Ernest Hello (1828 – 1885)

Französischer Philosoph und katholischer Theologe, dessen Schriften eine bibelfeste, tiefgründig ein- und mitfühlende Frömmigkeit widerspiegeln.

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Inhaltsverzeichnis
Tränen
Der Abgrund
Ich hatte Hunger, ich hatte Durst …

Tränen
Hagar irrte in der Wüste von Beerseba umher. Ihr Reisevorrat bestand aus einem Brot und einem gefüllten Wasserschlauch. Aber das Wasser ging zu Ende. Sie legte Ismael unter einem Baume nieder, entfernte sich einen Bogenschuß weit, setzte sich nieder, erhob ihre Stimme und weinte.

Wir können ein Wenig von den Gefühlen ahnen, von denen sie bewegt war. Wenn ich mich nicht täusche, werden in der Geschichte Hagars die Tränen zum ersten Male in der Schrift genannt.

Ich glaube nicht, daß sie im Bericht der ersten Weltkatastrophe genannt werden.

Adam ist aus dem Paradiese verjagt. Die Schrift sagt nichts von seinen Tränen.

Die Sintflut vertilgte fast sein ganzes Geschlecht. Ich sehe nicht, daß die heiligen Bücher in diesem Augenblicke von Tränen berichten.

Hagar sieht ihren Sohn in der Wüste vor Durst sterben.

Sie setzt sich nieder und weint.

Diese Einweihung der Tränen, oder doch wenigstens ihrer geschriebenen Geschichte, hat etwas Feierliches. Sie weint, und siehe, der Engel erscheint.

Gott
öffnet die Augen der Hagar und zeigt ihr einen mit Wasser gefüllten Brunnen. Sie füllt den Schlauch und gibt dem Kinde zu trinken. Zwischen den großen Augenblicken der Hilfe Gottes und den Wasserquellen, die mit einem Male aufspringen oder mit einem Male entdeckt werden, gibt es häufig sehr eigentümliche Beziehungen. Die Quelle der Gnaden erscheint sehr oft zugleich mit ihrem Sinnbild, und die sichtbare Quelle des Wassers wird zum Zeugnis und zum Angedenken der unsichtbaren Quellen, die strömen werden.

Was bedeuten die Tränen? Sie sind zugleich ein Geheimnis des Leibes und des Geistes! Ein menschliches Geheimnis, in dem Seele und Leib sich vereinen und eine herzzerreißende Sprache sprechen!

Eine Quelle hat sich im Herzen der Hagar geöffnet, und das unsterbliche Wort, dessen unwandelbare Tugend im Strom der Zeiten weiterblüht. das Wort der Schrift heiligt ihre Tränen. Ihre Tränen sind die ersten, von denen die Schrift spricht und nicht eine von ihnen wird verloren sein. Sie werden für immer im Gedächtnis der Geschichte weiterleben.

Und in dem Augenblick, da diese Quelle in den Augen der Hagar sich öffnet, erscheint ihr eine Quelle lebendigen Wassers, das der Erde entspringt, in einem Brunnen, den Gott, der alles weiß, dahingesetzt hatte, wo sie weinen mußte.

Der Gott der Ewigkeit hatte von aller Ewigkeit her den Durst des Kindes in der Wüste vorausgesehen, und als die Zeit begonnen hatte, grub er einen Brunnen an dem Orte, wo Ismael dürsten und seine Mutter weinen mußte.

Zuweilen machen die Tränen blind. Hier machen sie sehend.

Hagar hatte den Brunnen nicht gesehen. Als sich aber ihre Augen mit Tränen füllten, öffnete Gott ihre benetzten Augen, und sie sah, was sie vorher nicht sah.

Das Wasser erscheint hier in einem doppelten Sinne. Eine Quelle öffnet sich in dem Herzen der Hagar, das barer des Trostes ist als das Angesicht der Wüste.

Und eine Quelle öffnet sich, die aus den Eingeweiden der Erde hervorströmt.

Nein, ich will dieses Kind nicht sterben sehen! Was für ein Schmerz liegt in diesem Wort! Es ist der Schmerz einer Mutter, die zum ersten Male die Tränen in den heiligen Bericht einführt.

Wie herzzerreißend ist dieses Wort, das so kurz ist! Aber die Quelle ist nahe, und die weinende Mutter sieht sie durch die Tränen hindurch. Das Kind wird nicht sterben.

Und die Wüste, die durch die berühmten Tränen der Hagar, der Dienerin und Mutter, geheiligt ist, erscheint in der Ferne der Geschichte, wunderbar eingehüllt in die Barmherzigkeit des Herrn! S. 200-202

Der Abgrund
Was liegt nicht alles in diesem Wort! Es gehört zu denen, die am häufigsten in der Schrift wiederkehren. Die Seele ist ein Abgrund: die Tiefe ist der Ort, von dem aus die Seele zur Höhe ruft: De profundis! De profundis! Wenn der Mensch einen Schrei zu Gott ausstößt, ist es immer ein Schrei de profundis. Die Tiefe erhebt ihre beiden Hände, weil das vom Sturm aufgewühlte Meer sich auftut vor dem Schrei, der vorübergeht, wie das Rote Meer von Moses, und wie das Rote Meer enthüllt er die Abgründe, die es bedeckt, die erstaunten Abgründe, die zum erstenmal den Tag sehn; und die Abgründe stoßen ihren ersten Schrei aus, weil die Tiefe ihre beiden Hände erhoben hat.

Die menschliche Seele hat Abgründe, die das Licht noch nicht gesehen haben: sie hat ihre unerforschten Schluchten, die immerdar von großen Wassern bedeckt sind. Aber es kommt ein Augenblick, da die Tiefe ihre beiden Hände erhebt. Das Gebet schleudert alle Mächte der vom Sturm aufgewühlten Seele gegen den Himmel; die Abgründe, die jeglichem Blick verborgen waren, sehen zum erstenmal die Sonne, und ihr erster Blick ist wie ein Schrei, der sich der Unendlichkeit entgegenschwingt. S. 257

Ich hatte Hunger, ich hatte Durst …
Die Gestalt des Fremden war in der Menschheit immer von schwer faßbaren Ahnungen umgeben, und wenn am letzten Tage die Söhne Adams verloren oder gerettet sein werden, nach dem Maße der Gastfreundschaft, die sie gewährt oder verweigert haben, wenn sie den, der schrecklich ist, fragen werden:

«Herr, wann haben wir dich als Fremdling gesehen?»...

Wenn die Freude oder Verzweiflung der Antwort über sie kommen wird: An diesem Tage werden sie wahrscheinlich in ihrem Innersten den Widerhall eines Schreies ertönen hören, der die Welt richten wird, nachdem er sie geprüft hat.

Nicht ganz aber wird sie überraschen die dreifach furchtbare Offenbarung des Richters, der sprechen wird:

«Ich hatte Hunger.»


Sie werden den sehen, den sie geschlagen, und das Erstaunen wird eine seltsame Gestalt annehmen, die man vorher nicht gekannt hatte, und dennoch wird die letzte Offenbarung, die den einen und den andern die Pforten zur Ewigkeit öffnen wird, sie nicht ganz überraschen.

Er, der am Ende der Welt das furchtbare Wort aussprechen wird:

Er hat vom Anbeginn der Welt an das Wort bereitet, das er am Ende der Zeiten sprechen wird.

Schon Homer hat dem alten Heidentum gesagt:

«Alle Fremden und alle Armen kommen von Gott.»

Und als er so sprach, sprach er nicht im Namen des Heidentums, sondern im Namen uralter Überlieferungen, die irrend und verwandelt durch die Welt wanderten, selbst Fremdlingen gleich, weil sie nicht ein Gesetz gläubiger Völker waren, sondern durch Völker wanderten, die sie kaum kannten.

