Heraklit, griech. Herakleitos (550 - 480 v. Chr.)

  Griechischer Philosoph aus Ephesos. Heraklit, der Dunkle (»ho skotheinós«), wie er auch wegen seiner sinndunklen, die Phantasie beflügelnden Ausdrucksweise, genannt wird, vertritt die Lehre eines in sich verschiedenen - vom göttlichen Logos geregelten – dynamischen Werdens, das sich in seinem ewigen Wechselspiel in einer harmonischen Gegensätzlichkeit entwickelt . Sinnbild ist ihm dabei insbesondere der Fluss, dessen Wasser ständig wechselt und stets doch immer derselbe bleibt. Heraklit ist Lehrer des »dynamischen Werdens«, im Gegensatz zu Parmenides, der ein »statisches unveränderliches Sein« lehrt. Tief beeindruckt von Heraklits philosophischer Sichtweise waren u. a. Hegel, Hölderlin und insbesondere Nietzsche.

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Inhaltsverzeichnis
Fragmente

Über Gott und Götter,
Der Prophet,
Die Allvernunft,
Der Mensch und die Allvernunft
Weltseele und menschliche Seele
Nietzesches Heraklit-Interpretation
Die Einheit und Harmonie aller Dinge
Der Weltprozess
Der Fluss aller Dinge
Über den Tod
Hegel: Die Philosophie des Heraklit

Fragmente
Über Gott und Götter
Für Gott ist alles schön und gut und gerecht; nur die Menschen halten das eine für gerecht, das andere für ungerecht. (48 fr.102, S.140)

Wenn die Leute nicht zu Ehren des Dionysos diese Prozession veranstalteten und das Phalloslied sängen, dann wäre es wahrhaftig ein schamloses Treiben. Ist doch Hades und Dionysos, dem zu Ehren sie rasen und schwärmen, ein und derselbe. fr.15

Da suchen sie sich vergeblich zu entsühnen, indem sie sich mit Blut besudeln — wie wenn ein Mensch, der in den Kot getreten ist, sich mit Kot abwaschen wollte! Jeder würde doch einen solchen Menschen für wahnsinnig halten, wenn er ihn bei solchem Treiben beobachtete.
Und da beten sie zu diesen Götterbildern, gerade wie wenn sich jemand mit toten Steinwänden unterhalten wollte. Sie haben eben vom Wesen der Götter und Heroen keine Ahnung. fr.5

Vielleicht kann jemand dem sichtbaren Licht verborgen bleiben; vor dem übersinnlichen aber ist es unmöglich, oder, wie Herakleitos sagt, »Wie könnte jemand verborgen bleiben vor dem, was niemals untergeht«. (41 fr.16 = Clemens, Der Erzieher II 99, S.138)

Der Prophet
Wem weissagt Herakleitos von Ephesos? den Nachtschwärmern, Zauberern, Bakchen, Mänaden und Mysten. Denen droht er mit dem Totengericht, denen prophezeit er das Feuer. Denn die unter den Menschen üblichen Mysterien werden in unheiliger Weise begangen.
fr. 14 = Clemens, Protrepticus 22

Die Sibylle, die mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes kündet, reicht, vom Gotte erfüllt, mit ihrer Stimme durch tausend Jahre. fr.92

Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört, verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an.
fr.93

Herakleitos verknüpft, unter Zustimmung der Stoiker, unsere Vernunft mit der göttlichen Vernunft, die die Dinge dieser Welt lenkt und regiert: infolge ihrer unlöslichen Vereinigung erlange sie Wissen von dem Beschluß der Weltvernunft und während die Seelen schliefen, künde sie ohne Hilfe der Sinne das Zukünftige. Daher komme es, daß <ihr> Bilder unbekannter Stätten erschienen und Gestalten von Menschen, von Lebenden wie von Toten. Er spricht auch von der Handhabung der Weissagung und sagt, dass unter Einwirkung göttlicher Kräfte würdige Menschen vorher gewarnt würden
. 22 A 20

Die Allvernunft
Eins, das allein weise, will nicht und will doch mit Zeus' Namen genannt werden.
(42 fr.32, S. 139)

Nur eins ist weise: die Einsicht zu erkennen, die alles durch alles lenkt. (43 fr.41, S.139)

So vieler Reden ich auch gehört habe - keiner ist bis dahin gekommen, daß er einsähe, dass das Weise etwas von allem andern Abgesondertes ist. ( 47 fr.108, S.139)

Der Mensch und die Allvernunft
Gemeinsam ist allen die Vernunft. (88 fr.113, S.149)

Alle Menschen haben die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu denken.
(89 fr.116, S.149)

Die Einsicht ist die größte Tugend, und Weisheit ist es, Wahres zureden und gemäß der Natur zu handeln, indem man auf sie hört. (50 fr.112, S.140)

Mit dem Logos, mit dem sie doch vor allem dauernd in Verkehr stehen
[der die Welt durchwaltet], mit dem sind sie uneins, und worauf sie alle Tage stoßen, das kommt ihnen fremdartig vor.
(90 fr. 72, S.149)

Die Natur [das Walten der Allnatur] liebt sich zu verbergen.
(98 fr.123, S.152)

Nach Herakleitos wird das göttliche Walten zum größten Teil <von den Menschen> nicht erkannt, weil es <ihnen> unglaublich scheint.
fr. 86 <Plutarch, Coriolan 38>

Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal. (122 fr.119, S.156)

Das menschliche Wesen hat keine Erkenntnisse, wohl aber das Göttliche
. fr.78

»Spiele von Kindern«
nannte er die menschlichen Meinungen.
fr.70

Der Mensch ist in den Augen Gottes ein Tor, wie der Knabe in denen des Mannes. fr.79


Der schönste Affe ist hässlich in Vergleich mit dem Menschen.
fr.82

Der weiseste Mensch wird im Vergleich mit Gott wie ein Affe erscheinen, an Weisheit, Schönheit und allem andern. fr.83

Alles, was da kreucht, wird mit Gottes Geißelschlag gehütet. fr.11 aus: Hermann Diehls; Die Fragmente der Vorsokratiker, Rowohlts Klassiker Band 10

Man sagt, dass Herakleitos für das Endziel des menschlichen Lebens das »Wohlgefallen« erklärt habe
.
Clemens. Stromateis II 130 = 22 A 21

Weltseele und menschliche Seele
Herakleitos sagt, die Seele der Welt sei die Ausdünstung aus dem Feuchten in ihr; <die Seele> in den lebenden Wesen aber stamme aus der äußeren Ausdünstung und aus der in ihnen (selber) und sei <der Weltseele> verwandt. (69 Aetius IV 3, 12 = 22 A 15, S.145)

<Herakleitos erklärt die Seele für unsterblich,>
denn nach ihrer Trennung vom Leibe kehre sie in die Allseele, zu dem ihr Verwandten, zurück. (71 Aetus IV 7, 2 <Stoische Fassung, wohl aus Poseidonios> = 22 A 15, S.145)

Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege absuchtest; so tiefgründig ist ihr Wesen. ( 84 fr. 45, S.148)
Treffend erklärt von Nestle (Philologus 64 [1905] 376): »So tief reicht ihr vernünftiges Wesen, das in dem ewigen, die Welt durchdringenden Logos wurzelt.» Ähnlich Diels: »Die Seele ist mit ihrem Wesen, ihrem Gesetz (Logos) in dem Urprinzip am tiefsten gewurzelt. Ihre Grenzen reichen also bis an die Grenzen des Alls.»

Ich erforschte mich selbst. (85, fr.101, S.148)
Treffend hierzu Diels (Neue Jbb. 1910, 5. 2): ): »Die Natur der Welt enthüllte sich ihm, als er in die Tiefen seiner eigenen Natur hinabstieg.«

Der Seele ist der Logos eigen, der sich selber vermehrt. (86 fr.115, S. 148)

Daher muss man dem Gemeinsamen folgen. Obgleich aber der Logos allen gemeinsam ist, lebt die Masse der Menschen doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätte.
(87 fr.2, S.148)

Die Einheit und Harmonie aller Dinge

Herakleitos behauptet, dass das All eins ist: getrennt, getrennt, geworden, ungeworden, sterblich, unsterblich. Logos, Aion, Vater, Sohn, Gott und Gerechtigkeit. Wenn ihr nicht auf mich, sondern auf den Logos hört, ist es weise, anzuerkennen, dass alles eins ist. (9 fr.50 = Hippelytos IX 9, S.131)

Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes, Einklang und Missklang und aus Allem Eins und aus Einem Alles
. (10 fr.10, S.131f)

Alles Geschehen erfolge infolge eines Gegensatzes.
(19 Diogenes Laertius IX 8 = 22 A1, S.133)

Krankheit macht Gesundheit süß, Übel das Gute, Hunger die Sättigung, Ermüdung das Ausruhen.
(104 fr.111, S.153)

Die Dinge seien durch ihr gegensätzliches Verhalten miteinander zusammengefügt. (23 Diogenes Laertius IX 7 = 22 A 1, S.134)

Herakleitos tadelt den Dichter des Verses »Möchte doch der Streit aus Himmel und Erde verschwinden!« Denn es könnte keine Harmonie geben, wenn es nicht hohe und tiefe Töne gebe, und keine Lebewesen ohne das Dasein von männlichen und weiblichen (Prinzipien), die einander entgegengesetzt seien. (24 Aristoteles, Eudemische Ethik VII, 1 1235 a 25 = 22 A 22, S.134)

Das Widerstrebende vereinige sich und aus den entgegengesetzten (Tönen) entstehe die schönste Harmonie, und alles Geschehen erfolge auf dem Wege des Streites. (25 fr.8, S.134)

Es strebt wohl auch die Natur nach den Gegensätzen und wirkt aus ihnen den Einklang, nicht aus dem Gleichen. So führt sie das Männliche mit dem Weiblichen zusammen (und nicht etwa ein jedes zu seinesgleichen) und knüpft so den allerersten Bund durch die entgegengesetzten Naturen. (26 fr.10 = Pseudosaristoteles, Von der Welt 5. 396 b 7ff., S.134)

Sie begreifen nicht, dass es <das All-Eine>, auseinanderstrebend, mit sich selber übereinstimmt: widerstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier. (27 fr.51, S.134)

Unsichtbare Harmonie ist stärker als sichtbare.(28 fr.54, S.135)

Der Weltprozess
Diese Welt, dieselbige von allen Dingen, hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer,‘ nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend.
(58 fr.30, S.142)

Alles ist Austausch des Feuers und das Feuer Austausch von allem, gerade wie für Gold Waren und für Waren Gold eingetauscht wird.
(61 fr.90, S.142f)

Herakleitos nennt es aber <das Urfeuer, das mit der Gottheit ein und dasselbe ist> »Mangel und »Sättigung«. Mangel ist nach ihm die Weltbildung, der Weltbrand dagegen Sättigung. (44 fr.65, S. 139)

Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger; er wandelt sich aber gerade wie <das Feuer>, das, wenn es mit Räucherwerk vermischt wird, nach dem Duft eines jeden so oder so benannt wird. (45 fr.67, S.139)

Es ist immer dasselbe, was <in den Dingen> wohnt: Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes. Denn dieses wird, sich wandelnd, zu jenem und jenes wieder, sich wandelnd, zu diesem. (46 fr.88, S.139)

Alles geschieht nach dem Verhängnis. (51 Diogenes Laertius IX 7 = 22 A 1, S.140)

Alles Geschehen erfolge in Form des Gegensatzes und alle Dinge seien in stetem Wandel begriffen ... und die Welt entstehe aus dem Feuer und löse sich wieder in Feuer auf, in bestimmten Perioden, in stetigem Wechsel in alle Ewigkeit. Das aber geschehe nach dem Verhängnis. (52 Diogenes Laertius IX 8 = 22 A 1, S.140)

Er nimmt auch eine gewisse Ordnung <d. h. ordnungsmäßige Reihenfolge> und eine festbegrenzte Zeit für den Wandel der Welt an, infolge eines gewissen <unentrinnbaren> Verhängnisses. (53 Simplicius zu Aristoteles, Physik 23, 33ff. = 22 A 5, S.141)

Verhängnis sei das Weltgesetz (Logos), das infolge des gegensätzlichen Auf und Ab die Dinge gestalte. (54 Aetius I 7, 22 = 22 A 8, S.141)

Alles erfolge nach dem Verhängnis und eben dies sei ein und dasselbe wie die Notwendigkeit. (55 Aetius I 27, 1 S.141)

Herakleitos erklärt als Wesen des Verhängnisses die Weltvernunft (Logos), die das ganze All durchdringe. Das ist der ätherische Stoff, Ursame der Entstehung des Alls und des Kreislaufes der Dinge, dem ein bestimmtes Maß gesetzt ist.
(56 Aetius I 28, 1 [nach Poseidonios, daher stark stoische Formulierung], S.141)


Vgl. I 7, 22: Das im Kreislauf sich auswirkende ewige Feuer sei die Gottheit. (S.141)

... Er sagt aber auch, daß ein Gericht über die Welt und alle Dinge in ihr durch das Feuer stattfinden wird, wie folgende Worte zeigen: »Alle Dinge steuert der Blitz«, d. h. er lenkt sie. Unter »Blitz« versteht er hier das ewige Feuer. Er sagt auch, dies Feuer sei vernunftbegabt, und es regiere alle Dinge. Er nennt sie aber »Mangel« und »Sättigung«. »Mangel« ist nach ihm die Weltbildung, »Sättigung» dagegen der Weltbrand. »Denn alles wird das Feuer, das herankommt, richten und erfassen.« (57 fr. 63—66 = Hippolytos IX 10, S.141)

Von den entgegengesetzten <Kräften> würden diejenigen, die zur Entstehung der Dinge führen, Kampf und Streit genannt, dagegen die zum Weltbrande führenden Eintracht und Friede, und der Wechsel (von beiden) »der Weg auf und ab« und die Welt entstehe demzufolge. Denn das Feuer wird, sich verdichtend, feucht und, sich weiter verdichtend, zu Wasser. Das Wasser aber wandelt sich, wenn es fest wird, zu Erde. Und das sei oder Weg abwärts«. Und wiederum löse sich die Erde auf, aus der <dann> das Wasser wird und daraus das Übrige. Er führt nämlich beinahe alles auf die Ausdünstung des Meeres zurück. Das ist aber der Weg aufwärts. (65 Diogenes Laertius IX 8 = 22 A 1, S.143f)

(Denn) gemeinsam ist Anfang und Ende beim Kreisumfang. fr.103 Rowohlts Klassiker Band 10

Der Weg auf und ab ist ein und derselbe. (Vgl. fr. 59, S.144)

Es lebt das Feuer der Erde Tod und die Luft lebt des Feuers Tod, das Wasser lebt der Luft Tod, die Erde den des Wassers. fr.76

Dass er die Welt für entstanden und vergänglich erklärte, ergibt sich aus folgenden Worten von ihm: »Feuers Wandlungen: zuerst leer, vom Meere die eine Hälfte Erde, die andere Feuer.« Denn er will sagen, dass das Feuer von dem das All durchwaltenden Logos und Gott vollständig erst inLuft, dann in Feuchtes umgewandelt werde, als Ursame der Weltbildung; dies Feuchte nennt er »Meere; aus diesem entsteht wiederum Erde und Himmel und alles in ihm Enthaltene. Wie aber die Dinge wieder (in den Urgrund) zurück genommen und zu Feuer werden, sagt er deutlich mit folgenden Worten: »Es (das Feuer) zerfließt als Meer und erhält seine Maße nach demselben Gesetz, wie es sie vorher hatte, bevor es zu Erde wurde«. (67 fr. 31 = Clemens, Seromateis V 105, S.144)

Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien. (29 fr.53, S.135)

Man muss wissen, dass der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und daß alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt. (30 fr.80, S.135)

Der Fluss aller Dinge
Wer in denselben Fluss steigt dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu. (15 fr.12, S.132)

Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht
. (16 fr.49a, S.132)

Nach Herakleitos ist es unmöglich, zweimal in denselben Fluß zu steigen» oder eine vergängliche Substanz, die ihrer Beschaffenheit nach dieselbe bleibt, zu berühren, sondern infolge der ungestümen Schnelligkeit der Umwandlung zerstreut er sich und vereinigt sich wieder ... und kommt und geht. (17 fr.91 = Plutarch, Vom »Es« am Delphischen Tempel 392 B; S.132)
Capelle: In diesem Fluß aller Dinge, dem auch der Mensch (selbst seine Seele, vgl. fr. 12 und 36) unterworfen ist, ist in all seinen Phasen (seinem Auf und Ab) das Allprinzip wirksam.

Ein und dasselbe offenbart sich in den Dingen als Lebendes und Totes, Waches und Schlafendes, Junges und Altes. Denn dieses ist nach seiner Umwandlung jenes, und jenes, wieder verwandelt, dieses. (18 fr.88, S.133)

[Herakleitos sagt, dass] die Wachenden ein und dieselbe gemeinsame Welt haben, während sich von den Schlafenden ein jeder zu seiner eigenen abwende. (14 fr.89, S.132)

Über den Tod
Trockene Seele die weiseste und beste. (111 fr.118, S.154)

Den Seelen ist es Tod, Wasser zu werden, dem Wasser Tod, Erde zu werden; aus Erde wird Wasser, aus Wasser Seele. (73 fr.36, S.146)

Den Seelen ist es Lust oder Tod, feucht zu werden (unter Lust versteht er hier ihren Fall in die Geburt. Und anderswo sagt er:) Wir erlebten den Tod jener und jene unsern Tod. (74 fr.77 aus Numenios fr. 33 Thedinga, S.146)

Tod ist, was wir wachend sehen; was aber im Schlaf, Schlummer [was aber nach dem Tode, Leben]. (76 fr.21, S.146)

Im Kriege Gefallene ehren Götter und Menschen. (77 fr.24, S.146)

Größerer Tod empfängt größeren Lohn. (78 fr.25, S.146)

Der Mensch zündet sich selber in der Nacht ein Licht an, wenn er gestorben ist und doch lebt. Im Schlaf berührt er den Toten, wenn sein Augenlicht erloschen ist, im Wachen berührt er den Schlafenden. (79 fr.26, S.146f)

Die Menschen erwartet nach ihrem Tode, was sie sich nicht träumen lassen oder wä
hnen. (80 fr.27, S.147)

Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich; sie leben den Tod jener und sterben das Leben jener.
(21 fr.62, S.133)

Er spricht aber auch von einer Auferstehung dieses sichtbaren Fleisches, in dem wir geboren sind, und er weiß,daß Gott der Urheber dieser Auferstehung ist, wie seine folgenden Worte zeigen: Wenn er <Gott> dann dort erscheine, dann ständen sie <die Abgeschiedenen> vor ihm auf und wach würden Wächter der Lebenden und der Toten. (81 fr. 63, S.147)
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 119, Die Vorsokratiker herausgegeben von Wilhelm Capelle Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle (S.131 - 156) Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Hegel : Die Philosophie des Heraklit

Lassen wir die Ionier weg, die das Absolute noch nicht als Gedanken faßten, und ebenso die Pythagoreer, so haben wir das reine Sein der Eleaten und die Dialektik, welche alle endlichen Verhältnisse vernichtet. Das Denken ist der Prozeß solcher Erscheinungen; das Sein, die Welt ist an ihr selbst das Erscheinende, nur das reine Sein ist das Wahrhafte. Die Dialektik des Zenon greift also die Bestimmungen auf, die im Inhalt selbst liegen. Sie kann insofern auch noch subjektive Dialektik genannt werden, insofern sie in das betrachtende Subjekt fällt, und das Eine ist ohne diese Dialektik, ohne diese Bewegung, Eins, abstrakte Identität. Der weitere Schritt von der subjektiven Dialektik des Zenon ist, daß diese Dialektik selbst objektiv werden muß, d.h. diese Bewegung selbst als das Objektive gefaßt werde. Aristoteles tadelt die Pythagoreischen Zahlen und die Platonischen Ideen, weil sie die Substanzen der Dinge sind, diese an ihnen teilnehmen, - dies sei ein leeres Gerede; was ist aber das Wirksame? Auch den Thales tadelt Aristoteles, daß er die Bewegung aufhob; im Parmenides haben wir das Sein und die Dialektik als Bewegung im Subjekte. Heraklit faßt nun das Absolute selbst als diesen Prozeß, als Dialektik selbst auf. Die Dialektik ist

a) äußerliche Dialektik, Räsonieren hin und her, nicht die Seele des Dinges selbst sich auflösend;

b) immanente Dialektik des Gegenstandes, fallend aber in die Betrachtung des Subjekts

c) Objektivität Heraklits, d.h. die Dialektik selbst als Prinzip auffassen.

Es ist der notwendige Fortschritt, und es ist der, den Heraklit gemacht hat. Das Sein ist das Eine, das Erste; das Zweite ist das Werden, - zu dieser Bestimmung ist er fortgegangen. Das ist das erste Konkrete, das Absolute als in ihm die Einheit Entgegengesetzter. Bei ihm ist also zuerst die philosophische Idee in ihrer spekulativen Form anzutreffen: das Räsonnement des Parmenides und Zenon ist abstrakter Verstand; Heraklit wurde so auch überall als tiefdenkender Philosoph gehalten, ja auch verschrien. Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.

Heraklit, um die 70. Olympiade (500 v. Chr.) berühmt, war ein Epheser, zum Teil noch gleichzeitig mit Parmenides. Er hat angefangen die Trennung, Zurückgezogenheit der Philosophen von den öffentlichen Angelegenheiten und Interessen des Vaterlands. Wir haben

a) die Sieben Weisen, als Staatsmänner, Regenten, Gesetzgeber;

b) die pythagoreische Bund-Aristokratie;

c) die Philosophie, das Interesse der Wissenschaft für sich.

Heraklit widmete sich nur den Wissenschaften, lebte in Einsamkeit ganz der Philosophie. Von seinem Leben ist wenig mehr bekannt als das Verhältnis zu seinen Landsleuten, den Ephesern; und dies war vornehmlich dies, daß sie ihn verachtet haben, aber noch tiefer von ihm verachtet worden sind - ein Verhältnis, wie gegenwärtig in der Welt, wo jeder für sich ist und alle anderen verachtet. Wir sehen in ihm die Absonderung von der Menge. In diesem edlen Geiste ist diese Verachtung entstanden aus dem tiefen Gefühl von der Verkehrtheit der Vorstellungen und des gemeinsamen Lebens seiner Landsleute; einzelne Ausdrücke bei verschiedenen Gelegenheiten sind drüber noch aufbewahrt. Diogenes Laertios (IX, § 2) erzählt, Heraklit habe gesagt: »Es gebührte den Ephesern, allen, wie sie erwachsen (hêbêdon), daß ihnen die Hälse gebrochen, daß den Unmündigen die Stadt überlassen würde« (wie man jetzt auch gemeint hat, daß die Jugend nur verstehe zu regieren), »weil sie seinen Freund Hermodoros, den Trefflichsten unter ihnen, vertrieben hatten, wozu sie als Grund angaben: Unter uns soll keiner der Trefflichste sein; ist ein solcher, so sei er es anderwärts und bei anderen.«Aus demselben Grunde ist es auch in der athenischen Demokratie geschehen, daß man große Männer verbannte. Proklos sagt: »Der edle Heraklit schalt das Volk als unverständig und gedankenlos. Was ist denn, sagt er, ihr Verstand oder Besonnenheit? Die meisten sind schlecht, wenige gut.« »Seine Mitbürger haben ihn aufgefordert, an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen; er schlug es aber aus, weil er ihre Verfassung, Gesetze und Staatsverwaltung nicht billigte.« Diogenes Laertios (IX, § 6) sagt weiter: »Antisthenes führt es an als Beweis der Seelengröße des Heraklit, daß er seinem Bruder das Königtum überlassen habe.«

Am stärksten drückt er die Verachtung dessen, was den Menschen für Wahrheit und Recht galt, in dem Briefe aus, worin er die Einladung des Darios Hystaspis, »ihn der griechischen Weisheit teilhaftig zu machen, da seinWerk über die Natur eine große Kraft (dynamin) der Theorie der Welt enthalte, aber an vielen Stellen dunkel sei, zu ihm zu kommen und ihm das zu erklären, was der Erklärung bedürfe« (dies ist freilich nicht sehr wahrscheinlich, wenn auch Heraklit orientalischen Ton hat), soll beantwortet haben: »Soviel Sterbliche leben, so sind sie der Wahrheit und Gerechtigkeit fremd und halten auf Unmäßigkeit und Eitelkeit der Meinungen, um ihres bösen Unverstandes willen. Ich aber, indem ich die Vergessenheit alles Bösen erreicht habe und das Übermaß des Neides, der mich verfolgt, und den Übermut des hohen Standes fliehe, werde ich nicht nach Persien kommen, mit wenigem zufrieden und bei meinem Sinne bleibend.«

Sein Werk (nur eins), dessen Titel einige Die Musen, andere Über die Natur nennen, hat er im Tempel der Diana von Ephesus niedergelegt. Es scheint noch in späteren Zeiten vorhanden gewesen zusein; die Fragmente, die auf uns gekommen, sind gesammelt in Stephanus, Poesis philosophica (p. 129 f.). Schleiermacher hat sie auch gesammelt und nach einem eigentümlichen Plane geordnet: »Herakleitos, der Dunkle, von Ephesus, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten« in Wolfs und Buttmanns Museum der Altertumswissenschaft, Bd. I (Berlin 1807), S. 315-533; es sind 73 Stellen. Creuzer hatte Hoffnung gemacht, ihn zu bearbeiten mit größerer Kritik und Sprachkenntnis. Er hat eine vollständigere Sammlung (besonders aus Grammatikern) gemacht. Da er aber bei Mangel an Zeit sie einem jungen Gelehrten zur Bearbeitung überlassen hatte, dieser aber starb, so kam sie nicht in das Publikum. Dergleichen Sammlungen sind aber in der Regel zu weitläufig. Sie enthalten eine Masse von Gelehrsamkeit, und man kann sie eher schreiben als lesen.

Heraklit hat als dunkel gegolten und ist berühmt wegen seiner Dunkelheit. Cicero hat einen schlechten Einfall, wie es ihm oft geht; er meint, er habe absichtlich so dunkel geschrieben. Es ist dies aber sehr platt gesagt: seine eigene Plattheit, die er zur Plattheit Heraklits macht, - nämlich jener Absichtlichkeit. Seine Dunkelheit, welche ihm auch den Beinamen »der Dunkle« (skoteinos) zuzog, ist wohl mehr Folge von vernachlässigter Wortfügung und der unausgebildetenSprache, was auch Aristoteles meint. Er setzt in grammatischer Hinsicht das Dunkle in Mangel an Interpunktion: man wisse nicht, ob ein Wort zum Vorhergehenden oder Nachfolgenden gehöre. So auch Demetrios. Sokrates sagte von diesem Buche: Was er davon verstanden, sei vortrefflich, und was er nicht verstanden habe, von dem glaube er, daß es ebenso beschaffen sei; aber es erfordere einen delischen (wackeren) Schwimmer, um durchzukommen. Das Dunkle dieser Philosophie liegt aber hauptsächlich darin, daß ein tiefer, spekulativer Gedanke in ihr ausgedrückt ist; dieser ist immer schwer, dunkel für den Verstand; die Mathematik dagegen ist ganz leicht. Der Begriff, die Idee ist dem Verstande zuwider, kann nicht von ihm gefaßt werden.

Platon hat die Philosophie des Heraklit besonders eifrig studiert. Wir finden viel davon in seinen Werken angeführt, und er hat seine frühere philosophische Bildung wohl unstreitig durch diese erhalten, so daß Heraklit der Lehrer Platons genannt werden kann.
Hippokrates ist gleichfalls heraklitischer Philosoph.

Was uns von der Heraklitischen Philosophie berichtet wird, erscheint zunächst sehr widersprechend, aber es läßt sich mit dem Begriffe überhaupt durchkommen und ein Mann von tiefem Gedanken an ihm finden. Er ist die Vollendung des bisherigen Bewußtseins - eine Vollendung der Idee zur Totalität, welche der Anfang der Philosophie ist oder das Wesen der Idee, das Unendliche ausspricht, was es ist.

1. Das logische Prinzip
Das allgemeine Prinzip. Dieser kühne Geist hat zuerst das tiefe Wort gesagt: »Das Sein ist nicht mehr als das Nichtsein«, es ist ebensowenig; oder Sein und Nichts sei dasselbe, das Wesen sei die Veränderung. Das Wahre ist nur als die Einheit Entgegengesetzter; bei den Eleaten haben wir den abstrakten Verstand, daß nur das Sein ist. Wir sagen für Heraklits Ausdruck: Das Absolute ist die Einheit des Seins und Nichtseins. Wenn wir jenen Satz »Das Sein ist nicht mehr als das Nichtsein« so hören, so scheint dies nicht viel Sinn zu produzieren, nur allgemeine Vernichtung, Gedankenlosigkeit. Aber wir haben noch einen anderen Ausdruck, der den Sinn des Prinzips näher angibt. Heraklit sagt nämlich: »Alles fließt (panta rhei), nichts besteht, noch bleibt es je dasselbe.« Und Platon sagt weiter von Heraklit: »Er vergleicht die Dinge mit dem Strome eines Flusses, - daß man zweimal in denselben Strom nicht einschrei-ten könne«; er fließt, und man berührt anderes Wasser. Seine Nachfolger sagen sogar, man könne nicht einmal einschreiten, indem er sich unmittelbar verändert; was ist, ist sogleich auch wieder nicht. Aristoteles sagt ferner, Heraklit stelle auf, es sei nur Eins, was bleibt; aus diesem werde alles andere umgeformt, verändert, herausgebildet; alles andere außer diesem Einen fließe, es sei nichts fest, nichts aushaltend; d.h. das Wahre ist das Werden, nicht das Sein, - die nähere Bestimmung für diesen allgemeinen Inhalt ist das Werden. Die Eleaten sagten, nur das Sein ist, ist das Wahre; die Wahrheit des Seins ist das Werden; Sein ist der erste Gedanke, als unmittelbar. Heraklit sagt: alles ist Werden; dies Werden ist das Prinzip. Dies liegt in dem Ausdrucke »Das Sein ist sowenig als das Nichtsein; das Werden ist und ist auch nicht«. Die schlechthin entgegengesetzten Bestimmungen sind in eins verbunden; wir haben das Sein darin und auch das Nichtsein. Es gehört nicht bloß dazu das Entstehen, sondern auch das Vergehen; beide sind nicht für sich, sondern identisch. Dies hat Heraklit damit ausgesprochen. Das Sein ist nicht, so ist das Nichtsein, und das Nichtsein ist nicht, so ist das Sein; dies ist das Wahre der Identität beider.

Es ist ein großer Gedanke, vom Sein zum Werden überzugehen; es ist noch abstrakt, aber zugleich ist es auch das erste Konkrete, die erste Einheit entgegengesetzter Bestimmungen. Diese sind so in diesem Verhältnisse unruhig, das Prinzip der Lebendigkeit ist darin. Es ist damit der Mangel ersetzt, den Aristoteles an den früheren Philosophien aufgezeigt hat, - der Mangel der Bewegung; diese Bewegung ist nun hier selbst Prinzip. Es ist so diese Philosophie keine vergangene; ihr Prinzip ist wesentlich und findet sich in meiner Logik im Anfange, gleich nach dem Sein und dem Nichts.

Es ist eine große Einsicht, die man daran hat, daß man erkannt hat, daß Sein und Nichtsein nur Abstraktionen ohne Wahrheit sind, das erste Wahre nur das Werden ist. Der Verstand isoliert beide als wahr und geltend; hingegen die Vernunft erkennt das eine in dem anderen, daß in dem einen sein Anderes enthalten ist, - und so ist das All, das Absolute zu bestimmen als das Werden.

Heraklit sagt auch, das Entgegengesetzte sei an demselben, wie z.B. »der Honig süß und bitter«, - Sein und Nichtsein ist so am selben. Sextus merkt an: Heraklit gehe wie die Skeptiker von den gemeinen Vorstellungen der Menschen aus; es werde niemand leugnen, daß die Gesunden von dem Honig sagen, er ist süß, die Gelbsüchtigen, er ist bitter; - wenn er nur süß ist, so könnte er seine Natur nicht durch ein Anderes verändern, er wäre allenthalben, auch im Gelbsüchtigen, süß. Zenon fängt an, die entgegengesetzten Prädikate aufzuheben, und zeigt an der Bewegung das Entgegengesetzte auf, - ein Gesetztwerden der Grenze und ein Aufheben der Grenze; Zenon hat das Unendliche nur von seiner negativen Seite ausgesprochen, - wegen seines Widerspruchs, als das Nichtwahre. In Heraklit sehen wir das Unendliche als solches oder seinen Begriff, Wesen ausgesprochen: das Unendliche, an und für sich Seiende ist die Einheit Entgegengesetzter, und zwar der allgemein Entgegengesetzten, des reinen Gegensatzes, Sein und Nichtsein. Nehmen wir [das Seiende] an und für sich, nicht die Vorstellung des Seienden, des erfüllten, so ist das reine Sein der einfache Gedanke, worin alles Bestimmte negiert ist, das absolut Negative: nichts aber ist dasselbe, eben dies Sichselbstgleiche, - absoluter Übergang in das Entgegengesetzte, zu dem Zenon nicht kam: »Aus Nichts wird Nichts«. Bei Heraklit ist das Moment der Negativität immanent; darum handelt sich der Begriff der ganzen Philosophie.

Zunächst haben wir die Abstraktion von Sein und Nichtsein gehabt, in ganz unmittelbar allgemeiner Form; näher hat aber auch Heraklit die Gegensätze auf bestimmtere Weise aufgefaßt. Es ist diese Einheit des Realen und Ideellen, des Objektiven und Subjektiven; das Subjektive ist nur das Werden zum Objektiven, ist sonst ohne Wahrheit; das Objektive ist Werden zum Subjektiven. Dies Wahre ist der Prozeß des Werdens; Heraklit hat dies Sichineinssetzen der Unterschiede in bestimmter Form ausgedrückt. Aristoteles sagt z.B., Heraklit habe überhaupt »zusammengebunden Ganzes und Nichtganzes« (Teil) - das Ganze macht sich zum Teil, und der Teil ist dies, zum Ganzen zu werden -, »Zusammengehendes und Widerstreitendes«, ebenso »Einstimmendes und Dissonierendes«; und aus allem (Entgegengesetzten) sei Eins, und aus Einem alles. Dies Eine ist nicht das Abstrakte, sondern die Tätigkeit, sich zu dirimieren; das tote Unendliche ist eine schlechte Abstraktion gegen diese Tiefe, die wir bei Heraklit sehen. Sextus Empiricus führt an, Heraklit habe gesagt: Der Teil ist ein Verschiedenes vom Ganzen, und er ist auch dasselbe, was das Ganze ist die Substanz ist das Ganze und der Teil. Daß Gott die Welt geschaffen, sich selbst dirimiert, seinen Sohn erzeugt hat usw. - alles dies Konkrete ist in dieser Bestimmung enthalten. Platon sagt in seinem Symposion (187) von dem Prinzip des Heraklit: »Das Eine, von sich selbst unterschieden, eint sich mit sich selbst«, - dies ist der Prozeß der Lebendigkeit, »wie die Harmonie des Bogens und der Leier«. Er läßt dann den Eryximachos, der im Symposion spricht, dies kritisieren, daß die Harmonie disharmoniere oder aus Entgegengesetzten sei, denn nicht aus dem Hohen und Tiefen, insofern sie verschieden sind, entstehe die Harmonie, sondern durch die Kunst der Musik geeint. Dies ist aber kein Widerspruch gegen Heraklit, der eben dies will. Das Einfache, die Wiederholung des einen Tones ist keine Harmonie. Zur Harmonie gehört der Unterschied; es muß wesentlich, schlechthin ein Unterschied sein. Diese
Harmonie ist eben das absolute Werden, Verändern, - nicht Anderswerden, jetzt dieses und dann ein Anderes. Das Wesentliche ist, daß jedes Verschiedene, Besondere verschieden ist von einem Anderen, - aber nicht abstrakt irgendeinem Anderen, sondern seinem Anderen; jedes ist nur, insofern sein Anderes an sich in seinem Begriffe enthalten ist. Veränderung ist Einheit, Beziehung beider auf Eins, ein Sein, dieses und das Andere. In der Harmonie oder im Gedanken geben wir dies zu; sehen, denken die Veränderung, wesentliche Einheit. Der Geist bezieht sich im Bewußtsein auf das Sinnliche, und dies Sinnliche ist sein Anderes. So auch bei den Tönen; sie müssen verschieden sein, aber so, daß sie auch einig sein können, - und dies sind die Töne an sich. Zur Harmonie gehört bestimmter Gegensatz, sein Entgegengesetztes, wie bei Farbenharmonie. Die Subjektivität ist das Andere der Objektivität, nicht von einem Stück Papier - es fällt das Sinnlose hiervon gleich auf -, es muß seinAnderes sein, und darin liegt eben ihre Identität; so ist jedes das Andere des Anderen als seines Anderen. Dies ist das große Prinzip des Heraklit; es kann dunkel erscheinen, aber es ist spekulativ; und dies ist für den Verstand, der das Sein, Nichtsein, das Subjektive und Objektive, das Reelle und Ideelle für sich festhält, immer dunkel.

2. Die Weise der Realität
Heraklit ist in seiner Darstellung nicht bei diesem Ausdrucke in Begriffen, beim rein Logischen stehengeblieben, sondern außer dieser allgemeinen Form, in der Heraklit sein Prinzip vortrug, hat er seiner Idee auch einen realeren Ausdruck gegeben. Diese reale Gestalt ist vornehmlich naturphilosophisch, oder ihre Form ist mehr die natürliche; daher wird er noch zur ionischen Schule gerechnet, und [er] regte dadurch dieNaturphilosophie an. Über diese reale Gestalt seines Prinzips sind jedoch die Geschichtsschreiber uneins. Die allermeisten sagen, daß er das seiende Wesen als Feuer gesetzt habe, andere aber als Luft, andere mehr die Ausdünstung als die Luft; selbst die Zeit findet sich bei Sextus als das erste seiende Wesen genannt. Die Frage ist: Wie ist diese Verschiedenheit zu begreifen? Man darf durchaus nicht glauben, daß diese Nachrichten der Nachlässigkeit der Schriftsteller zu-zuschreiben seien, denn die Zeugen sind die besten, wie Aristoteles und Sextus Empiricus, die nicht im Vorbeigehen, sondern bestimmt von diesen Formen sprechen, ohne aber auf diese Verschiedenheiten und Widersprüche aufmerksam zu machen. Einen näheren Grund scheinen wir an der Dunkelheit der Schrift Heraklits zu haben, die in der Verworrenheit ihres Ausdrucks zum Mißverständnis Veranlassung geben konnte. Allein näher betrachtet, fällt diese Schwierigkeit weg, die sich zeigt, wenn man es nur oberflächlich damit nimmt; in dem tiefsinnigen Begriffe Heraklits findet sich selbst der wahrhafte Ausweg über dies Hindernis. Überhaupt konnte Heraklit nicht mehr wie Thales Wasser oder Luft oder dergleichen als ab-solutes Wesen aussprechen, nicht mehr in Weise eines Ersten, woraus das Andere hervorgehe, indem erSein als dasselbe mit Nichtsein oder den unendlichen Begriff dachte. Und also kann das seiende absolute Wesen nicht als eine existierende Bestimmtheit, z.B. des Wassers bei ihm auftreten, sondern das Wasser als sich verändernd, oder nur der Prozeß.

a) Abstrakter Prozeß, Zeit. Heraklit hat also gesagt, die Zeit sei das erste körperliche Wesen, wie Sextus dies ausdrückt. Körperlich ist ungeschickter Ausdruck. Die Skeptiker wählten häufig die rohsten Ausdrücke oder machten Gedanken erst roh, um mit ihnen fertigzuwerden. Körperlich, das heißt abstrakte Sinnlichkeit; die Zeit ist die abstrakte Anschauung des Prozesses, sie sei das erste sinnliche Wesen. Die Zeit also ist das wahre Wesen. Indem Heraklit nicht beim logischen Ausdrucke des Werdens stehenblieb, sondern seinem Prinzip die Gestalt des Seienden gab, so liegt hierin, daß sich ihm dafür zunächst die Form der Zeit darbieten mußte; denn eben im Sinnlichen, Anschaubaren ist die Zeit das Erste, was sich als das Werden darbietet, es ist die erste Form des Werdens. Die Zeit ist das reine Werden, als angeschaut. Die Zeit ist das reine Verändern, sie ist der reine Begriff, das Einfache, das aus absolut Entgegengesetzten harmonisch ist. Ihr Wesen ist, zu sein und nicht zu sein, und sonst keine Bestimmung, - rein abstraktes Sein und abstraktes Nichtsein unmittelbar in einer Einheit und geschieden. Nicht, als ob die Zeit ist oder nicht ist, sondern die Zeit ist dies, im Sein unmittelbar nicht zu sein und im Nichtsein unmittelbar zu sein, - dies Umschlagen aus Sein in Nichtsein, dieser abstrakte Begriff, aber auf gegenständliche Weise angeschaut, insofern er für uns ist. In der Zeit ist nicht das Vergangene und Zukünftige, nur das Jetzt; und dies ist, um nicht zu sein, ist sogleich vernichtet, vergangen, - und dies Nichtsein schlägt ebenso um in das Sein, denn es ist. Es ist die abstrakte Anschauung dieses Umschlagens. Wenn wir sagen sollten, wie das, was Heraklit als das Wesen erkannte, in dieser reinen Form, in der er es erkannt hat, existierend sei als für das Bewußtsein, so wäre nichts anderes als die Zeit zu nennen, und es ist mithin ganz richtig, daß die erste Form des Werdenden die Zeit ist; so hängt dies mit dem Gedankenprinzip Heraklits zusammen.

b) Reale Form als Prozeß, Feuer. Aber dieser reine gegenständliche Begriff muß sich weiter realisieren. In der Zeit sind die Momente, Sein und Nichtsein, nur als negativ oder unmittelbar verschwindende gesetzt. Ferner bestimmt Heraklit den Prozeß auf nähere physikalische Weise. Die Zeit ist Anschauung, aber ganz abstrakt. Wollen wir uns das, was sie ist, in realer Weise vorstellen, d.h. beide Momente als eine Totali-tät für sich ausdrücken, als bestehend, so ist die Frage, welches physikalische Wesen dieser Bestimmung entspricht. Die Zeit, mit solchen Momenten angetan, ist der Prozeß; die Natur begreifen heißt, sie als Prozeß darstellen. Dies ist das Wahre Heraklits und der wahre Begriff, und daher leuchtet uns dabei sogleich ein, daß Heraklit nicht sagen konnte, daß das Wesen Luft oder Wasser und dergleichen sei, denn sie sind (das ist das Nächste) nicht selbst der Prozeß. Dies ist aber das Feuer; so sagte er Feuer als das erste Wesen, - und dies ist die reale Weise des Heraklitischen Prinzips, die Seele und Substanz des Naturprozesses. Eben im Prozesse unterscheiden sich die Momente, wie in der Bewegung:

b1) das rein negative Moment,

b2) die Momente des bestehenden Gegensatzes, Wasser und Luft, und

b3) die ruhende Totalität, Erde.

Das Leben der Natur ist der Prozeß dieser Momente: die Entzweiung der ruhenden Totalität der Erde in den Gegensatz, das Setzen dieses Gegensatzes dieser Momente - und die negative Einheit, die Rückkehr in die Einheit, das Verbrennen des bestehenden Gegensatzes. Das Feuer ist die physikalische Zeit; es ist diese absolute Unruhe, absolutes Auflösen von Bestehen, - das Vergehen von Anderen, aber auch seiner selbst; es ist nicht bleibend. Und wir begreifen daher (es ist ganz konsequent), daß Heraklit das Feuer als den Begriff des Prozesses nennen konnte, von seiner Grundbestimmung ausgehend.

c) Dies Feuer hat er nun näher bestimmt, weiter ausgeführt als realen Prozeß; es ist für sich der reale Prozeß, seine Realität ist der ganze Prozeß, worin dann die Momente näher, konkreter bestimmt werden. Das Feuer, als dieses Metamorphosierende der körperlichen Dinge, ist Veränderung, Verwandlung des Bestimmten, Verdünstung, Verdampfung; denn es ist im Prozesse das abstrakte Moment desselben, eben so nicht sowohl Luft als vielmehr das Ausdünsten. Für diesen Prozeß hat nun Heraklit ein ganz besonderes Wort gebraucht: anathymiasis Ausdampfung (Rauch, Dünste von der Sonne); Ausdünstung ist hier nur oberflächlich die Bedeutung, - es ist mehr: Übergang. Aristoteles sagt in dieser Rücksicht von Heraklit, daß nach seiner Darstellung das Prinzip die Seele sei, weil sie die Ausdünstung sei, das Hervorgehen von allem, und dies Ausdünsten, Werden sei das Körperloseste und immer fließend. Dieses ist auch passend für das Grundprinzip Heraklits.

Weiter hat er den realen Prozeß in seinen abstrakten Momenten so bestimmt, daß er zwei Seiten an ihm unterschied, »den Weg nach oben (hodos anô) und den Weg nach unten (hodos katô)«, - den einen die Entzweiung, den anderen das In-Eins-Gehen. Sie sind so wesentlich zu begreifen: die Entzweiung als Realisierung, Bestehen der Entgegengesetzten; das Andere: die Reflexion der Einheit in sich, Aufheben dieser bestehenden Gegensätze. Dafür hatte er die näheren Bestimmungen »der Feindschaft, des Hasses, des Streits (polemos, eris) und der Freundschaft, Harmonie (homologia, eirênê)«, - Diremtion und Setzen in Einheit. (Das ist auch mythologisch, Amor usw.) »Von diesen beiden ist die Feindschaft, der Streit dasjenige, welches Prinzip des Entstehens Unterschiedener ist, was aber zur Verbrennung führt Eintracht und Frieden.« Bei Feindschaft zwischen Menschen setzt einer sich als selbständig gegen den anderen oder ist für sich, - Entzweiung, das Realisieren überhaupt; Einigkeit und Friede ist aber das Versinken aus dem Fürsichsein in die Ununterscheidbarkeit oder Nicht-Realität. Alles ist Dreiheit, wesentliche Einheit; die Natur ist dieses nimmer Ruhende und das All das Übergehen aus dem einen ins andere, aus der Entzweiung in die Einheit, aus der Einheit in die Entzweiung.

Die näheren Bestimmungen dieses realen Prozesses sind zum Teil mangelhaft und widersprechend. Es wird nun in dieser Hinsicht in einigen Nachrichten von Heraklit angeführt, daß er ihn so bestimmt habe: »Die Wendungen (Veränderungen) des Feuers sind zuerst das Meer, und dann davon die Hälfte die Erde, die andere Hälfte der Blitzstrahl«, - das entspringende Feuer. Dies ist das Allgemeine und sehr dunkel. Diogenes Laertios sagt (IX, § 9): »Das Feuer wird verdichtet zu Feuchtigkeit (pyknoumenon pyr exygrainesthai), und zum Stehen kommend (synistamenon) wird es Wasser«; das erloschene (verbrannte) Feuer ist das Wasser, das Feuer, was in die Gleichgültigkeit übergeht; »das erhärtete Wasser aber wird zu Erde, und dies ist der Weg nach unten. Die Erde wird dann wieder flüssig (geschmolzen), und aus ihr wird Feuchtigkeit (Meer) und aus dieser die Ausdünstung (anathymiasis) des Meeres, aus der dann alles entsteht«; sie geht wieder über in das Feuer, schlägt als Flamme heraus; »dies ist der Weg nach oben«. Also im allgemeinen Metamorphose des Feuers. »Wasser entzweit sich in finstere Ausdünstung, wird Erde, - und in reine, glänzende, wird Feuer, ent-zündet sich in der Sonnensphäre; das Feurige wird Meteore, Planeten und Gestirne.« Diese sind so nicht ruhige, tote Sterne, sondern als im Werden, in ewiger Erzeugung betrachtet. Diese orientalischen, bildlichen Ausdrücke sind nicht in roh sinnlicher Bedeutung zu nehmen, d.h. daß diese Verwandlungen in der äußerenWahrnehmung vorkämen, sondern sie sind die Natur dieser Elemente; die Erde erzeugt sich ewig ihre Sonne und Kometen.

Die Natur ist so dieser Kreis. In diesem Sinne sehen wir ihn sagen: »Das Universum hat kein Gott und kein Mensch gemacht, sondern es war immer und ist und wird sein ein immer lebendiges Feuer, das sich nach seinem Gesetze (metrô) entzündet und erlischt.« Wir begreifen, was Aristoteles anführt, das Prinzip sei die Seele, weil sie die Ausdünstung, dieser sich selbst bewegende Prozeß der Welt; das Feuer ist die Seele. Hieran schließt sich ein anderer Ausdruck, der sich bei Clemens dem Alexandriner findet: »Den Seelen (dem Belebten) ist der Tod, Wasser zu werden; dem Wasser ist der Tod, Erde zu werden; umgekehrt aus der Erde erzeugt sich dann Wasser, aus dem Wasser aber die Seele.« Es ist also überhaupt dieser Prozeß des Erlöschens, des Zurückgehens des Gegensatzes in die Einheit und des Wiedererweckens desselben, des Hervorgehens aus Einem. Das Erlöschen der Seele, des Feuers in Wasser, die Verbrennung, die zum Produkt wird, erzählen einige falsch als eine Weltverbrennung. Es ist mehr eine Vorstellung der Phantasie, was Heraklit gesprochen haben soll von einem Weltbrande, daß nach einer gewissen Zeit (wie nach unserer Vorstellung ein Ende der Welt) die Welt in Feuer untergehe. Wir sehen aber sogleich aus den bestimmtesten Stellen, daß dieser Weltenbrand nicht gemeint sei, sondern es ist dies beständige Verbrennen, Werden der Freundschaft, - das allgemeine Leben, der allgemeine Prozeß des Universums. »Heraklit sagt, daß Leben sowohl als Sterben in unserem Leben wie in unserem Tode vereint ist; denn wenn wir leben, so sind unsere Seelen gestorben und in uns begraben; wenn wir aber sterben, so auferstehen und leben unsere Seelen.«

In Rücksicht dessen, daß bei Heraklit das Feuer das Belebende, die Seele ist, findet sich ein Ausdruck vor, der bizarr erscheinen kann, nämlich der, daß die trockenste Seele die beste sei. Wir nehmen zwar auch nicht die nasseste für die beste, aber doch im Gegen-teil die lebendigste; trocken heißt hier aber feurig, so ist die trockenste Seele das reine Feuer, und dies ist nicht unlebendig, sondern die Lebendigkeit selbst.

Das sind die Hauptmomente des reellen Lebensprozesses. Ich verweile einen Augenblick hierbei, indem damit überhaupt aller Begriff der spekulativen Betrachtung der Natur (Philosophie der Natur) ausgesprochen ist. Sie ist Prozeß an ihr selbst. In diesem Begriffe geht ein Moment, ein Element in das andere über: Feuer wird zu Wasser, Wasser zu Erde und Feuer. Es ist alter Streit über die Verwandlung, gegen die Unwandelbarkeit der Elemente. In diesem Begriffe scheidet sich die gemeine sinnliche Naturforschung und die Naturphilosophie. An sich, in der spekulativen Ansicht wird die einfache Substanz in Feuer und die übrigen Elemente metamorphosiert; in der anderen ist aller Übergang aufgehoben, Wasser ist eben Wasser, Feuer ist Feuer usf., - kein Begriff, keine absolute Bewegung, sondern nur Hervorgehen ist, eine äußerliche Trennung schon Vorhandener. Wenn jene Ansicht die Verwandlung behauptet, so glaubt diese Ansicht das Gegenteil aufzeigen zu können; sie behauptet zwar Wasser, Feuer usf. nicht mehr als einfache Wesenheiten, sondern zerlegt sie in Wasser-, Sauerstoff usf., - aber deren Unwandelbarkeit behauptet sie. Sie behauptet dabei mit Recht, daß, was an sich sein soll in der spekulativen Ansicht, auch die Wahrheit der Wirklichkeit haben müsse; denn wenn das Spekulative dies ist, die Natur und das Wesen ihrer Momente zu sein, so muß dies auch so vorhanden sein. (Man stellt sich das Spekulative vor, als das nur im Gedanken sei oder im Innern, d.h. man weiß nicht wo.) Es ist dies auch so vorhanden; aber die Naturforscher verschließen sich das Auge dazu durch ihren beschränkten Begriff.

Wenn wir sie hören, so beobachten sie nur, sagen, was sie sehen; aber dies ist nicht wahr, sondern bewußtlos verwandeln sie unmittelbar das Gesehene durch den Begriff. Und der Streit ist nicht der Gegensatz der Beobachtung und des absoluten Begriffs, sondern des beschränkten fixierten Begriffs gegen den absoluten Begriff. Sie zeigen die Verwandlungen als nicht seiend, z.B. des Wassers in Erde; bis auf die neuesten Zeiten wurde sie behauptet; - wird Wasser destilliert, so blieb ein erdiger Rückstand. Lavoisier stellte genaue Versuche an, wog alle Gefäße, - es zeigte sich ein erdiger Rückstand; aber aus der Vergleichung ergab sich, daß er von den Gefäßen komme. Es gibt einen oberflächlichen Prozeß, der nicht Überwindung der Bestimmtheit der Substanz: »Wasser verwandelt sich nicht in Luft, sondern nur in Dampf, und Dampf verdichtet sich immer nur wieder zu Wasser.« Allein dort wie hier fixieren sie nur einen einseitigen, mangelhaften Prozeß und geben ihn für den absoluten Prozeß aus. Wie wenn ich sage: Der Naturprozeß ist ein Ganzes von Bedingungen; wenn einige derselben fehlen, kommt ein Anderes heraus, als wennich alle Bedingungen erfülle. Eisen wird Magnet, nicht wenn ich es glühe, sondern mit sich selbst auf eine gewisse Weise streiche oder halte; freilich gibt es Umstände, unter denen es dasselbe bleibt. Mechanische Teilung nur ist immer möglich: ein Haus kann inSteine und Balken zerlegt werden; diese sind als Steine und Balken vorhanden. In diesem Sinne sprechen sie vom Verhältnis des Ganzen und der Teile nicht als von ideellen Momenten, - zu denen sie kommen als an sich, unsichtbar, latent, nicht positiv (als Momenten), aber hier erhalten noch als Vorstellen. Aber im Realen, im Naturprozeß machen sie die Erfahrung, daß der aufgelöste Kristall Wasser gibt und im Kristall Wasser verlorengeht, hart wird, - Kristallwasser; daß die Ausdünstung der Erde nicht als Dampfform im äußeren Zustande, in der Luft anzutreffen ist, sondern die Luft ganz rein bleibt oder der Wasserstoff ganz verschwindet in der reinen Luft. Sie haben sich genug vergebliche Mühe gegeben, Wasserstoff in der atmosphärischen Luft zu finden. Sie machen ebenso wieder die Erfahrung, daß ganz trockene Luft, an der sie weder Feuchtigkeit noch Wasserstoff aufzeigen können, in Dünste und Regen übergeht usf. Dies ist die Beobachtung, aber sie verderben alle Wahrnehmung der Verwandlungen durch den festen Begriff; sie bringen nämlich den fixen Begriff von Ganzem und Teilen mit, von Bestehen aus Teilen, von Schon-vorhanden-gewesen-Sein dessen, als eines solchen, was sich entstehend zeigt. Der Kristall, aufgelöst, zeigt Wasser, so sagen sie: »Es ist nicht als Wasser entstanden, sondern vorher schon drin gewesen«; Wasser, entzweit in seinem Prozesse, zeigt Wasserstoff und Sauerstoff: »Diese sind nicht entstanden, sondern vorher schon als solche, als Teile, woraus das Wasser besteht, dagewesen.« Aber sie können weder Wasser im Kristall noch Sauer- und Wasserstoff im Wasser aufzeigen. Ebenso verhält es sich mit dem »latenten Wärmestoff«. Wie es mit allem Aussprechen der Wahrnehmung und Erfahrung [ist]; wie der Mensch spricht, so ist ein Begriff darin, er ist gar nicht abzuhalten, im Bewußtsein wiedergeboren, - immer Anflug der Allgemeinheit und Wahrheit erhalten. Denn eben er ist das Wesen; aber nur der gebildeten Vernunft wird er absoluter Begriff, nicht in einer Bestimmtheit wie hier. Sie kommen notwendig auf ihre Grenze; so ist ihr Kreuz, keinen Wasserstoff in der Luft zu finden; Hygrometer, Flaschen voll Luft, aus den hohen Regionen durch Luftballon, zeigen ihn nicht als seiend. Kristallwasser ist nicht mehr als Wasser, - verwandelt, zu Erde geworden.

Um zu Heraklit zurückzukehren, so ist er derjenige, welcher zuerst die Natur des Unendlichen ausgesprochen und zuerst eben die Natur als an sich unendlich, d.h. ihr Wesen als Prozeß begriffen hat. Von ihm ist der Anfang der Existenz der Philosophie zu datieren; er ist die bleibende Idee, welche in allen Philosophen bis auf den heutigen Tag dieselbe ist, wie sie die Idee des Platon und Aristoteles gewesen ist.

3. Der Prozess als allgemeiner und sein Verhältnis zum Bewußtsein
Es fehlt nur dieses noch an der Idee, daß ihr Wesen, ihre Einfachheit als Begriff, als Allgemeinheit erkannt werde. Man kann vermissen, daß nichts Dauerndes, Ruhendes ist, - was Aristoteles gibt. Der Prozeß ist noch nicht als Allgemeines aufgefaßt. Heraklit sagt zwar, es fließt alles, es ist nichts bestehend, nur das Eine bleibt. Es ist damit aber noch nicht die Wahrheit, Allgemeinheit ausgesprochen; es ist der Begriff der seienden Einheit im Gegensatze, nicht der in sich reflektierten. Dies Eins in seiner Einheit mit der Bewegung, dem Prozesse der Individuen ist das Allgemeine, Gattung, Verstand oder der in seiner Unendlichkeit einfache Begriff als Gedanke; als dieses ist die Idee noch zu bestimmen, - nous des Anaxagoras. Das Allgemeine ist die unmittelbare einfache Einheit in dem Gegensatze, als Prozeß Unterschiedener in sich zurückgehend. Aber auch dies findet sich bei Heraklit. Dieses Allgemeine, diese Einheit in dem Gegensatze - Sein und Nichtsein als dasselbe - nannte Heraklit »Schicksal (heimarmenê), Notwendigkeit«. Und der Begriff der Notwendigkeit ist kein anderer als eben dieser, daß das Seiende als Bestimmtes in dieser Bestimmtheit ist, was es ist (diese sein Wesen als eines Einzelnen ausmacht), aber eben dadurch sich auf sein Entgegengesetztes bezieht, - das absolute »Verhältnis, welches durch das Sein des Ganzen hindurchgeht (logos ho dia tês ousias tou pantos diêkôn)«. Er nennt dies »den ätherischen Leib, den Samen des Werdens von allem (aitherion sôma tês tou pantos geneseôs)«. Das ist ihm die Idee, Allgemeines als solches, als das Wesen; es ist der beruhigte Prozeß, - Tiergattung ist das Bleibende, der sich aufnehmende (in sich zurücknehmende), einfache Prozeß.

Es ist nun noch übrig zu betrachten, welches Verhältnis Heraklit diesem Wesen (der Welt, dem, was ist) zum Bewußtsein, zum Denken gibt. Seine Philosophie hat im ganzen eine naturphilosophische Weise; das Prinzip ist zwar logisch, aber in seiner natürlichen Weise als der allgemeine Naturprozeß aufgefaßt. Wie kommt der logos zum Bewußtsein? Wie verhält er sich zur individuellen Seele? Ich führe dies ausführlicher hier an; es ist eine schöne, unbefangene,kindliche Weise, von der Wahrheit wahr zu sprechen, - hier das Allgemeine und die Einheit des Wesens des Bewußtseins und des Gegenstandes und die Notwendigkeit der Gegenständlichkeit.

In Ansehung der Aussagen über das Erkennen sind nun mehrere Stellen von Heraklit aufbewahrt. Es geht aus seinem Prinzipe, daß alles, was ist, zugleich nicht ist, unmittelbar hervor, daß er erklärt, daß die sinnliche Gewißheit keine Wahrheit hat. Denn eben sie ist, für welche das, was ist, als seiend, gewiß ist; - diese Gewißheit ist die, für die etwas besteht, was in der Tat ebenso nicht ist. Dies unmittelbare Sein ist nicht das wahre Sein, sondern die absolute Vermittlung, das gedachte Sein, der Gedanke, - und das Sein erhält hier die Form der Einheit. »Tot ist, was wir wachend sehen, was aber schlafend Traum«, weil, insofern wir sehen, es ein Beharrliches, feste Gestalt. Heraklit sagt über die sinnliche Wahrnehmung in dieser Beziehung: »Schlechte Zeugen sind den Menschen die Augen und die Ohren, sofern sie barbarische Seelen haben. Die Vernunft (logos) ist die Richterin der Wahrheit, nicht aber die nächste beste (hopoiosdêpote), sondern allein die göttliche, allgemeine«, dies Maß, dieser Rhythmus, der durch die Wesenheit des Alls hindurchgeht. Absolute Notwendigkeit ist eben dies, im Bewußtsein das Wahre zu sein, - aber nicht jedes Denken überhaupt, das auf Einzelnes geht, jedes Verhältnis, worin es nur Form ist und den Inhalt der Vorstellung hat, sondern der allgemeine Verstand, entwickeltes Bewußtsein der Notwendigkeit, Identität des Subjektiven und Objektiven. »Viel Wissen lehre den Verstand nicht; sonst hätte es auch den Hesiod, Xenophanes und Pythagoras belehrt. Das Eine sei das Weise, - die Vernunft zuerkennen, die durch alles das Herrschende ist.«

Sextus erzählt näher das Verhältnis des subjektiven Bewußtseins, der besonderen Vernunft zur allgemeinen, zu diesem Naturprozesse. Das hat noch sehr physikalische Gestalt; es ist, wie wir die Besonnenheit auffassen gegen den träumenden oder verrückten Menschen. Der wachende Mensch verhält sich zu den Dingen auf eine allgemeine Weise, welche dem Verhältnisse der Dinge gemäß ist, wie die anderen sich auch dagegen verhalten. Sextus führt uns die Bestimmung hiervon so an: »Alles, was uns umgibt, sei selbst logisch und verständig«, - das allgemeine Wesen der Notwendigkeit. Die Allgemeinheit hat die Form der Besonnenheit; das gegenständliche Wesen, die Objektivität ist verständig, darum nicht - mit Bewußtsein. Wenn und insofern ich in dem objektiv-verständigen Zusammenhang dieser Besonnenheit, Objektivität des Bewußtseins bin, bin ich zwar in der Endlichkeit - als endlicher bin ich in äußerem Zu-sammenhang, bleibe im Träumen und Wachen im Felde dieses Zusammenhangs -, nur Verstand aber, Besonnenheit, Bewußtsein dieses Zusammenhangs, ohne Schlaf, ist die notwendige Weise dieses Zusam-menhangs, die Form der Objektivität, die Idee in der Endlichkeit.

»Wenn wir dies allgemeine Wesen durch das Atmen einziehen, so werden wir verständig; aber nur wachend sind wir so, schlafend sind wir in der Vergessenheit.« Diese Form der Verständigkeit ist das, was wir das Wachsein nennen. Dies Wachsein, dies Bewußtsein der Außenwelt, was zur Verständigkeit gehört, ist mehr ein Zustand und ist hier aber für das Ganze des vernünftigen Bewußtseins genommen. »Denn im Schlafe«, heißt es, »sind die Wege des Gefühls verschlossen, und der Verstand, der in uns, wird abgesondert von seiner Vereinigung mit der Umgebung (tês pros to periechon symphyias), und es erhält sich allein der Zusammenhang (prosphysis) des Atmens gleichsam als nur einer Wurzel« dieses Zu-sammenhangs (des besonnenen Zustandes), die auch im Schlafe bleibt, - kein spezifiziertes, sondern abstraktes Element. Also dies Atmen ist unterschieden von dem allgemeinen Atmen (symphyia), d.h. dem Sein eines Anderen für uns; die Vernunft ist dieser Prozeß mit dem Objektiven. Weil wir nicht mit dem Ganzen in Zusammenhang sind, so träumen wir nur. »So getrennt, verliert der Verstand die Kraft des Bewußtseins, die er vorher hatte«, - der Geist nur als individuelle Einzelheit die Objektivität; er ist nicht in der Einzelheit allgemein, - Denken, das sich selbst zum Gegenstande hat.

»In den Wachenden aber erhält er (der Verstand) durch die Wege des Gefühls wie durch Fenster hinaussehend und mit dem Umgebenden zusammengehend (symballôn) die logische Kraft«, - Idealismus in seiner Naivität. »Nach der Weise, wie die Kohlen, die dem Feuer nahekommen, selbst feurig werden, getrennt davon aber verlöschen, so wird der Teil (moira)« - die Notwendigkeit (s. oben) -, »der in unseren Körpern von dem Umgebenden beherbergt ist, durch die Trennung fast unvernünftig«, - das Gegenteil von denen, welche meinen, Gott gebe die Weisheit im Schlafe, im Somnambulismus. »In dem Zusammenhange mit den vielen Wegen aber wird sie mit dem Ganzen gleicher Art (homoeidês tô holô kathistatai).« Wachen ist wirkliches, objektives Bewußtsein, Wissen des Allgemeinen, Seienden, und doch darin Fürsichsein.

»Dieses Ganze, der allgemeine und göttliche Verstand, und in der Einheit mit welchem wir logisch sind, ist das Wesen der Wahrheit bei Heraklit. Daher das, was allgemein allen erscheint, Überzeugung habe, denn es hat teil an dem allgemeinen und göttlichen Logos; was aber einem Einzelnen beifällt, habe keine Überzeugung in sich, aus der entgegengesetzten Ursache. Im Anfange seines Buches über die Natur sagt er: ›Da das Umgebende die Vernunft (logos) ist, so sind die Menschen unvernünftig, sowohl ehe sie hören, als wenn sie zuerst hören. Denn da, was geschieht, nach dieser Vernunft geschieht, so sind sie noch unerfahren, wenn sie die Reden und Werke versuchen, welche ich aufzeige (diêgeumai auseinandersetze, erzähle, erkläre), nach der Natur jegliches unterscheidend und sagend, wie es sich verhält. Die anderen Menschen aber wissen nicht, was sie wachend tun, wie sie vergessen, was sie im Schlafe tun.‹«

Heraklit sagt auch ferner: »Wir tun und denken alles nach der Teilnahme am göttlichen Verstande (logos). Deswegen müssen wir nur diesem allgemeinen Verstande folgen. Viele aber leben, als ob sie einen eigenen Verstand hätten (idian phronêsin); der Verstand aber (hê de) ist nichts anderes als die Auslegung (Bewußtwerden, Darstellung, Einsicht) der Weise der Anordnung (Einrichtung) des Alls (exêgêsis tou tropou Wendung, Wandlung, tês tou pantos dioikêseôs). Deswegen, soweit wir teilnehmen am Wissen von ihm (autou tês mnêmês koinô-nêsômen), sind wir in der Wahrheit; soviel wir aber Besonderes (Eigentümliches) haben (idiasômen), sindwir in der Täuschung.« Sehr große und wichtige Worte! Man kann sich nicht wahrer und unbefangenerüber die Wahrheit ausdrücken. Nur das Bewußtsein als Bewußtsein des Allgemeinen ist Bewußtsein der Wahrheit; Bewußtsein aber der Einzelheit und Handeln als einzelnes, eine Originalität, die eine Eigentümlichkeit des Inhalts oder der Form wird, ist das Unwahre und Schlechte. Der Irrtum besteht also allein in der Vereinzelung des Denkens, - das Böse und der Irrtum darin, sich vom Allgemeinen auszuscheiden. Die Menschen meinen gewöhnlich, wenn sie etwas denken sollen, so müsse es etwas Besonderes sein; dies ist Täuschung.

So sehr Heraklit behauptet, daß in dem sinnlichen Wissen keine Wahrheit ist, weil alles Seiende fließt, das Sein der sinnlichen Gewißheit nicht ist, indem es ist, ebensosehr setzt er als notwendig im Wissen die gegenständliche Weise. Das Vernünftige, das Wahre, das ich weiß, ist wohl ein Zurückgehen aus dem Gegenständlichen, als aus Sinnlichem, Einzelnem, Bestimmtem, Seiendem. Aber was die Vernunft in sich weiß, ist ebenso die Notwendigkeit oder das Allgemeine des Seins; es ist das Wesen des Denkens, wie es das Wesen der Welt ist. Es ist dieselbe Betrachtung der Wahrheit, welche Spinoza »eine Betrachtung der Dinge unter der Form der Ewigkeit« nennt. Das Fürsichsein der Vernunft ist nicht ein objektloses Be-wußtsein, ein Träumen, sondern ein Wissen, das für sich ist, - aber so, daß dies Fürsichsein wach ist oder daß es gegenständlich und allgemein, für alle dasselbe ist. Das Träumen ist ein Wissen von etwas, wovon nur ich weiß. Das Einbilden und dergleichen ist ebensolches Träumen. Ebenso das Gefühl ist die Weise, daß etwas bloß für mich ist, ich etwas in mir, als in diesem Subjekte, habe; die Gefühle mögen sich für noch so erhaben ausgeben, so ist wesentlich, daß für mich, als dieses Subjekt, es ist, was ich fühle, - nicht als Gegenstand, als ein Freies von mir. In der Wahrheit aber ist der Gegenstand für mich als das an sich seiende Freie, und ich bin für mich von mir subjektivitätslos; und ebenso ist dieser Gegenstand kein eingebildeter, von mir nur zum Gegenstand gemachter, sondern an sich allgemeiner.

Außerdem hat man noch viele andere Fragmente von Heraklit, einzelne Aussprüche usw., z.B.: »Die Menschen sind sterbliche Götter und die Götter unsterbliche Menschen; lebend jener Tod und sterbend jener Leben.« Der Tod der Götter ist das Leben, das Sterben das Leben der Götter. Das Göttliche ist das Erheben durch das Denken über die bloße Natürlichkeit; diese gehört dem Tode an.

Wir können in der Tat von Heraklit Ähnliches sagen, wie Sokrates sagte: Was uns noch vom Heraklit übriggeblieben, ist vortrefflich; von dem aber, was uns verlorengegangen ist, müssen wir vermuten, daß es wohl gleich vortrefflich gewesen sei. Oder wenn wir das Schicksal für gerecht halten wollen, daß es der Nachwelt immer das Beste erhielt, so müssen wir wenigstens von dem, was uns von Heraklit noch gemeldet ist, sagen, daß es dieser Aufbewahrung wert ist.
Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke 18 (S.319-343). Suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 618

Nietzsches Heraklit-Interpretation
Mitten auf diese mystische Nacht, in die Anaximanders Problem vom Werden gehüllt war, trat H e r a k l i t aus Ephesus zu und erleuchtete sie durch einen göttlichen Blitzschlag. »Das Werden schaue ich an, ruft er, und niemand hat so aufmerksam diesem ewigen Wellenschlage und Rhythmus der Dinge zugesehen. Und was schaute ich? Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechtes, hinter allen Überschreitungen der Gesetze richtende Erinnyen, die ganze Welt das Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwärtiger, ihrem Dienste untergebener Naturkräfte. Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wann hat sich der Frevel, der Abfall in unverbrüchlichen Formen, in heilig geachteten Gesetzen offenbart? Wo die Ungerechtigkeit waltet, da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch; wo aber das Gesetz und die Tochter des Zeus, die Dike, allein regiert, wie in dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße, der Verurteilung und gleichsam die Richtstätte aller Verdammten sein?“

Aus dieser Intuition entnahm Heraklit zwei zusammenhängende Verneinungen, die erst durch die Vergleichung mit den Lehrsätzen seines Vorgängers in das helle Licht gerückt werden. Einmal leugnete er die Zweiheit ganz diverser Welten, zu deren Annahme Anaximander gedrängt worden war; er schied nicht mehr eine physische Welt von einer metaphysischen, ein Reich der bestimmten Qualitäten von einem Reich der undefinierbaren Unbestimmtheit ab. Jetzt, nach diesem ersten Schritte, konnte er auch nicht mehr von einer weit größeren Kühnheit des Verneinens zurückgehalten werden: er leugnete überhaupt das Sein. Denn diese eine Welt, die er übrig behielt — umschirmt von ewigen ungeschriebenen Gesetzen, auf- und niederflutend im ehernen Schlage des Rhythmus —, zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome. Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: »Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem
ersten Male."


Heraklit hat als sein königliches Besitztum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Kombinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft, sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann: und dies tut er in Sätzen wie ,,Alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich" so ungescheut, daß Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben. Die intuitive Vorstellung aber umfasst zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt, sodann die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum. Denn diese können, wenn sie auch ohne bestimmten Inhalt sind, unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv perzipiert, also angeschaut werden.

Wenn nun Heraklit in dieser Weise die Zeit, losgelöst von allen Erfahrungen betrachtet, so hatte er an ihr das belehrendste Monogramm alles dessen, was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung fällt. So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden; daß Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei; daß aber, wie die Zeit, so der Raum, und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein anderes, ihm Gleichartiges, d. h. wieder nur ebenso Bestehendes, sei. Dies ist eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren, jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und vernünftig sehr schwer zu erreichen. Wer sie vor Augen hat, muß aber auch sofort zu der heraklitischen Konsequenz weitergehen und sagen, daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken ist und daß es für sie keine andere Art Sein gibt; wie dies ebenfalls Schopenhauer dargestellt hat (Welt als Wille und Vorstellung, Band I, erstes Buch § 4): „Nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt bedingt die Anschauung, in der sie allein existiert: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Sein ist ihr Wirken. Höchst treffend ist deshalb im Deutschen der Inbegriff alles Materiellen W i r k l i c h k e i t genannt, welches Wort viel bezeichnender ist als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Sein und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein Teil derselben im anderen hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach einer nur innerhalb ihrer Grenzen geltenden Relation, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum.“

Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergebens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zueinander hin. Das Volk meint zwar, etwas Starres, Fertiges, Beharrendes zu erkennen; in Wahrheit ist in jedem Augenblick Licht und Dunkel, Bitter und Süß beieinander und aneinander geheftet, wie zwei Ringende, von denen bald der eine bald der andre die Obmacht bekommt. Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß, und die Welt selbst ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muß. Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit. Es ist eine wundervolle, aus dem reinsten Borne des Hellenischen geschöpfte Vorstellung, welche den Streit als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit betrachtet. Nur ein Grieche war imstande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodizee zu finden; es ist die gute Eris Hesiods zum Weltprinzip verklärt, es ist der Wettkampfgedanke der einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte miteinander ins Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht. Wie jeder Grieche kämpft, als ob er allein im Recht sei, und ein unendlich sicheres Maß des richterlichen Urteils in jedem Augenblick bestimmt, wohin der Sieg sich neigt, so ringen die Qualitäten miteinander, nach unverbrüchlichen, dem Kampfe immanenten Gesetzen und Maßen. Die Dinge selbst, an deren Feststehen und Standhalten der enge Menschen- und Tierkopf glaubt, haben gar keine eigentliche Existenz, sie sind das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Sieges, im Kampfe der entgegengesetzten Qualitäten.

Jenen Kampf, der allem Werden eigentümlich ist, jenen ewigen Wechsel des Sieges schildert wiederum Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung, Band I, zweites Buch S 27): ,,Beständig muß die beharrende Materie die Form wechseln, indem, am Leitfaden der Kausalität, mechanische, physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten drängend, einander die Materie enrreißen, da jede ihre Idee offenbaren will. Durch die gesamte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn.“ Die folgenden Seiten geben die merkwürdigsten Illustrationen dieses Streites: nur daß der Grundton dieser Schilderungen immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für Schopenhauer ein Beweis von der Selbst-Entzweiung des Willens zum Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein durchweg entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen. Der Tummelplatz und der Gegenstand dieses Kampfes ist die Materie, welche die Naturkräfte wechselseitig einander zu entreißen suchen, wie auch Raum und Zeit, deren Vereinigung durch die Kausalität eben die Materie ist.

Während die Imagination Heraklits das rastlos bewegte Weltall, die ,,Wirklichkeit“, mit dem Auge des beglückten Zuschauers maß, der zahllose Paare, im freudigen Kampfspiele, unter der Obhut strenger Kampfrichter ringen sieht, überkam ihn eine noch höhere Ahnung; er konnte die ringenden Paare und die Richter nicht mehr getrennt voneinander betrachten, die Richter selbst schienen zu kämpfen, die Kämpfer selbst schienen sich zu richten — ja, da er im Grunde nur die ewig waltende eine Gerechtigkeit wahrnahm, so wagte er auszurufen: ,,Der Streit des Vielen selbst ist die reine Gerechtigkeit! Und überhaupt: das Eine ist das Viele. Denn was sind alle jene Qualitäten dem Wesen nach? Sind sie unsterbliche Götter? Sind sie getrennte, von Anfang und ohne Ende für sich wirkende Wesen? Und wenn die Welt, die wir sehen, nur Werden und Vergehn, aber kein Beharren kennt, sollten vielleicht gar jene Qualitäten eine anders geartete metaphysische Welt konstituieren, zwar keine Welt der Einheit, wie sie Anaximander hinter dem flatternden Schleier der Vielheit suchte, aber eine Welt ewiger und wesenhafter Vielheiten?« — Ist Heraklit, auf einem Umwege, vielleicht doch wieder in die doppelte Weltordnung, so heftig er sie verneinte, hineingeraten, mit einem Olymp zahlreicher unsterblicher Götter und Dämonen — nämlich v i e l e r Realitäten — und mit einer Menschenwelt, die nur das Staubgewölk des olympischen Kampfes und das Aufglänzen göttlicher Speere — das heißt nur ein Werden — sieht? Anaximander hatte sich gerade vor den bestimmten Qualitäten in den Schoß des metaphysischen „Unbestimmten“ geflüchtet; weil diese wurden und vergingen, hatte er ihnen das wahre und kernhafte Dasein abgesprochen; sollte es jetzt aber nicht scheinen, als ob das Werden nur das Sichtbarwerden eines Kampfes ewiger Qualitäten ist? Sollte es nicht auf die eigentümliche Schwäche der menschlichen Erkenntnis zurückgehn, wenn wir vom Werden reden — während es im Wesen der Dinge vielleicht gar kein Werden gibt, sondern nur ein Nebeneinander vieler wahrer ungewordner unzerstörbarer Realitäten?

Dies sind unheraklitische Auswege und Irrpfade: er ruft noch einmal: »Das Eine ist das Viele.« Die vielen wahrnehmbaren Qualitäten sind weder ewige Wesenheiten noch Phantasmata unsrer Sinne (als jene denkt sie sich später Anaxagoras, als diese Parmenides), sie sind weder starres selbstherrliches Sein, noch flüchtiger in Menschenköpfen wandelnder Schein. Die dritte, für Heraklit allein zurückbleibende Möglichkeit wird niemand mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend erraten können: denn was er hier erfand, ist eine Seltenheit, selbst im Bereiche mystischer Unglaublichkeiten und unerwarteter kosmischer Metaphern. — Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mir sich selbst, das Eine ist nur in diesem Sinne zugleich das Viele. —

Um zunächst die Einführung des Feuers als einer weltbildenden Kraft zu erläutern, erinnere ich daran, in welcher Weise Anaximander die Theorie vom Wasser als dem Ursprung der Dinge weitergebildet hatte. Im wesentlichen darin Thales Vertrauen schenkend und seine Beobachtungen stärkend und vermehrend, war Anaximander doch nicht zu überzeugen, daß es vor dem Wasser und gleichsam hinter dem Wasser keine weitere Qualitätsstufe gäbe: sondern aus Warm und Kalt schien ihm das Feuchte selbst sich zu bilden, und Warm und Kalt sollten daher die Vorstufen des Wassers, die noch ursprünglicheren Qualitäten sein. Mit ihrer Ausscheidung aus dem Ursein des ,,Unbestimmten« beginnt das Werden. Heraklit, der als Physiker sich der Bedeutung Anaximanders unterordnete, deutet sich dieses Anaximandrische Warm um als den Hauch, den warmen Atem, die trocknen Dünste, kurz als das Feurige: von diesem Feuer sagt er nun dasselbe aus, was Thales und Anaximander vom Wasser ausgesagt hatten, es durchlaufe in zahllosen Verwandlungen die Bahn des Werdens, vor allem in den drei Hauptzuständen, als Warmes, Feuchtes, Festes. Denn das Wasser geht teils im Niedersteigen zur Erde, im Aufsteigen zum Feuer über: oder wie sich Heraklit genauer ausgedrückt zu haben scheint: aus dem Meere steigen nur die reinen Dünste auf, welche dem himmlischen Feuer der Gestirne zur Nahrung dienen, aus der Erde nur die dunklen, nebeligen, aus denen das Feuchte seine Nahrung zieht. Die reinen Dünste sind der Übergang des Meeres zum Feuer, die unreinen der Übergang der Erde zum Wasser. So laufen fortwährend die beiden Verwandlungsbahnen des Feuers, aufwärts und abwärts, hin und zurück, nebeneinander her, vom Feuer zum Wasser, von da zur Erde, von der Erde wieder zurück zum Wasser, vom Wasser zum Feuer. Während Heraklit in den wichtigsten dieser Vorstellungen, zum Beispiel darin, daß das Feuer durch die Ausdünstungen unterhalten wird, oder darin, daß aus dem Wasser teils Erde, teils Feuer sich absondert, Anhänger des Anaximander ist, so ist er darin selbständig und im Widerspruch mit jenem, daß er das Kalte aus dem physikalischen Prozeß ausschließt, während Anaximander es als gleichberechtigt neben das Warme gestellt hatte, um aus beiden das Feuchte entstehen zu lassen. Dies zu tun war freilich für Heraklit eine Notwendigkeit: denn wenn alles Feuer sein soll, so kann, bei allen Möglichkeiten seiner Umwandlung, es doch nichts geben, was sein absoluter Gegensatz wäre; er wird also das, was man das Kalte nennt, nur als Grad des Warmen gedeutet haben und konnte diese Deutung ohne Schwierigkeiten rechtfertigen. Viel wichtiger aber als diese Abweichung von der Lehre Anaximanders ist eine weitere Übereinstimmung: er glaubt wie jener an einen periodisch sich wiederholenden Weltuntergang und an ein immer erneutes Hervorsteigen einer andern Welt aus dem alles vernichtenden Weltbrande. Die Periode, in der die Welt jenem Weltbrande und der Auflösung in das reine Feuer entgegeneilt, wird von ihm höchst auffallenderweise als ein Begehren und Bedürfen charakterisiert, das volle Verschlungensein im Feuer als die Sattheit; und es bleibt uns die Frage übrig, wie er den neuen erwachenden Trieb der Weltbildung, das Sich-Ausgießen in die Formen der Vielheit, verstanden und benannt hat. Das griechische Sprichwort scheint uns mit dem Gedanken zu Hilfe zu kommen, daß ,,Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert“; und in der Tat kann man sich einen Augenblick fragen, ob Heraklit vielleicht jene Rückkehr zur Vielheit aus der Hybris hergeleitet hat. Man nehme diesen Gedanken einmal ernst: in seiner Beleuchtung verwandelt sich, vor unseren Blicken, das Gesicht Heraklits, das stolze Leuchten seiner Augen erlischt, ein faltiger Zug schmerzlicher Entsagung, der Ohnmacht prägt sich aus, es scheint, daß wir wissen, warum das spätere Altertum ihn den ,,weinenden Philosophen« nannte. Ist jetzt nicht der ganze Weltprozeß ein Bestrafungsakt der Hybris. Die Vielheit das Resultat eines Frevels? Die Verwandlung des Reinen in das Unreine Folge der Ungerechtigkeit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt und somit zwar die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu tragen immer von neuem wieder verurteilt?

Jenes gefährliche Wort, Hybris, ist in der Tat der Prüfstein für jeden Herakliteer; hier mag er zeigen, ob er seinen Meister verstanden oder verkannt hat. Gibt es Schuld, Ungerechtigkeit, Widerspruch, Leid in dieser Welt?

Ja, ruft Heraklit, aber nur für den beschränkten Menschen, der auseinander und nicht zusammen schaut, nicht für den kontuitiven Gott; für ihn läuft alles Widerstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar für das gewöhnliche Menschenauge, doch dem verständlich, der, wie Heraklit, dem beschaulichen Gotte ähnlich ist. Vor seinem Feuerblick bleibt kein Tropfen von Ungerechtigkeit in der um ihn ausgegoßnen Welt zurück; und selbst jener kardinale Anstoß, wie das reine Feuer in so unreine Formen einziehen könne, wird von ihm durch ein erhabnes Gleichnis überwunden. Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld — und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser und Erde, türmt er wie ein Kind Sandhaufen am Meere, türmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von neuem das Bedürfnis, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfnis zwingt. Nicht Frevelmut, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft, fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.

So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Notwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.

Wer wird nun von einer solchen Philosophie noch eine Ethik, mit den nötigen Imperativen ,,Du sollst“ verlangen oder gar einen solchen Mangel dem Heraklit zum Vorwurf machen! Der Mensch ist bis in seine letzte Faser hinein Notwendigkeit und ganz und gar ,,unfrei“, — wenn man unter Freiheit den närrischen Anspruch, seine essentia nach Willkür wie ein Kleid wechseln zu können, versteht, einen Anspruch, den jede ernste Philosophie bisher mit dem gebührenden Hohne zurückgewiesen hat. Daß so wenig Menschen mit Bewußtsein in dem Logos und in Gemäßheit des alles überschauenden Künstlerauges leben, das rührt daher, daß ihre Seelen naß sind und daß des Menschen Augen und Ohren, überhaupt ihr Intellekt ein schlechter Zeuge ist, wenn ,,feuchter Schlamm ihre Seelen einnimmt«. Warum das so ist, wird nicht gefragt, ebensowenig, warum Feuer zu Wasser und Erde wird. Heraklit hat ja keinen Grund, nachweisen zu m ü s s e n (wie ihn Leibniz hatte), daß diese Welt sogar die allerbeste sei, es genügt ihm, daß sie das schöne unschuldige Spiel des Äon ist. Der Mensch gilt ihm sogar im allgemeinen als ein unvernünftiges Wesen: womit nicht streitet, daß sich in allem seinem Wesen das Gesetz der allwaltenden Vernunft erfüllt. Er nimmt gar nicht eine besonders bevorzugte Stellung in der Natur ein, deren höchste Erscheinung das Feuer, zum Beispiel als Gestirn, ist, aber nicht der einfältige Mensch. Hat dieser am Feuer einen Anteil durch die Notwendigkeit erhalten, so ist er etwas vernünftiger; soweit er aus Wasser und Erde besteht, steht es schlimm mit seiner Vernunft. Eine Verpflichtung, daß er den Logos erkennen müsse, weil er Mensch sei, existiert nicht. Warum gibt es aber Wasser, warum gibt es Erde? Dies ist für Heraklit ein viel ernsteres Problem, als zu fragen, warum die Menschen so dumm und schlecht seien. In dem höchsten und in dem verkehrtesten Menschen offenbart sich die gleiche immanente Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit. Wenn man aber Heraklit die Frage vorrücken wollte: warum ist das Feuer nicht immer Feuer, warum ist es jetzt Wasser, jetzt Erde?, so würde er eben nur antworten ,,es ist ein Spiel, nehmt‘s nicht zu pathetisch, und vor allem nicht moralisch!« Heraklit beschreibt nur die vorhandne Welt und hat an ihr das beschauliche Wohlgefallen, mit dem der Künstler auf sein werdendes Werk schaut. Düster, schwermütig, tränenreich, finster, schwarzgallig, pessimistisch und überhaupt hassenswürdig finden ihn nur die, welche mit seiner Naturbeschreibung des Menschen nicht zufrieden zu sein Ursache haben. Diese aber würde er, samt ihren Antipathien und Sympathien, ihrem Haß und ihrer Liebe, für gleichgültig halten und ihnen etwa mit solchen Belehrungen dienen ,,die Hunde bellen jeden an, den sie nicht kennen« oder ,,dem Esel ist Spreu lieber als Gold«.

Von solchen Unzufriednen rühren auch die zahlreichen Klagen über die Dunkelheit des Heraklitischen Stils her: wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb allerdings für die lesenden Schnelläufer dunkel. Wie aber ein Philosoph undeutlich, mit Absicht, schreiben sollte — was man Heraklit nachzusagen pflegt — ist völlig unerklärlich: falls er nicht Grund hat, Gedanken zu verbergen, oder Schelm genug ist, seine Gedankenlosigkeit unter Worten zu verstecken. Man muß doch sogar, wie Schopenhauer sagt, in Angelegenheiten des gewöhnlichen praktischen Lebens sorgfältig, durch Deutlichkeit, möglichen Mißverständnissen vorbeugen; wie denn sollte man im schwierigsten, abstrusesten, kaum erreichbaren Gegenstande des Denkens, den Aufgaben der Philosophie, sich unbestimmt, ja rätselhaft ausdrücken dürfen? Was aber die Kürze anbetrifft, so gibt Jean Paul eine gute Lehre. ,,Im ganzen ist es recht, wenn alles Große — von vielem Sinn für einen seltnen Sinn — nur kurz und (daher) dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es lieber für Unsinn erkläre, als in seinen Leersinn übersetze. Denn die gemeinen Geister haben eine häßliche Geschicklichkeit, im tiefsten und reichsten Spruch nichts zu sehen als ihre eigne alltägliche Meinung.“ Übrigens und trotzdem ist Heraklit den „kahlen Geistern“ nicht entgangen; bereits die Stoiker haben ihn ins Flache umgedeutet und seine ästhetische Grundperzeption vom Spiel der Welt zu der gemeinen Rücksicht auf Zweckmäßigkeiten der Welt, und zwar für die Vorteile der Menschen herabgezogen: so daß aus seiner Physik, in jenen Köpfen, ein kruder Optimismus, mit der fortwährenden Aufforderung an Hinz und Kunz zum plaudite amici, geworden ist.

Heraklit war stolz: und wenn es bei einem Philosophen zum Stolz kommt, dann gibt es einen großen Stolz. Sein Wirken weist ihn nie auf ein „Publikum“, auf den Beifall der Massen und den zujauchzenden Chorus der Zeitgenossen hin. Einsam die Straße zu ziehn gehört zum Wesen des Philosophen. Seine Begabung ist die seltenste, in einem gewissen Sinne unnatürlichste, dabei selbst gegen die gleichartigen Begabungen ausschließend und feindselig. Die Mauer seiner Selbstgenugsamkeit muß von Diamant sein, wenn sie nicht zerstört und zerbrochen werden soll, denn alles ist gegen ihn in Bewegung. Seine Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andre; und doch kann niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen — weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weit ausgebreiteten Fittichen aller Zeiten; denn die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt im Wesen der großen philosophischen Natur. Er hat die Wahrheit: mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehn können. Es ist wichtig, von solchen Menschen zu erfahren, daß sie einmal gelebt haben. Nie würde man sich zum Beispiel den Stolz des Heraklit, als eine müßige Möglichkeit, imaginieren können. An sich scheint jedes Streben nach Erkenntnis, seinem Wesen nach, ewig unbefriedigt und unbefriedigend. Deshalb wird niemand, wenn er nicht durch die Historie belehrt ist, an eine so königliche Selbstachtung und Überzeugtheit, der einzige beglückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen. Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie aufsuchen. Auch ein Pythagoras, ein Empedokles behandelten sich selbst mit einer übermenschlichen Schätzung, ja mit fast religiöser Scheu; aber das Band des Mitleidens, an die große Überzeugung von der Seelenwanderung und der Einheit alles Lebendigen geknüpft, führte sie wieder zu den anderen Menschen, zu deren Heil und Errettung, hin. Von dem Gefühl der Einsamkeit aber, das den ephesischen Einsiedler des Artemis-Tempels durchdrang, kann man nur in der wildesten Gebirgsöde erstarrend etwas ahnen. Kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen, heilen und retten zu wollen, strömt von ihm aus. Er ist ein Gestirn ohne Atmosphäre. Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn, unmittelbar an die Feste seines Stolzes, schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit: mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mit fühlender Brust weichen einer solchen wie aus Erz gegoßnen Larve aus; in einem abgelegnen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter, ruhig-erhabener Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen. Unter Menschen war Heraklit, als Mensch, unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lärmender Kinder acht gab, so hat er jedenfalls dabei bedacht, was nie ein Mensch bei solcher Gelegenheit bedacht hat: das Spiel des großen Weltenkindes Zeus. Er brauchte die Menschen nicht, auch nicht für seine Erkenntnisse; an allem, was man etwa von ihnen erfragen konnte und was die anderen Weisen vor ihm zu erfragen bemüht gewesen waren, lag ihm nicht. Er sprach mit Geringschätzung von solchen fragenden, sammelnden, kurz „historischen“ Menschen. ,,Mich selbst suchte und erforschte ich“, sagte er von sich, mit einem Worte, durch das man das Erforschen eines Orakels bezeichnet: als oh er der wahre Erfüller und Vollender der delphischen Satzung ,,Erkenne dich selbst“ sei, und niemand sonst.

Was er aber aus diesem Orakel heraushörte, das hielt er für unsterbliche und ewig deutenswerte Weisheit, von unbegrenzter Wirkung in die Ferne, nach dem Vorbild der prophetischen Reden der Sibylle. Es ist genug für die späteste Menschheit: mag sie es nur wie Orakelsprüche sich deuten lassen, was er wie der delphische Gott ,,weder aussagt, noch verbirgt«. Ob es gleich von ihm ,,ohne Lächeln, Putz und Salbenduft“, vielmehr wie mit ,,schäumendem Munde« verkündet wird, es muß zu den tausenden Jahren der Zukunft dringen. Denn die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit: obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht i h n sein Ruhm an? Der Ruhm bei ,,immer fort fließenden Sterblichen«! wie er höhnisch ausruft. Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn, die Unsterblichkeit der Menschheit braucht ihn, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit. Das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 70, Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Der griechische Staat. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (S.282-297)
Mit einem Nachwort von Alfred Baeumler ©1976 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart