Paul Thiry d’ Holbach (1723 - 1789)

  Deutschstämmiger französischer Philosoph, der aus seiner streng mechanistisch-kausalen Naturauffassung heraus versucht, eine weltimmanente Ethik abzuleiten. Als Grundlage dient ihm das monistische Axiom, dass das Denken nur eine spezifische Form der allgemeinen Bewegung der Materie ist. Den cartesianischen Dualismus von Körper und Seele verwirft er. Die moralischen Gesetze müssen deshalb wie physikalische Gesetze empirisch und kausal fundiert sein. So wie Isaac Newton die Gravitation als das wesentliche Organisationsprinzip der Materie betrachtet, so nimmt er den Selbsterhaltungstrieb als zentrales Gesetz für das menschliche Zusammenleben an und entwickelt daraus in Analogie zur Physik seine Ethik der sozialen Nützlichkeit: »Tugend ist das, was wirklich auf Dauer den in Gesellschaft lebenden Wesen der menschlichen Gattung nutzt; Laster ist das, was ihnen schadet.« Holbach ist – wie Julien Offray de La Mettrie - überzeugter Atheist und der Ansicht, dass religiöses Denken dem Menschen weder hilft noch ihn moralisch weiterbringt, sondern seine Entwicklung nur hemmt und ihr Schaden zufügt.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Religion als Ursache moralischer Perversionen
Vorteile, welche dem Menschen aus der Idee einer Gottheit entspringen sollen
Religiöse Meinungen können nicht Grundlage für Sittlichkeit sein
Die Abgeschmacktheit und Nutzlosigkeit der Gottesidee

Religion als Ursache moralischer Perversionen

Unter den Anbetern eines grausamen, rachgierigen und eifersüchtigen Gottes begegnen wir friedfertigen Seelen, die Feinde der Verfolgung, der Gewalttätigkeit, der Grausamkeit sind; und unter den Anhängern eines mit Barmherzigkeit und Milde erfüllten Gottes sehen wir Ungeheuer von Barbarei und Unmenschlichkeit. Da indessen sowohl diese wie auch jene anerkennen, daß ihr Gott ihnen Vorbild sein soll: warum richten sie sich nicht danach? Weil das Temperament des Menschen immer stärker ist als seine Götter; weil die bösesten Götter eine rechtschaffene Seele nicht immer zu verderben und weil die sanftmütigsten Götter solche Herzen, die vom Verbrechen erfaßt sind, nicht zu bessern vermögen. Die Veranlagung wird immer mächtiger sein als die Religion; die gegenwärtigen Gegenstände, die augenblicklichen Interessen, die eingewurzelten Gewohnheiten, die öffentliche Meinung haben viel mehr Macht als imaginäre Wesen oder als Spekulationen, die selbst von dieser Veranlagung abhängen. [...]

Man sagt uns täglich, daß das ärgerliche oder verbrecherische Verhalten der Priester und ihrer Anhänger nichts gegen die Güte des Religionssystems beweist; warum sagt man nicht das gleiche vom Verhalten eines Atheisten, der, wie wir bereits bewiesen haben, trotz eines ausschweifenden Lebenswandels eine sehr gute und sehr richtige Moral haben kann? [...]

Die Güte Gottes bestärkt den Bösewicht, seine Strenge verwirrt den Rechtschaffenen. So kehren sich die Eigenschaften, die die Theologie ihrem Gott zuschreibt, gerade gegen die gesunde Moral. Auf diese unendliche Güte wagen sich die verderbtesten Menschen zu verlassen, wenn sie Verbrechen begehen oder sich gewöhnlichen Lastern hingeben wollen. Erinnert man sie an ihren Gott, so sagen sie uns, Gott sei gut, seine Milde und Barmherzigkeit seien unendlich. Wiederholt ihnen nicht der Aberglaube, der Handlanger der Ungerechtigkeiten der Sterblichen, unaufhörlich und allerorten, daß man mit Hilfe bestimmter Zeremonien, Gebete und Andachtsübungen den schrecklichen Gott besänftigen und sich dann in die offenen Arme dieses zur Milde gestimmten Gottes werfen kann? Besitzen nicht die Priester aller Völker unfehlbare Geheimnisse, mit deren Hilfe sie auch die schändlichsten Menschen mit der Gottheit zu versöhnen vermögen? [...]

Die christliche Religion, die sich rühmt, den Menschen die richtigsten Ideen von der Gottheit zu geben, und die, wenn man sie beschuldigt, aufrührerisch und blutdürstig zu sein, ihren Gott immer nur als gut und barmherzig schildert; die sich rühmt, die reinste Moral gelehrt zu haben, und die unter denen, die sich zu ihr bekennen, für immer Eintracht und Frieden stiften will: diese Religion hat mehr Zwistigkeiten, Streit, Bürger- und auswärtige Kriege und Verbrechen aller Art verursacht als alle übrigen Religionen der Welt zusammengenommen. Man wird vielleicht einwenden, daß der Fortschritt der Einsichten diesen Aberglauben hindern wird, in der Folgezeit ebenso schädliche Wirkungen hervorzubringen wie diejenigen, die er vorher verursacht hatte; wir antworten: der Fanatismus wird immer gleich gefährlich bleiben, und die Wirkungen werden, solange die Ursache nicht beseitigt ist, immer die gleichen sein. [...]

Aus: Texte zur Ethik, (dtv 30096, S.151f.) Herausgegeben von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster © 1976 Deutscher Taschenbuchverlag (www.dtv.de)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Deutschen Taschenbuchverlages

Untersuchung der vermuteten Vorteile, welche dem Menschen aus der Idee einer Gottheit entspringen sollen, oder ihr Einfluss auf Sitten, Politik, Wissenschaft, die Wohlfahrt der Völker und die des einzelnen
Da Sittlichkeit ursprünglich die Selbsterhaltung des Menschen und seine Wohlfahrt in Gesellschaft zum Endzweck hat, so hatte sie nichts mit religiösen Beweggründen zu tun. Der Mensch fand in seinem eigenen Sinne Bewegungsgründe hinlänglich, seine Leidenschaften zu mäßigen, seine lasterhaften Neigungen zu beherrschen und sich seinen Mitmenschen, die er fortwährend nötig hatte, nützlich und schätzbar zu machen. –
Systeme, die Gott als einen Tyrannen schildern, können dem Menschen nicht als Gegenstand einer Nachahmung dienen. Sie beschreiben ihn eifersüchtig, rachsüchtig und interessiert. Auf diese Weise trennt die Religion die Menschen unter sich. Sie streiten und verfolgen sich gegenseitig, und machen sich niemals Vorwürfe über Verbrechen, die sie im Namen ihres Gottes begehen. –

Ein gleicher Sinn durchdringt die Religion. In ihr hören wir von nichts anderem, als von Opfer; und selbst der Gott und reine Geist der Christen musste seinen eigenen Sohn, um seine Wut zu befriedigen, am Kreuze gemordet haben. Der Mensch aber bedarf eine Sittlichkeit, die sich auf Natur und Erfahrung gründet. –

Finden wir wahre Tugend unter den Predigern der Religion? Sind diese Männer so fest von der Existenz ihres Gottes überzeugt, und weniger der Wohllust und der Unmäßigkeit ergeben? Wenn wir ihr Betragen bedenken, so müssen wir geneigt werden zu glauben, dass sie in ihren Ideen über eine Gottheit gänzlich enttäuscht sind. –

Verhindert die Idee eines lohnenden und strafenden Gottes die Fürsten, die vorgeben, ihre Macht von der Gottheit selbst erhalten zu haben, in ihren schlechten Handlungen? Sind jene bösen und schändlichen Monarchen, die Zerstörung um sich verbreiten, Atheisten? Nein, sie rufen die Gottheit zum Zeugen in dem Augenblicke an, wo sie ihre Eide zu verletzen beabsichtigen. Haben religiöse Systeme je die Sitten eines Volkes verbessert? Religion geht der Meinung nach über alles, – Prediger sind mit Lehrsätzen und feierlichen Gebräuchen, die ihrer eigenen Macht nützen, zufrieden und sie vervielfältigen ermüdende Zeremonien, um aus den Überschreitungen derselben von seiten ihrer Sklaven, Vorteile zu ziehen. Blickt auf das Werk der Religion und des Pfaffentums, hinsichtlich des Verkaufs der Begünstigungen des Himmels und des Ablasses. Nichtssagende Worte als Unfrömmigkeit, Gotteslästerung, Kirchenraub und Ketzerei wurden durch Prediger erfunden, und diese vorgeblichen Verbrechen wurden einst mit der größten Grausamkeit bestraft. Was muss unter solchen Lehrmeistern, aus dem Schicksale der Jugend werden? Von Kindheit auf wird das menschliche Gemüt mit unsinnigen Ideen vergiftet, durch Truggestalten beunruhigt; das Genie wird durch mechanische Demut beengt, und der Mensch wird durch Vorurteile gänzlich gegen die Vernunft und Wahrheit geblendet. –

Bildet die Religion wahrhafte Bürger, Väter und Ehemänner? Sie wird über alles hoch gepriesen. Dem Fanatiker wird befohlen, Gott und nicht Menschen zu gehorchen; folglich glaubt er sich in der Sache des Himmels handelnd, empört er sich gegen sein Vaterland, und verlässt seine Familie. –

Würde die Erziehung auf wirklich nützliche Gegenstände gerichtet, so würden daraus unberechenbare Wohltaten für’s Menschengeschlecht entspringen. Aber wie viele Menschen sind nicht, ungeachtet ihrer religiösen Erziehung, verbrecherischen Gewohnheiten unterworfen. Unerachtet der Hölle, in ihrer Beschreibung so fürchterlich, – welche Massen von verlassenen Verbrechern füllen nicht unsere Städte! Leute weichen mit Schrecken vor einem Manne zurück, der sich nur eines Zweifels in das Dasein ihres Gottes äußert. Aus den Tempeln, wo Opfer gebracht, göttliche Offenbarungen verlesen und die Laster im Namen des Himmels angeklagt worden sind, kehren die Menschen bald zu ihren früheren verbrecherischen Gewohnheiten zurück. –

Die verurteilten Diebe und Mörder, sind diese Atheisten oder Ungläubige? Jene Unglücklichen glauben dennoch an einen Gott. Sie haben stets von Jugend auf über ihn reden gehört, auch sind ihnen die Strafen, welche auf Verbrechen folgen, nicht fremd. Jedoch ein verborgener Gott und entfernte Strafen eignen sich schlecht, um von Verbrechen abzuhalten, welche gegenwärtige und gewiss erfolgende Züchtigungen nicht mal verhindern können. –

Ein Mann, der bei Begehung des kleinsten Verbrechens im Angesicht der Welt zittern würde, zögert keinen Augenblick, es zu begehen, sobald er glaubt, er wird nur von Gott gesehen. So schwach ist die Idee der Göttlichkeit im Menschen, wenn sie menschlichen Leidenschaften gegenübergesetzt ist. Redet der religiöseste Vater zu seinem Sohne von einem rächenden Gotte? Nein, seine Leibesbeschaffenheit, durch Ausschweifung geschadet, seine Habe, durchs Spiel verloren, die Verachtung der Gesamtheit seiner Nebenmenschen – das sind die Beweggründe, welche der Vater sich bedient, um seinen Sohn zu bessern. –

Die Idee von Gott ist unnütz und einer gesunden Sittlichkeit zuwider; – sie bringt weder der Gesamtheit noch dem Einzelnen die Glücklichkeit. Menschen, die sich immer mit Scheinbildern beschäftigen, leben in beständigem Schrecken; sie vernachlässigen ihre wichtigsten Angelegenheiten, und bringen ein erbärmliches Dasein in Seufzern, Beten und in Büßungen zu. Sie bilden sich ein, dass sie Gott beruhigen, und namentlich dadurch, dass sie sich jedem Übel unterziehen. Welche Früchte zieht denn eine Gesamtheit aus den kläglichen Vorstellungen solcher frommen Tollköpfe? Sie sind sich selbst und der Welt nur unnütze Menschenfeinde oder Glaubensschwärmer, die den Frieden der Völker stören. Welche religiöse Ideen auch wirklich einige wenige furchtsame und friedfertige Schwärmer trösten, so machen sie doch Millionen anderer Menschen, deren Handlungen weit mehr mit wahrhaft sittlichen Grundsätzen übereinstimmen, ihr Leben hindurch unglücklich. Ein Mann, der sich ruhig unter einem fürchterlichen Gotte verhalten kann, kann nur ein Wesen ohne Vernunft sein.*
*Ein Volk ist nicht eher für die politische Freiheit reif, als bis es die sich selbst angelegte Fessel der Religion gebrochen, sich besonders von dem die Sklaverei aussäenden Christentume losgesagt hat, und keine übersinnliche Gewalt über sich anerkennt als die Vernunft, den einzigen untrüglichen Wegweiser zur Glückseligkeit. Wer an Gott und die Unsterblichkeit der Seele glaubt, wird, wie auch die Erfahrung lehrt, alle Leiden der Erde , die Unterdrückung, der Tyrannei, des körperlichen Elends, geduldig tragen, in der Überzeugung, dass er nach dem Tode von Gott hinreichende Entschädigung, die, nach den Lehren des Christentums, um so reichlicher ausfallen wird, je größer das auf der Erde erduldete Leid und Unrecht gewesen, und je geduldiger und gottergebener es ertragen worden ist. Nur wer überzeugt ist, dass er bloß für die Erde lebt, wird den Trieb haben, alle seine Kräfte anzuwenden, um auf Erden gut, glücklich und frei zu leben.

Religiöse Meinungen können nicht Grundlage für Sittlichkeit sein. Eine Vergleichung zwischen religiöser und natürlicher Sittlichkeit. Die Religion hemmt den Fortgang des Gemüts.
Willkürliche und unvereinbare Meinungen, widersprechende Begriffe, abgesonderte und unverständliche Nachforschungen können nie als Grundlage zur Sittlichkeit dienen; sie muss im Gegenteil auf klaren augenscheinlichen Prinzipien beruhen, die aus der Natur des Menschen entlehnt sind und auf Vernunft sich begründen. Die Sittlichkeit ist stets einförmig und folgt nie der Einbildung, der Leidenschaft oder dem Interesse des Menschen. Sei muss dauerhaft, für alle Menschen gleich sein, und sich niemals durch Zeit und Ort verändern. Die Sittlichkeit, da sie die Wissenschaften der Pflichten des in Gesellschaft lebenden Menschen ist, muss sich auf die in unserer Natur gewebten Gefühle begründen. Mit einem Worte, ihre Grundlage muss Notwendigkeit sein. –

Die Theologie ist in ihrer Voraussetzung unrichtig, wenn sie behauptet, dass die gegenseitigen Bedürfnisse der Menschen, der Wunsch nach Glücklichkeit, und das augenscheinliche Interesse der Gesellschaften und des einzelnen, nicht hinlängliche Beweggründe sind, um den Menschen zu leiten. Die Diener der Religion unterwerfen die Sittlichkeit den menschlichen Leidenschaften, indem sie sie von Gott ausfließen lassen. Die Priester gründen die Moralität demnach auf ein Nichts, indem sie sie auf ein Hirngespinst begründen. –

Die von Gott gehegten Ideen wechseln, infolge der verschiedenen Ansichten, die man über ihn hegt, mit der Einbildung eines jeden Menschen, von Alter zu Alter und von Land zu Land, voneinander ab. –

Vergleiche man einmal die Moralität der Religion mit derjenigen der Natur, und man wird sie wesentlich voneinander verschieden finden. Die Natur ladet die Menschen ein, sich gegenseitig zu lieben, sich ihr Dasein zu erhalten, und ihre Glücklichkeit zu erhöhen. Die Religion befiehlt dagegen, einen furchtbaren Gott zu lieben, sich selbst zu hassen und die schönsten Freuden seiner Seele einem fürchterlichen Götzenbilde zu opfern. Die Natur befiehlt dem Menschen seien Vernunft zu beraten; die Religion lehrt ihm, dass die Vernunft ein trüglicher Führer ist. Die Natur gebietet ihm, nach Wahrheit zu forschen; die Religion verbietet ihm jede Untersuchung. Die Natur gebietet dem Menschen, gesellschaftlich zu sein und seine Nachbarn zu lieben; die Religion befiehlt ihm, die Gesellschaft zu scheuen und sich von der Welt auszuschließen. Die Natur schreibt dem Ehemanne Zärtlichkeit und Liebe zu; die Religion sieht auf den Ehestande als einen Zustand der Unreinheit und des Verderbens. Die Natur gebietet dem bösen Menschen, seinen schändlichen Neigungen zu widerstehen, da sie seiner Glücklichkeit zu widerstehen, da sie seiner Glücklichkeit zuwider sind; die Religion verspricht, während sie Verbrechen verbietet, dem Verbrecher die Vergebung, wenn er sich vor ihren Priestern durch Opfer, Geschenke, Zeremonien, Gebete demütigt. –

Das menschliche Gemüt, durch die Religion verfälscht, ist seit Jahrtausenden kaum ein geringes in seiner Verbesserung fortgeschritten. Die Vernunftlehre ist allgemein verdreht worden, um die offenbarsten Abgeschmacktheiten zu beweisen. Die Theologie begeistert die Könige mit falschen Ideen über ihre Rechte, da sie ihnen erzählt, dass sie ihre Macht von Gott erhalten haben. Die bürgerlichen Gesetze wurden den Launen der Religion unterworfen. Die Arzneikunst, die Anatomie und die Naturgeschichte durften nur durch die Augen des Aberglaubens angeschaut werden. Die klarsten Tatsachen wurden, sobald sie mit religiösen Voraussetzungen nicht übereinstimmten, widerstritten. –

Lässt sich eine Frage der natürlichen Philosophie dadurch, dass man behauptet, Naturerscheinungen als Vulkane oder Überschwemmungen wären Beweise des göttlichen Zorns, genügend auflösen? Anstatt die Kriege und die Hungersnot dem Grimme eines Gottes zuzuschreiben, würde es weit nützlicher sein, den Menschen zu lehren, dass sie von ihrer eigenen Torheit und von der Tyrannei ihrer Fürsten herrühren. Die Menschen würden dann die Mittel gegen solche Übel, in einer besseren Regierungsform gesucht haben. Die Erfahrung würde den Menschen die Fruchtlosigkeit des Fastens, der Gebete, der Opfer und der feierlichen Prozessionen, die nie etwas Gutes erzeugten, gelehrt haben.

Der Mensch kann aus den Ideen, welche man ihm von der Gottheit beibringt, nichts schließen. – Die Abgeschmacktheit und Nutzlosigkeit der Gottesidee

Angenommen, eine Intelligenz, wie die Theologie sie verkündet, wäre vorhanden, so muss man doch gestehen, dass bis jetzt noch kein Mensch den Wünschen einer Vorsehung nachgekommen ist. –

Gott wünscht durch die Menschen gekannt zu sein, und selbst nicht mal die Theologen können sich eine Idee von ihm bilden. Zugestanden, sie könnten es, und sein Wesen und seine Eigenschaften wären ihnen klar, genießt daher das übrige der Menschheit gleiche Vorteile? Sehr wenige Menschen sind tiefen und fortdauernden Nachdenkens fähig. Das gewöhnliche Volk beider Geschlechter, das genötigt ist, für seine Erhaltung zu arbeiten, denkt niemals nach. Leute der Mode, alle weiblichen Geschöpfe und junge Personen beiderlei Geschlechts, die mit ihren Leidenschaften und Vergnügungen beschäftigt sind, denken ebenso wenig nach als die untere Klasse. Es gibt vielleicht nicht mal zehn aus einer Million Menschen, die sich einst ernsthaft gefragt haben, was sie denn wirklich unter Gott verstehen; und noch weniger gibt es , die aus dem Dasein einer Gottheit eine Aufgabe zur Lösung gemacht haben; dennoch verlangt die Überzeugung einen Beweis, und dieser Beweis kann uns allein die Gewissheit verschaffen. Wo sind denn die Männer, die von dem Dasein Gottes überzeugt worden sind?
Ganze Nationen verehren freilich einen Gott auf das Ansehen ihrer Väter und Prediger. Aber Zutrauen, gesetzmäßige Obrigkeit und Gewohnheit sind vorhanden, statt die Überzeugung und den Beweis. Alles ruht auf gesetzmäßige Autorität, und die Vernunft und die Untersuchung sind überall verboten. –

Ist denn die Überzeugung von dem Dasein eines Gottes, welche doch so wichtig für die Menschheit ist, allein den Predigern und Begeisterten erteilt worden? Finden wir unter letzteren dieselbe Übereinstimmung in theologischen Lehrsätzen als bei Personen, welche die Wissenschaften nützlicher Künste studieren? Will von allen Menschen gekannt sein, warum zeigt er sich nicht der ganzen Welt, in einer weniger zweideutigen und mehr überzeugenden Art, als er bis jetzt durch Verbindungen, die ihn der Parteilichkeit anklagen, getan hat? Sind Fabeln und Verwandlungen die einzigen Mittel, die er benutzen kann? Warum sind sein Name, seine Eigenschaften und sein Wille nicht in allen Menschen mit leserlichen Buchstaben geschrieben worden? –

Gott widersprechende Eigenschaften zulegend, verleitete die Theologie ihren Gott in eine Lage zu versetzen, in der er nicht handeln konnte. Eingestanden, er wäre selbst mit so außerordentlichen und widersprechenden Eigenschaften vorhanden, so können wir weder mit gewöhnlichem Verstande noch mit Vernunft sein Betragen, noch die Art und Weise des von ihm vorgeschriebenen Gottesdienstes, billigen. –

Ist er unendlich gut, warum sollten wir ihn fürchten? Falls unendlich weise, warum uns über unser Schicksal ängstigen? Falls allwissend, warum ihm unsere Bedürfnisse erzählen, oder ihn mit unseren Gebeten ermüden. Ist er überall, warum sollen wir ihm Tempel bauen? Falls Herr von allem, wozu sollen wir ihm Opfer und Geschenke bringen? Falls gerecht, woher entsteht denn der Glaube, dass er den Menschen, den er selbst schwach und kränklich erschaffen hat, strafen werde? Falls allmächtig, wie kann er beleidigt und widerstanden werden? Falls vernünftig, warum ihn mit einem blinden Wesen, wie der Mensch ist, erzürnen? Falls unveränderlich, warum fordern wir von ihm, seine Dekrete zu ändern? Und falls unbegreiflich, warum nehmen wir uns heraus, eine Idee über ihn zu bilden. –

Dagegen, wäre Gott andererseits jähzornig, rächend und boshaft, so sind wir nicht genötigt, ihm unsere Bitten vorzulegen. Ist er ein Tyrann, wie können wir ihn lieben? Wie kann ein Herr von seinen Sklaven geliebt werden, wenn er es zulässt, dass sie ihn beleidigen, bloß um das Vergnügen zu haben, sie bestrafen zu können? Ist Gott über alles mächtig, wie kann der Mensch seinem Zorne entfliehen? Falls unveränderlich, wie kann der Mensch seinem Schicksale entgehen? –

Demnach, von welchem Standpunkte aus wir auch Gott betrachten, so können wir ihm weder Gebete noch Verehrung widmen. Wollten wir selbst das Dasein einer Gottheit voll Billigkeit, Vernunft und Wohltat zulassen, was würde dann ein tugendhafter Atheist von demselben zu fürchten haben, falls er sich unerwartet in der Gegenwart eines solchen Wesens befände, das er im Leben missverstanden und vernachlässigt hätte. –

»O Gott, könnte er sagen, unbegreifliches Wesen, das ich nie entdecken konnte, verzeihe, dass der beschränkte Verstand, den du mir verliehen hast, nicht hinlänglich war zu deiner Entdeckung. Wie konnte ich dein geistiges Wesen durch die Hilfe der Sinne allein entdecken? Ich konnte meinen Verstand nicht dem Joche von Männern unterwerfen, die eingestanden, über dich nicht aufgeklärter als ich zu sein, und die nur unter sich einverstanden waren, dass ich der Vernunft, die du mir verliehen hast, entsagen sollte. Aber, o Gott, wenn du deine Geschöpfe liebst, so habe auch ich sie geliebt. Gefällt dir die Tugend, so hat auch mein Herz sie immer verehrt; ich habe die Traurigen getröstet, niemals mir das Eigentum der Armen zugeeignet – ich war immer gerecht, wohltätig und mitleidig.« –

Ungeachtet der Vernunft werden die Menschen doch durch Krankheit, oft in die Vorurteile der Kindheit, zurückgeworfen. Dieses findet am häufigsten bei entkräfteten Leuten statt; bei der Herannahung des Todes zittern sie, weil die Maschine geschwächt ist; das Gehirn ist nicht imstande seine Wirksamkeit zu verrichten, und so verfallen sie natürlich in Irrereden. Unsere Systeme unterliegen den Veränderungen des Körpers, ein kranker Körper entwickelt nur einen kranken Ideengang.

Aus: Anthologie der neueren Philosophie, Arkanischer Verlag Berlin 1919 (S. 129-135)