Friedrich Hebbel (1813 – 1863)

 

Deutscher Dichter. Hebbel war Sohn eines Maurers und wurde in Wesselburen in Dithmarschen geboren. Er ging nach Hamburg, wo er sich autodidaktisch ausbildete. Anschließend studierte er dann Jura in Heidelberg und München. Nach einem zweiten Aufenthalt in Hamburg und verschiedenen größeren Reisen lebte er seit 1845 in Wien. Hebbel pflegte zwar den strengen Stil der Tragödie, nahm aber doch viele Züge des modernen Theaters (Strindberg, Wedekind) vorweg. Durch die geschichtliche und von ihm auch theoretisch begründete Dialektik seiner Dramen, in denen der Untergang des Helden zur Voraussetzung der Überwindung einer überholten durch eine neue entwicklungsträchtige Geschichtsepoche gemacht wird, suchte er den unentrinnbaren Notwendigkeiten des irdischen Lebens einen überindividuellen Sinn zu geben. Dabei geht Hebbel von einer versöhnungslosen Tragik aus, in der selbst die Gottheit in den Widerspruch des Geschehens mit hineingezogen ist. Hebbel schrieb auch stimmungsschwere, tiefsinnige Gedichte, Erzählungen und ein Tagebuch von hohem (philosophischem) Niveau, dem die folgenden Beiträge entnommen sind.

Siehe auch Wikipedia ,

Inhaltsverzeichnis
Gedanken über Gott, Tod und Unsterblichkeit (aus den Tagebüchern)
Über Religion und Christentum (Briefe)


Gedichte
Virgo et Mater
An den Äther
Mysterium
Das Vater unser

>>>Christus
Gedanken über Christus

Gedanken über Gott, Tod und Unsterblichkeit (aus den Tagebüchern)
Die Offenbarung Gottes in der Bibel folgt nicht einmal aus christlichen Begriffen. Wenn er sich offenbaren wollte, so hätte er vermöge seiner Liebe, die es ihm nicht erlaubte, die Menschen irrezuführen, und vermöge seiner Allmacht, die es ihm möglich machte, ein Buch liefern müssen, welches über alle Missdeutung erhaben war und von jedem, wie er selbst, erfaßt werden konnte. So hat er sich z. B. in der Natur ausgesprochen, die von jedem verstanden wird. (72)

In dem Augenblick, wo wir uns ein Ideal bilden, entsteht in Gott der Gedanke, es zu schaffen. (96)

Die Kraft zum Leben fängt immer an, wo die Kraft zum Leben aufhört. Und es ist nicht immer Feigheit, die nicht länger wagt, sich den großen Geheimnissen des Grabes und der Ewigkeit entgegenzustellen; es ist auch wohl bloßes Lebensbedürfnis, welches sich in den Gott hineinspielt, um den Menschen durch ein in der Idee sich Angeeignetes zu ergänzen. (158)

Die Individualität ist nicht sowohl Ziel als Weg, und nicht sowohl bester als einziger.
(491)

Schließt der Begriff Unsterblichkeit den Begriff Ewigkeit ein? Ist jener ohne diesen denkbar? (495)

Das nächste Ziel mit Lust und Freude und aller Kraft zu verfolgen ist der einzige Weg, das fernste zu ereichen. (496)

In die Hölle des Lebens kommt nur der hohe Adel der Menschheit; die andern stehen davor und wärmen sich. (498)

Willst du wissen: »Was ist das Leben, so frage dich: »Was ist der Tod (501)

— Das ist des Menschen letzte Aufgabe, aus sich heraus ein dem Höchsten, Göttlichen, Gemäßes zu entwickeln und so sich selbst Bürge zu werden für jede seinem Bedürfnis entsprechende Verheißung. (584)

Vielleicht ist das erste Leben ein Probierstein fürs zweite; was sich nicht goldhaltig genug zeigt, wird als Schlacke in die Grabhöhle geworfen, und nur das Gediegene dauert fort. (622)

Ein Gott, dessen der Mensch, den er geschaffen, noch bedürfte, müsste doch ein recht trauriger Gott sein.
(660)

Unsere Zeit ist eine schlimme Zeit. Das große Geheimnis, die letzt Ausbeute alles Forschens und Strebens, die »Einsicht in das Nichts« war ehemals hinter Schlösser und Riegel versteckt, und der Mensch sah sich und das Rätsel zu gleicher Zeit aufgelöst. Die alten Schlösser und Riegel sind schadhaft geworden, der Knabe kann sie aufreissen, der Jüngling reißt sie auf; ach, und fliegt der Adler wohl länger, als er an die Sonne glaubt? Die Weltgeschichte steht vor einer ungeheuren Aufgabe; die Hölle ist längst ausgeblasen und ihre letzten Flammen haben den Himmel ergriffen und verzehrt, die Idee der Gottheit reicht nicht mehr aus, denn der Mensch hat in Demut erkannt, daß Gott ohne Schwanz, d. h. ohne eine Menschheit, die er wiegen, säugen und selig machen muss, Gott und selig sein kann; die Natur steht zum Menschen wie das Thema zur Variation; das Leben ist ein Krampf, eine Ohnmacht oder ein Opiumsrausch. Woher soll die Weltgeschichte eine Idee nehmen, die die Idee der Gottheit aufwiegt oder überragt? Ich fürchte, zum erstenmal ist sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen; sie hat sich ein Brennglas geschliffen, um die Idee einer freien Menschheit, die, wie die der König in Frankreich, auf Erden nicht sterben kann, darin aufzufangen; sie sammelt, die Weltgeschichte sammelt, sie sammelt Strahlen für eine neue Sonne; ach, eine Sonne wird nicht zusammengebettelt! (689)

In welchem Verhältnis wohl gewisse nichtswürdige Tiere, z. B. Schlangen, Insekten pp., zur Erfindung und Ausbildung der Teufelsidee stehen? (710)

Gestern abend beim Zubettgehen hatt‘ ich ein Gefühl, wie es mir sein würde, wenn ich meinen Körper verlassen müsste. An diesen wohlgestalteten Leib fühlt der Mensch sich so mannigfach durch Leid und Freude, durch Bedürfnis und Gewohnheit gefesselt, an diesem Leib, mit ihm und durch ihn hat sich das, was er sein Ich nennt, entwickelt, dieser Leib ist es, der ihn durch die nach allen Seiten aufgeschlossenen Sinne so innig mit der Natur verwebt, ja, das Ich gelangt nur durch den Leib zu einer Vorstellung seiner selbst, als eines von den Urkräften freigegebenen, selbständigen und eigentümlichen Wesens, und die kühne Ahnung eines noch immer fortbestehenden Verhältnisses zwischen dem Quell alles Seins und der abgerissenen Erscheinung des Menschen geht weit weniger aus Eigenschaften des Geistes als des Leibes hervor.


Nun denke man sich den Tod: ein einziger Augenblick zerreisst alle diese Fäden und alles, was an sie geknüpft ist: das Auge erlischt, das Ohr wird verschlossen, der Leib sinkt abgenutzt ins Grab, und die Elemente teilen sich in ihn: indes soll das Ich, das nur durch den Leib ein Bild von sich, nur durch die Sinne ein Bild von der Welt hatte, in neue Sphären, von denen es keine Vorstellung hat, zu neuer Tätigkeit, die es nicht begreift, eintreten: als eine reine Kraft kann es nur unter Verhältnissen und Beziehungen zu andern Kräften, nur wenn es Widerstand findet, wirken: eine unvollkommene Maschine ist kein Hindernis, sondern ein Bedingnis geistiger Tätigkeit, es gibt keine Vermittlung zwischen Gott und den Menschen als das Fleisch: also ein neues, dem alten, verlassenen, analoges Medium ist nötig, und (hier kann man schaudern vor dem Augenblick des Übergangs) es entsteht jedenfalls ein leerer, wüster Zwischenraum, der kurz sein mag, der aber ein völliger Stillstand des Lebens, wahrer Tod, ist und eine zweite Geburt, mithin die Wiederholung des größten Wunders der Schöpfung, notwendig macht. (Fragen: Ist eine Wirksamkeit des Geistes ohne Körper möglich? Zur Antwort müssten Physiologie und Psychologie, in letzter Entwickelung, führen. Wenn möglich: Zustand des Menschen, der n u r in seinem Leib und durch ihn gelebt hat: Notwendigkeit höchster Ideen.) (760)

Die Gottheit selbst, wenn sie zur Erreichung großer Zwecke auf ein Individuum unmittelbar einwirkt und sich durch einen willkürlichen Eingriff (setzen wir den Fall, so müssen wir die ihm korrespondierenden Ausdrücke gestatten) ins Weltgetriebe erlaubt, kann ihr Werkzeug vor der Zermalmung durch dasselbe Rad, das es einen Augenblick aufhielt oder anders lenkte, nicht schützen. Dies ist wohl das vornehmste tragische Motiv, das in der Geschichte der Jungfrau von Orleans liegt. Eine Tragödie, welche diese Idee abspiegelte, würde einen großen Eindruck hervorbringen durch den Blick in die ewige Ordnung der Natur, die die Gottheit selbst nicht stören darf, ohne es büßen zu müssen. (1011)

Und ist ein bloßer Durchgang denn mein Leben
Durch deinen Tempel, herrliche Natur,
So ward mir doch ein schöner Trieb gegeben,
Vom Höchsten zu erforschen jede Spur,
So tränkt mich doch, bin ich auch selbst vergänglich,
Ein Quell, der ewig ist und überschwänglich!
(1154)

Es gibt keinen Weg zur Gottheit als durch das Tun des Menschen. Durch die vorzüglichste Kraft, das hervorragendste Talent, was jedem verliehen worden, hängt er mit dem Ewigen zusammen, und so weit er dieses Talent ausbildet, diese Kraft entwickelt, so weit nähert er sich seinem Schöpfer und tritt mit ihm in Verhältnis. Alle andere Religion ist Dunst und leerer Schein. (1211)

Gott teilt sich nur dem Gefühl, nicht dem Verstande mit; dieser ist sein Widersacher, weil er ihn nicht erfassen kann. Das weist dem Verstande seinen Rang an. (1268)

Große Talente kommen von Gott, geringe vom Teufel. (1276)

Das Gebet des Herrn ist himmlisch. Es ist aus dem innersten Zustande des Menschen, aus seinem schwankenden Verhältnis zwischen eigener Kraft, die angestrengt sein will, und zwischen einer höheren Macht, die durch erhobenes Gefühl herbeigezogen werden muss, geschöpft. Wie hoch, wie göttlich hoch steht der Mensch, wenn er betet: Vergib uns, wie wir vergeben unsern Schuldigern; selbständig, frei, steht er der Gottheit gegenüber und öffnet sich mit eigner Hand Himmel oder Hölle. Und wie herrlich ist es, dass diese stolzeste Empfindung nichts gebiert als den reinsten Seufzer der Demut: Führe uns nicht in Versuchung! Man kann sagen: Wer dieses Gebet recht betet, wer es innig empfindet und, so weit es die menschliche Ohnmacht gestattet, den Forderungen desselben gemäß lebt, ist schon erhört, muss erhört werden. Das Amen geht unmittelbar aus dem Gebet selbst hervor; so ist es im höchsten Sinne ein Kunstwerk. (1334)

Der Gedanke der Erbsünde ist der natürlichste, auf den der Mensch verfallen konnte. Wie oft tut der Mensch etwas, was er schon, indem und bevor er es tut, bereut; wie oft ruft er pfui und spuckt ins Glas und leert es dennoch! Es ist übrigens von der höchsten Wichtigkeit, alles, was im Lauf der Zeit allgemeiner Glaube, unumstößlich scheinende Satzung geworden ist, auf das persönliche, individuelle Bedürfnis zurückzuführen; nur dadurch gelangt man zu einiger Freiheit der Erkenntnis. Man macht auf diesem Wege die merkwürdigsten Entdeckungen, z. B. dass Gottes Mantel aus dem Schlafrock des Menschen und aus dem Gespensteranzug seines Gewissens zusammengestückt ist. (1335)

Die Menschheit lässt sich keinen Irrtum nehmen, der ihr nützt. Sie würde an Unsterblichkeit glauben, und wenn sie das Gegenteil wüsste. Es wäre möglich, dass unser ganzes höheres Leben nichts als ein warmes Gespinst von nützlichen Täuschungen lieferte, aber es wäre auf jeden Fall etwas ganz Außerordentliches, und ein Wesen, das so weise, so göttlich träumte, möchte die Realisierung seiner Träume verdienen und — bewirken! (1337)

Ich glaube, eine Weltordnung, die der Mensch begriffe, würde ihm unerträglicher sein als diese, die er nicht begreift. Das Geheimnis ist seine eigentliche Lebensquelle, mit seinen Augen will er etwas sehen, aber nicht alles; sieht er alles, so meint er, er sieht nichts. (1339)

Je länger man lebt, je weniger weiß man, warum man lebt.
(1377)

Wenn man überall Geist annehmen darf, so muss man ihn auch im Menschen annehmen. (1378)

Und doch wäre es möglich, dass dasjenige, was wir in höherem Sinne Geist nennen, der erleuchtende Funke, der uns fremde Welten eröffnet, weil er aus fremden Welten stammt, uns nur besuchte, nicht aber in uns wohne. Er könnte von uns angezogen werden, wie der physische Funke, der Blitz, vom Eisen; wir könnten seine Werkstatt sein, worin er Großes schafft, und die von seiner Flammenkraft glüht und glänzt, ohne für sich selbst etwas zu bedeuten. Geht doch fast alles, was man geistig zu erleben glaubt, spurlos vorüber; begreift man doch zuweilen später manchen Zustand nicht, in dem und durch den man früher lebte. (1379)

Warum ficht mich so manches Übel an?
Weil Gott dich vor dir selbst nicht schützen kann! (1513)

Die Schellingsche Idee, dass zu einer bestimmten Zeit aus Gott dem VaterGott der Sohn hervortreten musste, führt den Dualismus in die Gottheit selbst hinüber, zerspaltet die Fundamentalidee des menschlichen Geistes und macht Gott zur Wurzel der Weltentzweiung. Die sind die nächsten Konsequenzen. (1546)

Der Trost liegt nicht darin, dass Gott uns auf dunklen Wegen führt, sondern darin, dass die Dunkelheit des Weges oft durch die Erreichung des Ziels bedingt ist. (1591)

Gott war sich vor der Schöpfung selbst ein Geheimnis, er musste schaffen, um sich selbst kennenzulernen. (1674)

Wenn man sich das größte Verbrechen denkt, man kann sich Gott doch noch immer daneben denken. (1675

Das Göttliche lehnt sich gegen Gott auf, weil es seinesgleichen ist. (1698)

Es ist gar nicht möglich, dass die Ideen von Gott und Unsterblichkeit Irrtümer sind. Wäre das, so überwöge ja der Wahn reell alle Wahrheit, und das ist eine Ungereimtheit. Wir können jene Ideen nicht beweisen, wie wir uns selbs t nicht beweisen können; jene Ideen sind eben wir selbst, und kein Wesen kann die Fähigkeit besitzen, seine eigene Möglichkeit zu deduzieren. Vom Geist zur Materie ist ein Schritt; von der Materie zum Geist aber ein Sprung. Wir könnten die Unsterblichkeit gewiß beweisen, wenn wir nicht selbst unsterblich wären. (1702d)

Man macht es dem Menschen zur Pflicht, dass er versöhnlich sein soll; ich möchte fragen, wieweit er ein Recht dazu hat. Eine wahre tiefe Verletzung trifft ja nicht den einzelnen bloß als Persönlichkeit, sie trifft ihn zugleich als Repräsentanten der allem Menschlichen zugrunde liegenden Idee, und dieser Idee darf er nichts vergeben. Wie der Versöhnung mit Gott nach christlichen Begriffen die aufrichtige Beichte und dieser die Erkenntnis der Sünde vorhergehen muß, so gilt dies auch bei Aussöhnung der Individualitäten untereinander. Die Sünde ist eine Todeswunde, die der Mensch sich selbst schlägt und die nur dadurch, daß er sie sieht, geheilt werden kann. Ich darf meinem Feind die Hand nicht eher reichen, als bis die seinige wieder rein ist; wer Vergebung annimmt, ohne sie zu verdienen, frevelt gegen das Herz, wie man in der Sünde gegen den Heiligen Geist am Geist frevelt. Dies ist der äußerste Punkt sittlicher Verderbnis, unheilbar, Knochenfraß, Vernichtung. (1863)

Gott ist gebundene,
Natur ungebundene Kraft. (1963)

Es wäre doch seltsam, wenn nicht Gott die Welt, sondern wenn die Welt Gott geboren hätte. (1971)

Das Böse steht als Schranke zwischen Gott und dem Menschen, aber als solche Schranke, die dem Menschen allein individuellen Bestand gibt. Wäre es nicht da, so würde der Mensch mit Gott zu Eins. (2179)

»Gott versteckt sich hinter das, was wir lieben.« »Man sollte jeden so lieben, wie er Gott liebt.« (2297)

Dichten heißt: Abspiegeln der Welt auf individuellem Grunde. (2300)

Das Ewige muss so vom Zeitlichen träumen, wie das Zeitliche vom Ewigen! (2302)

Diesen Gedanken hatte ich gestern Nachmittag über Selbstmord. Gott gab dem Menschen die Fähigkeit, die Welt zu verlassen, weil er ihn nicht gegen die Erniedrigung durch die Welt schützen konnte. Hat der wahre Selbstmörder also mit Gott zu tun, so kann er die Tat verantworten; hat er es nicht mit Gott zu tun, so wird er überall nicht zur Verantwortung gezogen. (2310)

Dass die Gottheit dem Menschen die formende Kraft verlieh, das ist ihre höchste Selbstentäußerung. (2319)

Das Urgefühl des Daseins, höher als die Spaltung: Lieb und Hass, ein solches, womit Gott die Welt umfasst. (2329)

Die Ironie, womit der Mensch sich selbst verspottet, ist das Wiederaufgehen in Gott. (2331)

Gott: größtes Individuum, bisher den kleineren Individuen noch ein Gegengewicht entgegensetzend; aber mehr und mehr sich selbst in Individuen auflösend. (2359)

Bei der Frage über die Unsterblichkeit der Seele hängt alles davon ab, ob man behaupten darf, dass sie immer war, denn nur, wenn sie immer war, wird sie immer sein, hat sie aber einen Anfang genommen, so muss sie auch ein Ende nehmen. Darf man ja sagen? Entsteht sie nicht, entwickelt sie sich nicht wie der Körper, wächst in ihr das Bewusstsein nicht ebenso wie im Leibe das Gefühl der Kraft? Findet sie in sich einen Faden, der bis über die Geburt hinausgeht, eine geistige Nabelschnur, die sie auf eine ihr selbst erkennbare Weise mit Gott und Natur verbindet? Und wie ihre Wurzeln nicht über die Geburt, so reichen ihre Fühlfäden nicht über den Tod hinaus, und Geburt und Tod selbst entziehen sich ihr wie Zustände, die ihr nicht mehr allein angehören. War sie aber desungeachtet immer, wie fällt dann das christliche Dogma, als ob ihre ganze geistige Existenz in Ewigkeit von dem kleinen Erdendasein abhängig sei, in nichts zusammen. (2576)

Gott: das Selbstbewusstsein der Welt, nach Analogie menschlichen Selbstbewusstseins gesetzt. Ob er ist, ob nicht? Wer will antworten! Aber so viel ist gewiss, dass mit ihm, wenn nicht der Grund, so doch der Zweck der Welt wegfällt. (2759)

Wenn der Genius geboren werden soll, so müssen Gott und Teufel einmal einig werden und sich von oben und unten die Hand reichen. (5341)

Ich fühle mich jetzt wieder unendlich zur Natur hingezogen; die Gedanken des Menschen verlieren Tag für Tag mehr in meinen Augen und die Gedanken Gottes treten wieder an ihre Stelle. Man wird so von neuem Kind aber mit Bewusstsein und darum für immer; man fühlt sich dem Urgrund eine lange Zeit durch die einzelnen Erscheinungen entfremdet, aber man kehrt zuletzt unbefriedigt wieder zu ihm zurück, weil man erkennt, daß er alles in allem bietet, wenn auch nichts so grell und bunt, daß Rausch und Wollust entstehen können. Dasselbe wiederholt sich in der Kunst, die immer die Probe des Lebens ist. (5646)
Aus: Friedrich Hebbel, Tagebücher Auswahl und Nachwort von Anni Metz Reclams Universalbibliothek Nr. 8247 © 1963 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Über Religion und Christentum (Briefe)
Brief an Friedrich von Uechtritz vom 2. Mai 1857.
Ihr letzter Brief, mein teurer Freund, ist allerdings sehr ernster Natur und ohne Zweifel sind Sie auf eine ebenso ernste Erwiderung von meiner Seite gefasst. Nicht, als ob ich glaubte, dass zwischen Ihrem absolut christlichen und meinem Standpunkt eine Vermittlung möglich wäre, wenn die ethische nicht ausreicht, die Christus selbst zu genügen schien, als er das Wort aussprach:»an ihren Früchten sollt er sie erkennen!«. Das ist mir nie in den Sinn gekommen und kann mir jetzt am allerwenigsten einfallen. Wenn ich die Differenz, die uns trennt, noch einmal berührte, so geschah es, weil Sie nach Ihren Ausstellungen gegen gewisse Produktionen von mir einen Respekt für die christliche Mythologie (stoßen Sie sich nicht an diesem Ausdruck, den ich nur wiederhole, um mich über ihn zu erklären) bei mir vorauszusetzen schienen, den ich nicht haben konnte und nicht zu haben brauchte. Was hätte sie in ethisch-reinen, die Selbstkorrektur der Welt abspiegelnden Gedichten, wie Vater unser, Virgo et mater und so weiter verletzen können, wenn nicht der Gebrauch, den ich in einen vom Vater unser und in dem anderen von der Madonna machte? Und wenn es mir vor einer Reihe von Jahren nicht gelang, Arnold Ruge darüber zu beruhigen, daß ich, wie er sich ausdrückte, meine tiefsten Ideen an diese »weltgeschichtlichen Fratzen« anknüpfte, so glaubte ich doch, mich mit Ihnen leichter darüber zu verständigen, daß ich diese tiefsinnigen Symbole in meinen Kreis hineinzöge. Religiös-unnahbar können Sie mir ja nicht sein, wie dem Offenbarungsgläubigen, der sich ihrer freilich so wenig in meinem Sinn bedienen darf, wie des Abendmahlkelchs zum Trinken, und Willkür und Vorwitz liegt doch auch nicht darin, wenn ich sie vorzugsweise anwende, da sie aufs untrennbarste mit der jetzigen Weltanschauung verbunden und darum jedermann, dem Letzten, wie dem Ersten, zu jeder Zeit klar und gegenwärtig sind. Ich dachte, der kleinste Fingerzeig von meiner Seite würde Ihnen diese ganze Gedankenreihe erleuchten und Sie überzeugen, daß Ihrem Tadel eine Forderung zugrunde läge, die ich ablehnen dürfe. Statt dessen rücken Sie die Differenz selbst in voller Schneide wieder in den Vordergrund, und nun ich nachgewiesen habe, dass dies ohne meine Schuld geschehen ist, und daß ich unserem Kompromiss nicht untreu geworden bin, muß ich antworten. Die Wahrheit wollen wir alle beide; Sie glauben sie zu besitzen, ich suche sie und bitte nur, überzeugt zu sein, dass nicht die Herren Strauß und so weiter aus mir reden, sondern daß ich so unabhängig von diesen, wie von den Kirchenvätern, die Sie mir zitieren, mein ureigenstes Denken ausspreche. Das Resultat, das mir aus allen Sphären entgegentrat, ist allerdings, dass der Mensch das Herz der Welt so wenig zu sehen bekommt wird, als sein eigenes, und daß es sein heiligstes Recht ist, sich den allmächtigen Pulsschlag, den er fühlt, auf seine Weis auszulegen. Wo man dies bestreitet, da ist der Papst, und mit dem Papst auch der Großinquisitor, fertig; wo man es einräumt, da ist das Individuum gegen einen Zwang, der nur zur Zerknickung oder zur Heuchelei führen kann, geschützt und die sittliche Ordnung der Dinge nicht im mindesten gefährdet. Dies hätte ich zu beweisen.

Wer sich nicht einspinnt in unbestimmte Gefühle, der muß sich sagen, daß es sich bei den unberechenbaren historischen Enthüllungen auf der einen Seite und den Schwindel erregenden Fortschritten der Naturwissenschaften auf der anderen in unserer Zeit gar nicht mehr um das Verhältnis der Religionen untereinander handelt, sondern um den gemeinschaftlichen Urgrund, aus dem sie alle im Lauf der Jahrhunderte hervorgegangen sind, um das Verhältnis des Menschen zur Natur und um seine Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von ihren unerbittlichen Gesetzen. Ob der Christ oder der Jude oder der Buddhist recht haben, muß so lange unentschieden bleiben, bis ausgemacht ist, ob der Mensch die vornehme Ausnahme wirklich bildet, für die er sich hält. Die Wage und das Messer haben nun zu höchst bedenklichen, ja furchtbaren Resultaten geführt und mit dem obligaten: „Der Herr sprach“, aus Büchern entlehnt, die man seit Entdeckung der Keilschrift weit über den Berg Sinai hinaus bis zu ihren letzten Quellen verfolgen kann, wird keiner der Männer, die sie handhaben, noch zum Schweigen bringen wollen. Wenden Sie mir ja nicht ein, der Materialismus sei alt und in den Herren Helvetius, Holbach und so weiter längst zurückgeschlagen; er ist neu in den Gründen, und wer sich mit diesen, nicht etwa durch Moleschott und Vogt, sondern durch die ernstesten und parteilosesten Forscher bekannt und vertraut macht, der wird es sich nicht verhehlen können, daß von allen Faktoren der der Menschennatur nur das Gewissen als unzerstörte und, wie ich glaube, unzerstörbare Burg des Spiritualismus übrig geblieben ist. Denn das Gewissen steht mit den sämtlichen Zwecken, die sich auf dem Standpunkt des Materialismus für den Menschen ergeben, in schneidendem Widerspruch, und wenn man auch versuchen mag, ihm den Geschlechterhaltungstrieb im Sinn eines Regulators und Korrektivs des Individuellen zugrunde zu legen, was gewiß früher oder später geschieht, falls es noch nicht geschehen sein sollte, so wird man es dadurch so wenig erklären, als aufheben, oder steht es nicht fest, daß die Faktoren sich im Produkt nur steigern, nicht verändern? Das Gewissen weiß aber nur von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, es stellt keine einzige Glaubensforderung, nicht einmal die allgemeine, geschweige eine positive, es gewährt seinen Frieden um den Preis sittlichen Handelns und verlangt nicht, daß dies im Namen irgend einer Religion geschehe. Ich kann nicht so mißverstanden werden, als ob ich leugnete, daß das Gewissen des Menschen, dem eine bestimmte Religion anerzogen worden ist, nicht auch wegen Abweichungen von dieser zu Rede stellte; kein Türke wird mit ruhigem Gemüt Wein trinken, kein Jude Speck essen, kein Katholik die österliche Beichte versäumen.

Ich gehe von der ursprünglichen Tatsache aus, die auch der Offenbarungsgläubige als solche gelten lassen muß, wenn er nicht mit Natur und Geschichte zugleich in Widerspruch treten will, und frage: warum ruft das Gewissen, das allen ohne Völkern ohne Ausnahme und ohne Unterschied gebietet, das Gute zu tun und das Böse zu lassen, ihnen nicht ebenso laut und vernehmlich zu, sich ihren Gott so und nicht anders zu denken und ihn so und nicht anders zu verehren? Das tut das Gewissen aber nicht und darum hat man nie blutige Kriege geführt, weil man Mord, Raub, Diebstahl und so weiter in dem einen Lande für Tugenden, in dem anderen für Laster hielt, wohl aber haben die Kämpfe um Bundeslade, Kreuz und Halbmond die Erde dezimiert, ohne daß ein Einverständnis zu erreichen gewesen wäre; ja, diese haben das sittliche Gesetz selbst zuweilen auf lange verfälscht und verdunkelt, indem man sich in majorem Dei gloriam gegen Andersgläubige alles erlaubte, und Mohammed nebst seinen Kalifen gewiss in ebenso fester Überzeugung, wie Moses und Josua, oder wie die Ritter der Kreuzzüge. Dies ist entscheidend. Einen Ort gibt’s, wo der unnahbare Urgrund der Welt, den man nach meinem Gefühl durch jeden Namen und jede Bezeichnung an etwas Endliches anknüpft und also beschränkt und begrenzt, sich deutlich vernehmen läßt, und das ist die menschliche Brust. Und hier sollte die Offenbarung unvollständig sein? Hier sollte sie nur auf die Pflicht, nicht auch auf den Glauben gehen, wenn von diesem für den Menschen nicht bloß so viel, sondern unendlich viel mehr abhinge, wie von jener? Unbegreiflich, unbegreiflich bis auf den Grad, daß selbst die Ahnung, die doch nie ganz verstummt, keinen Anhaltspunkt mehr findet, wenn sie ihn nicht darin setzen will, daß dem Menschen alle Vermögen, die ihn vom Tier unterscheiden, nur zu Vexation [Neckerei, Quälerei] gegeben seien. Im Ernst kann die Frage gar nicht aufgeworfen werden, so lange man den Boden, auf dem man mit den uns allen gemeinsamen Mitteln nach Wahrheit forscht, nicht verlässt und eben jene Unbegreiflichkeit zu ihrem eigensten Kennzeichen macht. Dann aber ist das Resultat: strengste Gebundenheit des Menschen im Handeln und vollkommenste Freiheit im Glauben, denn auf der einen beruht die sittliche Welt und auf der anderen die intellektuelle. Dafür, daß die Tugend, die man vorzugsweise, obgleich ohne Not, die christliche zu nennen pflegt, nämlich die Demut, nicht leidet, ist auch gesorgt; wie käme der tiefere Mensch, eingeklemmt zwischen eine unendliche Aufgabe und den ebenso ungewissen, als unerbittlichen Tod, wie er es ist, zur Selbstüberhebung? Der Flache aber ist stolz auf seine Art, das Kreuz zu schlagen oder seinen Vers aus der Thora abzulesen, er spielt als Christ, Jude, Türke oder Heide die Pharisäerrolle, denn er ist überall der Auserwählte und hat das Eine, was not tut, und er findet eben jetzt im Mormonentum seine letzten karikierenden Ausläufer.

. . . Die sittliche Welt sollen wir alle gemeinsam bauen, darum erging an uns alle mit gleicher Eindringlichkeit der gleiche Ruf; das spekulative Bedürfnis soll sich jeder auf seine Weise befriedigen, daher sind hier keine Schranken gesetzt. Wenn der absolute Christ mir die Versicherung gibt, daß ihm die großen Fragen nach dem Woher und Wohin, die uns andere vom ersten bis zum letzten Odemzug beschäftigen, ein für allemal gelöst sind, so bin ich weit entfernt, ihn zu bestreiten. Nur muß er mir einräumen, daß ihm gleich bei seiner Geburt ein besonderer Sinn zuteil geworden ist, welcher ihn der Aufnahme einer Offenbarung fähig machte, die wir vergebens mit unserem Fleisch und Blut zu erkaufen suchen. Das ist dann Gnadenwahl und als solche der konsequente Abschluß eines erst durch sie vollkommen gerundeten Mysteriums. Wenn er mir aber statt dessen zuruft: mit nichten, Sünder; Komponisten, Dichter und Künstler mögen sich auf einen besonderen Sinn berufen, aber ich bin Dir in der Zerknirschung voran und so weiter, so wende ich ihm den Rücken und sage: weiche von mir, du Heuchler, deine Demut ist verkappter Hochmut! Denn dann habe ich den Papst vor mir, der, mit göttlicher Allwissenheit und Unfehlbarkeit bekleidet, in die Herzen schaut und sich in den Großinquisitor verwandelt, sobald es ihm gefällt. Wäre ich selbst Christ, so würde ich mich jedes Streits über den Kelch begeben, damit der edle Wein, den er enthält, nicht verschüttet werde. Denn diese Gefahr ist näher, als die Abschließer der Konkordat und die Beförderer der Gustav-Adolf-Vereine denken, und da ich den ethischen Kern des Christentums hoch über den aller anderen Religionen stelle, so würde ich es unendlich beklagen, wenn sie wirklich hereinbräche.

Ich habe, wie mein Brief gewiß beweist, Ihren Ernst nicht verkannt; den meinigen werden Sie auch nicht verkennen. Und nun frage ich Sie, ob mir die dogmatische Seite des Christentums mehr sein kann, als eine Mythologie neben anderen Mythologien? Wenn Ihnen der Ausdruck hart klang, so müssen Sie einen Begriff damit verbinden, der dem meinigen entgegengesetzt ist, und das konnte ich nicht ahnen. Mir ist die Mythologie eines Volkes der Inbegriff aller seiner religiösen Anschauungen, soweit sie nicht im Allgemein-Menschlichen aufgehen, und als gemeinschaftliches Ergebnis seiner historischen, philosophischen und poetischen Prozesse das Höchste, was es überhaupt in seinem ersten Entwicklungsstadium liefert. Der Schwan der Leda, dessen Sie gedenken, gehört freilich auch mit dazu, aber doch nicht anders, wie zum Beispiel die Tierfratzen über dem Portal zum Gotischen Dom. Wollen Sie mir die altnordische und die griechische nicht gelten lassen, deren jede wenigstens als großartige Natursymbolik in schwindelerregender Majestät über alles Individuelle hinausragt, so können Sie die indische mit ihrem unergründlichen Tiefsinn gewiß nicht zurückweisen. Ich darf daher meine Frage wiederholen, denn ich kann doch nicht der christlichen Offenbarung gegenüber zugleich frei und gebunden sein . . .

Aus: Friedrich Hebbel, Ein heiliger Krieg, Briefe, Tagebücher, Gedichte (S.340-346)
Mit lebensgeschichtlichen Verbindungen von Hans Brandenburg
Wilhelm Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen bei München

Brief an Pfarrer Luck in Wolfskehlen vom 16. Okt. 1860
(Hebbel hatte Pfarrer Luck auf einer Reise kennen gelernt)
Sie möchten mich dem positiven Christentum näher bringen, als Sie mich ihm gestellt glauben. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihr Motiv auf keine Weise verkenne! Aber ich habe über denselben Gegenstand schon vor Jahren mit meinem Freunde Friedrich von Uechtritz eifrig korrespondiert, ohne daß es mehr als einen Waffenstillstand zur Folge gehabt hätte. Ich stehe durchaus in keinem feindlichen Verhältnis zur Religion, wie Sie selbst richtig bemerken; das ist auch bei einem Dichter, und Sie erklären mich für einen solchen, nicht wohl möglich, wenn er anders den Namen verdient und nicht zur französischen Zwittergattung gehört, denn Religion und Poesie haben einen gemeinschaftlichen Ursprung und einen gemeinschaftlichen Zweck, und alle Meinungsdifferenzen sind darauf zurückzuführen, ob man die Religion oder die Poesie für die Urquelle hält. Ich muß mich nun für die Poesie entscheiden und kann so wenig in den religiösen Anthropomorphismen, wie in den philosophischen Doktrinen etwas von den großen poetischen Schöpfungen spezifisch Verschiedenes erblicken; es sind für mich alles Gedankentrauerspiele, in denen bald die Phantasie, bald der Intellekt vorschlägt, bis beide sich im reinen Kunstwerk durchdringen und in gegenseitiger Sättigung zusammenwirken. Damit verschwindet für mich der christliche Gottmensch, wie der griechische und persische, oder vielmehr, sie treten in eine symbolische Sphäre zurück, ohne daß die neuere Bibelkritik, die Straußsche zum Beispiel, mir diese erst hätte erschließen müssen, denn sie ist der Anfang aller Kunst und dürfte auch in verwandelter Gestalt, ihr Ende sein. Sollte Ihnen das zu profan klingen, so erwägen Sie, daß ich ja von der Religion nicht geringer, sondern von der Poesie, der Allumfasserin, nur höher denke; jedenfalls glaube ich nicht, daß es einen Dichter geben kann, dem die universellen Formen des Dramas und des Epos zu Gebote stehen, und der zu der positiven Religion ein anderes Verhältnis hat. Calderon werden Sie mir nicht einwenden wollen; es fehlt ihm eben das Beste, wenn man ihn in Herz und Nieren prüft. Es ist nun freilich wahr, daß auch diejenigen Dichter, die uns hier allein beschäftigen dürfen, den religiösen Anschauungen und Empfindungen nicht selten einen Ausdruck verleihen, der den Gläubigsten nicht allein befriedigt, sondern ihm sogar in seinem eigensten Wesen ganz ungeahnte Tiefen eröffnet. Das rührt aber nicht daher, weil der Poet in solchen Momenten gewissermaßen mit ihm zum Abendmahl geht, sondern, weil ihm das Geheimnis des Lebens anvertraut ist, weil er, immer den rechten Mann vorausgesetzt, instinktiv jede Existenz in ihrer Wurzel und jedes Moment einer Existenz in seinen allgemeinen und besonderen Bedingungen ergreift, und davon sind die religiösen natürlich nicht ausgenommen. Er ist also darum ebenso wenig Christ, weil er dem Christen seine Sehnsucht erklärt und verklärt, als er gerade verliebt zu sein braucht, weil er den Liebenden über sein Herz belehrt; er ist einfach der Proteus, der den Honig aller Daseinsformen einsaugt (allerdings nur, um ihn wieder von sich zu geben), der aber in keiner für immer eingefangen wird. Wer diesen Standpunkt festhält, der würde sich nicht wundern, wenn der Hamlet und der standhafte Prinz (von Calderon) einen und den nämlichen Verfasser hätten; wer ihn aus den Augen lässt, der mussüber die Widersprüche des Poeten außer sich geraten und ihn in gut vulgärem Sinn für charakterlos erklären. Es sind aber die Widersprüche der Welt, die trotz ihrer des bindenden und regelnden Mittelpunkts nicht entbehrt, wenn man ihn auch auf keine Formel zurückführen kann! – Hierbei muß ich es bewenden lassen; Sie werden wenigstens meinen guten Willen nicht verkennen, mich mit Ihnen zu verständigen. Ich gehe nie ohne Kampf und Widerstreben in diese Dinge ein und kümmere mich für mich selbst eigentlich ganz und gar nicht um die Pole, zwischen denen meine Existenz sich dreht; die geistige Zeugung geht, wie die leibliche, am besten im Dunkeln vonstatten, und auch der Dichter erfährts erst von der Hebamme, ob seine Kinder männlichen oder weiblichen Geschlechts sind.
Aus: Friedrich Hebbel, Ein heiliger Krieg, Briefe, Tagebücher, Gedichte (S.379-380)
Mit lebensgeschichtlichen Verbindungen von Hans Brandenburg
Wilhelm Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen bei München

Brief an Pfarrer Luck vom 21. Jan. 1861
Verehrter Herr und Freund! Auf Ihrem Standpunkt sind Sie des persönlichen Gottes und des unsterblichen Menschen gewiß; auf dem meinigen ist alles Geheimnis, und jeder Versuch das Welträtsel zu lösen, ein Gedankentrauerspiel, nicht, wie Sie mich korrigieren, bloßes Drama und noch weniger Hymnus. Auf welcher Seite sich die größere Demut findet, lasse ich dahingestellt, obgleich Stolz und Eigensucht bei dem, der weiß, daß er gar nichts weiß, unmögliche Eigenschaften sein dürften; daß es keine Verständigung gibt, wenn nicht der Mangel an Übereinstimmung wohlfeilerweise auf gewissenlosen Leichtsinn oder grobe Unwissenheit zurückgeführt wird, leuchtet ein. Es ergibt sich daraus von selbst, daß ich, ohne das Geistreiche und Eigentümliche Ihres Ideenganges zu verkennen oder zu unterschätzen, auf das Materielle der Frage nicht weiter eingehen kann; ich weiß die Bibel, zu deren Lesung Sie mich ermahnen, von Jugend halb auswendig, und mir ist auch schwerlich irgend eine der bedeutenderen protestantischen oder katholischen Kirchengeschichten entgangen, aber Ihre religiösen Tatsachen bleiben mir Anthropomorphismen [Übertragungen menschlicher Gestalt und Verhaltungsweisen auf nichtmenschliche Dinge oder Wesen, insbesondere der Gottesvorstellung]. Dagegen muß ich mir erlauben, unser persönliches Verhältnis in dieser Angelegenheit, das mir durch ihren letzten Brief ein wenig verschoben scheint, wieder zurechtzurücken. Sie sagen nämlich im Eingang, Sie hofften, daß ich „Ihrer ehrlichen Überzeugung und Ihrem wahrheitsliebenden Denken ebenso wohl Berechtigung zugestehen würde, wie meinem eigenen“ und kommen am Schluß darauf zurück. Es handelt sich ja aber nicht um Ihre Denkfreiheit, sondern um die meinige; ich habe Sie nicht darüber zur Verantwortung gezogen, daß Sie glauben, was ich nicht glaube, sondern Sie mich darüber, daß ich nicht glaube, was Sie glauben. Ich habe mich einfach verteidigt, und das hätte ich, ohne Ihnen irgendwie zu nahe zu treten, ablehnen können, denn jeder Bekehrungsversuch ist ein Griff in Herz und Eingeweide hinein, und ich brauche mir das Kitzeln mit einem Seziermesser nicht darum gleich gefallen lassen, weil derjenige, der es ansetzt, es in guter Meinung tut. Ich habe mich weiter in meiner Verteidigung auch des leisesten Gegenangriffes enthalten, und, obgleich ich den Dichter sprechen ließ, da Sie diesen angeredet hatten, mir keineswegs ein künstlerisches Privilegium zu erschleichen gesucht, sondern mir bloß das allgemeine Menschenrecht, auf dem das ganze Prinzip der Reformation beruht, reserviert. Nichtsdestoweniger verfahren Sie, als ob es sich gerade umgekehrt verhielte. Ich habe Sie nicht auf die Philosophen, Kritiker und Naturforscher verwiesen, die mein „hieroglyphisches Bekenntnis“, wie Sie meinen Brief nennen, allenfalls kommentieren könnten; Sie ersparen mir, als ob bei meiner Konfirmation etwas versehen wäre, nicht einmal das „kurzgefasste Religionsbuch“. Meine Versicherung, dass ich in keinem feindlichen Verhältnis zur Religion stehe, die obendrein nur an Ihre eigene Bemerkung gleichen Inhalts angeknüpft wurde, begleiten Sie mit der Glosse: „sie wird sich dafür zu bedanken haben“. Mein Geständnis, daß ich nicht ohne Kampf und Widerstreben auf die Grundprobleme eingehe, erklären sie für „bequem und indifferent“. Ich gebe Ihrem kalten Blut (Sie reden selbst von Ihrer Hitze und Ihrem Eifer) die Würdigung solcher Glossen und Abfertigungen anheim. Meinem Freunde Friedrich von Uechtritz stellen Sie einen „ganzen Menschen“ gegenüber, als ob Sie wüßten, daß er selber keiner wäre, und als ob ich diesen ganzen Menschen seiner Konfession halber gleich aufs Christentum zurückführen und einräumen müsste, daß er nur durch dies zustande kommen könne. Aus Goethe wird unter Ihrer Feder „Herr von Goethe“ und aus seinem Abendseufzer, der nichts ausdrücken will, als das Christen, Juden, Heiden und Türken gemeinsame Gefühl, was auf den erschöpften und erschöpfenden Tag zu folgen pflegt, ein Verzweiflungsruf nach Bethlehem und Golgatha hinüber. Bei mir entdeckten Sie „Widerwärtigkeit“ gegen das positive Christentum, die doch darum nicht gleich vorhanden zu sein braucht, weil ich nichts Ausschließliches darin finden, sondern es nur als ein Symbol neben anderen Symbolen betrachten und ehren kann. Es kommen sogar Ausdrücke, wie „titanenhaft-aristokratischer Stolz“, weil ich sage, daß der Dichter auch dem Gläubigsten Befriedigung zu gewähren, ja Ungeahntes zu bieten vermag, ohne in solchen Momenten gewissermaßen mit ihm zum Abendmahl zu gehen, wobei Sie augenscheinlich die bildliche Wendung, die ebenso gut dem Judentum oder dem Mohammedanismus hätte entlehnt werden können, in einen faktischen Protest gegen einen Akt der christlichen Kirche verwandeln. Doch, es sei hiermit genug; ich will den Spieß nicht umkehren, ich will gern annehmen, daß Sie in Ihren religiösen Überzeugungen unerschüttert geblieben sind, obgleich Sie sich mit dem Gegensatz so vertraut gemacht haben, als ob Ihnen alles daran gelegen gewesen wäre, sie loszuwerden. Erweisen Sie mir dieselbe Gerechtigkeit; auch ich habe mir die Arbeit nicht erspart. Übrigens verstehen sich Demut und Bescheidenheit, sowie unbedingte Unterordnung und Unterwürfigkeit unter das große Ganze überall von selbst, wo man etwas Tüchtiges will; das Gegenteil ergibt sich nur da, wo man sich im Leeren herumtreibt, und wird dann ebensowenig durch das christliche Prinzip, wie durch ein anderes, erstickt, denn es ist völlig gleichgültig, ob der hohle Mensch sich bläht, weil er „weiß, was not tut“, oder ob er als „Lichtfreund“ oder „Pantheist von der neuesten Fasson“ mit einem Band von Paulus oder einem roten von Feuerbach herumstolziert. –

- Gewiss können wir jetzt Frieden schließen, oder vielmehr auf den alten Friedensfuß zurückkehren. Mein Standpunkt hat nichts Ausschließliches, ich ehre einen jeden und lasse es ganz dahingestellt, wer den besseren hat; ich will nur nicht von dem rohen Zufall der Geburt, der dem Menschen seine Religion anweist, und den er nicht korrigieren kann, ohne das allen Völkern gemeinsame und äußerst schwer ins Gewicht fallende Vorurteil gegen Renegaten hervorzurufen, sein zeitliches und ewiges Heil abhängig gemacht wissen. Die absolute Philosophie gebe ich Ihnen von Herzen preis, wenn ich es auch an ihr schätzen muß, daß sie selbst in ihren ärgsten Verirrungen nur den intelligiblen Menschen angreift, nicht wie die absolute Religion, den moralischen, denn wenn Hegel jemand das Begriffsvermögen abspricht, so liegt in dem angeschuldigten Mangel zugleich die Rechtfertigung, wenn demselben Individuo aber die Sünde gegen den heiligen Geist vorgeworfen wird, so gibt es keine Rettung mehr, denn der absichtlichen Verstockung muß die Verdammung folgen. Friedrich Schlegel erklärte seinem Freunde Tieck einmal, die himmlischen Gestirne würden dereinst zusammenrücken und in der Form eines Kreuzes auf die Erde herabblitzen; ob er bei Tieck damit etwas ausrichtete, weiß ich nicht, aber für mich würde auch das, wenn es plötzlich geschähe, nichts weiter sein, als eine zufällige Konstellation der Himmelslichter, über die ich mir bei der Astronomie Rats zu holen hätte. Ebensowenig freilich kümmert es mich, wenn der Philosoph mir versichert, er habe den Ring Salomis wieder aufgefunden und trage ihn am Finger; wie seine Diamanten auch funkeln und schwache Augen blenden mögen, ich weiß, daß kein Talisman darunter ist, weil keiner darunter sein kann. Dabei verkenne ich durchaus nicht, daß mein Standpunkt sein Gefährliches hat, denn wenn es auf der einen Seite feststeht, daß die Welt jeden großen Fortschritt nur durch Individuen machte, welche, seien es nun Religionsstifter, Feldherrn oder Künstler, das Gesetz aus sich selbst nahmen und mit den Zuständen und Anschauungen brachen, die sie vorfanden, so läßt es sich auf der andern Seite nicht leugnen, daß das Prinzip scheußliche Karikaturen erzeugt, die sich wohl, wie der blöde Sand, in ihrem Dünkel zu Weltrichtern aufwerfen. Aber, genau besehen, werden das immer Nachbeter sein, die, sobald sie die Theorie in die Praxis umzusetzen suchen, der bürgerlichen Gesellschaft verfallen, während, wenn man ein Absolutes für Millionen aufstellt, die schlimmsten Triebe der menschlichen Natur unter heiligem Deckmantel rasen und ungestraft von der einzelnen Ketzerverfolgung zur Bekehrung oder Vertilgung ganzer Völker durch Feuer und Schwert fortschreiten können, wie die Geschichte es uns lehrt. Es steht daher ein Unendlich-Kleines dem Unendlich-Großen gegenüber, und da ist die Entscheidung leicht. Doch wozu mehr! Wir sind im Grunde ja einig. Auch halte ich es für schwerer, das Vaterunser zu beten, als alle Schlachten Napoleons zu gewinnen, ja, ich bezweifle es stark, daß es auf Erden schon gebetet worden ist, aber freilich nur wegen seiner ethischen Voraussetzungen, die ich nicht ausschließlich vom Christentum abhängig machen kann, wenn dieses Ihnen auch in diesem Gebet für alle Zeiten eine unübertreffliche Fassung gegeben hat. Wenn ich sagte, dem Dichter sei das Geheimnis des Lebens anvertraut, so dachte ich allerdings nicht, wie Sie auch schon selbst bemerken, ans Wissen, sondern ans Können, nicht ans Erklären, sondern ans Hinstellen, und eins hängt im geistigen Gebiet so wenig, wie im physischen, vom andern ab, hier macht aber jedermann die Erfahrung, daß er frisches Blut in Zirkulation setzen kann, ohne den Blutumlauf zu kennen wie Haller.

Aus: Friedrich Hebbel, Ein heiliger Krieg, Briefe, Tagebücher, Gedichte (S.382-386)
Mit lebensgeschichtlichen Verbindungen von Hans Brandenburg
Wilhelm Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen bei München

Gedichte
Virgo et Mater
Der Jungfrau Bild,
im Arm das Kind,
blickt sanft und mild,
durch Nacht und Wind.
Ein armes Mägdlein kniet davor,
sie schaut nur dann und wann empor,
doch wenn das Lämpchen Funken sprüht,
so sieht man, wie sie glüht.

Die Lampe geht
Auf einmal aus!
Ihr Atem steht,
sie schwankt nach Haus,
die Jungfrau kann ihr nicht verzeihn,
die Mutter wird sie benedein,
stellt sie der Heilgen übers Jahr
mit ihrem Kinde sich dar.

Sie fühlts und spricht:
Du reine Magd,
dir gleich ich nicht,
doch unverzagt!
Dir, Mutter, die der Sohn erkannt,
die unterm Kreuz noch bei ihm stand,
dir will ich gleichen für und für,
und dann vergibst du mir.
Aus: Friedrich Hebbel, Ein heiliger Krieg, Briefe, Tagebücher, Gedichte (S.122)
Mit lebensgeschichtlichen Verbindungen von Hans Brandenburg
Wilhelm Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen bei München


An den Äther
Allewiger und unbegrenzter Äther!
Durchs Engste, wie durchs Weiteste Ergoßner!
Von keinem Ring des Daseins Ausgeschloßner!
Von jedem Hauch des Lebens still Durchwehter!

Des Unerforschten einziger Vertreter!
Sein erster und sein würdigster Entsproßner!
Von ihm allein in tiefster Ruh‘ Umfloßner!
Dir gegenüber werd auch ich ein Beter!

Mein schweifend Auge, das dich gern umspannte,
Schließt sich vor dir in Ehrfurcht, eh‘ es scheitert,
Denn nichts ermißt der Blick als seine Schranken.

So auch mein Geist vor Gott, denn er erkannte,
Daß er, umfaßt, sich nie so sehr erweitert,
Den Allumfasser wieder zu umranken. S.22

Mysterium
Oh, könnte ich den Faden doch gewinnen,
Der, mich mit Gott und der Natur verknüpfend,
Und, abgewickelt, das Geheimste lüpfend,
Verborgen sitzt im Geist und in den Sinnen!

Wie wollte ich ihn mutig rückwärts spinnen,
Bis er mir, endlich von der Spindel hüpfend,
Und in den Mittelpunkt hinüberschlüpfend,
Gezeigt, wie All und Ich in eins zerrinnen.

Nur fürchte ich, daß, wie ich selbst Gedanken,
Die gleich Kometen blitzten, schon erstickte,
Eh‘ ich verging in ihrem glühnden Lichte,

So auch das All ein Ich, das, seiner Schranken
Vergessen, an das Welten-Rätsel tickte,
Aus Notwehr, eh‘ es tiefer dringt, vernichte. S.35f.

Das Vaterunser
Wollt ihr beten, so betet, wie Jesus die Jünger es lehrte!
Manches Gebet zwar gibt‘s, welches zur Läuterung führt:
Dieses setzt sie voraus; will‘s einer, ohne zu heucheln,
Beten, so muß er sich erst völlig vollenden als Mensch. S.67
Aus: Friedrich Hebbel, Gedichte . Eine Auswahl Mit einem Nachwort von U. Henry Gerlach Reclams Universalbibliothek Nr. 3231 © 1977 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages