Das Jenseits
Unter dem »Jenseits« wird im Allgemeinen die übernatürliche Ewigkeitssphäre (zeitloser göttlicher Wirkungsort) verstanden, in der Gott residiert und alles andere regiert. Diese »jenseitige« Sphäre kann mit unseren neun normalen Sinnen : Sehsinn (Auge), Hörsinn (Ohr), Riechsinn (Nase), Tastsinn (Finger), Temperatursinn (Haut), Geschmackssinn (Zunge, Gaumen), Schmerzsinn (Nerven), Gleichgewichtssinn (Innenohr), Tiefensensibilitätssinn (körperliche Eigenwahrnehmung: Lage-, Kraft- und Bewegungssinn) in der Regel auf Erden nicht wahrgenommen werden. Der Gegensatz ist »das Diesseits«, das ist die Welt, in die wir zum Sterben hineingeboren werden und die wir mit unseren neun Sinnen hautnah mit all ihren Freuden und Leiden bis zu unserem körperlichen Tode »durchleben« müssen.


Friedrich Wilhelm Nietzsche
(1844 - 1900)
Das jenseitige Leben weg? - man hat dem Leben seine Pointe genommen.

Nietzsche, Die Unschuld des Werdens 2.Teil, Kröner Bd 83, S.348

Carl du Prel
(1839 – 1899)
Der Mensch lebt gleichzeitig im Jenseits als transzendentales Subjekt und im Diesseits als irdischer Mensch. Die beiden Daseinsweisen sind verschieden in Bezug auf Erkenntnisformen und Wirkungsweise. Jenseits und Diesseits sind nicht räumlich getrennt, sondern nur durch die Empfindungsschwelle, der gemäß das sinnliche Bewusstsein nur das irdische Dasein umfasst. Das Jenseits ist das anders angeschaute Diesseits. Eine monistische Erklärung des irdischen Menschen, nach Körper und Geist, erfordert den Nachweis des denkenden und organisierenden Prinzips in einem tanszendentalen Subjekt, womit gleich für die Geheimwissenschaften die Grundlage gewonnen ist. Die Kräfte und Fähigkeiten des transzendentalen Subjekts, insofern sie uns ausnahmsweise im Diesseits bewusst werden (Somnambulismus) und aus dem Jenseits in das Diesseits übergreifen (Spiritismus), bilden den Gegenstand der Geheimwissenschaften.
Carl du Prel: Das Rätsel des Menschen, S.158, R. Löwit . Wiesbaden

Avicenna, arabisch: Ibn Sina (980 - 1037)
Er (der Berufene, der Gesandte) teilt den Menschen mittels dieser Bilder jenes Maß der Erkenntnis Allahs mit, das heißt, er lehrt sie, dass Allah nichts gleichkommt, dass er keinen (anderen) Gott neben sich hat und dass ihm kein Wesen ebenbürtig ist.

In der gleichen Weise muss den Menschen die Lehre über das Jenseits klargelegt werden in einer Art und Weise, wie sie sich dieses Jenseits überhaupt vorstellen können und so, dass es ihre Seelen beruhigt.

Daher muss er die Lehre über das Glück und Unglück des jenseitigen Lebens in Gleichnissen vorführen, die aus den Vorstellungen hergenommen sind, die die Menschen verstehen und sich innerlich vergegenwärtigen können ... Die Predigt des Gesandten muss— darin ist kein Schaden — in Zeichen und Andeutungen bestehen. Diese fordern die, welche durch ihre Naturanlage für philosophische Untersuchung begabt sind, auf, die Wahrheit wissenschaftlich zu erforschen.

Nach: M. Haller, Die Metaphysik Avicennas, Halle- New York 1907 (S.661-666)
Text auch enthalten in: Islamische Geisteswelt von Mohammed bis zur Gegenwart . Herausgegeben von Rudolf Jockel (S.157-160)
Holle Verlag , Darmstadt

Günther Bornkamm
(1905 – 1990)
Man darf die Welt und das Reich Gottes, Diesseits und Jenseits , nicht einfach vermengen. Die Welt hat ihre eigenen Gesetze, gegen die nur Stürmer und Utopisten anrennen. Gottes Reich ist eine Sache der Innerlichkeit, der privaten Sphäre des Herzens, der Gesinnung, des Glaubens und der Hoffnung auf eine Erfüllung in einer besseren, jenseitigen Welt. Hier die rauhe Wirklichkeit und dort das Ideal.

Ludwig Büchner (1824 – 1899)
Die ursprüngliche Religion des großen Konfutse weiß nichts von einem himmlischen Jenseits . Der Buddhismus, welcher zweihundert Millionen Anhänger zählt, kennt weder Gott noch Unsterblichkeit und predigt das Nichtsein als das höchste Ziel der Befreiung . Die edle und in vielen Stücken der Bildung unsere eingebildete Jetztwelt weit überragende Nation der Griechen kannte nur ein Jenseits der Schatten, und dass im ganzen römischen Altertume der Unsterblichkeitsglaube ein äußerst schwacher und seltener war, ist bekannt. -

Thomas Carlyle (1795 – 1881)
Zukunft der Religion
»Die Zeit wird kommen,« sagt Lichtenberg mit bitterer Ironie, »wo der Glaube an Gott sein wird, wie der Glaube an Ammenmärchen,« oder wie Jean Paul sich ausdrückt, wo man »aus der Welt eine Weltmaschine, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, und aus dem Jenseits einen Sarg« machen wird. Wir aber glauben, dass ein solcher Tag nicht kommen wird. Auf alle Fälle gestatte man, während die Schlacht noch wogt und diese Sarg- und Gasphilosophie sich noch mit Zehnten und peinlichen Statuten gewappnet hat, dem Mystizismus oder was sich sonst auf ehrliche und redliche Weise dieser Philosophie widersetzt, freien Spielraum. Unparteilichkeit und freie Bahn und das Recht wird den Sieg behaupten.
Aus: Thomas Carlyle: Arbeiten und nicht verzweifeln. Auszüge aus seinen Werken. Deutsch von Maria Kühn und U. Kretzschmar, Karl Robert Langwiesche Verlag. Königstein i.T. und Leipzig. S.84ff., 140f .


Hoimar von Ditfurth (1921 - 1989)
Wo die Realität nicht enden kann
Religion ist in ihrem Kern die Überzeugung von der Realität einer die erlebte Wirklichkeit umfassenden, sie transzendierenden jenseitigen Wirklichkeit .

Dieser zentrale religiöse Begriff aber musste im Rahmen eines statischen Weltbildes, eines die Welt und den Menschen als unverändert und endgültig ansehenden Verständnisses im Laufe der Zeit an Überzeugungskraft verlieren. Er geriet in dem Augenblick in Gefahr, in dem sich die Möglichkeit abzeichnete, dass es dem menschlichen Verstande gelingen könnte, die Welt zu verstehen. Angesichts einer in sich geschlossenen, rational verständlichen Gesetzen gehorchenden Welt nahm die Frage nach dem Jenseits zwangsläufig einen mehr und mehr rhetorischen Charakter an: Wo denn sollte dieses Jenseits eigentlich noch existieren können?

Je weiter die menschliche Ratio in die Tiefen dieser Welt eindrang, um so kleiner wurde der Raum, in dem die Theologen ihren Himmel noch unterbringen konnten. Der Biologe Ernst Haeckel sprach ebenso bissig wie — im Rahmen des statischen Weltbildes — treffend von der zunehmenden »Wohnungsnot Gottes «.

Denn die von den Theologen unbeirrt vorgetragene Behauptung, dass das Reich Gottes »jenseits« dieser Welt liege, schien — in einer abgeschlossenen Welt ausgesprochen — auf einen Ort zu verweisen, für den sich, in jedem Sinne dieses Wortes, kein Platz mehr finden ließ.

In einer noch werdenden, ihrer Vollendung durch Evolution erst noch entgegengehenden Welt ergeben sich ganz andere Voraussetzungen.

Die Tatsache der Evolution — ausgerechnet dieses von vielen Mitmenschen noch immer als angeblich religionsfeindlich abgelehnte Konzept! — hat uns die Augen dafür geöffnet, dass die Realität dort nicht enden kann, wo die von uns erlebte Wirklichkeit zu Ende ist. Nicht die Philosophie, nicht die klassische Erkenntnistheorie, die Evolution erst zwingt uns zur Anerkennung einer den Erkenntnishorizont unserer Entwicklungsstufe unermesslich übersteigenden »weltimmanenten Transzendenz«.

Diese ist, wie ich ausdrücklich wiederholen möchte, keineswegs etwa schon identisch mit dem Jenseits der Theologen. Ihre Entdeckung aber bewirkt so etwas wie eine Öffnung unserer bisher gegen jede ernst zu nehmende derartige Möglichkeit so erbarmungslos geschlossen wirkenden Welt. Eine Öffnung, hinter der eine ontologische Stufenleiter immer vollendeter entwickelter Erkenntnisebenen sichtbar wird, als deren letzte wir uns dann, ohne daß uns jemand widersprechen könnte, auch jenen
»Himmel« denken dürfen, in dem nach religiösem Verständnis der Schlüssel liegt zum Sinn unserer unvollkommenen Welt.
Aus: Hoimar von Ditfurth: Wir sind nicht von dieser Welt, Naturwissenschaft, Religion und die Zukunft des Menschen S.300-301
Hoffman und Campe Verlag, Hamburg Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis von Frau Heilwig von Ditfurth

Karlheinz Deschner
(1924 - )
Und die Hölle?! Ah, ja, jaaah, wohl ist‘s euch da ums Herz, warm. Erst jetzt leuchtet ihr wie der aufgehende Vollmond, jetzt erst kommt der volle Glanz in euer Jenseitsauge. (Ja, gegen euren Hass, Herrschaften, unsre Häme; gegen eure Lügen- und Verleumder- unsre Lästerzunge!) Jetzt erst triumphiert ihr ganz und gar, jauchzt eure Seele, eure schöne, im Herrn, in eurem göttlichen Marquis (de Sade verzeihe mir). Denn euch erwischt es nicht, o nein, ihr seid gerettet, gerettetet, seid bei den Happy few, den »wenigen«, denen euer »Wort Gottes« das Paradies verheißt. Nur Kerle wie meinesgleichen, den antichristlichen Abschaum, die Frivolen, Negativisten, Advocati diaboli, die ereilt, die trifft sie, eure »Vollkommenheit aller Vollkommenheiten«; aber auch Christen freilich, haufenweise, Gläubige jeder Facon, die halbe Menschheit, mehr als das, die »massa perditionis«, ewig durch den Allerbarmenden in der Hölle gezwickt, gezwackt, gepiesackt, ewig geröstet, gebraten, gesotten, ewig lechzend, ewig hechelnd nach eurem postmortalen Spießer- und Sadistenglück. Ach, ich schrieb es schon einmal: Was ist die Hölle von Auschwitz neben der ewigen Hölle! Neben dieser eeewigen Qual, diesem eeewigen Entzücken dazu für euch Edelmenschen, euch glitzernde, tönende Lichtgestalten, die ihr euch weidet, aalt und eeewig labsalt an dem Unglück eures Sohnes, eurer Mutter, Oma, dem eeewigen Elend eurer Nächsten, eures guten Nachbarn auch, an eurer Feinde Jammer, ad infinitum frohlockt darüber zur Vertiefung eures Kitzels, all der Wonnen eures Nächstenliebe-, Feindesliebe-Glücks, jubelt von Tertullian schon über den hl. Papst Leo 1., »den Großen», den hl. Petrus Lombardus, hl. Bonaventura, hl. Thomas von Aquin bis zu Fräulein Müller, Hermann Mayer und Frau von Perfid. Ja, »Beweise deine wunderliche Güte« (Ps. 17,7).
Aus: Jan Brauers (Hrsg.), Mein Gottesbild, Fünfzig Beiträge namhafter Autoren (S.43-45, 55-58)
© 1990 by nymphenburger in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Hermann Ebbinghaus
(1850 – 1909)

Natürlich bedarf nun die Aufrechterhaltung des Glaubens an die Götter der Übereinstimmung mit der Erfahrung oder doch der Vermeidung allzu starker Widersprüche mit ihr, namentlich bei der Frage nach den Erfolgen des göttlichen Wirkens. Stimmt die erhaltene Aufklärung über die Zukunft mit dem Lauf der Dinge überein, wird die drohende Gefahr glücklich bestanden, so ist handgreiflich der klarste Beweis erbracht für die Hilfe des Gottes, für seine Macht, für die Wahrheit des Glaubens an ihn. Vielfach indes entspricht der Erfolg der Gebete und Opfer nicht den Erwartungen. Aber da erbetene Hilfe von Menschen auch nicht immer gewährt wird, so bieten sich dafür mannigfache Erfahrungen als Erklärung dar. Vielleicht war das Gebet nicht stark genug, das Opfer nicht in den richtigen Formen dargebracht oder nicht am richtigen Orte; »Jerusalem ist die Stätte, da man anbeten soll.« Oder der Bittende hat Gott beleidigt, erzürnt; es geschieht ihm ganz recht, dass er jetzt dafür durch Nichterhörung gestraft wird; »meinest du, daß Gott unrecht richte?« Oder wenn er selbst glaubt, gerecht gegen Gott bestehen zu können, gegen Gott, der doch auch seine geheimsten Verfehlungen kennt, vielleicht hat ihm Gott eine Prüfung schicken wollen, ob auch sein Glaube standhielte und seine Frömmigkeit nicht wiche, wenn Gesundheit und äußere Güter sie nicht belohnen. Oder endlich: die Wege und Gerichte Gottes sind unerforschlich; »wer hat des Herrn Sinn erkannt?« wer ihm etwas vorweg gegeben, dessen Wiedervergeltung er fordern dürfte?

Er handelt nach seiner Weisheit; der Mensch hat sich in Demut zu beugen. Bisweilen freilich wird diese Unterwerfung und die Anpassung des Glaubens an widerstreitende Erfahrungen sehr schwer. Wenn der Gläubige und Gott untadelig Dienende doch dauernd leidet, die Gottlosen dagegen und Gottes Spottenden nicht geplagt werden, sondern »glückselig sind in der Welt und reich werden«, so ist es nicht leicht, ein Straucheln der Gedanken zu verhüten und ein Irrewerden an Gott. Doch der Glaube findet die Lösung, nicht überall, aber an manchen Stellen, und schon seit Jahrhunderten ist sie jetzt aus einer Geheimlehre hellenischer Sekten zu einer über den ganzen Erdball verkündeten Botschaft geworden: selbst die bis hin zum Grabe nicht befriedigte Hoffnung auf Gott findet noch ihre volle Erfüllung. Über das Grab hinaus trägt der Glaube die Jenseits hoffnung. Gerade jenes Unbegreifliche ist die von Gott gewollte Ordnung. Der Fromme muss leiden. Sein gegenwärtiges Leben ist nur ein einleitender und untergeordneter Teil seines ganzen Daseins. Die Seele lebt ewig, vorübergehend an den Leib und seine Bedürfnisse gebunden, hinterher dauernd ohne ihn. Wer nun in dem jenseitigen, leibfreien Dasein des darin bereiteten Glückes teilhaftig werden will, muss sich in diesem schon darauf vorbereiten durch Hinwendung zu Gott und Abkehr von dem Fleisch und seinen Genüssen, d. h. eben durch Leiden. Dafür wird er dann dort durch ewige Freuden belohnt werden, ganz anders, als sie die Welt zu bieten vermag, durch Teilnahme an der wunschlosen Seligkeit Gottes; den Gottlosen dagegen treffen ewige Strafen.

Aus: Hermann Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, Verlag von Veit & Comp. In Leipzig 1909

Friedrich Engels (1820 – 1895)
Die Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Leibes war allmählich überall in der römischen Welt anerkannter Glaubensartikel geworden. Auch eine Art Belohnung und Bestrafung der verstorbnen Seele für die auf Erden begangnen Handlungen wurde mehr und mehr allgemein angenommen. Mit der Belohnung sah es allerdings ziemlich windig aus; das Altertum war viel zu naturwüchsig-materialistisch, um nicht auf das irdische Leben unendlich höheren Wert zu legen als auf das im Schattenreich; bei den Griechen galt das Fortleben nach dem Tod vielmehr als ein Pech. Da kam das Christentum, machte Ernst mit der Belohnung und Bestrafung im Jenseits , schuf Himmel und Hölle, und der Ausweg war gefunden, der die Mühseligen und Beladnen aus diesem irdischen Jammertal hinüberführte ins ewige Paradies. Und in der Tat, nur mit der Aussicht auf eine jenseitige Belohnung war es möglich, die stoisch-philonische Weltentsagung und Askese zum ethischen Grundprinzip einer neuen, die unterdrückten Volksmassen hinreißenden Weltreligion zu erheben.

Urchristentum
Engels an Karl Kautsky in Stuttgart; London, 28. Juli 1894
1. Ich bezeichne, wenn ich mich anders richtig ausgedrückt, Kleinbauern und Landsklaven keineswegs als unter den ersten Anhängern des Christentums, sondern zähle sie nur auf unter den Klassen, unter denen es auf mögliche Anhänger rechnen konnte. Und dazu gehörten sie ganz gewiß — besonders im 2. und 3. Jahrhundert. Dass das Christentum, seit seiner ersten Auswanderung aus Judäa nach Nordsyrien und Kleinasien, resp. Griechenland, Ägypten und Italien, seine Entwicklung und erste Anhängerschaft in den Städten fand, darüber ist kein Zweifel.

2. Ob das 1000jährige Reich ins Diesseits oder Jenseits gehört? das kommt drauf an, wie man‘s versteht. Ich nenne Jenseits , was nach dem Tode ist . Und darüber läßt die Offenbarung absolut keinen Zweifel. Das 1000jährige Reich ist nur für die Märtyrer, und allenfalls die dann bei seiner Errichtung grade noch lebenden Christen, und sofern für diese letzteren diesseitig , während es f ür die Märtyrer , die erst auferstehn, jenseitig ist. Es ist also die alte Geschichte: you pays your money and you takes your choice [für dein Geld kannst du wählen, was du willst] . Das Entscheidende ist für mich, dass es ohne Unsterblichkeitsvorstellung und Glauben an jenseitige Belohnung und Bestrafung nicht möglich ist. Und noch viel weniger diesseitig ist erst das neue Jerusalem, das nach dem 1000jährigen Reich und dem Jüngsten Gericht kommen soll.

Aber auch nach den sog. Paulinischen Briefen sollen die noch lebenden Gläubigen bei der Wiederkunft Christi »verwandelt«, aus Sterblichen in Unsterbliche umtransmagnifiziert werden.

Daß dabei dies 1000jährige Reich in irdischen Farben geschildert wurde, versteht sich. Selbst die Offenbarung kann sich nicht mit der himmlischen Freude begnügen, wonach man mit nacketen 4 Buchstaben auf einer feuchten Wolke sitzt und mit mehr oder weniger blut‘ger Hand die Harfe schlägt und Chorale singt in
Ewigkeit . S.144-153
Aus: Karl Marx / Friedrich Engels: Über Religion, [Engels: Zur Geschichte des Urchristentums]

Ludwig Feuerbach
(1804 – 1872)
Der Widerspruch von Glaube und Liebe
Was Gott verdammt, verdammt der Glaube , und umgekehrt. Der Glaube ist ein sein Gegenteil schonungslos verzehrendes Feuer. Dieses Feuer des Glaubens als gegenständliches Wesen angeschaut ist der Zorn Gottes, oder, was eins ist, die Hölle , denn die Hölle hat offenbar ihren Grund im Zorn Gottes. Aber diese Hölle hat der Glaube in sich selbst , in seinem Verdammungsurteil. Die Flammen der Hölle sind nur die Funken von dem vertilgenden, zornglühenden Blick, den der Glaube auf die Ungläubigen wirft.

Der Glaube ist also wesentlich parteiisch . Wer nicht für Christus ist, der ist wider Christus. Für mich oder wider mich. Der Glaube kennt nur Feinde oder Freunde , keine Unparteilichkeit; er ist nur für sich eingenommen. Der Glaube ist wesentlich intolerant - wesentlich , weil mit dem Glauben immer notwendig der Wahn verbunden ist, daß seine Sache die Sache Gottes sei, seine Ehre die Ehre Gottes. Der Gott des Glaubens ist an sich nichts andres als das gegenständliche Wesen des Glaubens , der Glaube, der sich Gegenstand ist. Es identifiziert sich daher auch im religiösen Gemüte und Bewusstsein die Sache des Glaubens mit der Sache Gottes. Gott selbst ist beteiligt; das Interesse der Gläubigen ist das innerste Interesse Gottes selbst. »Wer euch antastet« , heißt es beim Propheten Sacharja, »der tastet seinen (des Herrn) Augapfel an.« Was den Glauben verletzt, verletzt Gott, was den Glauben verneint, verneint Gott selbst.

Der Glaube kennt keinen andern Unterschied als den zwischen Gottes - und Götzendienst . Der Glaube allein gibt Gott die Ehre; der Unglaube entzieht Gott, was am gebührt. Der Unglaube ist eine Injurie gegen Gott, ein Majestätsverbrechen. Die Heiden beten Dämone an; ihre Götter sind Teufel . »Ich sage, daß die Heiden, was sie opfern, das opfern sie den Teufeln und nicht Gott . Nun will ich nicht, dass ihr in der Teufel Gemeinschaft sein sollt.« Der Teufel ist aber die Verneinung Gottes; er hasst Gott, will, dass kein Gott sei. So ist der Glaube blind gegen das Gute und Wahre, welches auch dem Götzendienst zugrunde liegt; so erblickt er in allem, was nicht seinem Gotte, d. i. ihm selbst huldigt, Götzendienst, und im Götzendienst nur Teufelswerk . Der Glaube muss daher auch der Gesinnung nach nur verneinend sein gegen diese Verneinung Gottes : er ist also wesentlich intolerant gegen sein Gegenteil, überhaupt gegen das, was nicht mit ihm stimmt. Seine Toleranz wäre Intoleranz gegen Gott, der das Recht zu unbedingter Alleinherrschaft hat. Es soll nichts bestehen, nichts existieren, was nicht Gott, nicht den Glauben anerkennt. »Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Sonne sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters.« (Philipper 2, 10.11.) Darum fordert der Glaube ein Jenseits, eine Welt, wo der Glaube keinen Gegensatz mehr hat oder dieser Gegensatz wenigstens nur noch dazu existiert, um das Selbstgefühl des triumphierenden Glaubens zu verherrlichen. Die Hölle versüßt die Freuden der seligen Gläubigen . »Hervortreten werden sie, die Auserwählten, um zu schauen die Qualen der Gottlosen, und bei diesem Anblick werden sie nicht von Schmerz ergriffen; im Gegenteil, indem sie die unaussprechlichen Leiden der Gottlosen sehen, danken sie freudetrunken Gott für ihre Errettung.«

Der Glaube ist das Gegenteil der Liebe . Die Liebe erkennt auch in der Sünde noch die Tugend, im Irrtum die Wahrheit. Nur seit der Zeit, wo an die Stelle der Macht des Glaubens die Macht der naturwahren Einheit der Menschheit, die Macht der Vernunft, der Humanität getreten, erblickt man auch im Polytheismus, im Götzendienst überhaupt Wahrheit oder sucht man wenigstens durch menschliche, natürliche Gründe zu erklären, was der in sich selbst befangene Glaube nur aus dem Teufel ableitet. Darum ist die Liebe nur identisch mit der Vernunft, aber nicht mit dem Glauben; denn wie die Vernunft, so ist die Liebe freier, universeller, der Glaube aber engherziger, beschränkter Natur. Nur wo Vernunft, da herrscht allgemeine Liebe; die Vernunft ist selbst nichts andres als die universale Liebe . Der Glaube hat die Hölle erfunden, nicht die Liebe, nicht die Vernunft. Der Liebe ist die Hölle ein Greuel, der Vernunft ein Unsinn. Es wäre erbärmlich, in der Hölle nur eine Verirrung des Glaubens, einen falschen Glauben erblicken zu wollen. Die Hölle steht auch schon in der Bibel. Der Glaube ist überhaupt überall sich selbst gleich, wenigstens der positiv religiöse Glaube, der Glaube in dem Sinne, in welchem er hier genommen wird und genommen werden muss, wenn man nicht die Elemente der Vernunft, der Bildung mit dem Glauben vermischen will — eine Vermischung, in welcher freilich der Charakter des Glaubens unkenntlich wird.
S.380-383
Aus: Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums,
Reclams Universalbibliothek Nr. 4571 (S.115, 116f, 217f, 228-230, 233f, 236, 242f, 380-383))
© für diese Ausgabe 1969 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Adolf von Harnack (1851 – 1930)
Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele
Unmittelbar und deutlich lässt sich für unser heutiges Vorstellen und Empfinden die Predigt Christi in dem Kreise der Gedanken erfassen, der durch Gott den Vater und durch die Verkündigung vom unendlichen Wert der Menschenseele bezeichnet ist. Hier kommen die Elemente zum Ausdruck, die ich als die ruhenden und die Ruhe gebenden in der Verkündigung Jesu bezeichnen möchte, und die zusammengehalten sind durch den Gedanken der Gotteskindschaft. Ich nenne sie die ruhenden im Unterschied von den impulsiven und zündenden Elementen, obgleich gerade ihnen eine besonders mächtige Kraft innewohnt. Indem man aber die ganze Verkündigung Jesu auf diese beiden Stücke zurückführen kann Gott als der Vater, und die menschliche Seele so geadelt, dass sie sich mit ihm zusammenzuschließen vermag und zusammenschließt —, zeigt es sich, dass das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die anderen, es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, dass es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gegensätzen und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und Weltflucht, Jüdischem und Griechischem. In allen kann es regieren, und in keinem irdischen Element ist es eingeschlossen oder notwendig mit ihm behaftet.
S.38f. [...]
Aus: Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Neuausgabe mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann Evangelische Verlagsanstalt Berlin

Giordano (Filippo) Bruno (1548 – 1600)
Jenes [Universum] umfasst alles Sein ganz, denn außerhalb oder jenseits des unendlichen Seins ist überhaupt nichts, da es kein Außerhalb und kein Jenseits hat, während von diesem [Einzelseienden] ein jegliches zwar das ganze Sein umfasst, aber nicht vollständig, denn über jedes einzelne hinaus gibt es unendlich viele andere. Ihr versteht also, wie Alles in Allem ist, aber nicht vollständig und auf jegliche Weise in jedem einzelnen; und ihr versteht, wie jedes ein Seiendes ist, aber nicht auf dieselbe Weise. Darum geht nicht fehl, wer behauptet, das Sein, die Substanz und das Wesen seien Eines; insofern dieses unendlich und unbegrenzt ist, sowohl der Substanz und der Dauer wie der Größe und der Kraft nach, ist es hinsichtlich seines Wesens weder selbst Prinzip noch ein aus dem Prinzip Abgeleiteter; denn da alles Seiende in Einheit und Identität, das heißt in dasselbe Sein einmündet, erhält es die Qualität des Absoluten, nicht die des Relativen.

In dem einen Unendlichen und Unbeweglichen, das die Substanz oder das Sein ist, findet sich die Vielheit oder die Zahl; obgleich sie der Modus der Vielgestaltigkeit des Seins ist, welche Ding für Ding einzeln bezeichnet, macht sie das Sein nicht zu mehr als Einem, sondern nur zu einem Vielfältigen, Vielförmigen und Vielgestaltigen. Wenn wir also Naturphilosophen gründlich darüber nachdenken und die Logiker ihren Einbildungen überlassen, so finden wir, daß alles, was Unterschied und Zahl ausmacht, bloßes Akzidens, bloße Gestalt und bloße Beschaffenheit ist. Jede Hervorbringung, von welcher Art sie auch sei, ist eine Veränderung, während die Substanz immer dieselbe bleibt, weil sie nur Eine ist : das eine unsterbliche göttliche Wesen. Dies war Pythagoras fähig zu verstehen, der, statt den Tod zu fürchten, eine Verwandlung erwartet; dies zu verstehen, waren auch alle Philosophen imstande, die gemeinhin Naturphilosophen heißen und die gelehrt haben, dass der Substanz nach nichts entsteht oder vergeht, wenn man nicht auf diese Weise nur die Veränderung bezeichnen will. Ebenso hat dies Salomo verstanden, der da sagt, es gebe nichts Neues unter der Sonne, sondern das, was ist, sei schon vorher gewesen. Da seht Ihr also, wie alle Dinge im Universum sind und wie das Universum in allen Dingen ist, wir in ihm und es in uns, und so alles in eine vollkommene Einheit einmündet. Daher braucht sich unser Geist nicht zu beunruhigen, wie wir auch wegen nichts zu verzagen brauchen; denn diese Einheit ist einzig und beständig und dauert immerfort; dieses Eine ist ewig. Jedes Gesicht, jedes Äußere wie auch alles andere ist eitel und gleichsam nichts, ja alles ist nichts außer diesem Einen.

Jene Philosophen haben ihre Freundin — die Weisheit — gefunden, die diese Einheit erkannt haben; denn völlig dasselbe sind Weisheit, Wahrheit und Einheit . Das haben alle zu sagen vermocht, dass das Wahre, das Eine und das Sein ein und dasselbe sind , aber nicht alle haben dies auch verstanden, denn etliche haben nur die Worte übernommen, ohne damit — wie wahre Weise — ihren Sinn zu begreifen. Aristoteles unter anderen, dem das Eine verborgen blieb, hat auch das Sein und das Wahre nicht erkannt, denn er wusste nicht, dass das Sein Eines ist; und obwohl es ihm freistand, das Sein als ein Gemeinsames von Substanz und Akzidens aufzufassen und im weiteren seine Kategorien entsprechend der Vielheit der Gattungen und Arten durch ebenso viele Unterscheidungen gegeneinander abzusetzen, hat er es doch versäumt, tiefer in die Wahrheit einzudringen, weil er nicht bis zur Erkenntnis dieser Einheit und Unterschiedslosigkeit der unvergänglichen Natur oder des ewigen Seins gelangt ist, sondern wie ein platter Sophist mit böswilligen Auslegungen und windigen Überredungskünsten die Lehren der Alten verdreht und sich der Wahrheit widersetzt hat, wohl nicht so sehr aus Mangel an Verstand, als vielmehr aus Missgunst und Ehrgeiz.
Aus: Giordano Bruno, Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. Übersetzung und Anmerkungen von Philipp Rippel, Zeittafel, Literaturhinweise und Nachwort von Alfred Schmidt
Reclams Universalbibliothek Nr. 5113 (C)1986 Philipp Reclam jun., StuttgartVeröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags


Wilhelm von Humboldt
(1767 - 1835)
Die wahre Unendlichkeit der göttlichen Kraft

Wenn man sich ein göttliches allgenugsames und unveränderliches Wesen denkt, so ist das ein Unding . Denn es ist nicht bloß etwas für uns, die wir an Bedingungen der Zeit gebunden sind, Unbegreifliches , sondern enthält, als ruhende Kraft , einen eigentlichen Widerspruch und gründet sich, indem es der Zeit entflieht, auf falsch angewendeten Begriffen von Raum und Substanz . Die wahre Unendlichkeit der göttlichen Kraft beruht auf dem allem Geschaffnen beiwohnenden Vermögen sich ewig neu und immer größer zu gestalten, kann aber nicht , abgesondert von dem Geschaffenen, hypostasiert werden.
Aus: Wilhelm von Humboldt, Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum, S. 7
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche. Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages der Directmedia Publishing GmbH, Berlin

Sinn und Gefühl für die höhere Welt

An Charlotte Diede (1834)
Die Worte Paulus‘ , die Sie in Ihrem Briefe anführen: Lebten wir für diese Welt allein, so wären wir die elendesten Geschöpfe, haben allerdings eine tiefe Wahrheit und einen innerlich ergreifenden Sinn. Sie sprechen auf die kürzeste und einfachste Art die überirdische Bestimmung des Menschen aus. Denn in allen höhern, edlem, des Menschen wahrhaft würdigen Gefühlen erblicken wir mit Recht einen Ursprung, der nicht der Erde angehören kann. Alle Veredlung unsers Wesens stammt nur aus dem Gefühl der Ausdehnung unsers Daseins über die Grenzen dieser Welt. Das gibt dem Menschen ein so eigentümliches, den Nachdenkenden unaufhörlich begleitendes Gefühl, dass ihm die Welt, die ihn umgibt, in der er allein unmittelbar wirkt und genießt, nicht genügt und dass seine Sehnsucht und seine Hoffnungen ihn zu einer andern, unbekannten und nur geahndeten hinziehen. In dem verschiedenen Verhältnis, in das sich jeder zu der einen und der andern stellt, liegt hauptsächlich der Unterschied der innern Individualität der Menschen. Es gibt den Charakteren die ursprüngliche Richtung, aus der sich alles übrige entwickelt. Wer nun da ganz im Irdischen befangen wäre, ohne für eine höhere Welt Sinn und Gefühl zu haben, der wäre in Wahrheit elend zu nennen. Er entbehrte der höchsten und besten innern Genugtuung und könnte in dieser Gesinnung zu keiner Vervollkommnung und eigentlichen Veredlung seines sittlichen Wesens gelangen. Es gibt aber auch eine gewisse Verschmähung der Erde und eine irrige Beschäftigung mit einem überirdischen Dasein, die, wenn sie auch nicht zu einer Vernachlässigung der Pflichten des Lebens führt, doch das Herz nicht dazu kommen lässt, die irdischen Wohltaten der Vorsehung recht zu genießen. Die wahrhaft schöne und edle Stimmung vermeidet diese doppelte Einseitigkeit. Sie geht von den unendlichen Spuren des Göttlichen aus, von denen alles Irdische und die ganze Schöpfung so sichtbar in weiser Anordnung und liebevoller Fürsorge durchdrungen ist . Man knüpft in ihr die reinen, wirklich einer bessern Welt angehörenden Empfindungen des Herzens zunächst an die menschlichen Verhältnisse an, denen dieselben auf eine würdige und nicht entweihende Weise gewidmet werden können. Man sucht so und pflanzt das Überirdische im Irdischen und macht sich dadurch fähig, sich zu dem ersteren in seiner Reinheit zu erheben. In diesem Verstande lebt man in dieser Welt für eine andere; denn das Irdische wird bloß zur Hülle des göttlichen Gedankens, er allein ist sein eigentlicher und nicht tief in ihm verborgen liegender, sondern hell und sichtbar aus ihm hervorstrahlender Sinn . In dieser Ansicht trennt sich dann die Seele leicht ganz vom Irdischen und erhebt sich über dasselbe. Unmittelbar daran knüpft sich der Glaube an Unsterblichkeit und ein jenseits des Grabes beginnendes Dasein an. Diesen trägt ein Gemüt, das im richtigen Sinn nicht für diese Welt allein lebt, nicht bloß als Hoffnung und Sehnsucht, sondern als unmittelbar mit dem Selbstbewusstsein verbundene Gewissheit in sich. Wären wir nicht gleichsam schon ausgestattet mit dieser Gewissheit auf die Erde gesetzt, so wären wir in der Tat in ein Elend hinabgeschleudert. Es gäbe keinen Ersatz für irdisches Unglück, und, was noch viel beklagenswerter wäre, die wichtigsten Rätsel blieben ungelöst und unserm ganzen innern Dasein fehlte, was erst eigentlich das Siegel seiner Vollendung aufdrückt.

Aus: Wilhelm von Humboldt . Auswahl und Einleitung von Heinrich Weinstock ( S.170-171 aus Humboldts Briefen) Fischer Bücherei KG Frankfurt am Main, Bücher des Wissens 158

Friedrich Jodl (1849 – 1914)
Wie auf Erden das Strafrecht des Staates aus der Privatrache des Einzelnen und der Familie herauswuchs, so tritt auch in den Straforten des Jenseits die Blutgerichtsbarkeit der Götter gleichsam an die Stelle der Blutrache. Die Beweise für die Richtigkeit dieses Schlusses liefern jene Unterweltsdarstellungen, welche uns den Übeltäter von der Seele oder dem Rachegeist seines Opfers gepeinigt zeigen. Und so waren sicherlich die Erinnyen ursprünglich nichts anderes, als die zornerfüllten, sich selbst Rache holenden Seelen der Ermordeten. Hier kann es nun nicht ausbleiben, dass die Idee der fortwirkenden Gerechtigkeit mit den Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, sobald diese irgend entwickelt sind, in Beziehung trete: alsbald wird das Leben nach dem Tode vollständig in den Dienst des Vergeltungsgedankens gestellt; es gestaltet sich zu einem System von Strafen und Belohnungen, welches nicht mehr bloß aus dieser Welt in das Leben nach dem Tode sich fortsetzt, sondern in dem letzteren erst seinen eigentlichen Anfang nimmt.

Damit ist jene Forderung göttlicher Gerechtigkeit , welche im irdischen Dasein so oft unerfüllt bleibt, zu einer durch widerstreitende Erfahrungen nicht mehr zu trübenden Geltung gelangt. Wo sich aber überhaupt neben der religiösen Spekulation auch eine philosophische entwickelt hat, da pflegen beide gerade auf dem Gebiete des Ethischen in der mannigfaltigsten Weise einander zu begegnen, so dass es oft kaum möglich ist zu entscheiden, ob die religiösen Elemente oder die philosophischen die überwiegenden sind. Namentlich in zwei philosophischen Systemen finden wir die intensivste sittliche Verwertung der Vorstellungen vom Leben nach dem Tode: in der Vedantaphilosophie der Inder und dem Platonismus. Beide haben auf die zwei weltbeherrschenden Religionen, auf den Buddhismus und das Christentum einen tiefgreifenden Einfluss ausgeübt. In konsequenter Fortbildung des Gedankens, dass dem Tode ein unbegrenztes Dasein folge, dessen Wert nach dem Inhalt des gegenwärtigen Lebens sich richte, gestehen sie diesem Leben überhaupt nur die Bedeutung einer Vorbereitung auf das Jenseits zu. Aus der primitiven Ansicht, dass das Verbrechen, welches menschlicher Strafe entgeht, noch in diesem Leben früher oder später der göttlichen Gerechtigkeit anheimfalle, hat sich allmählich der Glaube an ein System von Belohnungen und Strafen entwickelt, durch welches in einem künftigen, von den Mängeln der Wirklichkeit befreiten Dasein jedem genau nach dem Wert seiner Handlungen vergolten werde.

Die disziplinierende Wirkung dieser Vorstellungen, namentlich auf früheren Stufen des Volksbewusstseins, wo die unmittelbaren sinnlichen Antriebe noch sehr heftig, die Erwägung entfernterer Folgen und umfassender Zweckbedeutung der Handlungen noch wenig entwickelt sind, liegt auf der Hand. Neben der direkt erweckbaren und zur Nacheiferung treibenden Kraft der in den Göttern konkret gedachten sittlichen Ideale bereiten die Vergeltungsvorstellungen der Sittlichkeit mehr in negativer Weise den Weg, indem sie an die Stelle der Leitung des menschlichen Handelns durch die unmittelbar gegebenen impulsiven Motive eine Leitung durch entferntere, nur in der Vorstellung gegebene Leiden und Freuden setzt und dies auch für solche Fälle, wo der rein egoistische, auf das Diesseits beschränkte Interessenkalkül entweder keinen Grund zur Unterlassung oder kein Motiv zum Handeln vor sich sähe.

Denn soviel ist gewiss: der religiöse Gesetzgeber kann mit seinen Geboten und Verboten viel tiefer in das geheime Innere des menschlichen Tuns und Lassens hinabsteigen als der politische, welcher sich vor dem Fehler hüten muss, Dinge zu gebieten und zu verbieten, welche sich seiner Kontrolle und damit der Wirksamkeit seiner Sanktion entweder überhaupt oder doch nach überwiegender Wahrscheinlichkeit entziehen. Der religiöse Gesetzgeber stellt eine Norm vor dem Menschen als göttlichen Willen auf, knüpft an ihre Befolgung oder Verletzung die Aussicht auf Belohnung und Bestrafung durch höhere Macht, sei es im Diesseits, sei es im Jenseits, und kann nun die weitere Wirkung, bei gelegentlicher wiederholter Einschärfung des Zusammenhanges, getrost dem hiermit in sich zerspaltenen selbstsüchtigen Bewusstsein des Einzelnen überlassen.

An den natürlichen Schrecken des Todes gewinnt dieser Gedanke der jenseitigen Vergeltung einen kräftigen Bundesgenossen : je dunkler dem gewöhnlichen Bewusstsein die Pforte erscheint, die sich im Sterben vor uns auftut, um so grauenhafter wird sich das Schuldbewusstsein die Schrecken ausmalen, welche den Sünder im Jenseits erwarten. Und in der Tat: von den unermesslichen Wirkungen dieses Glaubens auf das Tun und Lassen der Menschen sind alle Blätter der Sittengeschichte voll und es kann wohl nicht bezweifelt werden, dass der Glaube an einen Richter, der auch das Allergeheimste des menschlichen Herzens durchschaut und der mit unbegrenzter Macht der Vergeltung ausgestattet ist, viel Böses gehindert und viel Gutes gefördert und der Menschheit eine ganze Reihe der sittlich wertvollsten Eigenschaften anerzogen hat.

Aus: Friedrich Jodl, Allgemeine Ethik, Herausgegeben von Wilhelm Börner, Stuttgart und Berlin 1918, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger


John Keats
(1795 – 1821)

Endymion (Verserzählung)
[…] Es liegt eine Höhle
Jenseits des Raums, in dem in scheinbaren Grenzen
Die Seelen wandelnd ihre Existenzen
Erforschen, jenseits fernsten düstern Lüften.
Finstres Gebiet umgibt sie, wo in Grüften
Begrabnen Schmerz der Geist zwar sieht, doch nicht
Ein Stündchen weinend ausruht, denn schon sticht
Ein frischer Schmerz im Innern ihn nur mehr;
Und in dem Dunkel dort fliegt weit umher
Manch Giftpfeil; sie zum Heim sich auserkoren
Hat jedes Übel: der sei erst geboren,
Der nie durchreist hat diese Höllenglut.
Doch kaum wer spürte je, wie ruhig und gut
Der Schlaf in jener tiefen Höhle ist.
Dort bohrt die Angst nicht, kennt Glück keine Frist;
Stets schlagen Schmerz-Orkane an die Tür
Doch hinter ihr ist alles still und leer.
Schmerzhafte Böen rings, ist in ihr kein Schlag
Lauter zu hörn als im verschloßnen Sarg
Die Totenuhr dumpf pickt. Niemand tritt ein,
Der danach strebt: urplötzlich ist sie dein.
Erst wenn des Dulders Leid auch Flammen schlug,
Steht sie ihm frei: aus einem Urnenkrug,
Den schmelzend Eis speist, nimmt er eine Kelle —
Semele schmeckte nie solch reine Fülle
In mütterlicher Sehnsucht! Selger Dämmer!
Nachtparadies! wo Blässe erster Schimmer
Von Wohl ist; die Verschwiegenheit der Leeren
Beredtste Sprache; Hoffnungen verheeren;
Wo das weit hellste Auge jenes ist,
Welches traumloser Schlaf am längsten schließt.
O selges Geist-Heim! O seltsame Seele!
Vergönnt, in eigne Tiefen durch solch Höhle
Dich ganz zu retten. Heil dir, Karier dann!
Denn nie, seitdem dein Gram und Leid begann,
Sahst du dich so zufrieden: bittrer Streit
Trieb dich zur Höhle der Verschwiegenheit.
S.221f. […]
Aus: John Keats, Werke und Briefe, Lyrik (Englisch/Deutsch) . Verserzählungen . Drama . Briefe
Ausgewählt und übertragen von Mirko Bonné unter Verwendung der Briefübersetzungen von Christa Schuenke. Nachwort von Hermann Fischer
Reclams Universalbibliothek Nr. 9403 © 1995 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Krishna (?)
Bhagavadgita – Des Erhabenen Sang Bhagavadgita
siehe auch >>Franz Hartmann
Achter Gesang
[...]
Aus dem Unsichtbaren entspringt das Sichtbare, wann kommt der Tag, -
Wann kommt die Nacht, dann löst sich‘s auf im Innern, das unsichtbar heißt.

Der Wesen Schar, die immer neu geworden ist, sie löst sich auf,
Wann kommt die Nacht, — doch unbedingt ersteht sie neu, wann kommt der Tag.

Doch jenseits dieses Lebens gibt‘s ein andres, ewig, unsichtbar,
Das, ob auch alle Wesen hier vergehen selber nicht vergeht.

Unsichtbar, unvergänglich heißt‘s, man nennt es auch die höchste Bahn;
Erreicht man‘s, kehrt man nicht zurück! sieh, das ist meine höchste Statt!

Der höchste Urgeist wird erlangt durch Liebe, die nichts andres sucht, -
Er, in dem alle Wesen sind, durch den die ganze WeIt gemacht.
Aus: Bhagavadgita/Aschtavakragita. Indiens heilige Gesänge
Bhagavadgita. Des Erhabenen Gesang,. Übertragen und kommentiert von Leopold von Schröder
Diederichs Gelbe Reihe DG 12, Eugen Diederichs Verlag, München

Heinrich Lang (1826 - 1876)
Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in`s Herz gelegt. Lasset uns aber auch das andere betonen: Gott hat dem Menschen die Ewigkeit in`s Herz gelegt. In`s Herz, nicht wie Viele immer noch meinen, wenn sie das Wort Ewigkeit aussprechen hören, in einen fernen Himmel, in`s Jenseits, in eine Welt über den Sternen, in unermessliche Fernen. Die Erde ist der Schauplatz der Ewigkeit so gut, als jeder andere Teil der Welt; sie ist die Werkstatt göttlicher Gedanken und ein Acker voll himmlischer Schätze , die es gilt zu sehen und zu heben.

Wohl wird es sich das Menschenherz ohne Zweifel niemals nehmen lassen, einen Blick über das Grab hinaus zu wagen und diese Grenze der Endlichkeit mit seinem Ahnen und Sehnen irgendwie zu überschreiten. Und nimmermehr werden wir zugeben, dass der Glaube an die Unsterblichkeit , der einen Bestandteil der Religion fast aller Völker bildet, nur oder wenigstens vorherrschend aus den sinnlich selbstsüchtigen Trieben unserer Natur hervorgegangen sei, wie vielfach auch sinnlich eigennützige Beweggründe demselben in allen Religionen sich beigemischt haben. Vielmehr hat dieser Glaube seine Quelle eben in der Ewigkeit, die Gott dem Menschen in`s Herz gelegt hat.

Es liegt ja so nahe, zu schließen: wenn die Ewigkeit in uns die Unruhe der Wahrheit ist, die von Gesetz zu Gesetz, von Grund zu Grund treibt, unser Wissen hienieden aber stets Stückwerk bleibt, ein Schauen durch einen unvollkommenen und getrübten Spiegel; wenn die Ewigkeit in uns der Stachel der Heiligung ist, der nie zu Ruhe kommt, weil wir niemals fertig sind , weil wir in keinem Augenblick unseres Lebens das Bekenntnis von uns abweisen können: nicht dass ich`s schon ergriffen habe oder vollkommen sei; wenn endlich die Ewigkeit in uns die Quelle des Friedens und des Trostes in Lust und Leid der Erde ist, die aber nie so ungetrübt fließt, dass das Gefühl der Seligkeit nicht wieder unterbrochen würde durch Angst und Schmerz – so wird es über das Grab hinaus Entwicklungsstufen geben, die uns zu voller Wahrheit, zu höherer Heiligung, zu ungetrübterer Seligkeit führen werden.

Dieser Schluss liegt so nahe, aber vergessen wir nicht: sobald der Verstand dieses Ahnen und Sehnen des Herzens deuten will, sobald das Denken in diese Welt der Bilder eindringt, welche die Einbildungskraft auf dem Grunde des ahnenden und suchenden Herzens aufbaut, so fängt das Wolkentreten an, so türmt sich Widerspruch auf Widerspruch, so drängt sich Unmöglichkeit an Unmöglichkeit, und so wird doch am Ende, »mitten in der Endlichkeit Eins zu werden mit dem Unendlichen und ewig zu sein in jedem Augenblick« ( Schleiermacher , Reden über die Religion. S.175) , das erste und letzte Wort der Religion in dieser Religion in dieser Sache bleiben, und je mehr wir uns im Leben dessen erinnert haben, das s Gott uns die Ewigkeit in`s Herz gelegt hat, desto geringer wird im Tode der Kummer sein, den uns die Frage nach dem Jenseits bereitet.
Heinrich Lang, Religiöse Reden gehalten im St. Peter zu Zürich Mitte 1871 bis Mitte 1872, Caesar Schmidt (Schablitz`sche Buchhandlung), Zürich 1873

Franz Marc (1880 - 1916)
Wahres Sein
Unser uralter Wille, die trügerische Welt mit dem wahren Sein, dem »Jenseits« zu vertauschen, kleidete früher dieses Jenseits künstlerisch in die Formen der sichtbaren Welt. Heute träumen wir nicht mehr eingeengt von den Dingen, sondern verneinen sie, da unser Willen zu jenem Leben vorgedrungen ist, das sie verbergen.

Gott kam einst in einer Krippe »zur Welt« . Heute steht sie leer. Wir suchen die Formwerdung jenseits des heiligen Stalles in der visionären, in gesetzlichen Formen sichtbar gewordenen Natur.

Unser heute noch latentes Wissen wird sich morgen in formbildnerische Kraft wandeln. S.159
Aus: Franz Marc, Briefe, Aufzeichnungen, Aphorismen, Herausgegeben von Günther Meißner, 1980 Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar

Gustav Mensching (1901 – 1978)
Wesen und Ursprung der Religion
[...]
Was ist das Heilige, das uns in diesen Eindrücken und sinnlichen Erfahrungen begegnet? Wir beziehen uns nun hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dessen, was das Heilige ist, auf das damals epochemachende Buch von
Rudolf Otto »Das Heilige« , das 1917 in erster Auflage erschienen ist und vor wenigen Jahren die 26, Auflage erreichte. In diesem Buche wird erstmalig die Frage gestellt, worin das eigentümliche Wesen des religiösen Objektes, also eben des Heiligen liegt. Diese Frage aber wird nicht beantwortet, indem spekulativ irgendwelche Theorien über Gott und Jenseits aufgestellt werden, sondern indem gerade von der Erkenntnis aus, dass man das Heilige nicht in wissenschaftlicher Erkenntnis erfassen kann — der Umweg über den Menschen genommen wird. Die Frage ist also:

Was meinen religiöse Menschen in aller Welt und in allen Religionen, wenn sie bekunden, dass sie vom Heiligen ergriffen seien, wenn sie, wie in unseren Texten, bezeugen, irgendwo und irgendwie dem Heiligen begegnet zu sein? Was finden sie bei sich selber für eine Bestimmtheit vor, die ja feststellbar ist, eine Bestimmtheit, deren entsprechender bestimmender Gegenpol eben das Heilige ist, das nicht in unmittelbarer wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist? Darauf antwortet Rudolf Otto:

Das Heilige ist das Numinose, und zwar das Numinose, das nun eben nicht mit den Begriffen des Rationalen und vor allem des Moralischen identisch ist, sondern die Reaktion auf das Heilige, durch die wir das irrationale Heilige umschreiben, ist eine eigentümliche Gemütsbestimmtheit. Und eben dieses Heilige minus seines sittlichen Gehaltes nennt Otto das Numinose. Dieses Numinose aber erscheint als das ganz Andere, als das Überweltliche, das Unirdische. Diese Ausdrücke, die aus dem Bereich des Räumlichen ja genommen sind, sind aber eben nicht räumlich gemeint, sondern sind Qualitätsbegriffe, welche eine Modalität des Seins, eine Modalität der numinosen Wirklichkeit aussagen. Das Numinose ist nicht grundsätzlich das Außerweltliche, es vermag ja eben auch innerhalb dieser Welt erfahren zu werden. Aber es ist das grundsätzlich Andere als alles Weltliche, es ist ein Etwas, das sich aller Vergleichbarkeit entzieht, und das nicht einzuordnen ist in die bekannten irdischen Kategorien. Wie ich schon sagte:

Der Erscheinungsbereich dieses Numinosen ist das natürliche Sein, ein Stück Welt, an dem Überweltliches, Unweltliches erfahren wird. Will man noch näher die Erfahrung des Heiligen, wie sie sich in den vorangestellten Texten bekundete, von der Seite des Subjektes her definieren, dann bedient man sich, und das hat sich weithin durchgesetzt, der von R. Otto dafür geprägten Begriffe. Zunächst einmal ist es das mysterium tremendum, das heißt das Zittern erregende Geheimnis. Dieses Heilige wirkt auf den Menschen, indem es ihn erhebt, aber zugleich erdrückt, indem es Zittern in ihm erregt und ein Gefühl des Befremdetseins. Es ist der heilige Gott, der ferne und unnahbare, der geheimnisvolle Gott.
Kröner, Stuttgart, Krögers Taschenausgabe Band 230, Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, Eine Vortragsreihe, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks
Copyright 1955 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart, Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Johann Baptist Metz (1928 - )
Der zukünftige Mensch und der kommende Gott
[...]
Alles gesellschaftlich-politische Handeln zum Aufbau einer freien und friedlichen Zukunft des Menschen bleibt selbst auf Befreiung und Versöhnung angewiesen. »Anders kommt es nicht aus der Paradoxie heraus, dass es unmöglich ist, unter den Bedingungen der Geschichte das Ende der Geschichte vorwegzunehmen, das es unmöglich ist, unter den Bedingungen der Entfremdung die Entfremdung des Menschen vom Menschen zu überwinden... Wie soll man denn unter den Bedingungen der Gewaltanwendung das Reich gewaltloser Brüderlichkeit herbeiführen?« (Jürgen Moltmann). Wo dies gesehen wird, da wächst auch das Bewusstsein, dass die gesuchte »heile« Zukunft des Menschen in Freiheit und Frieden nicht einfach durch uns selbst und von uns allein kommt; da wächst das Bewusstsein, daß wir immer neu eine Zukunft erwarten, die mehr ist als das Werk unserer Hände, eine Zukunft, die voll Macht der Befreiung, der Nachsicht, der Vergebung und Versöhnung ist und deren Aufgang wir gerade dann erahnen, wenn wir uns selbst am immer neuen Kampf um eine Zukunft in Freiheit und Frieden beteiligen.

Hier mag man die theologische Rede vom kommenden Gott erkennen als kritische und befreiende Instanz im Prozess um die Zukunft des Menschen. Freilich, diese Kritik ist nicht eine kalkulierte Kritik, sie ist nicht ein in dialektischer Raffinesse von uns selbst noch einmal in den allgemeinen Fortschritt eingebauter Widerstand. Diese befreiende Kritik in der Rede vom kommenden Gott bleibt eine fremde, eine anstößige Rede. Man kann sie übersehen und vor allem — verdächtigen: verdächtigen als eine gefährliche Entnervung der technologischen und politischen Initiativen, verdächtigen als Opium des geknechteten oder unaufgeklärten Volkes. Gewiss, wer möchte und könnte es leugnen, dass im Namen des Bekenntnisses zum kommenden Gott solche Vernebelungen und Beschwichtigungen unserer geschichtlichen Situation betrieben wurden? Dass man zum Beispiel bestimmte gesellschaftliche Konstellationen im Namen des Christentums und seiner endzeitlichen Botschaft kanonisierte und für die Armen und Bedrängten, für die Unfreien dieser Gesellschaft nur allzu rasch eine wortreiche Vertröstung auf das Jenseits zur Hand hatte? Dass die Kirche die ihr aufgetragene permanente Kritik an den Mächtigen dieser Erde allzu oft gar nicht oder viel zu leise und immer wieder viel zu spät geübt hat? Dass sie, kurzum, alles andere war als eine Institution gesellschaftskritischer Freiheit? Dass es in der Tat keine große gesellschaftskritische Idee in unserer Geschichte zu geben scheint — sei es Revolution, Aufklärung oder Freiheit und Liebe —, die nicht durch das geschichtliche Christentum und seine Institutionen schon einmal verraten worden wäre? Wer möchte es leugnen? Man sage auch nicht, dies sei eine Frage der Taktik oder der Opportunität. Es ist eine Frage der geschichtlichen Verantwortung, wenn auch nur ein Gran Wahrheit in dem Satz von Camus steckt, dass es Zeiten gibt, in denen jede Sünde eine Todsünde und jede Gleichgültigkeit ein Verbrechen ist. Doch kann eben nicht nur Religion, sondern auch Revolution technologischer oder politischer Art zum »Opium des Volkes« werden, zu einer gefährlichen »Jenseits vertröstung«. Dann nämlich, wenn dieses gegenwärtige Volk verheizt werden soll im Namen künftiger Geschlechter, wenn der einzelne, seine Träume und seine Hoffnungen, nivelliert werden zur Funktion in einem technologisch gesteuerten Gesellschaftsprozess oder wenn er nur betrachtet wird als Material und Mittel für den Aufbau einer künftigen freien Gesellschaft. Gewiss, zumindest in den gesellschaftspolitischen Revolutionsutopien mag es auch einen positiven Begriff der Freiheit des einzelnen geben. Aber gilt hier der einzelne nicht doch nur, insofern er der erste ist in der Eröffnung neuer gesellschaftlicher Möglichkeiten, insofern er also in sich den Gesellschaftsprozess revolutionär antizipiert? Insofern er das ist, was später alle einmal werden müssen? Was aber ist dann mit den Armen und Bedrängten, die gerade dadurch arm sind, dass sie nicht solche erste zu sein vermögen? Hier hat die theologische Rede vom kommenden Gott mit ihrem Bekenntnis, dass die Zukunft als ganze unter dem endzeitlichen Vorbehalt Gottes steht, gerade eine sozialkritische Aufgabe für die Gegenwart: sie hat eine Individualität und eine Freiheit zu reklamieren, die eben nicht durch ihren Stellenwert im technologisch gesteuerten oder politisch-revolutionären Fortschritt der Menschheit als ganzer definierbar ist. Damit wird die theologische Rede vom kommenden Gott nicht zu einem verschleierten Plädoyer für den Status quo eines bürgerlichen Individualismus. Sie wird bestenfalls zum Anwalt für eine bestehende Freiheit, die auch Kriterium künftiger Veränderungen technologischer und politischer Art sein muss; sie steht ein für den einzelnen und seine bleibende Selbstkonfrontation in den Erfahrungen des Schmerzes, der Schuld, des Todes, für eine Selbstkonfrontation, die auch durch eine noch so geglückte soziale und ökonomische Schicksallosigkeit des zukünftigen Menschen nicht aufgehoben wird.
Aus: Was ist das eigentlich – Gott? Herausgegeben von Hans Jürgen Schulz (S.269f.)
Dem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde
Einmalige Sonderausgabe . Veröffentlicht im Januar 1969 als Band 119 in der Reihe »Die Bücher der Neunzehn«
© 1969 by Kösel-Verlag KG, München, Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlages, München


Mohammed oder auch Muhammad [arab. »der Gepriesene«] (570 - 632)

Mohammed ist nur ein Mensch, der Allahs Offenbarungen empfangen durfte

Ein Freudenbote und ein Warner; doch die meisten von ihnen kehren sich ab und hören nicht.
Sprich: »Ich bin nur ein Mensch wie ihr; geoffenbart ward mir, dass euer Gott ein einiger Gott ist. So verhaltet euch wohl gegen Ihn und bittet Ihn um Verzeihung; und wehe den Götzendienern, welche nicht die Armenspende entrichten und ans Jenseits nicht glauben.« (Sure 41, 3,6-7)

Der Islam ist die einzige Religion, die von Allah anerkannt wird

Bezeugt hat Allah, dass es keinen Gott gibt außer Ihm: und die Engel und die Wissenden, stehen in Gerechtigkeit (verkünden:) »Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Mächtigen, den Weisen.«
Siehe, die Religion bei Allah ist der Islam. Und die, denen die Schrift gegeben ward, waren nicht eher uneins, als nachdem das Wissen zu ihnen gekommen war — aus Neid aufeinander. Und wer die Zeichen Allahs verleugnet — siehe, Allah ist schnell im Rechnen,
Und so sie mit dir streiten, so sprich: »Ich habe mein Angesicht ergeben in Allah, und so, wer mir nachfolgt.«
Und sprich zu jenen, denen die Schrift gegeben ward, und zu den Unbelehrten: »Werdet ihr Muslime? Und so sie Muslime werden, sind sie geleitet; kehren sie sich jedoch ab, so liegt dir nur die Predigt ob. Und Allah schaut Seine Diener.
Und wer eine andre Religion als den Islam begehrt, nimmer soll sie von ihm angenommen werden, und im Jenseits wird er verloren sein.
Wie soll Allah ein Volk leiten, das ungläubig ward nach seinem Glauben und bezeugte, dass der Gesandte wahrhaft sei, und nachdem die deutlichen Zeichen zu ihnen kamen? Aber Allah leitet nicht das ungerechte Volk.
Sie — ihr Lohn ist, dass über sie der Fluch Allahs und der Engel und der Menschen insgesamt kommt.
Ewig bleiben sie in ihm; nicht wird ihnen erleichtert die Strafe und nicht werden sie angeschaut: Außer denen, die nach diesem umkehren und sich bessern. Denn siehe, Allah ist verzeihend und barmherzig. (Sure 3, 19-21, 85-89)

Stunde des Gerichts
Und an dem Tage, da sich die »Stunde« erhebt, werden die Sünder stumm vor Verzweiflung werden.
Und unter ihren »Gefährten« sollen sie keine Fürsprecher finden und sollen ihre Gefährten verleugnen.
Und an dem Tag, da sich die »Stunde« erhebt, an jenem Tage sollen sie voneinander getrennt werden.
Und was jene anlangt, welche glaubten und das Rechte taten — in einer Aue sollen sie Freuden finden; was aber jene anlangt, welche ungläubig waren und Unsre Zeichen und die Begegnung mit dem Jenseits der Lüge ziehen — der Strafe sollen sie überantwortet werden. (Sure 30, 12-16)

Mohammeds Verkündigung der Auferstehung stößt auf Zweifel

[...]
äupter seines Volkes, die nicht glaubten und welche die Begegnung des Jenseits für eine Lüge hielten und die Wir im irdischen Lehen reich versehen hatten: »Das ist nur ein Mensch gleich euch; er isset von dem, was ihr esset, und trinket von dem, was ihr trinket. Und wenn ihr einem Menschen gleich euch gehorchet, siehe, dann seid ihr wahrlich verloren. Verkündet er euch, dass ihr, wenn ihr tot seid und Staub und Gebein worden, wieder erstehen werdet? Hinweg, hinweg mit dieser Verheißung! Es gibt nur unser irdisches Leben; wir sterben und wir leben und werden nicht erweckt. Es ist nur ein Mensch, der eine Lüge wider Allah ersonnen hat, und wir glauben ihm nicht.« (Sure 23, 33-38)
Der Koran. Aus dem Arabischen übersetzt von Max Hening. Einleitung und Anmerkungen von Annemarie Schimmel.
Reclam Unversalbibliothek Nr. 4206. (c)1960 Philipp Reclam jun. GmbH & Co, Stuttgart
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung das Philipp Reclam Verlages

Jürgen Moltmann
(1926 - )
Zwingt der Glaube zum politischen Handeln
[...]
Zwingt der Glaube zum politischen Handeln? Nach dieser Auffassung sicher nicht, wenigstens nicht direkt und keinesfalls in erster Linie. Hier ist Glaube etwas Seelisches, Religiöses und sehr Persönliches. Er ist Sinn für Transzendenz und sollte darum über politische Tagesfragen weit erhaben sein. Wenn er auf die Politik einwirkt, so nur im Sinne der Mäßigung gegenüber jedwelchem politischen und religiösen Radikalismus.

Für diesen Glauben sind in der Welt Gut und Böse vermischt. Göttliches und Teuflisches ringen miteinander. Auch der Mensch selbst ist gerecht und sündig zugleich. Der Glaube steht in dieser zweideutigen Welt und doch zugleich auch über ihr. Das dürfte im Positiven wie im Negativen das landläufige Bild vom Glauben und von der Rolle der Kirchen in der Politik sein. Versuchen wir zunächst herauszufinden, was daran positiv und was daran negativ ist.

Glaube ist hier Glaube an Gott, an ein höheres Wesen, an eine lenkende Vorsehung. Er ist religiöser Glaube und nicht politischer Glaube an eine Idee, einen Führer, eine Partei. Für diesen Glauben kommt das Heil nicht von der Politik, darum kann die Politik ihm auch nicht in einem letzten Sinne Unheil bringen. Dieser Glaube bezweifelt also den absoluten und den totalen Sinn des politischen Handelns. Für ihn ist das Politische etwas Irdisches, Vergängliches und Menschliches, jedenfalls etwas Nichtgöttliches. Wer so an Gott glaubt, der glaubt nicht mehr an die Caesaren .

In der Desillusionierung der Politik liegt das Positive dieses Glaubens . Er nötigt nicht zum politischen Handeln, so als hinge alles davon ab. Er befreit zum nüchternen Tun des politisch Notwendigen. Auf der anderen Seite wird jedoch gerade deshalb der politische Sinn solchen Glaubens bezweifelt. Wer sich damit beruhigt, dass Gott es schon machen wird, ganz gleich, was auch immer politisch geschieht, der wird unpolitisch. Er kann sich mit jedem Unrecht, das ihm selbst oder anderen passiert, abfinden. Weil er an einen Gott und eine gütige Vorsehung glaubt, braucht er sich um das politische Schicksal nicht zu viele Sorgen zu machen. Er hat an seinem Gott einen ewigen Trost und kann sich darum von der Weltverantwortung entlastet fühlen. Dieser Glaube, so sagen seine Kritiker, entnervt das politische Handeln und führt in eine kindliche Verantwortungslosigkeit zurück. Das ist das Negative daran.

Glaube kann weiter Hoffnung auf einen Himmel im Jenseits dieser Weltgeschichte sein. Wer darauf seine Hoffnung setzt, für den wird das Politische zum Vorletzten. Das Paradies lässt sich auf Erden nicht verwirklichen. Auf Erden ist und bleibt alles zweideutig. Leid und Mühe gehören nun einmal zu dieser Erde. Das Positive an dieser Ansicht liegt wohl darin, dass sie jeden politischen Standpunkt relativiert und allen totalitären Ansprüchen politischer Parteien widerspricht. Das Negative aber liegt darin, dass diese Hoffnung auf ein Jenseits zur Resignation im Diesseits verführt. Ein heimliches Desinteresse an allen politischen Systemen und Aktionen ist stets das Ergebnis.

Ob Monarchie — ob Demokratie, ob Kapitalismus — ob Sozialismus: alle irdischen Gesellschaftsformen sind Gott und dem Jenseits gleich nah und fern. Man kann sich über gute und böse Verhältnisse hinwegtrösten. Der junge Karl Marx fand, dass diese Religion der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt und der Geist geistloser Zustände, also das sie Opium des Volkes sei. Erst wenn dieser religiöse Glaube aufgehoben wird, wird der Mensch zum politischen Handeln buchstäblich »gezwungen«. Denn die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke und handle wie ein zu Verstand gekommener Mensch.

Dieser Glaube ist endlich ein Herzensglaube. Wer glaubt, ist trotz der Abhängigkeit von der Tradition und von der Gemeinschaft ist der Kirche auf sich allein gestellt. Glaube führt in die Vereinzelung hinein. Das Positive daran wird im unendlichen Wert der einzelnen Person vor Gott gesehen. Wer so glaubt, der ist in seinem innersten Wesen nicht mehr von politischen Interessen, von seiner Klassen- und Volkszugehörigkeit bestimmt. Er tritt der Gesellschaft frei und kritisch gegenüber. Viele preisen diesen christlichen Subjektivismus, aber man muss auch die negativen Folgen erkennen. Sie liegen in der politischen Indifferenz des Herzens. Wird einer durch Glauben in seiner innersten Seele unangreifbar, so werden ihm alle äußeren Dinge unwichtig. Der Glaube bewahrt ihm die Reinheit des Herzens, und darum findet er, dass die Politik allemal ein »schmutziges Geschäft« sei. Wie die Geschichte zeigt, überlassen diese Gläubigen die Politik am liebsten anderen, und zwar solchen, die ihnen am meisten Ruhe und Sicherheit versprechen.
S.140ff.
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart . Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Gerhard Rein

Christian Morgenstern
(1871 – 1914)
Gottesbegriff
»Gott ist nur der Lebensfunke Schön. Dieser Funke aber bildet Sterne und Gehirne. Ja, er legt mir selbst das Wort Gott über sich in den Mund. Und so brauch ich‘s denn.
S.253

Was es gilt, ist die Austreibung Gottes aus allem Jenseits in das Diesseits. Gott ist nicht irgendwo, er ist auch nicht hier oder dort, sondern er ist dies und das, und drittes und legionstes.
S.253

Gott
ist die Überwältigung unseres Inneren durch die Unendlichkeit. Die Kapitulation des menschlichen Begriffevermögens vor der Welt.
S.260f.
Aus Christian Morgenstern: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Herausgegeben von Margareta Morgenstern und Michael Bauer
Copyright 1918 by R. Piper Verlag, München

Johannes Reuchlin
, griech. Capnion (1455 – 1522)
Die Kunst der Kabbalistik
De arte Cabbalistica
[...]
Und durch Vermittlung des Messias schreiten wir schließlich ganz hinüber zu dem unbegreiflichen Gott; dann aber steigen auch mit Hilfe dieser heiligen Schriften — wie auf der Jakobsleiter, die den Himmel mit ihrer Spitze berührt, auf der Gott selbst steht
[Gen 28, 12f.] — unsere Engel hinauf und hinab. Von hier befördern sie die Gebete, von dort die Gaben; von hier aus tragen sie die Gebete ins Jenseits und von dort aus die Hilfen ins Diesseits, wie einer von euren Leuten sagt. Und ich glaube, dass in der Tat nichts anderes, was man sich vorstellen könnte, unsere Seele enger — gleichsam wie eine Kette bei der Weberei — an Gott bindet, als eben jene schon genannte heilige Schrift, die uns zunächst zur Bewunderung des Göttlichen führt, sodann, dem menschlichen Fassungsvermögen entsprechend, zu seiner Erkenntnis, schließlich zu jener lodernden Liebe dem göttlichen Wesen gegenüber, in welcher Weise es auch immer erkannt zu werden vermag, da diese Liebe die sicherste Verwirklichung der Hoffnung verspricht. Durch diese heilige Schrift werden wir mit den Lebewesen und den Rädern des Ezechiel von der Erde in die Höhe gehoben, um mit ihnen zu gehen, wenn sie gehen, und mit ihnen stehenzubleiben, wenn sie stehenbleiben [Ez 1,4—21]. Dies allein ist der Bereich wahrer Kontemplation, in der jedes einzelne Wort jeweils ein heiliges Zeichen darstellt; und jede einzelne Rede, jede Silbe, jeder Akzent und Punkt ist voll von verborgenen Bedeutungen; doch nicht nur unsere eigenen Autoren bezeugen dies, sondern auch die der Christen.
Aus: Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist, Ein biographisches Lesebuch von Hans-Rüdiger Schwab S.204-233
© 1998 Deutscher Taschenbuch Verlag, München, dtv 12609, ISBN 3-423-12609-4
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Deutschen Taschenbuch Verlages, München

Ferdinand Canning Scott Schiller
(1864 – 1937)
Die ethische Bedeutung der Unsterblichkeit.

[...]
Furcht und Hoffnung betreffs dessen, was im Jenseits geschehen kann, mögen nicht die höchsten sittlichen Motive sein, sie können als äußere Sanktion das verstärken, was innere Überzeugung sein sollte, aber sie sind deswegen nicht wertlos. Denn, wenn sie wirksam sind, so gewöhnen sie wenigstens die Menschen ans Rechte und bilden so die Grundlage einer guten Gewöhnung, welche überall die wirkliche Grundlage alles Handelns und die unumgängliche Vorbedingung für die rechte Erwägung des Verhaltens und die Erlangung einer höheren Sittlichkeitsauffassung ist. Unser sittlicher Enthusiasmus braucht also über diese niederen Motive ebensowenig die Stirn zu runzeln, als die Polizei deshalb aufzulösen, weil eine wahrhaft sittliche Gemeinschaft keiner solchen bedürfe.

Noch radikaler als die obigen Einwände ist aber noch ein dritter Einwand, welcher mit Bezug auf unser Verhalten auf Erden, jegliches Ausschauen nach einem künftigen Leben als völlig unsittlich verdammt. Die Gewohnheit, auf ein künftiges Leben hinzublicken, erklärt man, erzeugt eine verderbliche »Richtung aufs Jenseits« , die dem rechten Verhalten auf dieser Welt Abbruch tut. Wir können nicht für zwei Welten zugleich leben; die vorausgesetzte Bedeutung des ewigen Lebens im Jenseits hebt die wahre Bedeutung unseres irdischen, zeitlichen Lebens auf.
[...]
Aus: F. C. S. Schiller, Humanismus, Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, deutsch von Dr. Rudolf Eisler
Philosophisch-soziologische Bücherei XXV, Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig 1911


Eduard Spranger (1882 – 1963)
Altsein als Aufgabe
[...]
III. Mit dem dritten, abschließenden Teil nähern wir uns der höchsten Form der Sinngebung, die unter günstigen Umständen dem altgewordenen Menschen noch gelingen kann. Sie liegt schon an der metaphysischen Grenze, d. h. da, wo Raum und Zeit, diese widerspruchsreifen Schemata unserer irdischen Orientierung, ihre Fragwürdigkeit zu enthüllen beginnen. Im höchsten Alter muss man lernen, allmählich zwischen Diesseits und Jenseits zu stehen. — Aber gibt es wirklich ein Jenseits ? Ich bin mir klar darüber, dass dieses Wort nur ein Gleichnis ist für eine Richtung, in sich nun einiges zu bewegen beginnt
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Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 286, Der alte Mensch in unserer Zeit,
Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S. 131-142
Copyright 1958 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart

Adalbert Stifter (1805 – 1868)
Über Gott ist nichts ...

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Was in uns denkt, fühlt, liebt, hasst, Gott anbetet, ins Jenseits übergreift, ist sogar ein ganz und gar Unwandelbares und kann nur mehr nur minder von Einflüssen gehemmt oder gefördert werden. Es ist, wir können sein Nichtsein nicht denken und heißen es in höchster Fülle Gott. Wie dasselbe ohne menschlichen Körper ist, können wir nicht fassen, weil wir nur durch den Körper fassen, wie der, welcher von der Seite eines Berges sieht, nie, solange er sich dort befindet, sehen kann, was hinter dem Rücken des Berges ist; aber was auch sein möge hinter jener Grenze, die unsere Augen schließt: es ist das Beste, Herrlichste und Weiseste, dessen dürfen wir gewiss sein, das lehrt das Stück Leben, welches wir Diesseits nennen, hinreichend; unsere Vernunft kann es nicht anders vorstellen, und Gott wäre nicht Gott, wenn es anders wäre. Diesen Gedanken habe ich, seit ich männlicher geworden bin, diesen Gedanken habe ich sogar nicht bloß für das Jenseits, sondern für alle Vorkommnisse dieser Welt, und er ist der Inhalt meines Gebetes: »Herr, was von dir kömmt, ist gut, ich bete es an, wenn es mich auch schmerzet.«. [...]
Aus: Adalbert Stifter, Bunte Steine

Gerhard Szczesny (1918 - 2002 )
Das Christentum oder die Verewigung einer frühen Theologie
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Die Läuterung des zornigen und gewalttätigen Stammesgottes der Juden zum milden Patriarchen und Vater der Christen ändert nichts am Grund-Wesenszug dieses Gottes. Er ist und bleibt ein außerhalb des Weltzusammenhanges beheimateter Dämon, dessen unerforschliche Entscheidungen den Menschen an seine Nichtigkeit erinnern. Da aber die Völker ihre Religionen nicht erdenken, um sich ihrer Verlorenheit zu vergewissern, sondern um der Ohnmacht und dem Elend ihrer Existenz zu entkommen, musste zwischen dem unbegreiflichen Herrscher-Gott und den Angehörigen des von ihm auserwählten Volkes die Möglichkeit einer Kommunikation gefunden werden. Gott wurde der Wille zugeschrieben, sich einzelnen, besonders begnadeten Menschen gelegentlich aus unbekannten Gründen und unter mysteriösen Umständen kundzutun. Die Gnade der Erwählung und Offenbarung war der von Gott her unternommene Brückenschlag zwischen Diesseits und Jenseits . Er ist nicht die Folge irgendeiner Bemühung des Menschen, der Gott weder durch Taten noch durch Einsicht nahekommen kann. Wer aber von ihm auf solche Art auserwählt wurde, war ausgezeichnet vor allen anderen. Er brachte und hütete das Gesetz, und nur durch seine Vermittlung konnte man der ewigen Verdammnis entgehen. In dieser Annahme ist die überragende Bedeutung der Propheten und die beherrschende Stellung der die heiligen Texte auslegenden und für die Befolgung des Rituals sorgenden Priester und Schriftgelehrten begründet.

Die Schriften des Alten Testamentes gelten als die unmittelbaren Diktate Gottes. Das Wort war Magie, wer es besaß und richtig anzuwenden vermochte, hatte Macht über Menschen und Dinge. Und wer sein Wissen und seinen Willen gar noch in Zeichen und Buchstaben festlegen konnte, musste Medium einer göttlichen Kraft oder das Sprachrohr Gottes selbst sein. Wenn Moses die Tafeln mit dem Gesetz brachte, musste er es nicht erst ausdrücklich sagen, dass Gott sie ihm diktiert hatte; es konnte gar nicht anders sein. Das jüdische Volk hat immer ein besonderes Verhältnis zum Wort gehabt. Die Macht des klar formulierten Gedankens und der Schrift hat aus geschichtslosen Bauern- und Hirtenstämmen ein geschichtsbewusstes Volk gemacht. Es existierte kraft eines intellektuellen Aktes und erhob sich über den Mythos durch begriffliche Abstraktion. Hier und jetzt und so und nicht anders vollzogen sich die Dinge, zu denen Israel ausersehen war. Gott drückte sich präzise aus; er war ein Gott der Willkür, aber auch ein Gott der Genauigkeit, der das Konkrete und Klare liebte.

Mit diesen Elementen des jüdischen Glaubens waren zwei Grundzüge auch des Christentums gegeben: die Vorstellung eines autonom aus dem Jenseits ins Diesseits wirkenden persönlichen Gottes und die Überzeugung, dass er seinen Willen in bestimmten Ereignissen und Schriften für alle Völker und für alle Zeiten unmissverständlich dargetan hat. Judentum und Christentum sind die Verewigung einer frühen Theologie. Der Weg zur Philosophie und Wissenschaft war verbaut. Die Annahme, dass Natur und Geschichte eigenen Gesetzen folgen, hätte die Ohnmacht Gottes unterstellt und wäre einer Leugnung seiner Existenz gleichgekommen. Die der menschlichen Fähigkeit, Zusammenhänge zu sehen und Schlüsse zu ziehen, gestellte Aufgabe konnte nicht in einem voraussetzungslosen Erforschen der Dinge, sondern nur in der Auslegung des schriftlich fixierten göttlichen Willens bestehen.

Die Juden haben Visionäre und Gesetzgeber, Propheten und Schriftgelehrte hervorgebracht, aber weder einen Thales noch einen Parmenides, weder einen Platon noch einen Aristoteles. Erst nach der Berührung mit der hellenischen Kultur und der Emanzipation jüdischer Intellektueller vom mosaischen Glauben beginnt das in vielen Jahrhunderten der Kasuistik scharf, geschmeidig und subtil gewordene jüdische Denken für Philosophie und Wissenschaft fruchtbar zu werden. Die Verstandskraft der aus dem Judentum hervorgehenden Denker ist so außergewöhnlich, dass die Geschichte der westlichen Zivilisation ohne ihren Beitrag nicht denkbar wäre. Die Neuzeit, mit der das eigentliche Zeitalter der Rationalität anhebt, verdankt ihre entscheidenden Antriebe und Umwälzungen den überragenden Leistungen jüdischer Forscher und Gelehrter. Aber diese Leistungen einzelner emanzipierter und assimilierter Juden in der nichtjüdischen Welt sind nur die Kehrseite der Tatsache, dass das orthodoxe Judentum in einem rein spekulativen und scholastischen Intellektualimus für immer steckengeblieben ist, den das Christentum übernommen und gegen das wissenschaftliche Denken seit den Tagen des Apostel Paulus ausgespielt hat. Es ist jene für höher als alle »bloße« Vernunft gehaltene Fähigkeit der menschlichen Intelligenz, von irgendeiner vorgegebenen These aus die schwindelerregendsten Begriffsgebäude zu errichten.
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Aus: Gerhard Szczesny: Die Zukunft des Unglaubens, Zeitgemäße Betrachtungen eines Nichtchristen S.20ff., Paul List Verlag (List Taschenbücher Band 387)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Claudia Szczesny-Friedmann, München

Paul Johannes Tillich (1886 – 1965)
Das christliche Verständnis des modernen Menschen
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Welches Christentum soll die Aussage machen? Diese Frage ist viel schwieriger, aber sie muss beantwortet werden. Jede christliche Theologie hat eine besondere Weise, in der sie über den modernen Menschen spricht.

Was ich ausführe, wurzelt in einem Protestantismus, der so viele moderne Elemente in sich aufgenommen hat, dass er über sich selbst spricht, wenn er über den modernen Menschen spricht. Und doch nicht ganz: Als protestantischer Christ ist man fähig, eine Dimension (Ebene, Ausdehnung, Ausmaß) menschlichen Seins zu sehen, die dem Blick des modernen Menschen, der nur moderner Mensch ist, entschwunden ist. Es ist die Dimension des Unbedingten, des Letzten in Sein und Sinn . Es ist die Dimension, die sich zeigt, wenn die Frage gestellt wird:

Wofür bin ich da?

Warum ist irgend etwas da?

Was ist der Grund, was ist der Sinn alles Seins?

Was ist der Sinn meines Seins?

Auf diese Fragen gibt die Religion Antworten. Es sind keine Antworten, die auf der Ebene wissenschaftlichen Suchens liegen. Es sind Antworten, die unmittelbar und persönlich zu dem gesprochen sind, der fragt, es sind Antworten, die mit dem ganzen Sein des Fragenden aufgenommen werden müssen, und deren Sprache das Symbol ist.

Das Christentum, d. h. viele Vertreter gegenwärtigen christlichen Denkens, wie auch ich selbst, glauben nun zu sehen, dass diese Dimension, die Dimension des Religiösen, dem typisch modernen Menschen verlorengegangen ist. Und es ist die Aufgabe des Theologen, der sich um ein Verständnis des modernen Menschen bemüht, zu zeigen, warum dieser Verlust eingetreten ist, was er bedeutet, und wie das Verlorene wieder gewonnen werden kann.

Es sind drei Prinzipien, die das Bewusstsein des modernen Menschen bestimmen und deren jede zum Verlust der Dimension des Unbedingten oder, um eine Metapher zu gebrauchen, der Dimension der Tiefe beigetragen hat. Wir können sie

das Prinzip der Innerweltlichkeit,

das Prinzip der Vergegenständlichung und

das Prinzip der Umgestaltung
nennen.

Jedes dieser drei hat in der gleichen Richtung gewirkt und das geschaffen, was man als den modernen Menschen bezeichnen kann. Wir wollen diese drei Prinzipien der Reihe nach betrachten und auf diese Weise dem christlichen Verständnis des modernen Menschen näherkommen. Dabei muss von vornherein bemerkt werden, dass diese Prinzipien in ihrer ursprünglichen Bedeutung keineswegs antireligiös waren, es aber im Lauf ihrer Entwicklung wurden.

Das Prinzip der Innerweltlichkeit hatte ursprünglich den Sinn, dass das Göttliche nicht in einer Überwelt seinen Sitz hat, sondern dass es in jedem Teil dieser Welt, in der Sonne wie in dem Sandkorn, in dem Tier wie in dem Menschen, ganz gegenwärtig ist. Man braucht nicht in eine Überwelt zu steigen, um Gott zu haben, man kann ihn hier und jetzt haben, ganz und wirklich, obgleich kein Endliches ihn umschließen und begreifen kann. Es war eine religiös gesättigte Innerweltlichkeit, aus der das moderne Prinzip der Innerweltlichkeit geboren wurde.

Im Laufe der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft geschah es jedoch, dass das religiöse Element, die Dimension der Tiefe, verschüttet wurde. Der Geist der industriellen Welterkenntnis und Weltbeherrschung ist auf die Dimension des Horizontalen gerichtet. Alles, was vom Vertikalen hereinbrechen könnte, stört ihn. Er braucht eine berechenbare Welt, aus der alles Unberechenbare gebannt ist. Die Vertikale hat zwei Richtungen, die nach oben und die nach unten. Die Richtung nach oben steht symbolisch für das Schöpferisch-Göttliche, die Richtung nach unten für das Zerstörerisch-Dämonische. Es war dem modernen Bewusstsein nicht zu schwer, mit der Richtung nach oben fertigzuwerden. Man brauchte sie nicht zu verneinen, im Gegenteil, es war oft nützlich, sie für innerweltliche Zwecke zu benutzen. Man konnte soziale Herrschaftsverhältnisse als gottgewollt rechtfertigen.

Man konnte politischen Zielen eine religiöse Weihe geben, man konnte nationale Aspirationen religiös begründen. Allerdings war das alles nur möglich, nachdem das Religiöse verharmlost, die Linie nach oben unschädlich gemacht war. Für Erschütterungen, wie sie von dem prophetischen Erlebnis des Göttlichen ausgehen, ist in dem typischen Denken der industriellen Gesellschaft kein Platz, und ebensowenig für die Botschaft von einem neuen Sein, das in die Welt eingebrochen ist und ständig einbricht. Aber schwieriger als mit der Vertikalen nach oben fertigzuwerden, war es für den modernen Menschen, die Vertikale nach unten, das Dämonisch-Zerstörerische auszuscheiden.

Schon früh im 18. Jahrhundert versuchte man es und nicht ohne Erfolg. Das extremste Symbol der Richtung nach unten, die Hölle, wurde leicht beseitigt, und das Wort selbst erhielt sich nur als Fluchwort in der Sprache. Bald folgte der Begriff der Sünde, vor allem der Erbsünde. Er schien einen tiefen Pessimismus über die menschliche Situation auszudrücken und unvereinbar zu sein mit einer freudigen Bejahung des Innerweltlichen. Endlich folgte die Verbannung des Todes aus dem öffentlichen Bewusstsein, aus dem Gespräch und aus der Sicht. Es wurde als taktlos angesehen, vom Tode zu reden. Und mit all dem ging nicht nur der Teufelsaberglaube mit seinen furchtbaren Folgen, sondern auch das Bewußtsein um die dämonischzerstörerischen Kräfte im Leben des einzelnen und der Gesellschaft über Bord. Das ist der moderne Mensch, geformt durch das Prinzip der Innerweltlichkeit.

Und doch ist er es nicht. Er war es nie ganz und er ist es nicht mehr. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat erlebt, dass die Vertikale nach unten nicht abgeschnitten werden kann, er hat erlebt, dass er endlich ist. Und er rennt an gegen die Mauern der Endlichkeit, gegen das Gefängnis, in das ihn das Prinzip der Innerweltlichkeit eingeschlossen hat. Die Innerweltlichkeit, die im Anfang Befreiung war von einem immer drohenden Jenseits , wird von vielen Menschen unserer Tage als Gefangenschaft erlebt. Die Angst der Endlichkeit hat auch die Träger und Beweger der industriellen Gesellschaft ergriffen. Die Kunst, Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts sind ein überwältigendes Zeugnis dafür. Ihr Stil, der Stil der Zerrissenheit und des Rückgangs auf die Urelemente des Universums und des Menschen, zeigt, dass die Dämonen (Dämon) - um dieses Symbolwort zu gebrauchen -, die verbannt zu sein schienen, zurückgekehrt sind. [...] S.143ff:
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 292, Das ist der Mensch, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks . Copyright 1959 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Oswald Arnold Gottfried Spengler (1880 – 1936)
Der unsichtbare Gott
Die(se) Verarmung des Sinnlichen bedeutet zugleich eine unermessliche Vertiefung. Menschliches Wachsein ist nicht mehr die bloße Spannung zwischen Leib und Umwelt. Es heißt jetzt: Leben in einer rings geschlossenen Lichtwelt. Der Leib bewegt sich im gesehenen Raum. Das Tiefenerlebnis ist ein gewaltiges Eindringen in sichtbare Fernen von einer Lichtmitte aus: es ist jener Punkt, den wir Ich nennen. »Ich« ist ein Lichtbegriff. Von nun an ist das Leben des Ich ein Leben unter der Sonne, und die Nacht dem Tode verwandt. Und daraus bildet sich ein neues Angstgefühl, das alle andern in sich aufnimmt: die Angst vor dem Unsichtbaren, vor dem, was man hört, fühlt, ahnt, wirken sieht, ohne es selbst zu erblicken. Tiere kennen ganz andere, dem Menschen rätselhafte Formen der Angst, denn auch die Angst vor der Stille, die urwüchsige Menschen und Kinder durch Lärm und lautes Reden unterbrechen und verscheuchen wollen, ist bei höheren Menschen im Verschwinden begriffen.

Die Angst vor dem Unsichtbaren aber bezeichnet die Eigenart aller menschlichen Religiosität . Gottheiten sind geahnte, vorgestellte, erschaute Lichtwirklichkeiten . Der »unsichtbare Gott« ist der höchste Ausdruck menschlicher Transzendenz . Das Jenseits liegt dort, wo die Grenzen der Lichtwelt sind; Erlösung ist Befreiung aus dem Banne des Lichts und seiner Tatsachen.

Aus: Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, dtv- Taschenbuch 30073, S.564f.