Kabîr (1440 – 1518)

Religiöser Dichter Nord- und Mittelindiens, der seine zahlreichen volksnahen Strophen in der Hindi-Sprache verfasste. Kabîr soll zunächst ein Schüler Râmânands gewesen sein. Kabîrs Hauptabsicht war es wohl, Islam und Hinduismus in einer höheren mystischen Einheit zu verschmelzen. In seiner Lehre werden vishnuitisch-vedântische Ideen mit sufîschen Elementen vereinigt. Râm ist der Name, mit dem er in der Regel den ewigen Gott anspricht, der zugleich als alles durchdringende Weltseele mit Allah, dem Gott der Mohammedaner, identisch ist.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

1.
In Flammen stehend ich den Gott als Wasser fand,
Râm ist das Wasser, das mir kühlte meinen Brand.

Sie gehen in den tiefen Wald, sich zu kastei'n,
Doch finden ohne Gott sie solches Wasser? Nein!

Vom Feuer, das die Götter und die Menschen sengt,
Das Wasser Râm's die Menschen rettet, die es tränkt.

Es ist im Ozean der Welt ein Friedensmeer,
Ich trank daraus, ich trinke, und es wird nicht leer.

Verehre du den Diskushalter, spricht Kabîr,
Den Durst gelöscht hat einzig Râma’s Wasser mir.

2.
Würde sich mit Gott vereinen, wer da nackt geht hier auf Erden,
Müßte jedes Tier des Waldes der Erlösung teilhaft werden.

Was verschlägt es Fell zu tragen, was verschlägt es nackt zu gehen,
Wenn man Gott nicht in dem Herzen kann erkennen und verstehen?

Könntest du vollkommen werden, weil du dir das Haar geschoren,
Warum sind dann nicht die Schafe zur Erlösung aus¬erkoren?

Wenn, o Bruder, nur erlöst wird, wer die Ehe hat gemie¬den,
Warum ist nicht jedem Hämling dann die Seligkeit be¬schieden?

Spricht Kabîr: »Merkt auf ihr Brüder! Die Erlösung nur erlangen,
Die durch Gott in Gottes Namen zur Erkenntnis Gottes drangen.«

3.
Kabîr! Der Sandelbaum süß duftet er,
Auch wenn Palâsha-Bäume stehn daneben.
Doch wird er selbst den Bäumen um ihn her
Den süßen Duft des Sandelholzes geben.

4.
Kabir, wenn man den Einen liebt,
Dann wird nichts anderes erkoren,
Ob lang das Haar du tragen magst,
Ob du den Kopf dir kahl geschoren.

5.
Kabir, vor dem Probierstein in Râm's Hand
Muß Schein-Asketentum in nichts zergehen,
Nur wer den Tod schon hier im Leben fand,
Kann ihn ertragen und vor ihm bestehen.

6.
Kabîr, sei nicht auf Knochen stolz,
Die uns in Haut gekleidet werden,
Wer fürstlich reitet hoch zu Roß
Den deckt am Ende doch die Erden.

7.
Kabîr, Gelbwutz ist gelb und Kalk ist weiß,
Râm's Gnade lächelt, wenn sie sich verbinden.
Kabîr, alsdann verliert Gelbwurz das Gelb,
Vom Weiß des Kalks ist keine Spur zu finden.
Ich bin ein Opfer für die Liebe, die
Abstammung, Stamm und Kaste läßt verschwinden.

8.
Kabîr, ich bin des Gottes Râma Hund,
Den Namen Moti hat er mir verliehen.
Um meinen Nacken hängt ein Halsband und
Ich gehe hin, wohin er mich wird ziehen.

9.
Die Welt ist einem Fährboot zu vergleichen,
Drin Leute auf der Fahrt zusammenstehn,
Die, wenn sie nach der Fahrt vom Boote steigen,
Sich gleich zerstreun und nie sich wiedersehn.

10.
Nähm ich zur Tinte auch die sieben Meere
Und hätte ich die Erde als Papier
Und würden Schreibrohr mir des Waldes Bäume,
Nicht schrieb ich Gottes Ruhm aus - spricht Kabîr.

11.
Kabîr, viel Tausende von Elefanten, Rossen,
Wagen und Bannern, die sich wolkendicht ergossen,
Sah ich vorüberziehen weit und breit -
Am Tag zu betteln, mußte da ich denken,
Und wenn der Tag verrinnt, in Gott sich zu versenken,
Gilt mehr als diese Pracht und Herrlichkeit.

12.
Kabir, ich habe die Welt durchquert
Und auf der Schulter die Trommel getragen,
Viel hab ich gesehen und vieles gehört:
»Einen Freund hat niemand«, das muß ich sagen.

13.
Eine Perle liegt dort auf der Gasse,
Blinde ziehn vorüber ihre Straße,
Sehn die Perle nicht, wie schön sie sei;
Wenn das Licht des Herrn der Welt nicht leuchtet,
Geht man blind auch an der Welt vorbei.

14.
Kabîr! Bleib Muschel auf des Meeres Grunde,
Da Muscheln, die das stille Meer verließen,
Im Tempel zu des Sonnenaufgangs Stunde
Geblasen werden und laut tönen müssen.

15.
Kabîr! Mit denen, die ungläubig sind,
Verkehre nicht und fliehe sie im Leben -
Berührst du einen schmutzig schwarzen Topf,
Bleibt etwas Schmutz doch immer an dir kleben.

16.
Kabîr! Arbeit für morgen heute tu!
Und jetzt sogleich die Arbeit tu für heute!
Denn nichts vermagst nachher zu schaffen du,
Wenn sich der Tod gesellt an deine Seite.

17.
Was steigst du, Mullah, auf das Minarett?
Gott ist nicht taub, er hört dich hier.
Um seinetwillen rufst du zum Gebet,
Such ihn in deinem Herzen, spricht Kabîr.

18.
Da ich »Du Du!« gesagt, zu Dir gewendet,
Ward ich zum »Du« und es verging mein »Ich«.
Als zwischen Dir und mir der Unterschied verschwunden,
Sah ich - wohin ich immer blickte - Dich.

19.
Sprechen wir von Gott als Einem,
Ist es nicht so, wie wir sagen;
Aber sprechen wir von Zweien,
Wahrlich, ihn beschimpfen wir.
Wie er ist, so bleibt er ewig.
Das verkündet laut Kabîr.

20.
Unzählige sind aus dem Einen geworden,
Die Zahllosen wurden zu Einem allein.
Wenn die Erkenntnis des Einen geboren,
Dann geht in das Eine alles ein.

21.
Mâyâ in der Welt gleicht einer Schlange
Giftgeschwollen auf der Straße Mitten;
Alle Welt hat sie im Netz gefangen,
Nur Kabîr hat dieses Netz zerschnitten.

22.
Willst den Toren du belehren,
Deine Weisheit du verschwendest;
Kohle wird nicht weiß gewaschen,
Wieviel Seife du verwendest.

23.
Wort hat weder Hand noch Füße,
Aber eines Wunden schlägt,
Und das andre dient als Balsam:
Darum eure Worte wägt.

24.
Die Herzensgüte ist die reinste Perle,
Sie ist der allerschönste Edelstein.
In der Herzensgüte wohnt der Reichtum
Der drei Welten einzig und allein.

25.
Reichtum an Küh'n, Elefanten und Rossen,
Edelste Steine blitzenden Lichts:
Wenn der Zufriedenheit Schatz ist gewonnen,
Gelten all' diese Reichtümer nichts.

26.
Noch nie hat schlechter Umgang dem geschadet,
Der in der Hand den Stein des Wissens hielt;
Der Knabe eines Gauklers und Beschwörers
Mit einer Schlange ungefährdet spielt.

27.
Kabîr: Es wird ein Haus gebaut aus Stein.
Die Leute sagen dann: »Das Haus ist mein« -
In Wahrheit ist es aber weder dein noch mein
Für Vögel ist's ein Ruheplatz zur Nacht allein.

28.
Hindus und Moslems ist ein Weg gewiesen,
Der wahre Meister lehrt ihn uns erkennen.
Kabîr spricht: Hört ihr Brüder, hört auf diesen,
Ihr mögt ihn Allah oder Râma nennen.

29.
Râma's Haus, das steht im Osten,
Allah im Westen Wohnung nahm.
Suche im Herzen, schaue in Herzen,
Dort ist Allah und dort ist Râm.

30.
Verkehret mit jedem, sucht ihm zu gefallen
Und preist seinen Namen laut in der Welt;
»Jawohl Herr! Jawohl Herr!« so redet zu allen
Dann lebt ihr zu Hause ganz wie's euch gefällt!

Aus: Indische Gedichte aus vier Jahrtausenden. In deutscher Nachbildung von Otto von Glasenapp (S. 95-101) G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1925