Aldous Huxley (1894 – 1963)

Englischer Schriftsteller, der seit 1938 in Kalifornien lebte. Er war in seinen stilistisch glänzend geschriebenen Essays, Erzählungen und Romanen vor allem ein scharfsichtiger Kulturkritiker. Seine Prognosen in »Brave new world« (1932) machten das Buch zu einem Modell der modernen negativen Utopie. Später wandte sich Huxley einer vom Buddhismus beeinflussten Mystik zu.

Siehe auch Wikipedia

Unser Glaube.
... Die Gültigkeit mystischer Erfahrung ist oft durch das Argument in Frage gestellt worden, dass die Mystiker jeder Religion unmittelbare Anschauung nur von den besonderen göttlichen Wesen haben, die anzubeten sie gewohnt sind. Das ist aber nur teilweise wahr. Es gibt gute Mystiker und schlechte Mystiker, wie es gute und schlechte Künstler gibt. Die meisten Künstler sind und waren zu allen Zeiten schlecht oder mittelmäßig; dasselbe gilt wahrscheinlich für die meisten Mystiker, welche unter berufenen Kritikern als zweitrangig gelten, in deren Intuitionen die letzte Wirklichkeit in irgendeiner Sondergestalt erscheint. Mystiker, welche allgemein als die besten gelten, sehen die letzte Wirklichkeit nicht in der Gestalt von Lokalgottheiten. Sie erscheint ihnen als eine geistige Wesenheit, so weit jenseits jeder Sondergestalt oder Persönlichkeit, dass schlechthin nichts von ihr ausgesagt werden kann.

»Das Atman ist Schweigen«, sagt der Hindu von der letzten geistigen Wirklichkeit. Die einzige Sprache, die irgend einen Begriff von der Beschaffenheit dieser Wirklichkeit vermitteln kann, ist die Sprache der Verneinung, des Paradoxen, der äußersten Übertreibung Der Pseudo-Dionysus spricht vom »Strahl der göttlichen Dunkelheit«, von der »hellleuchtenden Dunkelheit des Schweigens« und von der Notwendigkeit, »Sinne und Verstandestätigkeit und alles, was den Sinnen und dem Verstande bekannt ist, hinter sich zu lassen. »Wenn jemand Gott sieht«, so schreibt er, »und versteht, was er gesehen, dann hat er Gott nicht gesehen«. »Nescio, nescio«, sagt der heilige Bernhard von der letzten Wirklichkeit; »neti, neti« war Yajnavalkyas Urteil auf der anderen Seite der Welt. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht; nicht so, nicht so.« Hier sind wir weit weg von besonderen Hindu- oder Christen-Gottheiten.

Die Lebensgeschichten der meisten großen christlichen Mystiker sind einander merkwürdig ähnlich. Erzogen in dem Glauben an die Personalität des dreieinigen Gottes und an die Existenz und Allgegenwart anderer göttlicher Personen wie der Mutter Gottes und der Heiligen, beginnen sie den Weg ihrer mystischen Erfahrungen ihrer Meinung nach mit Beziehungen zu übernatürlichen Persönlichkeiten. Wenn sie dann weiter auf dem Pfad fortschreiten — und alle Mystiker sind darin einig, daß dieser Vorgang ein echtes Fortschreiten ist, — sehen sie ihre Gesichte verschwinden, ihr Gewahrwerden von Persönlichkeiten verblassen, die Gefühlsergüsse, die in Gegenwart einer Person angemessen erschienen, durchaus unangemessen werden und endlich einem Zustand weichen, in dem es überhaupt keine Gemütsbewegung mehr gibt. Für viele christliche Mystiker war dies ein sehr schmerzlicher Vorgang. Diese angstvolle Qual, jede Verbindung mit Persönlichem zu verlieren, aufgeben zu müssen, was man seit je geglaubt hat, das ist es, was der heilige Johannes vom Kreuze die Nacht der Sinne nennt; und fast scheint diese selbe Qual auch ein Element jener noch furchtbareren Öde, der Nacht der Seele, zu sein. Der heilige Johannes vom Kreuze meinte, dass alle echten Mystiker notwendig durch diese schreckliche finstere Nacht hindurch müssen. Auf strenggläubige Christen trifft das wahrscheinlich zu ...

Bezeichnenderweise erleben nicht-strenggläubige Christen und nichtchristliche Mystiker, die sich zu einer Religion bekennen, welche Gott als unpersönlich ansieht, diese besondere Form der Seelenqual nicht. So erwähnt einer der bemerkenswertesten spätmittelalterlichen Mystiker, der Verfasser von »Die Wolke des Nichtwissens«, keine Phase seelischer Pein. Er hat tatsächlich keinen Grund, Pein zu fühlen. Von Anbeginn befasst er sich eher mit Gott-Vater als mit Gott-Sohn, und von Anbeginn nimmt er an, daß Gott unpersönlich ist. Es wird daher von ihm nie ein qualvoller Verzicht auf einen teuer gewordenen Glauben verlangt. Die Lehre, von welcher er ausgeht, wird bestätigt durch die unmittelbare Intuition einer letzten Wirklichkeit, die ihm in den Augenblicken mystischen Erlebens zuteil wird. Ebensowenig begegnen wir meines Wissens der dunklen Nacht der Seele in der Literatur der buddhistischen und hinduistischen Mystik. Auch für den orientalischen Mystiker steht der Glaube, von welchem er ausgeht, im Einklang mit dem Zeugnis seiner mystischen Erfahrung. Er muss keinen ihm wert gewordenen Glauben aufgeben; darum bringt ihm die Erleuchtung auch keine Seelenqual...

Nur systematisch geübte innere Sammlung und Meditation ermöglichen also die mystische Erfahrung, das unmittelbare Erschauen der letzten Wirklichkeit. Zu allen Zeiten und in allen Weltteilen waren die großen Mystiker darin einig, daß die letzte Wirklichkeit, die in der Meditation wahrgenommen wird, ihrem Wesen nach unpersönlich ist. Diese unmittelbare Intuition einer unpersönlichen geistigen Wirklichkeit, die allem Sinn zu Grunde liegt, steht im Einklang mit den Erkenntnissen der meisten Philosophen der Erde.

»Es besteht«,
so schreibt Whitehead in Religion in the Making, »eine weitverbreitete Übereinstimmung in der negativen Lehre, dass das religiöse Erlebnis keinerlei unmittelbare Intuition von einer bestimmten Person oder einem bestimmten Individuum einschließt... Die Behauptung einer weitgehenden, wenn auch nicht allgemeinen Übereinstimmung in der negativen Lehre, dass das religiöses Erlebnis keinerlei unmittelbare Intuition von einer bestimmten Person oder einem bestimmten Individuum einschließt ... Die Behauptung einer weitgehenden, wenn auch nicht allgemeinen Übereinstimmung der Lehre, dass es keine unmittelbare Schau eines persönlichen Gottes gibt, findet ihren Beweis in der Betrachtung des religiösen Denkens aller Kulturvölker [...]

Die heutige Auffassung von der geistigen Beziehung des Menschen zum Weltall wurde vorweggenommen durch die buddhistische Lehre, dass die Begierde die Quelle der Illusion ist. Die Seele ist in dem Maße frei von Illusion, als sie die Begierde überwunden hat. Das gilt nicht nur für den Wissenschaftler, sondern ebenso für den Künstler und Philosophen. Nur der selbstlose Geist kann über den Gemeinverstand und über die Grenzen des animalischen oder durchschnittlich sinnlichen Menschenlebens hinausgelangen. Der Mystiker zeigt den höchsten Grad der Selbstlosigkeit, den Menschen erreichen können, er vermag sich daher von der gewöhnlichen Begrenztheit vollkommener freizumachen als der Wissenschaftler, der Künstler oder der Philosoph. Was er jenseits der Welt des durchschnittlichen Sinnesmenschen entdeckt, ist eine geistige Wirklichkeit, die allen scheinbaren Einzelwesen einheitschaffend zugrunde liegt — eine Wirklichkeit, in der er aufgehen und aus der er sittliche, ja physische Kräfte ziehen kann, welche nach gewöhnlichen Maßstäben nur als übernormal bezeichnet werden können.

Die letzte Wirklichkeit, wie sie sich dem erschließt, der willens ist, sein Sein so zu verwandeln, dass er unmittelbare Erkenntnis von ihr gewinnt, ist, wie wir gesehen haben, nicht eine Persönlichkeit. Da sie nicht persönlich ist, haben wir kein Recht, ihr ethische Qualitäten zuzuschreiben. »Gott ist nicht gut«, sagt Meister Eckhart. »Ich bin gut.« Güte ist das Mittel, wodurch Menschen die Illusion, unabhängige Einzelwesen zu sein, überwinden und sich auf eine Ebene des Seins emporheben können, auf der es ihnen mög1ich wird, durch innere Sammlung und Meditation die Tatsache ihres Einsseins mit der letzten Wirklichkeit zu erfassen, diese zu erkennen und sich bis zu einem gewissen Grade wirklich mit ihr zu verbinden. Diese letzte Wirklichkeit ist »der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft«. Güte ist der Weg, auf welchem wir uns ihr nähern können. »Endliche Wesen«, um es mit Royces Worten zu sagen, »sind, was sie sind, infolge einer Unaufmerksamkeit, die sie für ihre wirkliche Beziehung zu Gott und zu einander blind macht.« Diese Unaufmerksamkeit ist, in der Sprache des Buddhismus, die Frucht der Begierde. Wir lassen es an Aufmerksamkeit für unsere wahre Beziehung zur letzten Wirklichkeit und, durch sie, zu unseren Mitmenschen fehlen, weil wir es vorziehen, auf unser animalisches Wesen und unser Fortkommen in der Welt aufmerksam zu sein. Es ist klar, dass wir das Animalische in uns und seine biologischen Bedürfnisse niemals ganz vernachlässigen dürfen. Unser Sonderdasein ist nicht durchaus Illusion. Das Element der Besonderheit in den Dingen ist eine nackte Erfahrungstatsache. Nicht einmal in der wissenschaftlichen und philosophischen Theorie läßt sich Mannigfaltigkeit restlos auf Einheit zurückführen, umso weniger im Leben, das wir als Körper leben, das heißt als besondere Gruppierungen letzter identischer Energieeinheiten. Es ist dem Wesen der Sache nach unmöglich, dem Animalischen in uns keine Aufmerksamkeit zu schenken, aber unter den Lebensbedingungen der Kultur ist es gewiss unnötig, ihm alle oder die meiste Aufmerksamkeit zu schenken. Güte ist die Methode, durch welche wir unsere Aufmerksamkeit von dieser besonders beschwerlichen Angelegenheit, dem animalischen Wesen, unserem eigenen Sonderdasein abwenden. Innere Sammlung und Meditation unterstützen die Güte auf zweierlei Art: indem sie, nach Babbits Worten, »eine überrationale Willenskonzentration hervorrufen«, und indem sie dem Geist den Zugang zu der Erkenntnis eröffnen — nicht nur theoretisch, sondern auch durch unmittelbare Intuition, — dass die Sonderwelt des durchschnittlichen Sinnenmenschen nicht identisch ist mit dem Weltall als Ganzem. Umgekehrt hilft Güte der Meditation natürlich dadurch, dass sie uns von dem animalischen Wesen
( =Tierhaftigkeit) ablöst (=trennt) und so dem Geist den Zugang eröffnet zu der Aufmerksamkeit auf seine wahre Beziehung zur letzten Wirklichkeit und zu den Mitmenschen (=andere Menschen) . Güte, Meditation, mystische Erfahrung und die letzte, in der mystischen Erfahrung entdeckte unpersönliche (keine sich selbst bewusste Eigenschaften habende) Wirklichkeit sind organisch verbunden. . .

Es ist dem Mystiker unmöglich, seiner wahren Beziehung zu Gott und den Mitmenschen Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er nicht zuvor seine Aufmerksamkeit von seinem animalischen Wesen und seinem gesellschaftlichen Erfolgstreben losgelöst hat. Er kann aber seine Aufmerksamkeit von diesen Dingen nicht anders loslösen als durch beharrliche und bewusste Übung der höchsten Sittlichkeit. Gott ist nicht gut; aber wenn ich auch nur die geringste Gotteserkenntnis haben will, muss ich wenigstens in einem geringen Maß gut sein; und wenn ich so vollständige Gotteserkenntnis will, als menschliche Wesen es haben können, muß ich so gut sein, als menschliche Wesen es sein können. Tugend ist die wesentliche Voraussetzung der mystischen Erfahrung. Und das ist nicht alles. Nicht einmal theoretisch ist eine letzte Wirklichkeit, welche unpersönlich und daher nicht moralisch ist, mit einer moralischen Ordnung auf der menschlichen Ebene unvereinbar. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass körperlich wie geistig eine Einheit den unabhängigen Einzelwesen zugrunde liegt, welche das Weltall des Gemeinverstandes erfüllen. Es ist nun eine Erfahrungstatsache, dass wir entweder unsere Abgegrenztheit gegen andere Wesen und die letzte Wirklichkeit der Welt unterstreichen können, oder unsere Einheit mit ihnen und mit ihr. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls ist unser Wille dabei frei. Menschen sind Geschöpfe, welche als animalische Wesen und Personen dazu neigen, sich als unabhängig und höchstens durch rein biologische Bande miteinander verknüpft anzusehen, aber soweit sie Animalität und Personalität überwinden, sich als Teile in unvergleichbar größeren physischen und geistigen Ganzen wahrzunehmen vermögen. Für solche Wesen lautet das grundlegende sittliche Gebot: Deine Einheit mit allem Sein verwirklichen! Menschen können aber ihre Einheit mit anderen und mit der letzten Wirklichkeit nicht verwirklichen, wenn sie sich nicht in den Tugenden der Liebe und des Verstehens üben. Liebe, Mitfühlen und Verstehen sind die primären Tugenden im ethischen System und organisch verbunden mit dem wissenschaftlich-mystischen Weltbild — wenn wir es nun so nennen dürfen. Die letzte Wirklichkeit ist unpersönlich und nicht-ethisch. Aber wenn wir unsere wahre Beziehung zur letzten Wirklichkeit und zu unseren Mitmenschen verwirklichen wollen, müssen wir Sittlichkeit üben und (da keine Persönlichkeit über sich selbst hinauszukommen vermag, wenn sie nicht entsprechend frei von äußerem Zwang ist) die Persönlichkeit der anderen achten. Der Glaube an einen persönlichen moralischen Gott hat nur allozuoft in der Theorie zu Dogmatismus und in der Praxis zu Unduldsamkeit geführt, zu einer beharrlichen Weigerung, Persönlichkeit zu achten, und zu Verübung jeder Art von Schändlichkeit im Namen der göttlich moralischen Person. »Auf der Tatsache der Unbeständigkeit des Bösen«, sagt Whitehead, »beruht die sittliche Ordnung der Welt.« Das Böse ist es, was Abgrenzung bewirkt; und was Abgrenzung bewirkt, ist selbstvernichtend. Diese Selbstvernichtung des Bösen kann plötzlich und gewaltsam sein, wenn etwa mörderischer Hass einen Konflikt auslöst, der zum Tode des Hassers führt; sie kann allmählich vor sich gehen, wenn Degeneration Kraftlosigkeit und Aussterben bewirkt; oder sie kann zu einer Besserung führen, wie eine lange Reihe böser Taten einen solchen Überdruss an Zerstörung und Entartung bei den Tätern hervorruft, dass sie sich entschließen, einen anderen Weg einzuschlagen, und so aus Bösem Gutes werden lassen.

Die Unbeständigkeit des Bösen wird uns von der Entwicklungsgeschichte des Lebens deutlich vor Augen geführt. Biologische Spezialisierung kann als das Bestreben einer Art angesehen werden, auf ihrer Abgegrenztheit zu bestehen; und das Ergebnis der Spezialisierung ist, wie wir gesehen haben, negativ verderblich, da es weiteren biologischen Fortschritt ausschließt, positiv verderblich, da es zum Aussterben der Art führt. Ebenso lässt sich innerartlicher Wettbewerb als das Bestreben zusammengehörender Einzelwesen ansehen in ihrer Abgegrenztheit und Unabhängigkeit zu beharren; die Wirkungen innerartlichen Wettbewerbs sind, wie wir gesehen haben, fast ausnahmslos schädlich. Dagegen sind die Eigenschaften, welche zu biologischem Fortschritt geführt haben, die gleichen, die es dem Einzelwesen erlauben, der Abgegrenztheit zu entkommen: Intelligenz und die Neigung zum Zusammenwirken. Liebe und Verstehen sind auch biologisch höchste Werte. Hass, Achtlosigkeit
(=unachtsam, keine Beachtung/Aufmerksamkeit schenken) , Dummheit aber und alles, was die Abgegrenztheit verschärft, führt — wie geschichtliche Tatsachen beweisen — dazu, dass die Art entweder ausstirbt oder ein lebendes Fossil wird, unfähig weiterer Entwicklung.
Enthalten in: Englische Geisteswelt . Von Bacon bis Eliot . Herausgegeben von Walter Schmiele (S.320-330)
Holle Verlag , Darmstadt