Johannes vom Kreuz, Juan de la Crux (1542 - 1591)
Spanischer
Mystiker und Dichter, der mit der heiligen
Teresa den Karmeliter-Orden reformierte. Juan war ein Meister des innerlichen
Lebens und wurde aus diesem Grunde »doctor extático« genannt. Zugleich ist er ein spätbarocker Dichter, der die Liebespoesie ins Mystische wendete. – Kirchenlehrer (Tag:
14.12) Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Heiligenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Die Nacht der Sinne
Die Nacht des Geistes
Die
Nacht der Sinne
Um zum Stande der Vollkommenheit zu gelangen, muss die Seele gewöhnlich
zwei verschiedene Nächte durchwandeln, die bei den Geisteslehrern Reinigungen
oder Läuterungen heißen. Ich nenne sie Nächte, weil die Seele
sowohl in der einen wie in der anderen wie zur Nachtzeit im Finstern wandelt.
Die erste Läuterung ist die Nacht des sinnlichen Teiles, die zweite des
geistigen Teiles der Seele.
In den ersten Anfängen, da die Seele sich mir Entschiedenheit zum Dienste
Gottes wendet, pflegt Gott sie geistigerweise so zu hegen und zu liebkosen wie
eine liebende Mutter ihr zartes Kindlein. Sie wärmt es an ihrer Mutterbrust,
nährt es mit süßer Milch und weicher, wohlschmeckender Speise,
nimmt es in ihre Arme und pflegt es. Je mehr es aber heranwächst, um so
mehr entzieht ihm die Mutter solche Pflege, indem sie ihre Zartheit verbirgt
und ihre süße Brust mir etwas Bitterem bestreicht. Sie nimmt es nicht
mehr auf ihre Arme, sondern lässt es auf eigenen Füßen
stehen, damit es die Eigenheiten des Säuglings ablegt und sich größeren,
wesentlicheren Dingen zuwendet.
So macht es auch die Gnade Gottes, diese zärtlich liebende Mutter, wenn
sie eine Seele zu neuem Leben und zum Eifer im Dienst Gottes wiedergeboren hat.
Sie lässt sie, ohne alle Mühe ihrerseits, in allen geistlichen
Dingen eine süße und wohlschmeckende Milch und große Freude
an den geistlichen Übungen finden. Die Seele findet ihre Wonne daran, lange
Zeit, ja ganze Nächte dem Gebete zu widmen. Bußübungen sind
ihr ein Vergnügen, Fasten eine Freude, der Empfang der Sakramente und geistliche
Gespräche ihr Trost. Und doch äußern sich dabei nicht selten
bedeutende Schwächen und Unvollkommenheiten. Man lässt sich zu
diesen geistlichen Übungen und Beschäftigungen durch den Trost und
die Ergötzung bestimmen, die man darin findet. Und da man in hartem Kampfe
noch nicht erprobt und in der Tugend noch nicht befestigt ist, so sind die geistlichen
Übungen meist mit vielen Fehlern und Unvollkommenheiten durchsetzt.
Immerhin übt sich die Seele eine Zeitlang auf diese Weise auf dem Wege
der Tugend, und wenn sie in der Betrachtung und im Gebete sich treu erweist
und durch die Süßigkeit und den Genuß, den sie empfindet, sich
freimacht von der Anhänglichkeit und Liebe zu den Dingen dieser Welt, so
gewinnt sie doch endlich einige geistige Kraft in Gott, um das Gelüste
nach dem Geschöpflichen zu bezähmen und um Gottes willen einige Beschwerden
und geistige Trockenheiten ertragen zu können.
Zu dieser Zeit beginnt Gott, ihnen all dieses Licht zu verdunkeln. Er verschließt
ihnen die Türe und verstopft ihnen die Quelle des süßen Wassers
des Geistes, aus der sie bisher immer, sooft es ihnen beliebte, getrunken hatten.
Sie können nun in keiner Weise mehr betrachten, wie sie es vorher gewohnt
waren. Denn die inneren Sinne sind schon in Nacht versenkt und in solche Trockenheit
versetzt, daß ihnen die geistlichen Dinge und frommen Übungen, an
denen sie ehedem ihre Freude und Wonne fanden, saftlos und geschmacklos erscheinen,
ja sogar Widerwillen und Verdrießlichkeit verursachen.
Es gibt gewisse Zeichen, an denen man erkennen kann, ob diese geistliche Trockenheit
tatsächlich mit der genannten Läuterung zusammenhängt oder andere,
fehlerhafte Ursachen hat. Das erste Zeichen besteht darin, dass die Seele
ebensowenig an Geschöpflichem Geschmack und Trost gewinnt wie an göttlichen
Dingen; zweitens, dass sie für gewöhnlich mir peinlicher Angst
und Sorge an Gott denkt und ihm nicht zu dienen, sondern rückwärts
zu gehen fürchtet, weil sie eben keine Freude an göttlichen Dingen
in sich wahrnimmt; drittens, dass die Seele nicht mehr betrachten und nachsinnen
kann und trotz aller Anstrengung mit der Einbildungskraft nichts mehr zuwege
bringt, um sie für die Betrachtung zu gebrauchen.
Diese Nacht oder Läuterung der Gelüste ist überaus wertvoll für
die Seele, wenn es ihr auch scheint, sie verliere dadurch große Güter
und Vorteile. Der erste Nutzen ist die Erkenntnis seiner selbst und seines Elends;
sodann eine weit größere Ehrfurcht und Bescheidenheit im Verkehr
mit Gott, wie es sich dem Allerhöchsten gegenüber immer geziemt. Auch
nimmt die Seele in der Trockenheit und Leere dieser Sinnennacht an innerer Demut zu, wird unterwürfig und gehorsam. Denn wenn man sieh so elend sieht, hört
man nicht bloß gerne die Belehrungen anderer an, sondern wünscht
sogar, es möchte uns jeder Wegweiser sein
und sagen, was wir zu tun hätten. Und so sind noch mancherlei andere Vorteile,
die diese Nacht der Sinne in der Seele hervorbringt.
Die Nacht
des Geistes
So geht eine Zeitlang vorüber, es fließen Jahre dahin, und die Seele,
den Stand der Anfänger hinter sich, wandelt auf den Wegen der Fortschreitenden.
Wie einem dunklen Kerker entflohen, kann sie sich in dieser Zeit mir viel größerer
Befriedigung und Freiheit göttlichen Dingen hingehen und findet darin eine
weit reichere und tiefere Wonne als ehedem, vor ihrem Eintritt in die dunkle
Nacht. Ihre Vorstellungskraft und ihre Seelenkräfte überhaupt sind
auch nicht mehr an das nachforschende Betrachten und an gewisse Vorschriften
des geistlichen Lebens gebunden. Ohne sich mit Nachdenken Mühe zu geben,
wird ihrem Geist sogleich eine beruhigende und liebende Beschauung und geistige
Wonne zuteil. Denn da die Sinne schon mehr geläutert sind, so besitzen
sie eine größere Fähigkeit, die Süßigkeiten des Geistes
zu kosten, wenigstens nach ihrer Art. Freilich, da der
sinnliche Teil der Seele zu schwach ist, um die starke Kraft des Geistes in
sich aufzunehmen, so erleiden solche Fortschreitenden, zufolge dieser Verbindung
des Geistes mit dem sinnlichen Teil, gar manche Schwächen und Störungen
leiblicher Art, erleiden Entrückungen, Herzkrämpfe, Verrenkungen der
Glieder — Dinge, die immer eintreten, wenn die Heimsuchungen Gottes nicht
rein geistiger Art sind, also nicht dem Geiste allein widerfahren, wie es bei
Vollkommenen der Fall ist, nachdem sie bereits durch die zweite Nacht, des Geistes
nämlich, gereinigt sind. Gar vielen begegnen in diesem Läuterungsstande
gewisse Erscheinungen sinnlicher und geistiger Art, und zwar in Verbindung mit
süßen Wonnegefühlen, wobei der böse Feind und die eigene
Phantasie in den meisten Fällen allerlei Blendwerk in der Seele hervorrufen,
wenn man nicht alle Vorsicht anwendet und all diese Gesichte und Wahrnehmungen
ruhig über sich ergehen läßt und stark im Glauben sich dagegen
wehrt.
So wacker sich auch fortschreitende Seelen halten mögen, es findet sich
keine einzige, die nicht manche dieser natürlichen Unvollkommenheiten an
sich trüge, die erst verschwinden müssen, wenn man zur göttlichen
Vereinigung gelangen will. Deshalb muß die Seele die zweite Nacht des
Geistes durchmachen, Sinne und Geist von allen sinnlichen Vorstellungen und
Gefühlen entblößt werden. Die Seele muß im dunklen, reinen Glauben wandeln, dem geeignetsten und passendsten Mittel
zur Vereinigung mit Gott, wie es bei Oseas heißt: »Ich
will dich mir verloben im Glauben«.
Diese dunkle Nacht des Geistes ist eine Einwirkung Gottes auf die Seele, die
bei den Gottesgelehrten »eingegossene Beschauung«
oder »mystische Gottesweisheit« heißt.
In ihr belehrt Gott die Seele in geheimnisvoller Weise in der vollkommenen Liebe,
ohne daß diese selber etwas tut noch auch versteht, wie diese eingegossene
Beschauung vor sich geht.
Warum aber rede ich von »dunkler Nacht«, da es doch ein göttliches Licht ist, das die
Seele erleuchtet und von ihrem Unwissen reinigt. Ich antworte: Aus zwei Ursachen
ist die göttliche Weisheit nicht nur Nacht und Finsternis für die
Seele, sondern geradezu eine Pein und Qual. Die erste
Ursache liegt in der Erhabenheit der göttlichen Weisheit, die die Fassungskraft
der Seele übersteigt und insofern eine Finsternis ist für sie; die
zweite liegt in der Niedrigkeit und Unreinheit der Seele selbst, und darum ist
dies Licht für die Seele etwas Peinliches, Schmerzliches und Dunkles.
Darum nennen auch St. Dionysius und
andere mystische Theologen diese eingegossene Beschauung einen »Strahl
der Finsternis«. Das Licht und die Weisheit dieser Beschauung an
sich ist überaus hell und rein; aber die Seele, in die es fällt, ist
finster und unrein.
Wenn also dieses reine Licht in die Seele strömt,
um deren Unreinheit zu vertreiben, fühlt sie sich so unsauber und elend,
daß es ihr scheint, als sei sie Gottes Feind und Gott der ihre. Sie hält
sich Gottes und aller Geschöpfe für vollkommen unwürdig. Und
was ihr am schmerzlichsten fällt, das ist die Furcht, daß sie nie
Gottes würdig werde und alle ihre Gnadenschätze eingebüßt
habe. Die Ursache davon ist die tiefe Versenkung des Geistes in die Erkenntnis
und das Gefühl ihrer Sünden und ihres Elends. Denn das göttliche
Lichtdunkel offenbart gar deutlich das ganze Sündenelend, und die Seele
sieht klar, daß sie aus sich nichts anderes haben könne. Am empfindlichsten
ist der Gedanke, Gott habe sie offenbar verstoßen und als verabscheuungswürdiges
Geschöpf in die Finsternis gestürzt; und dieser Glaube, von Gott verlassen
zu sein, ist eine überaus schwere, erbarmungswürdige Pein. Manchmal
nimmt die Seele ihre Verwerflichkeit lebendig wahr, daß es ihr vorkommt,
sie sehe die Hölle und ihr Verderben offen vor sich.
Dazu kommt noch, daß die Seele infolge der Einsamkeit und Verlassenheit,
die diese dunkle Nacht in ihr verursacht, weder an einer Belehrung noch an einem
geistlichen Führer Trost und Stütze finden kann. Mag man ihr auch
die mannigfachen Trostgründe vor Augen führen, wodurch sie sich aufrichten
könnte (im Hinblick auf die Güter, die ihr aus diesem Leiden erwachsen),
sie kann es doch nimmer glauben. Sie ist so tief durchdrungen und eingenommen
vom Gefühl dieser Übel, die ihr das eigene Elend aufs grellste offenbaren,
daß sie meint, andere sehen nicht, was sie sehe, und fühlten oder
redeten nur so. ohne davon Kenntnis zu haben. Und statt des Trostes wird sie
mit neuem Schmerz erfüllt, da es nach ihrer Ansicht keine Abhilfe gibt
gegen ihren üblen Zustand. Und es ist auch in der Tat so. Denn solange
der Herr die Reinigung nicht auf eine Weise vollzogen hat, wie es ihm gefällt,
findet sich weder Mittel noch Arznei, ihren Schmerz zu lindern.
Soll diese Reinigung irgendwie eine ernstliche sein, so dauert sie, wie streng
sie auch immer sein mag, mehrere Jahre, obschon sich in dieser Zeit manche Ruhepausen
und Erleichterungen einstellen, in denen die dunkle Beschauung nach Gottes Ratschluß nicht so sehr in reinigender als in erleuchtender und wohltuender Weise auf
die Seele wirkt.
Noch etwas gibt es, was in diesem Zustand die Seele überaus quält
und trostlos macht. Da nämlich diese geistige Nacht die Kräfte und
Neigungen der Seele so sehr unterbindet, so vermag sie nicht, wie früher
ihr Herz und Gemüt zu Gott zu erheben noch auch im Gebete um etwas zu bitten.
Es scheint Ihr, wie einst dem Jeremias, Gott habe eine Wolke vor sich gestellt,
durch die ihr Gebet nicht hindurchdringen könne. Sie kann weder beten noch
den gottesdienstlichen Verrichtungen mit Aufmerksamkeit beiwohnen, noch viel
weniger auf andere, zeitliche Dinge ihr Augenmerk richten. Sie leidet an solcher
Geistesabwesenheit und Gedächtnisschwäche, daß viele Stunden
vorübergehen, ohne daß sie weiß, was sie gedacht oder getan
hat oder was sie tut und tun will.
Und doch, es ist eine selige Nacht, da sie mit dieser
Verfinsterung des Geistes keinen anderen Zweck hat, als die Seele in
jeder Hinsicht zu erleuchten; und nur darum macht sie niedrig und elend, um
zu erheben und aufzurichten; und nur darum macht sie arm und jedes Besitzes
und jeder natürlichen Neigung bar, damit sich die Seele auf göttliche
Weise erheben kann zum beseligenden Genuß aller irdischen und himmlischen
Dinge. Eine einzige Neigung, die zurückbliebe, eine einzelne Anhänglichkeit
des Geistes an etwas Besonderes, sei es vorübergehend oder bleibend, reicht
hin, daß man in seinem Gefühl und Genusse nicht teilhaft werden kann
der Lieblichkeit und seligen Lust des Geistes der Liebe, der alle Süßigkeit
in erhabener Weise in sich begreift.
Um so mehr beginnt die Seele von Liebe zu erglühen, je mehr sie durch dieses
Feuer gereinigt und geläutert wird, wie ein Holzstück, das nach und
nach vom Feuer um so lebhafter erfaßt wird, je besser es dafür bereitet
ist. Es ist ein Entbrennen der Liebe im Geiste, wovon sich die Seele inmitten
dieser finsteren Bedrängnisse mit einer gewissen Empfindung und Ahnung
Gottes durchdrungen sieht, lebendig und innig erfaßt von göttlicher
Liebesmacht — ohne daß sie jedoch etwas im einzelnen erkennte, da
sich der Verstand noch im Finsteren befindet.
Es ist also so, daß diese Nacht des dunklen Liebesfeuers, ebenso wie sie
die Seele im Dunkeln reinigt, sie auch im Dunkeln entzündet. Da nämlich
diese dunkle Nacht der Beschauung göttliches Licht und göttliche Liebe
in sich begreift, wie das Feuer Licht und Wärme, so liegt darin kein Widerspruch,
daß dies göttliche Licht bei seinem Einströmen
mehr den Willen trifft und ihn mit Liebe entflammt, während es den
Verstand im Dunkel läßt, ohne ihn mit seinem Licht zu berühren.
Umgekehrt kann es auch den Verstand mit Licht und Erkenntnis erfüllen,
während es den Willen in Trockenheit läßt. Gerade so wie man
die Wärme des Feuers fühlen kann, ohne das Licht zu sehen, oder Licht
sehen kann, ohne die Wärme zu empfinden. Es ist das Wirken des Herrn, der
sich mitteilt, wie er will.
Aufs ganze gesehen, wirkt also diese Nacht ein doppeltes: Einerseits ist sie nichts anderes als die Erleuchtung des Verstandes mit übernatürlichem
Lichte, so daß der menschliche Verstand, mit Gott vereint, ein göttlicher
wird. Anderseits entbrennt auch der Wille von göttlicher Liebe, und zwar
so, daß er nunmehr nichts Geringeres wird als ein göttlicher Wille,
nur göttlich hebend, vereinigt und eins mit dem göttlichen Willen
und mit der göttlichen Liebe. Ähnlich ist es auch mit dem Gedächtnis
und dem übrigen, den Neigungen und Strebungen der Seele; sie werden gottgemäß,
in göttlicher Weise umgewandelt und verändert. So wird die Seele schon
jetzt himmlischer Art, himmlisch und mehr göttlich als menschlich. All
dies vollbringt und bewirkt Gott mittels dieser geistigen Nacht in der Seele,
indem er sie in göttlicher Weise erleuchtet, so daß sie nur mehr
von Sehnsucht nach Gott und nach keinem anderen Ding außer ihm entbrennt!
In dem Maße, wie die Beschauung einfacher wird und ein Nachdenken nicht
mehr stattfindet, weiß man bloß zu sagen, daß die Seele ihre
Sättigung, Ruhe und Befriedigung finde, daß sie Gott wahrnehme und
daß es gut gehe nach ihrem Empfinden, aber man vermag nicht mit Worten
zu erklären, was die Seele besitze, außer nur in allgemeinen Ausdrücken.
Anders ist es, wenn die der Seele zuteil gewordenen Gunstbezeugungen von besonderer
Art sind, etwa bei Gesichten, Erfahrungen, die man gewöhnlich unter einer
bestimmten Gestalt empfängt, an der das sinnliche Erkenntnisvermögen
beteiligt ist. Solchen Erscheinungen oder Bildern kann man auch Ausdruck gehen.
Aber dann liegt auch keine reine Beschauung vor. Denn für diese fehlt es,
wie gesagt, an Ausdrücken, weshalb ich von einer »verborgenen« Leiter rede, auf der die Seele zur süßen, wonnevollen Liebesvereinigung
mir Gott hinansteigt. Denn solche Dinge sind menschlich nicht zu begreifen.
Man muß zu ihnen durch menschliches Nicht-Erkennen oder, was dasselbe
ist, durch ein göttliches Nicht-Wissen gelangen. Denn mystisch
gesprochen, wie ich es hier tue, werden diese hohen Dinge nicht erkannt und
verstanden, wie sie sind, so lange man in ihrer Erforschung und Übung begriffen
ist, sondern erst, wenn man sie gefunden und geübt hat.
Von einer »Leiter« redete ich, und
zehn Sprossen der Liebe sind, auf denen die Seele
stufenweise zu Gott emporsteigt.
Die erste Sprosse macht die Seele zu ihrem Heile
krank — krank vor Liebe, und an keinem Ding kann sie eine Stütze,
einen Geschmack, Trost und Ruhe finden. —
Die zweite Sprosse läßt die Seele ohne
Unterlaß Gott suchen. So liebestrunken fühlt sie sich, daß
sie in allen Dingen den Geliebten sucht und bei allem, was sie denkt, ihre Gedanken
gleich auf den Geliebten richtet und bei allem, was sie spricht, und bei allen
Geschäften, die sich ihr aufdrängen, vom Geliebten spricht und handelt. —
Die dritte Sprosse der Liebesleiter setzt die Seele
in Tätigkeit und erfüllt sie mit Eifer, der nicht ermüden will;
und dabei liegt ihr nichts ferner als eitle Ehrsucht, Anmaßung oder Verurteilung
gegen andere. —
Die vierte Sprosse der Leiter der Liebe verursacht
in der Seele ein anhaltendes Leiden um des Geliebten willen, wobei ihre ganze
Sorgfalt dahin geht, Gott zu gefallen und ihm wenigstens in etwa zu dienen,
wie er es würdig ist und wie sie es ihm schuldet für das, was sie
von ihm empfangen hat. —
Die fünfte Sprosse der Liebesleiter erregt
in der Seele ein ungeduldi¬ges Streben und Verlangen nach Gott. Da muß
die liebende Seele entweder in den Besitz des Geliebten gelangen oder sterben,
wie Rachel in übergroßer Sehnsucht nach Kindern zu ihrem Gemahl Jakob
sprach: »Gib mir Kinder oder ich sterbe!«
—
Die sechste Sprosse bewirkt, daß die Seele
schnell Gott entgegeneilt und dessen Nähe oft fühlbar wahrnimmt. Die
unermüdliche Hoffnung, von der Liebe gekräftigt, fliegt ihm entgegen
in schnellem Fluge. —
Die siebente Sprosse macht die Seele überaus
beherzt. Da läßt sich die Liebe nicht mehr von einer Meinung leiten,
um abzuwarten; sie nimmt auch keinen Rat mehr an, um sich zurückhalten
zu lassen, noch vermag Beschämung sie zu hemmen. Da faßt sich die
Braut ein Herz und sagt: »Er küsse mich mit
seines Mundes Kusse!« — Aus dieser Kühnheit und Freiheit,
die Gott der Seele auf dieser Stufe verleiht, so daß sie mit ganzer Liebeskraft
ohne Furcht mit ihm verkehrt, folgt
die achte Stufe, wo die Seele in den Besitz des
Geliebten gelangt und ihn festhält, ohne von ihm zu lassen. Da wird die
Sehnsucht der Seele gestillt, wenn auch noch Unterbrechungen eintreten. —
Die neunte Stufe der Liebe läßt die
Seele vor Entzücken gar brennen. ¬Es ist die Stufe der Vollkommenen,
die glühen in süßer Liebe zu Gott. Die göttlichen Gnadenschätze
und Reichtümer aber, zu deren Genuß die Seele da erhoben wird, können
mit Worten nicht ausgedrückt werden. —
Die zehnte und letzte Sprosse der heimlichen Leiter
der Liebe macht die Seele Gott vollkommen ähnlich durch die klare Anschauung
Gottes, in deren Besitz sogleich und unmittelbar übergeht, wenn sie den
Leib verläßt, nachdem sie in diesem Leben bis zur neunten Stufe gekommen
war. S.114ff.
Aus: Gott in uns. Die Mystik der Neuzeit. Von Otto Karrer, Verlag "Ars
sacra" Josef Müller, München