Zu allen Zeiten waren die Menschen irgendwie gewarnt. Zu allen Zeiten mißtrauten sie dem Fremden, als ahnten sie in ihm etwas Göttliches. Der heilige Paulus spricht von den Engeln, die sich verbergen und weist uns an, den Fremden nicht abzuweisen. Man könnte sagen, daß die Worte, die uns zur Gastfreundschaft raten, das Siegel göttlicher Weisheit tragen. Sie enthalten — seht euch vor — etwas ganz Besonderes. Das Gesetz der Gastfreundschaft ist nicht ein Gesetz wie jedes andere. es ist ein Gesetz, das zu sagen scheint:

«Mißtrauet dem äußeren Anschein. Ihr glaubt. einander zu kennen, und doch kennt ihr einander nicht. Aber mißtrauet erst recht dem Fremden:
Man weiß in seiner Nähe nie sicher, mit wem man es zu tun hat.

Der Osten ist das Land der Gastfreundschaft, denn er ist die Wiege der Welt; der Widerhall der ersten Überlieferungen ertönt dort mit vollerem Klang. Die Schwingungen der Luft sind dort leben¬diger, so daß man leichter von der Gastfreundschaft spricht. Die östliche Gastfreundschaft teilt nicht ihr Haus mit dem Fremden: sie überläßt es ihm. Der Eigentümer gibt es auf und überläßt es seinem Gast.

Die Achtung vor dem Gast und seine Unverletzlichkeit gehören zu den größten Lehrsätzen der Menschenwelt. Es gibt ein feierliches Versprechen, ausgesprochen oder unausgesprochen, den Fremden zu achten und zu schützen.

Die Länder des Lichtes und die Länder der Berge scheinen in einer besondern Weise die Hüter dieser Überlieferung zu sein.

In den Ebenen, in den Flächen und in der Kälte des Westens verlischt der Widerhall, und die Schwingungen der Luft werden kaum noch gespürt.

Bei den Arabern besteht die Gastfreundschaft noch in ihrer vollen Größe, denn die Araber sind die Menschen des Abends, und der Abend ist wie der Morgen die Stunde der Erinnerung. In der Mitte des Tages wohnt die Vergessenheit. Der Dämon der Tagesmitte ist ein Dämon der Vergessenheit.

Der Fremde und der Arme, die in den Versen Homers zusammen genannt werden, gehören in der Wirklichkeit der Dinge zusammen. Überall und immer sind sie die Abgesandten des Herrn und in der Schrift sind ihre Namen immer miteinander verbunden.

Der Name des Armen verläßt nicht den Namen Gottes. Wenn man den Worten ihre eigenste Bedeutung wiedergibt, könnte man vielleicht sagen. daß er ihn ebensowenig verläßt wie sein Schatten.

Immer wieder hört man in der alten Welt eine Stimme, die von Norden oder von Süden kommt. vom Osten oder vom Westen, und die die Gastfreundschaft empfiehlt. Das ist nicht nur ein sittlicher Rat, es handelt sich hier um etwas ganz Besonderes; die Gastfreundschaft wird nicht nur einfachhin wie eine Tugend empfohlen, sondern wie ein Geheimnis. Man könnte sagen, daß Gott die Welt durch diese so schrecklichen Worte richten wird, die durch ihre Einfachheit noch tausendfach schrecklicher sind.

Ich war ein Fremdling, ich hatte Hunger, ich hatte Durst... Man könnte sagen, daß der, der die Welt durch diese vertrauten Worte richten wird, die Welt damit nicht überfallen will, sondern ihr im voraus eine Ahnung von dem geschenkt hat, was ihr eines Tages widerfahren würde.

Die griechische Antike hat Homer besungen, und die Gastfreundschaft ist ein immer wiederkehrender Gedanke bei diesem seltsamen Dichter, dessen Persönlichkeit in seinem Werk untergegangen ist. S. 310-313
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich