die volkstümliche Wendung veranschaulicht nur den Vorgang, den das wissenschaftliche Fachwort oft verdunkelt): der inspirierte Dichter schreibt, was ihm ein-fällt, was ihm kommt. Daß ihm nur Heiliges und Hohes einfällt, das ist das Zeichen seiner Weihe. Die Auswahl seiner Worte und Bilder ist in seinem Gemüt schon von vornherein angelegt... Gott hat es zum Gefäß für seine Gedanken gemacht: so empfand Klopstock sein Kündertum. Der rationale Poet muß die Dinge für den Verstand herrichten und ausdeuten. Der von Gott unmittelbar angehauchte braucht sich vor der Vernunft — vor der Teufelshure Vernunft, wie Luther sie nennt — nicht auszuweisen. Was Gott ihm eingibt, gilt ihm mehr als Vernunft... vermittelnde Begriffe braucht er nicht, wenn er sich unter Gottes Wind fühlt. Was in seinen Schwung gerät, steht aus himmlischem Fug da, Gottes Odem erscheint als Menschenstimme, Gottes Licht als menschliches Auge.

Daher Klopstocks berühmte »Dunkelheit«. Sein jugendlicher Einfall-taumel und Eing-gebungs-rausch erstarrte freilich später zur Redemanier, aus bewußter Nachahmung der Bibelsprache und des Pindarischen Mythenstils. Der Dichter, einsam, fern von allen Zuhörern, wird überflogen, angeflogen von Erinnerungen, Wünschen, Schatten, Gesichten, die er hereinreißt in den rhythmischen Drang, kraft dessen er singt: das sind seine Einfälle (Assoziationen). Nicht aus ihnen kommt das Gedicht, sondern aus dem gottgewollten Hochgefühl der Andacht, der Sehnsucht, des Ingrimms, worein Erscheinungen oder Ideen ihn versetzen. Doch das Gefühl kann sich dann nähren aus allen möglichen Einfällen, Zufällen: sie sind der Brennstoff für die rhyth¬mische Flamme und werden eines mit ihr... oder, mit einem andern Gleichnis, die Glockenspeise, die den Guß und Ton der Glocke mitbestimmt.

Aus der neuen Dichtart und Dichtgesinnung Klopstocks ergibt sich die Wahl höherer Stoffe, die zu seinem Ruhm gehört. Doch nur durch seinen Eingebungsstil sind seine Motive so verführerisch geworden, die Gegenstände und die Zustände seiner Weihe. Den einen Bereich seiner Poesie füllen die erhabenen Stoffe: Gottheit, der Heiland, die Erlösung, die Schöpfung, die Unsterblichkeit... den anderen Bereich die erhabene Aufgabe: die dichterische Sendung und Würde. Klopstock hat zuerst das Dichtertum selbst wieder in Deutschland besungen: Geschmacksforderungen waren zwar schon vor ihm gereimt worden, in Nachahmung der Horazischen Ars poetica und der Episteln des Boileau, und seit Opitz gab es genug ruhmredige Anpreisungen des Poetenberufs.

Doch erst Klopstock hat die Gaben, Zeichen und Zustände der dichterischen Begeisterung selbst verherrlicht, etwa in Oden wie Stunden der Weihe, Delphi u. a. Von Gott aus und von seiner Gotteskindschaft oder Gottesmundschaft aus, von seinem Beruf er und von seiner Berufung her erst belebte sich ihm die »Welt«, die Natur und die Menschheit. Die Werke Gottes und die Beziehungen zu den Menschen bekamen einen neuen besingenswerten Sinn durch das Gefühl seiner Weihe: vorher waren es eben Gegenstände allgemeinen Denkens, jetzt Kräfte des eigenen Gefühls, Offenbarungen oder Gnaden. Unsterblichkeit und Vergängnis, das sind die beiden Beziehungen, unter denen er die Welt von Gott aus erfährt.

Immer wieder erhebt oder erschüttert er sich an diesen beiden Grundtatsachen, wodurch er sich seiner Kleinheit als irdisches Wesen und seiner Hoheit als Gottes Geschöpf und als erlöste Seele bewußt wird. Nicht nur, daß er die Gedanken Tod und Unsterblichkeit selbst immer wieder in Gefühlsmusik setzt: »Frohsinn«, »Die frühen Gräber«, »Der Tod«, »Die Trennung«, »Warnung« — auch seine Landschafts- und seine Freundschaftsgesänge, seine Feier der Jahreszeiten oder der Geliebten gelten nicht so sehr der Gegenwart blumiger oder fruchtiger Natur, tätiger oder gesprächiger Menschen als der überweltlich fernen Gottheit, die sie geschaffen oder erlöst oder vernichtet hat: alle Erscheinung ist ihm nur Wahrzeichen der unsichtbaren Tätigkeit Gottes. Nicht das Lebendige, sondern den Beleber... nicht die Schöpfung, sondern den Schöpfer... nicht das Blühende und Welkende — kaum das Blühen und Welken — sondern immer wieder den unbeschreiblichen Grund aller beschreibbaren Dinge und Vorgänge sucht und ruft er. Daß er selbst sterben muß, daß alle sterben müssen, die trauteste Geliebte, die Gefährten, das schöne Mädchen und der große Mann, der Sünder und der Fromme, das gibt ihm gleichsam die bunten Erdenfarben, worin sein einfacher Gottesstrahl sich bricht oder trübt.

Daß die irdischen Zustände in einer höheren Welt verewigt werden durch Gottes Güte, das ist zugleich die Begrenzung seiner gestaltlosen Schwünge und die Beseelung seiner gewichtlosen Erde. Denn nicht aus eigener Fülle lebte ihm sinnliche Welt, wie den Heiden oder den Pantheisten: er mußte sie erst von seiner übersinnlichen Gottheit abheben, um sie überhaupt zu gewahren.

Nicht in ihrem Wesen oder Da-Sein erfuhr er sie, wie Goethe oder Hölderlin, sondern durch ihre Beziehungen zu Gott oder zur unsterblichen Seele — und diese beiden waren ihm nicht durch Schauen gegeben, sondern durch Gefühl oder Glauben. Man lese seine noch sinnfälligsten Gedichte... seine Mondlieder, seine Maifeier, seine Eislandschaft: ihren eigentlichen Ton empfangen sie erst durch die Spannung zwischen ihrem flüchtigen oder verflüchtigten Nu und der Ewigkeit Gottes, der sie gibt oder nimmt, zeigt oder löscht. Nicht so sehr das irdische Vergnügen in Gott lehrt ihn die Erscheinungen sehen, wie etwa einen deutschen Landschafterpoeten vor ihm, Brockes oder Haller, als das überirdische Ungenügen aus Gott, die Rührung über die Vergängnis der Menschenfreuden und ihre Auf-hebung in dem gestaltlosen, zeitlosen, raumlosen Gefühl des Schöpfers vermöge der unsterblichen Seele.

Alles Irdische war also für Klopstock nur Anlaß, Anstoß, Grenze, die er überschwang. Bei ihm kann man sich den Sinn des Wortes »Überschwang« recht klar machen: er haftet nicht, sondern er fliegt, er durchdringt nicht, sondern umschwebt, er zeigt nicht, sondern er winkt. »Das Gewölk wallte nur hin«, ist der bezeichnende Vers für ihn.

Klopstock ist schlechthin unplastisch, aber musikalisch. Das Verschweben, das ahnen läßt, die dämmernde Hülle unsichtbaren Seins oder Geschehens, das Hinaufziehende und unergründlich Dunkle oder ungreifbar Helle, kurz das Grenzenlose, Unendliche meinte und suchte er in der Natur. Nur weil er durch Grenzen erst es vermitteln konnte, nahm er auch die Grenzen wahr: die Farben und Formen um des Lichtes willen, weil wir ohne sie nichts vom Licht wüßten, die Zeit als das Maß für die Ewigkeit, den Tod als das Tor zur Unsterblichkeit. So unterscheidet er sich von den dingfrohen, selbstgenugsamen Sammlern, Beschreibern und idyllischen Landschaften, Ewald v. Kleist und Brockes, wie von den ursprünglichen Natur- und Schicksalssehern, Goethe und Hölderlin, die im Festen selbst das bewegt Wirkende erfuhren und in der Gestalt selbst das übergestaltige Leben ohne Flucht nach oben oder nach innen.

Der Gottesgedanke Klopstocks gehörte zwar noch zur aufgeklärten Humanität, nicht er war neu, sondern sein Gefühl und seine Sprache. Nicht der eifervolle Jehova, sondern der Liebesgott, der Erlöser ist die Quelle seiner Frommheit. So hat er mühelos die gesamten humanitären Rokoko-Ideen aus ihr abgeleitet, mit ihr vermischt. Der unendliche Wert der Menschenseele begründet die allgemeine Menschenliebe und das Freiheitsideal: beides sind Hauptmotive der Klopstockischen Poesie geworden. Wenn der Einzelmensch im unmittelbaren Bezug zu Gott steht, der seine Seele der Erlösung gewürdigt, dann gilt jeder Eingriff in ihr Dasein als Sünde. Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit sind protestantische Postulate von der Einzelseele aus. Der Tyrannenhaß Klopstocks und seiner wütigen Mit- und Nach-Barden stammt aus derselben Gesinnung wie seine Gebete und Weihe-Oden.

Er ist hier ein Zeitgenosse. ja ein Bruder Rousseaus und wie dieser empfindsam und freiheitssüchtig aus protestantischem Seelenkult. Dagegen war er ein Widersacher der Voltairischen »Aufklärung«, die von der Renaissance herkam, nicht von der Reformation... die den Verstand entfesseln wollte, nicht das Gemüt.

Rousseau wollte Freiheit an sich als absoluten Wert, gleichsam Freiheit des Christenmenschen ohne Christus, Voltaire wollte Freiheit als Mittel des erfreulichen Lebens und richtigen Schaffens, vor allem Denkens. Rousseau ist die Rokoko-Form des protestantischen Eiferers, ein Nachfahre des Luther und Calvin, Voltaire die Rokoko-Form des »Virtuoso« aus dem Hochrenaissance, ein Nachfahre des Petrarca oder Ariost.

Klopstock hat in dieser Art Mensch den eigentlichen Teufel empfunden. An dem Widerwillen gegen die Voltairische Zweifelei, Genießerei und Spielerei hat sich erst Klopstocks Deutschtums-Kult wenn nicht entzündet, so doch gefestigt und formuliert. Sein Patriotismus ist weniger ein Urgefühl (wie seine Frömmigkeit eins ist) als eine Abwehr: das Gottesleugnertum, die dreiste Genußsucht und die verstandes-eitle Diesseitigkeit sah er in französischer Fassung, und die Vorstellung dieser Greuel verschmolz ihm mit dem Wälschtum. Verehrungswillig, wie er war, litt er daran, den Helden der Zeit, Friedrich, als Voltairianer zu sehen. Unmerkbar ward ihm der Dienst seines Gottes zum Krieg gegen die Gottesleugner und zur Verteidigung seines deutschen Glaubens gegen wälschen Leichtsinn oder Flachsinn. Frommheit, Tugend, Biederkeit setzte er mehr und mehr mit dem Deutschtum gleich, in dessen Sprache Gott zu feiern er sich begnadet fühlte ... Windigkeit, Tücke, Unzucht und Geistesdünkel sah er von Franzosen verkörpert, von eitlen Klüglern und Schmeckern, Schwätzern und Tändlern.

Von Klopstock her datiert das offizielle Schema des deutschtümlichen Franzosenhasses, das dann in den Freiheitskriegen mit staatlichen Inhalten und mit lebendiger Wucht gefüllt werden konnte. Vor Klopstock gab es seit dem Humanismus einen gewissen literarischen und archäologischen Ahnendünkel auf Ariovist und Arminius, und viele klagen über die Wälschen ohne wahren Haß, bei knechtischer Nachahmung ihrer Moden.

Klopstock fühlte sich frei von dieser Sklaverei und haßte nicht von unten nach oben, sondern rügte oder verachtete von oben nach unten — der erste Deutsche, der sich ehrlich besser dünkte als die Franzosen und sein Volk zu diesem neuen Stolz nicht ganz erfolglos mit aufrief. Die wahre Quelle seines Heimatsinnes war sein deutscher Sprachstolz: nicht ein Staats- oder Volksgefühl an sich hat ihn zum Patrioten gemacht, sondern seine Freude an dem Medium, in dem er seine Sendung künden durfte: die deutsche Sprache. Wo er die deutsche Sprache rühmt, da hat er Mark und Nerv... wo er vom Staat und Volk redet, bleibt er oft im Stimmungsgewölk und im Bardenlärm stecken. Sein deutsches Dichtertum aus Weihe ist auch der allein echte und feste Grund seiner Vaterlandsliebe. Im übrigen war er allgemeiner Menschenfreund, Völkerverbrüderer. Wohlfahrts- und Fortschrittsgläubiger, staatsfremd und stammesblind. Seine Bardiete, seine Hermannsdramen sind verschwommene und empfindsame Altertümelei in falschem Reckengewand, mit künstlicher Mannheit. Er hatte ein Gefühl deutscher Sprache, keine Anschauung deutschen Volks, noch minder einen Willen deutschen Staats.

In Klopstock kreuzen sich überhaupt ursprüngliche Kräfte mit abgeleiteten Inhalten, aus Widerspruch oder Belesenheit betonten. Durch die ersten ist er der seelengeschichtliche Neuerer und Gründer, den wir heute ehren, durch die letzten eine vergängliche Mode und Manier des deutschen Schrifttums. Sein humanitärer Tyrannenhaß, sein gereckter Teutonismus und seine verblasene Unsterblichkeitsschwelgerei gehören nur den wenigen Jahrzehnten an, da sie nachgeheult, nachgeknurrt oder nachgelallt werden konnten.

Auch in Klopstock war viel beschränktes Kleinbürgertum, Schulmeisterei und pfaffische Empfindsamkeit, viel von den irdischen Nöten, aus denen die deutsche Romantik und der deutsche Idealismus transzendentale Tugenden zu machen meinten oder zu machen wußten. Doch sein dauernder Grund reichte tiefer hinunter als in diese Schichten deutschen Nachluthertums, denen er zunächst seinen Massenerfolg dankte, und in seinen höchsten Augenblicken überflog er sie weit. Sein Bestes ist die lautere Gefühlsglut der ewigen deutschen Jugend, der gläubige Ernst, die gediegene Würde und die heilige Scheu: menschliche Eigenschaften, die bei uns niemals ausgestorben sind und immer wieder aus platter Roheit, wie aus Öde und Fäule als Stimme oder Gestalt sich erhoben haben.

Auch Klopstock gehört zu diesen Stimmen. Um ganz eine überzeitliche Gestalt zu werden, wie es Goethe und Schiller geworden sind, wie es Hölderlin und George werden, fehlte ihm die Weisheit welthaften Lebens und das große Schicksal seiner Person oder seines Volkes. Er wuchs anspruchsvoll in lauschiger Enge heran und horchte andächtig auf seine innere Stimme mit der Selbstgenugsamkeit eines augenlosen Musikers oder Mystikers ... den großen Friedrich und die französische Revolution maß er an den geschichtsfremden Werten seines empfindsamen Gemüts, huldigte ihren Ideen und erschrak vor ihrer Erscheinung.

Aber seine Stimme, zart und weithallend, voll und hell, dröhnend und schwingend zugleich, diese Stimme aus ursprünglichem Herzen und aus unentweihtem Himmel mit ihrer Botschaft von heiligen Schauern, holden Gefühlen und erhabener Andacht, mit einem neuen Naturhauch und einer neuen Seeleninnigkeit, diese Stimme Klopstocks war den Besten seiner Zeit fast die eines religiösen Mittlers. Der Klopstock-Kult war keine Sache des Geschmacks und der Bildung, wie die Wieland-Bewunderung, sondern eine Sachedes Glaubens. Man denke an Werthers Empörung über die Frage, wie ihm Klopstock gefiele! oder das fromme Entzücken der beiden Liebenden in einem herrlichen Nu der Natur, das sich entlädt mit dem Namen Klopstock.

Die Wiedergeburt der festlichen Seele feierte man in dem Sänger, der ihrer wieder deutschen Sprache gegeben, mitten unter Staub und Puder, mitten in armer Klugheit und massigem oder klapprigem Behagen, nach schwankem oder leerem Spiel. Die festliche Seele, die geistige Freude, der fromme Aufschwung und der lautere Rausch ging aus Klopstocks beginnlichem Wort dann in weitere, tiefere, stärkere Menschen über, und die vereinzelte steile Flamme wärmte ringsum die frierende Luft. Seitdem haben wir wieder deutsche Dichtung: echte unmittelbare Sprache unsres Wesens und Schicksals. Sie muß immer wieder errungen werden, denn es gibt keinen festen Besitz, am wenigsten unter Deutschen. Doch wer um den Beginn und die Gründer weiß, dem wachsen Kräfte im Geisterkrieg zu aus lebendigem Erbe. Solch ein helfender Ahnengeist ist auch Klopstock.
S. 62-68
Aus: Friedrich Gundolf, Dem lebendigen Geist. Aus Reden, Aufsätzen und Büchern ausgewählt von Dorothea Berger und Marga Frank, Verlag Lambert Schneider. Heidelberg-Darmstadt 1962