Jean Paul alias Johann Paul Friedrich Richter (1763 – 1825)
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Deutscher Schriftsteller; der aus einer ländlichen Predigerfamilie stammte und sein 1781 begonnenes theologisches Studium in Leipzig nach drei Jahren aus Geldmangel abbrechen musste. Danach war er Hauslehrer (1786), Leiter einer Privatschule (1790—94); in Weimar (1796; 1798—1800) schloß er Freundschaft mit Johann Gottfried. Herder. 1800—01 lebte er in Berlin, wo er 1811 Karoline Mayer heiratete. Seine ersten literarischen Arbeiten waren satirische Schriften (»Grönländische Prozesse«, 1783; »Auswahl aus des Teufels Papieren«, 1789). Mit dem »Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz in Auenthal, (gedruckt 1793) wandte er sich einer neuen Erzählweise zu. Die an Laurence Sterne und Henry Fielding anknüpfenden, mit der »Unsichtbaren Loge« (1793) und dem »Hesperus« (1795) beginnenden großen Erzählwerke erhoben den Roman in Deutschland zur führenden Gattung und machten ihn zum beliebtesten Dichter der Zeit. Höhepunkt seiner Kunst sind die Romane »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs« (1796/97, in dem die »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« enthalten ist). Seine dichterische Weltauffassung ist ebenso geprägt von dem durch Jean.-Jaques Rousseau geweckten schwärmerischen Gefühl wie von seinen Jugenderfahrungen der herrschenden sozialen Verhältnisse und von der Enttäuschung über den Verlauf der zunächst freudig begrüßten Französischen Revolution. In seinen Werken gestaltet er den Widerstreit zwischen Idealität und Banalität, Ewigkeit und Vergänglichkeit. Eine Lösung bringt der Humor, der die Gebrechen der Welt ohne Bitterkeit annimmt. Das Gewicht der Darstellung liegt auf den seelischen Vorgängen: die Figuren seiner Dichtung sind vielfältig: »hohe Menschen«, zerrissene tragische Gestalten (Roquairol im »Titan«), Sonderlinge. Er hält sich in den zumeist fragmentarischen Romanen an kein bestimmtes Baugesetz; Abschweifungen, Reflexionen, Kommentare durchbrechen ständig den Fortgang der Handlung; Gegenständliches wird Chiffre für Seelisches. In der »Vorschule der Ästhetik« behandelte Jean Paul u. a. Wesen und Form des Humors: in seiner Erziehungslehre »Levanas« (1807) und in seinen »Politischen Fastenpredigten« (1817) zog er pädagogische und politisch-soziale Folgerungen; dabei fußte er weitgehend auf Rousseau, Johann Bernhard Basedow und Pestalozzi; in seinen politischen Schriften stritt er für Freiheit und Gerechtigkeit und machte sich zum Anwalt der Unterdrückten. Die außerordentliche Wirkung, die ihn zum Lieblingsdichter vor allem der gebildeten Frauenwelt machte, verlor sich bereits in seinen letzten Lebensjahren. Erst durch Stefan George und die neuere Forschung wurde ein neues, wesentlich vertieftes Jean-Paul-Bild gewonnen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei
Der Schleier der Ewigkeit
Religiöse Metaphysik
Geburt des Ich
Verfall der Religion
Das sardonische Lachen des inneren Höllenhundes des Feldpredigers Schmelzle vor dem Altar
Rede
des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei
Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, dass
ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstört waren: so
würd‘ ich mich mit diesem Aufsatz erschüttern und — er
würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben.
Vorbericht
Das Ziel dieser Dichtung ist die Entschuldigung ihrer Kühnheit. Die Menschen
leugnen mit ebensowenig Gefühl das göttliche Dasein, als die meisten
es annehmen. Sogar in unsere wahren Systeme sammeln wir immer nur Wörter,
Spielmarken und Medaillen ein, wie geizige Münzkabinetter; — und
erst spät setzen wir die Worte in Gefühle um, die Münzen in Genüsse.
Man kann zwanzig Jahre lang die Unsterblichkeit der Seele glauben — erst
im einundzwanzigsten, in einer großen Minute erstaunt man über den
reichen Inhalt dieses Glaubens, über die Wärme dieser Naphtaquelle.
Ebenso erschrak ich über den giftigen Dampf, der dem Herzen dessen, der
zum erstenmal in das atheistische Lehrgebäude tritt, erstickend entgegenzieht.
Ich will mit geringem Schmerzen die Unsterblichkeit als die Gottheit leugnen;
dort verlier‘ ich nichts als eine mit Nebeln bedeckte Welt, hier verlier‘
ich die gegenwärtige, nämlich die Sonne derselben; das ganze geistige
Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose
quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen und auseinander
fliehen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein
Gottesleugner — er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den größten
Vater verloren, neben dem unermesslichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so
lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruhet
vor ihm wie die große, halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus
Stein, und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.
Auch hab‘ ich die Absicht, mit meiner Dichtung einige lesende oder gelesene
Magister in Furcht zu setzen, da wahrlich diese Leute jetzo, seitdem sie als Baugefangene beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie
in Tagelohn genommen worden, das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig
erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre.
Für andere, die nicht so weit sind wie ein lesender Magistrand, merk‘
ich noch an, daß mit dem Glauben an den Atheismus sich ohne Widerspruch
der Glaube an Unsterblichkeit verknüpfen lasse; denn dieselbe Notwendigkeit,
die in diesem Leben meinen lichten Tautropfen von Ich in einen Blumenkelch unter
eine Sonne warf, kann es ja im zweiten wiederholen; — ja, noch leichter
kann sie mich zum zweiten Male verkörpern als zum ersten Male.
Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief.
Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder
der Turmuhr, die elf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten
Nachtbimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle
sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen
des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern
flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der
bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder.
Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer, schwüler Nebel,
den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer
hereinzog. Ober mir hört‘ ich den fernen Fall der Lawinen, unter
mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte
auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr
miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen
wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und
unter dem Schimmer fiel das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des
Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen
Tore in zwei Gifthecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch
unbekannte Schatten, denen alle Jahrhunderte aufgedrückt waren. —
Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des
Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in der Kirche begraben worden, lag
noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden
Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat,
erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das
schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust
war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie
zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich
ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand
das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien, und das sein eigener
Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die
Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus
der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: ,,Christus, ist
kein Gott?“ Er antwortete: ,,Es ist keiner.“ Der Schatten jedes
Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde
durch das Zittern zertrennt. Christus fuhr fort: „Ich
ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen
durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so
weit das Sein seine Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: ,,Vater,
wo bist du ?,, Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert,
und der schimmernde Regenbogen aus Westen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf,
über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen
Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen
Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete
sich. — Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten;
denn Er ist nicht!“
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der
Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt, und alles wurde leer. Da kamen,
schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht
waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: ,Jesus, haben wir keinen Vater?“ — Und er antwortete mit strömenden
Tränen: ,,Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“
Da kreischten die Misstöne heftiger — die zitternden Tempelmauern
rückten auseinander — und der Tempel und die Kinder sanken unter
— und die ganze Erde und die Sonne sanken nach — und das ganze Weltbäude
sank mit seiner Unermesslichkeit vor uns vorbei — und oben am Gipfel
der unermesslichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen
durchbrochene Weltgebäude herab, gleichsam in das um die ewige Nacht gewühlte
Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie
Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen
Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah,
wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete,
wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet, so hob er groß
wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die
leere Unermesslichkeit und sagte: »Starres,
stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt
ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? — Zufall,
weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber
schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau
der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? — Wie ist jeder so
allein in der weiten Leichengruft des Alls! Ich bin nur neben mir. — O
Vater, o Vater! Wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe? —
Ach, wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht
auch sein eigner Würgengel sein?
Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer
der Natur oder sein Echo — ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die
Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab und dann entsteht ihr bewölkten,
wankenden Bilder. — Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen
Aschenwolken ziehen — Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die
Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. - Erkennst
du deine Erde?«
Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt‘
ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den
unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes
Bild und sagte noch im herben Tode: ,Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden
Hülle und heb‘ ihn an dein Herz‘... Ach, ihr überglücklichen
Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt eure Sonne unter,
und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet
die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum
aufgeschlossenen Himmel hinauf: ,Auch mich kennst du, Unendlicher, und alle
meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest
sie alle‘ . . . Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht
geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt,
um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern,
so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht — und
es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! — Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an, sonst hast du Ihn
auf ewig verloren.«
Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte, sah ich
die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All
gelagert hatte — und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das
All doppelt — dann wand sie sich tausendfach um die Natur — und
quetschte die Welten aneinander — und drückte zermalmend den unendlichen
Tempel zu einer Gottesackerkirche zusammen — und alles wurde eng, düster,
bang — und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die
letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern ... als
ich erwachte.
Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte —
und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als
ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen, purpurnen Kornähren
und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der
ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte
eine frohe, vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie
ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche
Töne aus, wie von fernen Abendglocken.
Aus: Jean Paul, Siebenkäs, Blumen-, Frucht und
Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St.
Siebenkäs
Nachzulesen in: Bezzenberger Hrg., Visionen der Christenheit, S.9-16, Omega
Verlag oder
Insel Taschenbuch 980, Jean Paul: Siebenkäs, S.274-280
Der Schleier der Ewigkeit
Du stehst vor dem großen Schleier, den die Ewigkeit trägt, und es
ist ein Trauerschleier - oder ein Isisschleier - oder der Schleier eines Mörders
- oder einer Schönheit - oder eines strahlenden Mosis-Angesichts - oder
der Schleier einer Leiche? - Ich antworte: Du wirst ihn einst aufheben: welchen
dein Herz verdient, den hast du aufgehoben. S.54
Der Mensch sieht nur das Spinnrad des Schicksals,
aber nicht die Spindel; daher sagt er: seht ihr nicht den ewigen leeren Kreislauf der Welt? S.54
Die Arme des Menschen strecken sich
nach der Unendlichkeit aus: alle unsere Begierden sind nur Abteilungen Eines
großen unendlichen Wunsches. Es ist sonderbar, dass man von der
Phantasie, deren Flügel einen unendlichen Raum
und eine unendliche Zeit bedecken wollen, weil
sie über jede endliche reichen, und von der Vernunft, die keine endliche Kausalreihe denken kann, nicht weiter fortgeschlossen
hat auf den Willen. Alle unsere Affekten führen
ein unvertilgbares Gefühl ihrer Ewigkeit
und Überschwenglichkeit bei sich - jede Liebe
und jeder Hass, jeder Schmerz und jede Freude fühlen sich ewig und
unendlich. So gibt es auch eine Furcht vor etwas Unendlichem, wovon die Gespensterfurcht
eine Äußerung ist. S.65f.
Mich ergriffe nicht das
Vergehen und Sterben; nicht die Kürze der Lebensdauer durch alles Lebendige
hindurch könnte mich betrüben: wäre nur an der Dauer selber etwas;
aber wenn nun diese Dauer selber nichts Festeres, Gediegneres hat als die dünnen
durchsichtigen Augenblicke, aus denen sie zusammenfließt?-
Es gibt keine Geschwindigkeit irgend einer Uhr, die dem Fliegen der Zeit
nachflöge und die mit ihr mitflöge. Denn wie schnell und unsichtbar
der Zeiger umrennte: so durchlief er doch seinen Raum und zerteilte ihn in die
kleinsten, obwohl unsichtbarsten Räume. S.68
Der hintergangene, bedeckte und vom Trauerschleier
zum Leichenschleier lebende Mensch glaubt, es gebe
kein Übel weiter als das, was er zu besiegen hat; und vergisset, daß
nach dem Siege die neue Lage das neue mitbringe. Daher geht - wie vor schnellen
Schiffen ein Hügel aus Wasser vorschwimmt und eine nachgleitende Wellengrube
hinter ihm zuschlägt - immer vor uns her ein Berg, den wir zu übersteigen
hoffen, und hinter uns nach eine Tiefe, aus der wir zu kommen glauben.S.69
Je älter die Erde wird, desto leichter kann sie als Alte prophezeien, und
wird prophezeien. Aus der Vorwelt spricht ein Geist, eine alte Sprache zu uns,
die wir nicht verstehen würden, wenn sie uns nicht angeboren wäre.
Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschauet.
Und was sagt er über die jetzige? Sehr harte Worte. — Er sagt, dass
die Zeit jetzo leichter ein großes Volk, als einen großen Mann aufstellt,
weil die Kultur und die Gewalt die Menschen wie Dunsttropfen ungeheurer Dampfmaschinen
eines Geistes zusammenfügt, so dass sogar der Krieg jetzo nur ein
Kriegspiel bloß zwischen zwei Lebendigen ist. Etwas, sagt er, müsse
in unserer Zeit untergegangen sein, weil sogar das gewaltige Erdbeben der Revolution,
vor welchem Jahrhunderte lang — wie bei physischen Erbeben — unendlich
viel Gewürm aus der Erde kroch und sie bedeckte, nichts Großes hervorbrachte
und nachließ, als am gedachten Gewürme schöne Flügel. Der
Geist der Ewigkeit, der das Herz und die Welt richtet, spricht strenge aus,
welcher Geist den jetzigen Begeisterten der Sinne und den Feueranbetern der
Leidenschaft fehle, der heilige des Überirdischen. Die Ruinen seines Tempels
senken sich immer tiefer in die jetzige Erde. Beten, glaubt man, ziehe die Irrlichter des Wahns an sich. Der Sinn und Glaube für das Außerweltliche, der
sonst unter den schmutzigsten Zeiten seine Wurzeln forttrieb, gewinnt in reiner
Luft keine Früchte. Wenn sonst Religion im Kriege war, so ist jetzo nicht
einmal in der Religion mehr Krieg — — aus
der Welt wurde uns ein Weltgebäude, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, aus der zweiten Welt ein Sarg.
Endlich hält noch der Geist der Ewigkeit uns unsere Schamlosigkeit vor,
womit wir die leidenschaftliche Brunst des Zorn-, des Liebe- und des Gierfeuers,
deren sich alle Religionen und die alten Völker und die großen Menschen
enthielten oder schämten, als ein Ehrenfeuerwerk in unserem Dunkel spielen
lassen; und sagt, dass wir, nur in Hass und Hunger noch lebendig,
wie andere zerfallende Leichen, eben nur die Zähne unverweslich behalten,
die Werkzeuge beides, der Rache und des Genusses. Leidenschaftlichkeit gehört
eben recht zum Siechtum der Zeit, nirgend wohnt so viel Aufbrausung, Nachlass,
Weichheit gegen sich und unerbittliche Selbstsucht gegen andere, als auf dem
Krankenbette. — Auf diesem aber liegt dieses Jahrhundert.
So spricht der strenge Geist in uns, der ewige; aber er mildert, wenn wir ihn
aushören.
Jede hohe Klage und Träne über irgend eine Zeit sagt, wie eine Quelle
auf einem Berge, einen höhern Berg oder Gipfel an. Nur Völker, welche
von Jahrhundert zu Jahrhundert sumpfig fortbestehen, klagen nicht über
sich, sondern über andere, und bleiben eingesunken; und die geistigen Fallsüchtigen
der französischen Philosophie haben, wie körperliche, kein Bewusstsein ihres Übels, sondern nur Stolz auf Kraft. Die geistige Trauer ist, wie
nach den Griechen die Nacht, eine Göttermutter, wenn die leibliche ein
dunkler Nebel ist, der Gift und Leichen birgt. S.102ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band
153, Jean Paul, Weltgedanken und Gedankenwelt Aus seinem Werk ausgewählt
und aufgebaut von Richard Benz
©1938 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Religiöse
Metaphysik
Alles Heilige ist früher als das Unheilige; Schuld setzt Unschuld voraus, nicht umgekehrt; es werden Engel, aber nicht gefallne, geschaffen. Daher kommt
eigentlich der Mensch nicht zum Höchsten hinauf, sondern immer von da herab
und erst dann zurück empor; und nie kann ein Kind für zu unschuldig und gut gehalten werden. So nun erscheint eben darum den Völkern und Einzelwesen
der Unendliche früher als das Endliche, ja als das Unendliche, so wie die
Allmacht der jungen Natur früher die festen Sonnen gebar, als die Erden,
die um sie laufen.
Schliefe nicht eine ganze religiöse Metaphysik träumend schon im Kinde:
wie wären ihm denn überhaupt die inneren Anschauungen von Unendlichkeit,
von Gott, Ewigkeit, Heiligkeit usw. zu geben, da wir sie durch keine äußern
vermitteln können und nichts zu jenen haben als das leere Wort, das aber
nur erwecken, nicht erschaffen kann?
Wie Sterbende und Ohnmächtige innere Musik hören, welche kein Außen
gibt: so sind Ideen solche innere Töne. Überhaupt sogar die Fragen,
d. h. die Gegenstände der eigentlichen Metaphysik sind in Kindern wie in
ungelehrten Ständen, nur unter andern Wortleitern, lebendiger und gewöhnlicher,
als man voraussetzt; und das vierjährige Kind fragt schon nach dem, was
hinter den Brettern der umschlossnen Welt liegt, und nach dem Entstehen Gottes. Die Religion ist jetzo keine Nationalgöttin mehr, sondern
eine Hausgöttin. Unsere kleine Zeit ist ein Vergrößerungsglas,
durch welches, wie bekannt, das Erhabne als flach und platt erscheint. Da wir
nun alle unsere Kinder in eine städtische Nachzeit hinausschicken, wo die
geborstenen Kirchenglocken nur noch dumpf den Volk-Markt zur Kirchenstille rufen:
so müssen wir ihnen eifriger als sonst ein Herz mit einem Bethause mitzugeben
suchen, und gefaltete Hände und die Demut vor der unsichtbaren Welt, wenn
wir eine Religion glauben, und sie unterscheiden von der Sittlichkeit. Die Geschichte
der Völker entscheidet für diese Absonderung. Es gab viele Religionen,
aber es gibt nur ein Sittengesetz: in jenen wird immer ein Gott ein Mensch,
und also mannigfaltig umhüllt, in diesem ein Mensch zum Gott, und entkleidet. Das Mittelalter hatte neben dem moralischen Kirchhof voll Leichen
und Unkraut, voll Grausamkeit nach Wollust, doch Kirche und Turm für den
Religionsinn. Umgekehrt sind in unserm Zeitalter die heiligen Haine der Religion gelichtet und abgetrieben, die Landstrassen der Sittlichkeit aber gerader
und sicherer geführt. — Wie man in den Städten, wo man nicht breit bauen kann, hoch bauet: so bauen wir umgekehrt in die Breite, statt in die Höhe; weiter
über die Erde, als in den Äther. Was ist nun Religion? — Sprecht die Antwort betend aus:
der Glaube an Gott; denn sie ist nicht nur der Sinn für das Überirdische
und das Heilige, und der Glaube ans Unsichtbare, sondern die Ahnung dessen,
ohne welchen kein Reich des Unfasslichen und Überirdischen, kurz kein
zweites All nur denkbar wäre. Tilgt Gott aus der Brust, so ist alles, was
über und hinter der Erde liegt, nur eine wiederholende Vergrößerung
derselben: das Überirdische wäre nur eine höhere Zahlenstufe
des Mechanismus, und folglich ein Irdisches.Wenn die Frage geschieht, was meinst du mit dem Laute Gott: so
lass‘ ich einen alten Deutschen, Sebastian Frank,
antworten: »Gott ist ein unaussprechlicher
Seufzer, im Grunde der Seelen gelegen.« Wer etwas Höheres im Wesen, nicht bloß im Grade sucht,
als das Leben geben oder nehmen kann, der hat alle Religion; glaub‘ er
dabei immerhin nur ans Unendliche, nicht an den Unendlichen, nur an die Ewigkeit
ohne Ewigen, gleichsam, als Widerspiel anderer Maler, die Sonne zu keinem Menschenantlitz
ausmalend, sondern dieses zu jener abrundend. Denn wer allen Leben für
heilig und wundersam hält, es wohne bis ins Tier und in die Blume hinab;
wer, wie Spinoza, durch sein edles Gemüt weniger auf der Stufe und Höhe,
als auf Flügeln schwebt und bleibt, von wo aus das All rings umher —
das stehende und das geschichtlich bewegliche — sich in Ein ungeheures
Licht und Leben und Wesen verwandelt, so dass er sich selber in das große
Licht aufgelöset fühlt und nun nichts sein will, als ein Strahl im
unermesslichen Glanze: der hat und gibt folglich Religion, da das Höchste
stets den Höchsten, wenn auch formlos, spiegelt und zeigt hinter dem Auge.
S.85ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band
153, Jean Paul, Weltgedanken und Gedankenwelt Aus seinem Werk ausgewählt
und aufgebaut von Richard Benz
©1938 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Geburt
des Ich
Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiß geboren, und vom Leben zum
Schwarzen gefärbt. Wenn in den alten Jahren die größten Beispiele
moralischer Momente vor uns vorübergehen, ohne unser Leben mehr aus seiner
Bahn zu rücken, als ein vorbeifliegender Bartstern die Erde: so wirft im
tiefen Stande der Kindheit der erste innerliche oder äußerliche Gegenstand
der Liebe, der Ungerechtigkeit usw. Schatten oder Licht unabsehlich in die Jahre
hinein; und wie nach den älteren Theologen nur die erste Sünde Adams,
nicht seine andern Sünden auf uns forterbten, da wir mit einem Falle schon
jeden andern Fall nachtaten: so bewegt der erste Fall und der erste Flug das
ganze lange Leben. Denn in dieser Frühe tut der Unendliche das zweite Wunder:
Beleben war das erste. Es wird nämlich von der menschlichen Natur der Gottmensch empfangen; so nenne man kühn jenes Selberbewußtsein, wodurch zuerst
ein Ich erscheint, ein Gewissen und ein Gott — und unselig ist die Stunde,
wo diese Menschwerdung seine unbefleckte Empfängnis findet, sondern wo
in derselben Geburtminute der Heiland und sein Judas zusammentreffen.
S.89
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band
153, Jean Paul, Weltgedanken und Gedankenwelt Aus seinem Werk ausgewählt
und aufgebaut von Richard Benz
©1938 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Verfall
der Religion
Eine Religion nach der andern lischt aus, aber der religiöse Sinn, der
sie alle erschuf, kann der Menschheit nie getötet werden; folglich wird
er sein künftiges Leben nur in mehr geläuterten Formen beweisen und
führen. Wenn Tyrtäus sagt: Gott sei den Menschen anfangs in ihrer
Gestalt erschienen, dann als Stimme, später nur im Traume und durch Erleuchtung:
so nimmt dies eine schöne Deutung für unsere Zeit und die späten
Zeiten an, wenn man unter Traum Poesie, und unter Erleuchtung Philosophie versteht.
So lange das Wort Gott in einer Sprache noch dauert und tönt: so richtet
es das Menschenauge nach oben auf. Es ist mit dem Überirdischen, wie mit
der Sonne, welche in einer Verfinsterung, sobald auch nur der kleinste Rand
von ihr noch unbedeckt leuchten kann, stets den Tag forterhält, und sich
selber gerundet in der dunklen Kammer abmalt.
Unsere jetzige Zeit ist zwar eine kritisierende und kritische; — schwebend
zwischen dem Wunsche und dem Unvermögen zu glauben — ein Chaos wider
einander arbeitender Zeiten: - aber auch eine chaotische Welt muß Einen
Punkt und Umlauf um den Punkt und Äther dazu haben; es gibt keine reine
bloße Unordnung und Streitigkeit, sondern jede setzt ihr Gegenteil voraus,
um nur anzufangen.
Die jetzigen Religionkriege auf dem Papier und im Kopfe — verschieden
von den vorigen, welche Gewitter voll Glut, Sturm,
Verheerung und Befruchtung waren — sind mehr den Nordscheinen
(Gewitter höherer, kälterer Himmelgegenden) ähnlich, voll lärmender Lichter ohne Schläge, voll Gestaltungen
und voll Frost, ohne Regen und in der Nacht. Bildet denn nämlich nicht
das kecke Selberbewußtsein das Sein dieser Zeit — den ursprünglichen
Menschen- und Geistescharakter nur weiter und kühner fort und aus? Und
könnte der Menschencharakter, das geistige Wachen je zu wach werden? —
Bloß nicht genug wach wird es jetzo; denn da zur Besonnenheit ein Gegenstand
derselben gehört, wie zur Unbesonnenheit dessen Entbehrung: so sind die
gemeinen Herzen der Zeit viel zu verarmt, um der Besinnung ein reiches Feld
zu geben.
Aber eine seltsame immer wiederkommende Erscheinung ist‘s, daß jede
Zeit einen neuen Lichtanbruch für Schadenfeuer der Sittlichkeit gehalten,
indes jede selber um eine Lichtstufe sich über die vorige, dem Herzen unbeschadet,
erhoben findet. Sollte vielleicht, da das Licht schneller geht als die Wärme,
und die Umarbeitung des Kopfes schneller als die des Herzens, der Lichteinbruch
immer durch seine Plötzlichkeit dem unvorbereiteten Herzen feindlich erscheinen? –
S.105f.
Kröner Stuttgart, Kröners
Taschenausgabe Band 153, Jean Paul, Weltgedanken und Gedankenwelt Aus seinem
Werk ausgewählt und aufgebaut von Richard Benz
©1938 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Das sardonische Lachen des inneren Höllenhundes des Feldpredigers Schmelzle vor dem Altar
Es war bei meiner Ordination zum Feldprediger, als ich zum heiligen Abendmahle ging am ersten Ostertag. Während ich nun so dastand, weich bewegt vor dem Altargeländer mit der ganzen Männer-Gemeinde – ja, ich vielleicht stärker gerührt als einer darunter, weil ich als ein in den Krieg Ziehender mich ja halb als einen Sterbenden betrachten durfte, der nun wie ein zu Henkender die letzte Seelen-Mahlzeit empfängt –, so warf in mir mitten in die Rührung von Orgel und Sang etwas – sei es nun der erste Osterfeiertag gewesen, der mich auf das sogenannte alte christliche Ostergelächter brachte, oder der bloße Abstich teuflischer Lagen gegen die gerührtesten – kurz etwas in mir (weswegen ich seitdem jeden Einfältigern in Schutz nehme, der sonst dergleichen dem Teufel anschrieb!) – dies Etwas warf die Frage in mir auf: »Gäb' es denn etwas Höllischeres, als wenn du mitten im Empfange des Heiligen Abendmahls verrucht und spöttisch zu lachen anfingest?« Sogleich rang ich mich mit diesem Höllenhund von Einfall herum – versäumte die stärksten Rührungen, um nur den Hund im Gesichte zu behalten und abzutreiben – kam aber, von ihm abgemattet und begleitet, vor dem Altars-Schemel mit der jammervollen Gewißheit an, daß ich nun in kurzem ohne weiteres zu lachen anfangen würde, ich möchte innen weinen und stöhnen, wie ich wollte. Als daher ich und ein sehr würdiger alter Bürgermeister uns miteinander vor dem langen Geistlichen verbeugten und letzterer mir (vielleicht kam er mir auf dem niedrigen Kniepolster zu lang vor) die Oblate in den klemmen Mund steckte: so spürt' ich schon, daß an den Mundwinkeln alle Lachmuskeln sardonisch zu ziehen anfingen, die auch nicht lange an der unschuldigen Gesichtshaut arbeiteten, als schon ein wirkliches Lächeln darauf erschien – und als wir uns gar zum zweiten Male verneigten, so grinst' ich wie ein Affe. Mein Nebenmann, der Bürgermeister, redete ganz mit Recht, als wir hinter den Altar um gingen, mich leise an: »Um Gottes Willen, sind Sie ein ordinierter Prediger oder ein Pritschenmeister? – Lacht denn der lebendige Gott-Seibeiuns aus Ihnen?« – »Ach Gott! wer denn sonst?« sagt' ich; erst nachher bracht' ich meine Andacht ernsthafter zu Ende.
Aus: Jean Paul,
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz, Sämtliche Werke Band 6